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Paul Heyse
Die schöne Abigail

Man hatte nach dem Abendessen bei Bowle und Zigarre bis in die späte Nacht hinein geplaudert, zuletzt über die Entlarvung eines spiritistischen Gauklers. Plötzlich kündigte der tiefe Ton der alten Standuhr die Mitternachtsstunde an. Jemand schlug vor, Gespenstergeschichten zu erzählen. Das Los traf einen pensionierten Obersten, der sich wegen des Ernstes seiner Lebensauffassung allgemeinen Ansehens erfreute. Man merkte ihm die Überwindung an, aber er fügte sich und begann.

Es war also im Jahre 1880, im Hochsommer. Ich hatte mir vier Wochen Urlaub ausgewirkt, da mein rheumatisches Leiden eben damals anfing, mich unerträglich zu peinigen. Das Wildbad aber, auf das ich meine Hoffnung gesetzt hatte, tat Wunder. Nach drei Wochen fühlte ich mich wie neu geschaffen, und da die Hitze in jenen Talgründen mir im übrigen nicht wohltat, sprach der Badearzt mich nach den üblichen einundzwanzig Bädern frei und riet mir, den Rest meiner Ferien in einer kühleren Gegend zuzubringen, mit aller Vorsicht freilich, um nicht wieder einen Rückfall heraufzubeschwören.

Nun hatte ich in B. einen Jugendfreund, mit dem ich seit dem Frieden nicht wieder zusammengekommen war. Nach dem Kriege, den er als Regimentsarzt gerade in meiner Kompagnie mitgemacht, hatte er in dieser seiner Vaterstadt die Leitung des Krankenhauses übernommen, sich verheiratet und nur durch die Zusendung der Geburtsanzeigen seiner fünf oder sechs Kinder die Fäden unserer alten Freundschaft fortgesponnen.

Um so wohltuender war mir's, da ich ihn jetzt unvorbereitet überfiel, den guten Kameraden ganz so herzlich gesinnt wiederzufinden wie damals, als ich von ihm Abschied nahm, um nach meinem Wundbette in Mainz evakuiert zu werden. Ich mußte zu Tische bei ihm bleiben – die einzige Zeit des Tages, neckte ihn seine liebenswürdige Frau, wo er nicht dem Ersten Besten mehr gehörte als seinem eigenen Fleisch und Blut –, und da ihn in den nächsten Stunden seine Stadtpraxis wieder in Anspruch nahm, verabredeten wir, daß ich ihn abends nach dem Theater in einem Weinhause, das er mir bezeichnete, erwarten sollte.

Mein einsamer Nachmittag verging rasch genug. Ich kannte zwar, außer meinem Kriegskameraden, keine lebende Seele in der schönen alten Stadt, die ich als Fähnrich vor langen Jahren einmal flüchtig durchwandert hatte. Aber es gab an allen Ecken und Enden so viel Merkwürdiges zu schauen, so manches reizte mich, ein paar Striche in meinem Skizzenbuch zu machen, und das Wetter war so lieblich durch ein Morgengewitter gekühlt worden, daß ich das Theater – eine sehr fragwürdige Sommerbühne – fahren ließ und die Zeit bis zu unserm Stelldichein lieber mit einem Spaziergang in der stillen Abendluft die baumreichen Flußufer entlang ausfüllte.

Ich hatte mich dabei so in meine Gedanken eingesponnen, daß ich erst an den Rückweg dachte, als es völlig Nacht geworden war. Eine Nacht freilich, in der sich's so anmutig lustwandelte wie am Tage: denn der Mond ging fast schon mit seinem vollen Schein über den Erlenwipfeln auf und erhellte die Gegend dergestalt, daß man an den flachen Uferstellen die Kiesel durch die Wellen wie kleine Silberkugeln schimmern sehen konnte.

