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A. J. Mordtmann
Der Untergang der Carnatic

Kapitän Clifford, unser Kapitän, war mit seiner Jugendgeliebten Fanny, der er mit leidenschaftlicher Liebe zugetan war, seit zwei Jahren verheiratet, als er, von ihr begleitet, auf seinem damaligen Schiffe, der englischen Bark »Carnatic«, eine Reise von Rio de Janeiro nach Batavia antrat. Das Unglück wollte, daß das Schiff weit aus seinem eigentlichen Kurse nach Süden verschlagen wurde und dem Gürtel des antarktischen Treibeises näher kam als rätlich.

Bald war die Carnatic von Eisbergen und Eisfeldern umgeben, die ihre Fahrt immer gefährlicher gestalteten. Anstatt sich aus dem Eise herauszuarbeiten, geriet sie durch den andauernd ungünstigen Wind immer tiefer hinein; nach einer kalten und stürmischen Nacht war sie zwischen Schollen von fast unabsehbarer Ausdehnung geraten, die sich zusammenpreßten und das Schiff hoben, so daß es, ohne im übrigen Schaden zu nehmen, festsaß; es war, da starker Frost eintrat, bald vollkommen eingefroren.

Ein Bleiben auf dem Schiffe würde nur das Verderben der ganzen Mannschaft im Gefolge gehabt haben; der vom Kapitän zusammenberufene Schiffsrat entschied sich einstimmig für das Verlassen der Bark.

Die beiden Boote wurden mit großer Anstrengung in offenes Wasser gebracht und mit Kompaß, Wasser und Mundvorräten versehen. Dann brach man auf. Das Boot, welches zuerst abfahren sollte, wurde unter den Befehl des Steuermanns gestellt; in ihm sollte die Frau des Kapitäns Aufnahme finden, weil es größer war und mehr Bequemlichkeiten bot als das andere, das der Kapitän in Person führen wollte.

Als die Mannschaft des ersten Bootes fort war, schickte Kapitän Clifford die des zweiten nach und beeilte sich, nachdem er das Schiffsjournal an sich genommen und noch einmal im Raume nachgesehen hatte, ihnen zu folgen, weil von Süden her eine unheimliche weiße Wand heranrückte, einer jener Nebel, die in Polargegenden oft einfallen und so außerordentlich dicht sind, daß man tatsächlich auf drei Schritt Entfernung nichts mehr unterscheiden kann. Als der Kapitän sich über den Bug der Carnatic hinabließ, war es höchste Zeit, denn schon umhüllte ihn der Nebel; er war froh, als er in der undurchdringlichen, lichtlosen Luft sein Boot erreichte und die fünf Mann, die außer ihm die Besatzung ausmachten, beisammen fand. Das andere Boot war schon fort, aber niemand hatte es abfahren sehen.

Man steuerte in dem dichten Nebel nordwärts, immer nach dem größeren Boot auslugend, aber man bekam es nicht wieder zu Gesicht. Den ganzen Tag und die ganze Nacht setzte man die düstere Fahrt fort. Als der Morgen graute, sprang ein heftiger Südost auf, der das Gute hatte, daß er den Nebel vertrieb. Gegen Mittag flaute der Wind ab; bald darauf schimmerte durch die einförmig graue Masse der erste Fetzen blauen Himmels, er dehnte sich immer weiter aus, und nach einer halben Stunde lagen heller Sonnenschein und heitere Himmelsbläue auf den unruhig wogenden und mit leichten Schaumspitzen gekrönten Meeresfluten.

Vom Eise war weit und breit nichts mehr zu sehen, dagegen wurde ein anderer, erfreulicherer Anblick der Bootsmannschaft zu teil: in einer Entfernung von etwa zwei Seemeilen lag eine Brigg unter kleingemachten Segeln bei; sie mußten dort an Bord guten Ausguck halten, denn kaum war das Schiff in Sicht gekommen, als dieses auch schon Manöver einleitete, um sich ihnen zu nähern.

Kapitän Clifford schloß daraus, daß die Brigg das erste größere Boot schon aufgenommen haben müsse und, von diesem benachrichtigt, nach dem zweiten ausgeschaut habe. Das erwies sich als richtig, denn der erste, der Clifford, als er hinaufgeklettert war, auf dem Verdeck entgegentrat, war sein Steuermann.