So auch erschien die Stadt von einem silbernen Duft umwoben, wie aus einem Märchen vor mich hingepflanzt, als ich mich ihr wieder näherte. Es schlug schon neun von der alten Domkirche, ich war müde und durstig von meinem langen Streifzuge und hatte mir die Rast in dem Weinhause, zu dem ein gefälliger Bürgersmann mich hinwies, wohl verdient. Da ich meinen Freund noch nicht vorfand, ließ ich mir etwas zu essen geben und einen Schoppen leichten Weines, mit dem ich den ersten Heißdurst löschte. Noch immer ließ der Doktor auf sich warten. Er mußte nun aber jeden Augenblick kommen, und so bestellte ich im Voraus einen feurigen Rauenthaler, von dem er mir bei Tische gesprochen hatte, um ihm gleich in diesem edlen Tropfen Willkommen zuzutrinken, sobald er einträte. Es war wirklich ein »Trank voll süßer Labe«, würdig, die Blume alter Freundschaft damit zu begießen. Doch verfehlte er seinen Zweck. Statt meines guten Kameraden erschien, so gegen zehn, ein Bote mit einer Karte, auf der der Freund sein Ausbleiben zu entschuldigen bat; er sei über Land gerufen worden zu einem schwerkranken Patienten und könne nicht absehen, ob er in dieser Nacht überhaupt zurückkehren würde.

So war ich auf mich selbst angewiesen und auf den Wein, der mich leider nicht heiter zu stimmen pflegte, wenn ich ihn nicht in freundlicher Gesellschaft trank. Seit ich meine Frau verloren habe, damals ging es ins dritte Jahr, überfiel mich bei der einsamen Flasche regelmäßig eine tiefe Melancholie, die geflissentlich zu nähren ich nicht mehr jung und sentimental genug war. Um ihr auch diesmal nicht zu verfallen, griff ich nach den Zeitungen, die mir fast alle zu Gebote standen, da die wenigen Stammgäste an ihren abgesonderten Tischen sich eifrig ihrer Skat- oder Schachpartie hingaben.

Was mir zunächst – auf der letzten Seite des Lokalblattes – ins Auge fiel, war die Liste der städtischen Sehenswürdigkeiten. Da ich den ganzen morgigen Tag noch zu bleiben gedachte, war mir dieser Wegweiser ganz erwünscht, und ich notierte mir einiges, was meine Neugierde reizte, in mein Taschenbuch. Da fiel mein Blick auf eine Anzeige, die meine Gedanken plötzlich in eine weit entlegene Zeit zurücklenkte: »Jeden Montag und Donnerstag ist die Windhamsche Gemäldesammlung im Erdgeschoß des Rathauses unentgeltlich geöffnet.«

Windham! Nein, ich irrte mich nicht; das war der Name gewesen. Ein Windham hatte im letzten Kapitel meines Jugendromans die Hauptrolle gespielt. Nun dämmerte es auch in mir auf, daß ich später einmal gehört hatte, dieser Windham habe sich mit seiner jungen Frau hier in B. niedergelassen. Seitdem war er mir verschollen geblieben. Und nun hier so unverhofft an ihn erinnert zu werden! –

Aber Sie können ja nicht verstehen, was mich an der unscheinbaren Zeitungsnotiz so seltsam aufregte. Ich muß nun doch noch weiter ausholen.

Sie wissen, daß ich als Sprößling einer unterfränkischen Soldatenfamilie im Kadettenhause zu München erzogen worden bin und es in dem Jahre vor Ausbruch des französischen Krieges zum Oberleutnant gebracht hatte. Ich war neunundzwanzig Jahre alt und hatte außer meinem Beruf, dem ich mit Leib und Seele anhing, nicht viel erlebt. Eine sehr ideale Fähnrichsliebe, die ein albernes Ende nahm, hatte mich vor den mancherlei Verirrungen meiner Altersgenossen bewahrt, mir aber das weibliche Geschlecht nicht im besten Lichte gezeigt. Doch posierte ich nicht als Weiberfeind, und da ich ein leidenschaftlicher Tänzer war, selbst noch aus der Kriegsakademie, machte ich auch den Karneval des Jahres 70 als einer der Flottesten mit, ohne mir die Flügel zu verbrennen.

Bis auch meine Stunde geschlagen hatte.

Auf einem der öffentlichen Bälle erschien so um die Mitte des Februar eine auffallende junge Schönheit, die alle bisherigen Ballköniginnen verdunkelte.