Aber trotzdem erstarrte dem Kapitän beim Anblick seines Untergebenen das Blut in den Adern, und das Antlitz des Steuermanns war totenbleich, als er mit heiserer Stimme fragte:

»Wo ist denn Ihre Frau, Kapitän? Haben Sie sie nicht bei sich?«

»Ich! Meine Frau? Sie war doch in Ihrem Boot!«

»Allmächtiger Gott – nein!« Die übrigen Matrosen drängten sich mit verworrenen Rufen um Steuermann und Kapitän. Denn die wunderliebliche Frau Fanny Clifford war für sie alle wie ein höheres Wesen gewesen. Man hatte sie das Glück der Carnatic genannt.

Aus dem in abgebrochenen Sätzen gestammelten Bericht des Steuermanns kam rasch die niederschmetternde Wahrheit zutage: die Frau des Kapitäns, der allgemeine Liebling, war an Bord des im Eise eingeschlossenen Schiffes zurückgeblieben, allein, hilflos, einem sicheren Tode preisgegeben.

Der Zusammenhang, so unerklärlich er anfangs schien, war doch im Grunde sehr klar und einfach.

Frau Clifford war mit der Mannschaft des ersten Bootes bis an den Rand des Eises gegangen, wie sie aber abfahren wollten, bemerkte sie den heraufziehenden Nebel, und der erfahrenen Frau des Seemanns war alsbald klar, daß eine Trennung der Boote nicht nur möglich, sondern vollkommen gewiß sei. »Ich bleibe bei meinem Manne!« rief sie entschlossen und sprang wieder auf das Eis zurück. Allen erschien das so natürlich, daß niemand daran dachte, sie zurückzuhalten.

Die Mannschaft des zweiten Bootes war noch nicht eingetroffen; die Frau winkte dem Steuermann zum Abschied zu und rief: »Ich gehe ihnen entgegen! Fahrt ab!« Das Boot stieß denn auch ab und war nach wenigen Sekunden bereits so von Nebel eingehüllt, daß sie das Eis und alles darauf Befindliche aus dem Gesicht verloren.

Das war das Letzte, was man von ihr gesehen hatte. Sie mußte in dem dichten Nebel ihren Weg verfehlt haben und in einiger Entfernung von dem Kapitän und seiner Mannschaft vorbeigekommen sein, ohne sie zu bemerken oder von ihnen bemerkt zu werden.

Den Seelenzustand des unglücklichen Kapitäns kann man sich vorstellen; er war wie wahnsinnig und wollte über Bord springen und den tollen Versuch machen, das Eis schwimmend zu erreichen; nur mit Anwendung von Gewalt gelang es, ihn zurückzuhalten. Der Kapitän der Brigg war von diesem furchtbaren Verhängnis so ergriffen, daß er mehr tat, als er eigentlich seinen Reedern gegenüber verantworten konnte. Er wich von seinem Kurs ab und steuerte südwärts, bis man das Treibeis erreichte; hier kreuzte er zwei Tage, aber ohne Erfolg; die Carnatic wurde nicht gesehen, und der Brigg war es ohne große Gefahr unmöglich, bis zum festen Eise vorzudringen; sie mußte unverrichteter Sache ihren alten Kurs wieder aufnehmen.

Die Verzweiflung Cliffords hatte einem stumpfen Dahinbrüten Platz gemacht. Erst als man sich Kapstadt näherte, trat in diesem Zustande eine Änderung ein; er wurde wieder etwas redseliger, seine umdüsterte Miene nahm einen ruhigen, sinnenden, man möchte sagen fernschauenden Ausdruck an; er hatte das Wesen eines Mannes, der sich zu einem unabänderlichen Entschlusse durchgerungen hat.

In Kapstadt rüstete Clifford einen kleinen Schoner aus, mit dem er auf eigene Faust eine Aufsuchungsreise nach den antarktischen Gewässern unternahm; seine Frau, davon war er unerschütterlich überzeugt, lebte noch. Seine gesamte Mannschaft blieb ihm treu und begleitete ihn. Die Reise war erfolglos, obgleich sie allen Gefahren trotzten, um die mit schwimmendem Eise bedeckten Gewässer nach allen Richtungen zu durchforschen. Man kehrte erst um, als die Proviantvorräte vollständig aufgezehrt waren.

Noch einmal wiederholte Clifford diesen Versuch – abermals vergebens. Dann waren seine Mittel erschöpft, und er mußte das in den Augen jedes Verständigen aussichtslose Unternehmen aufgeben.

Wenn ich sage: jedes Verständigen, so sind darunter die Mannschaften Cliffords nicht mit einbegriffen. Er selbst ist ja unzurechnungsfähig und hat dafür eine vollwichtige Entschuldigung, aber es ist merkwürdig, seine fixe Idee hat auf eine so nüchterne und erfahrene Schar von Leuten wie seine ehemaligen Offiziere und Mannschaften ansteckend gewirkt. Denn, um das hier zu erwähnen, die Leute, die jetzt auf meinem Schiff, der »Lady Godiva«, dienen, sind noch immer dieselben, die auf der Carnatic gewesen sind, und sie alle teilen den unverbrüchlichen Glauben ihres Kapitäns, daß sie eines Tages doch noch die Carnatic und Frau Fanny Clifford wiederfinden werden. Darum nehmen sie nur Dienst auf Schiffen, deren Dienst sie nach den südlichen Teilen des Atlantischen und des Indischen Ozeans führt. Sogar der Steuermann ist geblieben; er hätte längst selbst Kapitän sein können, aber er verläßt seinen alten Vorgesetzten nicht und macht dessen Torheiten mit.

Der Steuermann hat mir diese ganze Geschichte erzählt, und sein fester Glaube an die Illusionen des Kapitäns rührt wohl daher, daß er ein Norweger und, wie viele seiner Landsleute, eine mystisch veranlagte Natur ist. Ole Johannesen hat einen ganzen Abend auf seiner Wache mit mir darüber gesprochen und meinen ursprünglichen Skeptizismus stark erschüttert.

Die Carnatic war, als sie verlassen wurde, noch vollkommen dicht und seetüchtig. Man konnte daher, wenn sie in offenem Wasser trieb, darauf rechnen, daß sie trotz ihres Mangels an jeglicher Besatzung nicht gleich verunglücken würde. Sie war allerdings im Eise eingefroren und daher mancherlei Gefahren ausgesetzt, aber die sind nicht so schlimm, wie man glauben könnte. Das Eisfeld, auf das sie gehoben war, hatte eine große Ausdehnung, so daß ein Zusammenstoß mit Eisbergen eine sehr fernliegende Eventualität war. Vielmehr mußte diese eisige Umklammerung eher als eine Art Schutzwall dienen. Da sie nun bei den verschiedenen Expeditionen nicht aufgefunden worden ist, so ist die Annahme gerechtfertigt, daß sie mit seinem treibenden Eisfelde noch weiter südwärts in den Gürtel des festen Eises geraten und dort vollkommen eingefroren ist. Die letzten Winter sind ungewöhnlich streng, die Sommer kalt und unfreundlich gewesen; ein milderer Winter und ein früherer Sommer werden das feste Eis wegschmelzen und die Carnatic befreien; sie wird ins Wasser sinken und von den vorherrschenden Strömungen nordwärts getrieben werden.

Gegen diese Ausführungen Johannesens hatte ich nicht viel einzuwenden. Ein Bedenken jedoch konnte ich nicht unterdrücken. Ich fragte ihn:

»Nach Ihren Mitteilungen ist der traurige Vorfall vor ungefähr drei Jahren passiert, nicht wahr?«

»Genau drei Jahre und fünf Monate.«

»Wie wird, angenommen, daß alles so verlief, wie Sie sich vorstellen, Frau Clifford sich während dieser langen Zeit ernähren?«

Da kam ich aber schön an! Johannesen lachte gerade hinaus: »Wir hatten für unsere gesamte Mannschaft für ein Jahr Proviant an Bord; davon war höchstens ein Viertel verbraucht, mit dem Reste könnte ein starker Esser über zehn Jahre leben.«