Sie war erst vor kurzem mit ihrer Mutter, da der Vater vor Jahr und Tag gestorben war, aus Österreich herübergekommen, um, nachdem sie die Trauer abgelegt hatte, noch etwas Winterfreuden zu genießen. Ihre Gestalt, ihr Benehmen, ihre Art sich auszudrücken, all das hatte einen fremdartigen Reiz, der schon aus der seltsamen Mischung ihres Blutes zu erklären war. Denn ihre Mutter, eine hochgewachsene, rötlich blonde Schottin von strenger, puritanischer Haltung und langsam ungelenken Gebärden, hatte einen steirischen Edelmann geheiratet, der sich auf einer Reise durch ihr heimatliches Hochland in das junge Mädchen verliebt hatte. Sie war ihm nach seinem Gut gefolgt, hatte sich aber dort nicht zu akklimatisieren verstanden. Trotzdem schien sie in einer glücklichen Ehe mit dem leichtblütigen katholischen Gatten gelebt zu haben und seinen Tod noch immer nicht verwinden zu können, als sie mit ihrer Tochter auf Reisen ging.

Diese, damals schon in den ersten Zwanzig, hatte von der Welt bisher nichts gesehen, als was auf zehn Meilen in der Nachbarschaft ihres Landsitzes sich ihr dargeboten hatte. Der Vater, der im Punkt der ehelichen Treue vielleicht nicht der Gewissenhafteste gewesen war und alljährlich viele Monate in Wien zubrachte, hatte seine Frau den Versuchungen der großen Stadt sorgfältig fern zu halten gewußt und die Tochter vollends vor allem Verkehr mit jungen Männern behütet. Beide hätten es wahrlich nicht bedurft, da ihr kühles Temperament sie hinlänglich schützte. Denn hierin war Abigail – so war das Fräulein nach einem uralten Brauch der mütterlichen Familie getauft worden – das echte Kind ihrer Mutter, der sie äußerlich durchaus nicht ähnlich sah, nicht einmal durch die Farbe des Haares, die bei der Tochter durchaus keinen rötlichen Schimmer hatte.

Ich will aber nicht den törichten Versuch machen, Ihnen diese reizende junge Person zu beschreiben. Nur zweierlei fiel mir gleich bei dem ersten Begegnen auf und verfolgte mich bis in meine Träume: der seltsam glanzlose Blick ihrer großen grauen Augen, die immer ernst blieben, auch wenn der Mund lächelte, und daß sie die schönsten Arme hatte, die ich je gesehen. Sie trug sie gegen die damalige Sitte ganz entblößt, an den Achseln nur durch einen schmalen Florstreifen von den herrlichen Schultern abgetrennt, was die Damen, zumal die Mütter, skandalös fanden, obwohl die Wiener Mode diese Tracht sanktionierte und das Fräulein im übrigen sich in Worten und Gebärden aufs züchtigste betrug. Aber die Arme waren zu schön, um nicht Aufsehen zu machen und so viel Neid wie Bewunderung zu erregen. Eine Farbe wie etwas vergilbter weißer Atlas, mit einem matten Glanz, und in der Biegung des Ellenbogens eine zarte blaue Ader. Selbst die kleinen, hellen Narben am linken Oberarm, die von der Nadel des Impfarztes herrührten, hatten einen eigenen Reiz, als wären sie mit absichtlicher Koketterie der glatten Haut eingeätzt worden, um deren edle Feinheit desto mehr bemerklich zu machen.

Und so die Hände, als sie beim Souper die Handschuhe abstreifte, der schönste Fuß im weißseidenen Schuh, ein Ebenmaß und eine Schmiegsamkeit der Glieder, die sie dem österreichischen blauen Blut, nicht der schottischen Hochlandsrasse verdankte.

Ich war, so wie ich den ersten Blick auf das herrliche Geschöpf geworfen hatte, unter dem Zauber dieser fremden, kühlen Augen. So unbefangen ich sonst selbst den reizendsten Frauen gegenübertrat, das Herz schlug mir heftig, und meine Rede verwirrte sich, als ich ihr vorgestellt wurde und sie um einen Tanz bat.