Ich schwieg. Wie ich schon vorhin bemerkte, die Zuversicht dieser wackeren Leute hat mich mit angesteckt. So unterdrückte ich meine Besorgnis, Fanny Clifford könnte der Kälte erlegen sein oder in einem Anfall leicht begreiflicher Verzweiflung Hand an sich selbst gelegt haben. Die Antwort würde lauten: »Das könnte sein, aber es müßte nicht sein.«

Übermorgen fahren wir von hier weiter. Ich bin von derselben unvernünftigen und fieberhaften Spannung ergriffen wie meine Schiffsgenossen; es sollte mich nicht wundern, wenn eines schönen Morgens die Carnatic vor uns auftauchte, eine weiße Gestalt an der Brüstung stehend, die uns zuwinkte! ...

 

Das Abenteuer des Kapitän Clifford hat ein so hochdramatisches Ende genommen, daß ich noch jetzt nicht ohne die tiefste Erschütterung daran denken kann. Bis in meine Träume hinein verfolgt mich das Erlebnis, und ich fahre in Schweiß gebadet und an allen Gliedern zitternd auf, wenn ich noch einmal sehe und höre, was ich dort sehen und hören mußte. –

Die Eisverhältnisse waren dies Jahr besonders günstig, und man durfte darauf rechnen, daß wir dem Pol näher kommen würden, als sonst möglich war.

Unter diesen Umständen wuchs die Spannung an Bord unserer Lady Godiva mit jeder Stunde, und als eines Mittags der Kapitän ankündigte, wir hätten heute den Breitengrad erreicht, unter dem damals die Carnatic eingefroren war, da ging es durch uns alle wie ein Erschauern.

Noch segelten wir südwärts und diesen Kurs änderten wir erst am nächsten Tage, als wir an das feste Packeis kamen; dann wurde der Bug des Schiffes nach Osten gerichtet, und wir blieben, soweit es ohne Gefahr geschehen konnte, dicht an der Grenze des Eises. Nachts wurden die Segel beschlagen, und wir legten bei, damit wir nicht etwa in der Dunkelheit an der Carnatic vorbeifuhren.

So waren wir drei Tage gesegelt und hatten dabei auch den Längengrad erreicht, unter dem die eingefrorene Carnatic lag. Wir fuhren unmittelbar über den Fleck hinweg, wo sie gelegen haben mußte, und obgleich die Sonne bei heiterer Luft hell schien und weit und breit keine Spur von einem Schiff zu sehen war, hatten wir doch alle ein Gefühl, wie man es haben mag, wenn man die Nähe eines Geistes ahnt. Wir warfen das Blei und hatten mit hundertzwanzig Faden Grund; der Talg am unteren Ende des Bleies brachte Kies und Sand herauf; hier lag kein versunkenes Schiff.

Am nächsten Morgen winkte mir der Steuermann Ole Johannesen zu, um mir heimlich etwas mitzuteilen. Sein Gesicht war aschfahl. »Ich will's dem Alten nicht sagen,« flüsterte er mir zu, indem er auf den Kapitän zeigte, der mit einem Fernrohr den ganzen Horizont absuchte. »Aber Sie sollen es wissen, weil Sie von uns allen der ungläubigste sind. Merken Sie auf meine Worte, und denken Sie daran, wenn Sie wieder zweifeln wollen: heute nachmittag werden wir die Carnatic sichten.«

Ich starrte den Mann mehr erschrocken als ungläubig an.

»Ja, Sie werden es erleben,« fuhr Johannesen fort. »Ich bin heute nacht aufgewacht, und da habe ich es gesehen. Die Carnatic schwimmt noch, und in wenigen Stunden werden ihre Masten am Horizont auftauchen – dort im Nordosten – und dann ...«

»Sie haben geträumt, Mensch,« sagte ich. »Das ist der Alp – da bildet man sich ein, daß man wacht, und in Wirklichkeit schläft man ...«

»Na ja, wie Sie meinen,« erwiderte Johannesen gleichmütig. »Wir werden ja sehen. Passen Sie nur auf, wie's kommt. Ich habe deutlich den Namen Carnatic am Bug gesehen – so nahe war ich heran.«

»Und die Frau des Kapitäns?«

»Davon weiß ich nichts. Das Gesicht erlosch mit dem Augenblick, da wir das Boot aussetzten. Aber aus dem Nebel ist dann noch ein anderes Bild aufgestiegen ...« Er neigte sich zu mir und flüsterte mir etwas ins Ohr, was mich bis an die Lippen erbleichen machte.

Das Mittagessen ging sehr schweigsam vorüber; Clifford war von einer Unruhe erfaßt, als habe er ebenso wie Johannesen eine Ahnung, daß die Erfüllung seiner Wünsche unmittelbar bevorstehe. Kaum hatte er einige Löffel Hühnersuppe gegessen, als er aufstand und wieder auf das Verdeck eilte. Johannesen sah ihm gedankenvoll nach und nickte. »Wir haben noch eine Stunde Zeit«, sagte er. »Lassen Sie uns essen; wer weiß, ob wir nachher noch Appetit haben!«

Trotzdem beeilten auch wir uns nach Möglichkeit und folgten dann dem Kapitän nach oben. Merkwürdig! Die gesamte Mannschaft war von demselben Fieber verzehrender Ungeduld ergriffen und stand vollzählig an Deck, vom Bug und über das Bollwerk hinweg nach Nordosten blickend.

Vier Glasen zum Zeichen der abgelaufenen vollen Stunde schlug der Mann am Steuer an: es war ein Uhr nachmittags. Das Fieber meiner Erwartung war auf einen unerträglichen Grad gestiegen. Noch eine Viertelstunde verging, da ertönte vom Mastkorb herunter der Ruf:

»Ship ahoy!«

Ein Schiff in diesen Breiten! Es konnte kein anderes sein!

Johannesen stand bei mir – stumm sahen wir beide uns an – jedem war der letzte Blutstropfen aus dem Gesichte gewichen.

»Wo?« rief der Kapitän hinauf.

Der Mann wies mit der Hand nach links und vorn, Clifford sprang ans Steuer und drehte selbst das Rad, bis der Bug des Schiffes gerade nach dem Himmelsstriche wies, wo unser Ausguck das Schiff gesichtet hatte.

»So – stetig!« unterwies Clifford den Mann am Steuer. »Nord-Nord-West – 2 West ...«

»Ay, ay,« erwiderte der Matrose.

Der Kapitän nahm nun sein Fernrohr und stieg selbst in den Mastkorb hinauf.

Fünf Minuten sah er unausgesetzt nach der Gegend, wo das fremde Schiff sichtbar war; dann schob er das Fernrohr zusammen und kam langsam herunter.

»Es ist ein Dreimaster,« sagte er. »Und es ist – ich kenne ihn – es ist die Carnatic.«

Und nun zuckte es plötzlich in seinem starren Gesicht, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen; er nahm seine Mütze ab und hielt sie, wie betend, in den gefalteten Händen vor das Gesicht. Von den Matrosen wischten sich einige mit dem Ärmel über die Augen, andere starrten unverwandt ins Weite – die Masten knarrten, der Wind pfiff im Tauwerk – sonst war es an Bord der Lady Godiva still wie in einer Kirche.

Das Kielwasser schäumte und gurgelte hinter unserm Heck in schnurgerader Linie, nach einer Viertelstunde konnte man die drei Mastspitzen mit bloßem Auge erkennen – noch eine Viertelstunde weiter, und wir sahen, daß der Fremde segel- und steuerlos in der Dünung schlingerte.

Das Boot wurde hergerichtet, um gleich zu Wasser gelassen zu werden, sobald wir dem verlassenen Schiffe so nahe gekommen sein würden, daß eine weitere Annäherung gefährlich wurde.

Es war fast keine Überraschung mehr für uns, als wir nach Verlauf von anderthalb Stunden den vom Wetter hart mitgenommenen Rumpf so weit unterscheiden konnten, daß sein Zustand das jahrelange Verlassensein des Dreimasters zur Gewißheit machte. Nun drehte sich der Rumpf schwerfällig ein wenig, und der letzte Zweifel schwand: dort stand es in verblichenen goldenen Buchstaben:

Carnatic.