Auch fand ich meine Besinnung nicht so bald wieder, während ich mit ihr durch den weiten Saal mich umschwang, und war wütend auf mich selbst, daß ich eine so unbeholfene Figur machte. Beständig mußte ich denken: Sie ist kein Weib wie alle anderen. Eine Göttin! Kein Wunder, daß ihre Blicke so kühl auf das armselige Menschengewühl herabsinken. Ist es zu denken, daß man einen solchen Mund küssen dürfte? Und der Sterbliche, um dessen Hals sich diese Arme schlängen, müßten dem nicht die Sinne vergehen und er in diesem übermenschlichen Glück zu einem Aschenhäufchen verlodern?

Sie sehen, es war eine richtige Bezauberung. Ich gewann aber bald so viel Herrschaft über mich, daß ich mich mit guter Manier in mein Schicksal ergeben und an diesem ersten Abend die Rolle eines ritterlichen Verehrers spielen konnte, ohne mich zu so überschwänglichen Huldigungen fortreißen zu lassen, wie die meisten meiner Kameraden. Das kam mir mehr zustatten, als wenn ich an Schönheit und Liebenswürdigkeit alle überglänzt hätte. Denn das seltsame Mädchen, obwohl dies ihr erster Ballwinter war, nahm doch alle Auszeichnungen, die ihr zuteil wurden, zumal die süßen Reden ihrer Tänzer, mit so kühler Miene entgegen, als ob es ihr beim Tanz einzig und allein auf die Bewegung ankäme und die eitlen jungen Herren, so elegant sie waren, ihr nur als Mittel zu diesem Zweck willkommen wären.

Das gestand sie mir denn auch ganz harmlos, als wir beim Souper miteinander plauderten, und daß es ihr eher lästig und langweilig sei, wegen ihrer Schönheit beständig begafft und umschmeichelt zu werden. Keine Spur von Koketterie konnte ich an ihr bemerken, doch einen Hang zur Ironie und Menschenverachtung, der in einem minder reizenden Wesen sehr abstoßend gewirkt hätte, an Fräulein Abigail aber nur wie ein seltsames Schmuckstück sich ausnahm.

Da ich ihr nicht ein einziges schmeichelndes Wort sagte, wurden wir gleich an diesem ersten Abend sehr gute Freunde, und ich erhielt sogar von der Mutter die Erlaubnis, sie in ihrem Hause aufzusuchen.

Ich machte, wie Sie denken können, gleich am anderen Tage davon Gebrauch. Ich mußte doch fragen, wie der Ball ihnen bekommen sei, und fand die Damen in einer möblierten Wohnung so behaglich eingerichtet, daß mir klar wurde, sie lebten in den bequemsten Verhältnissen. Gleichwohl machte die Mutter kein Hehl daraus, daß sie nur gekommen sei, um für die Tochter einen Mann zu finden, wozu auf dem abgelegenen Landsitz keine Aussicht sei. Das Mädchen hörte jede Äußerung, die in diesem Sinne fiel, mit dem äußersten Gleichmut, wie wenn es sich durchaus nicht um sie selbst dabei handle, sondern um eine Laune der Mama, die hoffentlich auch wieder vergehen werde.

Das Zutrauen, das sie so rasch zu mir gefaßt hatte, entzog sie mir auch nicht wieder, sondern gab mir immer neue Beweise, daß ihr meine Gesellschaft angenehm sei, meine Art, Welt und Menschen zu betrachten, ihr die richtige scheine. Sie erzählte mir ihr ganzes Leben, das freilich keinem Roman ähnlich sah. Verliebt war sie nie gewesen und konnte sich von dem Zustand eines leidenschaftlichen Herzens überhaupt keine Vorstellung machen. Geliebt hatte sie nur einen Menschen, ihren Vater. Mit der Mutter verstand sie sich in keiner Sache und beobachtete alle kindlichen Pflichten fast mechanisch, ohne das Geringste dabei zu empfinden. Ja, sagte sie mir einmal, es ist vielleicht so, wie Sie sagen, ich habe kein richtiges Mädchenherz, und doch –

Dabei drückte sie die Augen zu, lehnte den schönen blonden Kopf zurück, und ihre halb geöffneten Lippen hatten einen halb schmerzlichen, halb wilden Ausdruck von Dürsten und Verlangen.