Ein Bild trostloser Öde und Melancholie war das unglückliche Schiff, dessen Planken von Farbe entblößt waren, dessen Segelbruchstücke in kurze Fetzen zerrissen an den Rahen hingen, dessen Taue und Wanten jene Lockerung aufwiesen, die dem Auge des sorgsamen Seemanns ein so widriger Anblick ist. Wir waren so nahe, daß wir das Knarren der Masten und das Knirschen der rostigen Ruderketten hören konnten.

Das Boot wurde bemannt, Kapitän Clifford, Ole Johannesen, ich und sechs Matrosen stiegen ein, und wir ruderten nach dem Schiffe hin. Während der ganzen Fahrt wurde kein Wort gesprochen.

Für einen Nichtseemann wäre es schwierig gewesen, auf das Verdeck des ziemlich hoch aus dem Wasser aufragenden Schiffes zu gelangen, da keine Treppe und kein Tau hinaushing; Johannesen aber und der Kapitän kletterten ohne große Mühe hinan, und der erstere half mir hinauf; als ich fröstelnd und aufgeregt vom Bollwerk auf das Deck sprang, war der Kapitän schon die Kajütentreppe hinuntergeeilt; wir folgten langsamer. Zwei der Matrosen, die ebenfalls an Bord geklettert waren, begaben sich in den Raum und in das vorn gelegene Mannschaftslogis, um auch diese Örtlichkeiten zu durchsuchen.

In der Kajüte fanden wir nichts, auch im Schlafzimmer des Kapitäns nichts; das Suchen der Matrosen blieb ebenfalls erfolglos; stundenlang setzten wir unsere Nachforschungen fort, und wir würden jetzt das Schiff wieder verlassen haben, wenn uns nicht ein eigentümlicher und unheimlicher Umstand zurückgehalten hatte.

Die Luft in der Kajüte und im Mannschaftslogis war dick und muffig, wurde aber, da wir alle Türen und Luken öffneten, bald besser. Und nun merkten wir, daß ein beängstigendes Gefühl, das wir in der Kajüte nicht los werden konnten, nicht, wie wir anfänglich geglaubt hatten, der schlechten Beschaffenheit der Luft, sondern etwas anderm zuzuschreiben war. Während uns auf dem Verdeck und in allen übrigen Räumlichkeiten des Schiffes nichts auffiel, hatten wir in der Kajüte ein beklemmendes Gefühl, vor dem sich mir die Haare sträubten.

»Wie ist Ihnen hier?« fragte mich Johannesen, und ich las in seinen Augen, welche Antwort er erwartete.

»Wie Ihnen, Maat,« erwiderte ich. »Ich sehe niemand, aber ...«

»Es ist außer uns noch jemand da,« vollendete Johannesen den Satz.

Das war es, und wir merkten Clifford an, daß es ihm ebenso gehe wie uns. Darum ließen wir mit Suchen nicht nach und suchten an den unmöglichsten Stellen, auch an solchen, wo wir schon gesucht hatten, immer wieder. Die Sonne stand schon tief am Horizont, als wir endlich, voll müder Traurigkeit, unsere Bemühungen aufgaben. Der Kapitän bedeutete uns, daß er noch einmal in die Kajüte gehen wolle, um nachzusehen, was von dort zu bergen der Mühe wert sei. Wir wußten aber, daß dies nur ein Vorwand sei, und Clifford noch einmal allein und ungestört an dem Orte sein wollte, wo er so lange mit seinem Weibe glücklich gewesen war; wir achteten dies Gefühl und blieben oben an der Treppe stehen.

Zwei Minuten mochten verstrichen sein, da hörten wir einen lauten Schrei und stürzten hinunter. Indem wir in die Kajüte eintraten, sahen wir deutlich, wie die Tür zu einer der Seitenkabinen zugeschoben wurde.

Ein einfacher und doch grauenhafter Umstand! Denn außer uns und dem Kapitän war kein irdisches Wesen im Zimmer.

Doch etwas anderes nahm unsere Aufmerksamkeit zunächst in Anspruch. Der Kapitän saß starr und regungslos auf dem Sofa. Er war tot. In der Hand hielt er einen Fetzen bunten Wollenzeuges, seine offenen Augen trugen den Ausdruck des Entzückens, sein Antlitz war wie zu einem freudigen Lächeln verzogen.