Gleich darauf lächelte sie und fing eine spöttische Rede an über gewisse junge Damen, die sie kennen gelernt und die ihren Freundinnen beständig Berichte über die Zustände ihrer zärtlichen Herzen zu hören gaben.

Alle diese Vertraulichkeiten waren weit entfernt, mich eitel zu machen und kühne Hoffnungen in mir zu wecken.

Ich verbrachte aber fast einen Abend wie den andern in der Gesellschaft der beiden Damen, teils, so lange der Karneval dauerte, bei öffentlichen Festen, wo ich nun bereits für den unzertrennlichen Kavalier und begünstigten Bewerber galt, teils an ihrem behaglichen Teetisch als einziger Hausfreund männlichen Geschlechts. Nur dann und wann fand sich eine ältere Dame, eine österreichische Bekannte der Mutter dazu, und es wurde ein kleiner Tarock gespielt, bei dem Abigail die Zuschauerin machte. Sie verhehlte ihre Langeweile nicht, wie sie überhaupt mit keiner ihrer Empfindungen je zurückhielt. Und doch blieb ein rätselhafter dunkler Grund in ihrem Wesen, der zuweilen in unbewachten Stunden durchblickte und mich jedesmal mit einem leisen, unheimlichen Frösteln überschauerte.

Ich war im Verlauf der Wochen und Monate so offenherzig gegen sie geworden, daß ich selbst dieses nicht gerade schmeichelhafte Gefühl dem verwöhnten Mädchen nicht verhehlte.

Sie sah ruhig und mit unbeweglichen Augen über mich hinweg.

Ich weiß, was Sie meinen, sagte sie. Es ist etwas in mir, wovor ich mich selbst fürchte, und kann es doch nicht näher bezeichnen. Vielleicht die Ahnung, daß ich nie erfahren werde, was Glück ist, freilich auch anderen kein Glück zu bringen bestimmt bin, ohne eigene Schuld, und daß mein innerstes Wesen sich dann empört und auf irgend etwas sinnt, um sich für diese Zurücksetzung zu rächen. Wissen Sie, wie ich mir vorkomme? Wie ein Eiszapfen, der eine Flamme lustig flackern sieht und sich schämt, so starr und kalt zu bleiben, und nun näher heranrückt und dabei nichts weiter erreicht, als daß er langsam abschmilzt; wenn aber die letzte eisige Starrheit geschwunden ist, wird er selbst nicht mehr vorhanden sein. Das Gleichnis hinkt auf beiden Füßen, ich weiß es wohl; aber es ist doch etwas daran, und Sie wissen vielleicht auch, was mit der Flamme gemeint ist.

Es war das erste Mal, daß sie auf meine längst nicht mehr verborgene Neigung anspielte, freilich unbarmherzig genug, da sie mir jede Hoffnung abschnitt. Wer weiß aber, wohin das Gespräch noch geführt hätte, wenn die Mutter nicht dazu gekommen wäre.

Und freilich hinkte das Gleichnis. Denn auch die Flamme brannte nicht so lustig, wie ein rechtschaffenes Liebesfeuer soll, sondern hatte wunderliche Anfälle von Kühle und Versuchungen völligen Erlöschens.

So recht ins Lodern geriet sie nur, wenn ich mit dem wundersamen Mädchen unter vier Augen war oder im lichterhellen Saal ihre ganze Schönheit an mir vorüberschwebte. War sie meinen Augen entrückt, so kam sie mir durchaus nicht aus dem Sinn, ja ich mußte nun erst recht an sie denken, dann aber stets mit einer rätselhaften Abneigung, obwohl ich ihr nichts Bestimmtes vorwerfen konnte. War's eine Sünde, mich nicht zu lieben? oder von der Liebe überhaupt noch keinen Hauch gespürt zu haben? Und jener dunkle Grund, der ihr selbst unheimlich war, konnte er sich nicht eines Tages als ein ganz unschuldiger Hintergrund erweisen, auf welchem allerlei lichte Freuden sich desto farbiger und reizender ausnahmen?

Und dennoch, die Tatsache stand fest: ich wünschte, ich hätte das schöne Mädchen nie kennen gelernt, das mich doch immer von neuem zu sich hinzwang und, wenn ich in ihrer Nähe war, meine Sinne in einen magischen Aufruhr brachte.

Nur einmal meinen Mund auf diese durstigen Lippen zu drücken, nur einmal von diesen weichen, schlanken Armen umfangen zu werden – ich bildete mir ein, damit würde der Zauber gebrochen und ich mir selbst zurückgegeben werden.

Die Mutter sah mich kommen und gehen, ohne sich über mein Verhältnis zu ihrem Kinde besondere Gedanken zu machen. Daß ich verliebt war, fand sie nur in der Ordnung, aber ganz ungefährlich bei der Sinnesart des Mädchens, die sie nur zu gut kannte und nicht zu bekämpfen suchte, da sie ihrem bei aller äußerlichen Frömmigkeit weltlich spekulierenden Geist sehr erwünscht war. Sie wollte höher hinaus mit ihrer gefeierten Tochter, als ein schlichter Oberleutnant es ihr bieten konnte, und hoffte von mir vor allem, daß ich durch meine Bekanntschaften ihr den Eintritt in die aristokratischen Kreise erleichtern würde. Dann würde es, kalkulierte sie, auf die Länge an einem gräflichen oder gar morganatischen Schwiegersohn nicht fehlen.

Der Sommer machte zunächst einen Strich durch diese Rechnungen, da die »Gesellschaft« sich zerstreute und aufs Land hinauszog. Auch meine beiden Damen mieteten eine Villa in Tegernsee, zu meinem Leidwesen, da ich sie jetzt nur einmal alle sieben Tage besuchen konnte. Die Entbehrung schürte nun allerdings die Flamme dergestalt, daß ich von Samstag zu Samstag in einer fieberhaften Ungeduld hinlebte, zugleich in steter Angst, während meiner langen Entfernung möchte sich irgend jemand an die einsamen Frauen herandrängen, der den Ansprüchen der Mama genügte und der Tochter nicht unwillkommener als irgendein anderer wäre.

Diese Sorge war überflüssig. Dagegen verfinsterte sich plötzlich die Luft über der ganzen deutschen Welt so drohend, daß alle Einzelgeschicke davon überschattet wurden.

Der französische Krieg brach aus. Ich begrüßte ihn freudig, auch weil er meiner eigenen unerträglichen Situation ein Ende machte. Nur mit genauer Not, indem ich einen nächtlichen Ritt daran setzte, konnte ich die Zeit zu einem Abschiedsbesuch in Tegernsee erschwingen. Ich fand am frühen Morgen das schmerzlich geliebte Mädchen im Garten, da sie mein Kommen nicht erwartet hatte. Sie hatte ein Bad im See genommen, und die Morgenluft schauerte über ihre blasse Haut und das blonde Haar, das ihr wie ein weicher Mantel über den Rücken hinabhing. Als sie hörte, was mich zu so ungewohnter Zeit hinausgeführt, wechselte sie die Farbe keinen Augenblick, nur ihre Augenlider senkten sich, als ob sie einen Vorhang über das niederlassen wollte, was in ihr vorging.

»Nun,« sagte sie, »da wird ja Ihr sehnlichster Wunsch erfüllt. Non più andrai farfallon amoroso – Sie werden Wunder der Tapferkeit verrichten und als ein berühmter Sieger zurückkehren. Ich wünsche Ihnen das beste Glück und werde Ihrer täglich gedenken.«

»Werden Sie das wirklich?« sagte ich. »Und etwas herzlicher als jedes anderen Muttersohns, der seine Brust pro patria den Kugeln der französischen Mitrailleusen aussetzt?«

»Wie können Sie daran zweifeln!« sagte sie und brach eine Blume ab, deren Duft sie wieder mit jenem sehnsüchtigen Ausdruck einsog. »Sie wissen, daß ich Ihnen sehr gut bin. Habe ich Ihnen nicht auch mehr Vertrauen bewiesen, als noch je irgendeinem jungen Mann? Sind Sie damit nicht zufrieden?«