Johannesen und ich drückten uns wortlos die Hand.

Das war es, was wir gefürchtet hatten, seit wir Johannesens Vision kannten. Er hatte nämlich geschaut, wie man die Leiche des Kapitäns nach Seemannsart in das Meer versenkte. Doch waren damit die grauenhaften Umstände noch nicht erschöpft.

Der Schrei, den wir oben gehört hatten, war ein weiblicher gewesen. Und in der Kabine, deren Tür vor unsern Augen zugeschoben worden war, fanden wir, als wir endlich den Mut faßten, einzutreten, eine zur Mumie eingetrocknete weibliche Leiche, die von Johannesen und den Matrosen als Frau Fanny Clifford erkannt wurde. Sie trug ein buntes wollenes Kleid, dem am Ärmel das abgerissene Stück fehlte, das wir in Cliffords Hand gefunden hatten.

Noch eins darf ich nicht unerwähnt lassen; jene Kabine war von uns wie jeder andere Raum des Schiffes vorher genau durchsucht worden, ohne daß wir darin eine Spur von Frau Clifford gefunden hätten.

Wir hatten nur den einen Gedanken, von dem unheimlichen Schiffe so rasch wie möglich fortzukommen. Wir ruderten nach der Lady Godiva zurück, und erst nach geraumer Zeit hatten wir uns so weit überwunden, daß wir noch einmal an Bord der Carnatic zurückkehrten, um den Verstorbenen ein christliches Begräbnis zuteil werden zu lassen.

Wir holten die Leiche des Kapitäns zu uns an Bord und bahrten sie in der Nacht in der Kajüte auf, nachdem wir sie in Segeltuch eingenäht und eine eiserne Kugel an ihren Füßen befestigt hatten.

Meine Anregung, auch die verstorbene Frau des Kapitäns in gleicher Weise für das Begräbnis vorzubereiten, war auf den hartnäckigen Widerstand der Seeleute gestoßen. Keiner wollte, um die Leiche zu holen, an Bord des verfluchten Schiffes zurückkehren. Alle meine Vorstellungen und Bitten waren vergebens; ich nahm mir vor, diese am nächsten Morgen zu wiederholen, aber was in der Nacht geschah, war derartig, daß ich selbst um alle Schätze der Welt nicht auf die Carnatic zurückgekehrt wäre.

Ich war nämlich, wie wir alle, lange wach geblieben; da, kurz vor dem Schlafengehen, wurde ich noch einmal von Johannesen auf das Deck hinaufgerufen, um etwas zu sehen, was die gesamte, auf dem Hinterdeck stehende Mannschaft mit Staunen und Grausen erfüllte. Die Carnatic trug die vorgeschriebenen Lichter, grün an Steuerbord und rot an Backbord, und die Kajütenfenster waren hell erleuchtet. – Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.

Und doch sollte auch mit diesem nächtlichen Spuk noch nicht die letzte Szene der furchtbaren Tragödie gekommen sein. Als wir die Leiche des Kapitäns über die Reling in ihr nasses Grab hinabgleiten ließen, erhob sich, unser stilles Gebet unterbrechend, plötzlich ein gemeinsamer Ruf aus allen Kehlen. Die Carnatic, die nur wenige Kabellängen von uns entfernt dahintrieb, krängte ohne ersichtliche Ursache stärker als bisher erst nach Backbord und darauf nach Steuerbord über und schoß dann jählings, mit dem Buge voran, in die Tiefe. Die Wellen liefen in wirbelnden Strudeln über der Stelle ihres Untergangs zusammen, der Schaum spritzte in die Luft, die Lady Godiva schwankte in den von dort herüberkommenden Wogenreihen, die ihren Weg weiter nach Süden fortsetzten, und dann war alles vorbei.

Wir hatten gestern die Carnatic genau untersucht und wußten gewiß, daß sie nur sehr wenig Wasser im Rumpf und nirgends einen Leck hatte.

Der Untergang des gespenstischen Schiffes war ebenso unerklärlich wie alles andere, was mit ihm zusammenhing. – –


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