»Nein, Abigail,« sagte ich, »und Sie wissen ja auch sehr gut, warum.« Und nun schüttete ich mein ganzes Herz zum erstenmal – da ich dachte, es sei vielleicht das letztemal – in leidenschaftlicher Erregung vor ihr aus. »Ich weiß,« schloß ich, »Sie empfinden gar nichts ähnliches. Der Blitz, der in mein Herz eingeschlagen, hat Ihnen nicht ein einziges Haar Ihrer Stirnlöckchen versengt. Ich bin auch nicht so verblendet, zu glauben, Sie würden aus bloßem Mitleid, um mich nicht ganz hoffnungslos ins Feld ziehen zu lassen, ein wärmeres Gefühl heucheln. Es mußte mir aber einmal von den Lippen, zu meiner eigenen Erleichterung – und nun empfehlen Sie mich Ihrer Frau Mutter, deren Morgentoilette ich nicht stören will, und bewahren Sie mir ein geneigtes Andenken.«

Da schlug sie die Augen auf und sah mir gerade ins Gesicht, sehr ernsthaft, während ihre sonst immer gleichmäßig gefärbten Wangen eine leichte Röte überflog, die sie sehr verschönte.

»Nein,« sagte sie, »so dürfen Sie denn doch nicht von mir gehen, und Gott weiß, ob man sich je wieder sieht. Ich will Ihnen das Geständnis mit auf den Weg geben, daß ich fest überzeugt bin, wären Sie noch ein paar Wochen oder Monate wie bisher freundlich und gut gegen mich gewesen, so hätte sich der bewußte Eiszapfen in ein frisch grünendes Reis verwandelt und Blüten getrieben – wieder ein hinkendes Bild, aber Sie verstehen mich. Vielleicht denken Sie an dieses Frühlingsmärchen, wenn Sie im kalten Biwak nachts nicht einschlafen können, und erwärmen daran Ihr fröstelndes Herz.«

Ich kann nicht schildern, wie mir bei diesen Worten zu Mute war.

Was ich in dem ersten Schwindel und Taumel aller Gefühle gestammelt habe, mögen die Götter wissen. Nur so viel ist mir erinnerlich, daß ich unter anderm die Zumutung an sie stellte, nun sofort zur Mutter zu gehen, sie um ihren Segen zu bitten und dadurch unser Einverständnis zu einer regelrechten Verlobung zu stempeln.

»Wenn Sie mit meiner eigenen Erklärung nicht zufrieden sind,« sagte sie kaltblütig, »so tut mir's leid; zu mehr aber fühl' ich mich für jetzt nicht aufgelegt – wahrhaftig, aufgelegt,« sagte sie, und sah dabei zum Verrücktwerden reizend und marmorkühl aus. »Wenn wir uns in aller Form verlobten, würde ich keine ruhige Stunde haben, sondern mir immer wie Bürgers Lenore vorkommen. Nicht bloß die ewige Unruhe: bist untreu, Wilhelm, oder tot? fürchte ich, sondern noch etwas viel Schlimmeres. Ich bin nämlich entsetzlich abergläubisch, oder vielmehr, ich glaube steif und fest, daß jene Ballade nicht eine bloße schaurige Fabel ist, sondern so oder anders, aber in der Hauptsache sich wirklich zugetragen hat. Wenn Ihnen etwas Menschliches begegnete, lieber Freund, und Sie hätten ein festes Anrecht auf mich, als auf Ihre feierlich Ihnen angelobte Braut – ich schliefe keine Nacht mehr und weiß bestimmt, daß irgendein Spuk meinem armen Dasein ein Ende machen würde. Also lassen Sie uns das Weitere der Fügung des Himmels anheimstellen und ziehen Sie ins Feld, von meinen herzlichsten Gedanken überall begleitet.«

Das war nun danach angetan, meine hochgespannte Stimmung unsanft herabzudrücken. Umsonst versuchte ich, mit Ernst und Scherz sie zu rühren, daß sie mir etwas mehr einräumte. Doch nicht einmal das Versprechen, mir zu schreiben, konnte ich ihr abgewinnen und mußte mich endlich mit sehr geteilten Gefühlen von ihr losreißen. Nichts von wahrer, warmer Hingebung hatte ich gespürt in der Umarmung, die sie mehr duldete als erwiderte, und die so lang ersehnten Lippen, die ich flüchtig berühren durfte, waren von einer Kühle, als hätten sie nicht soeben ein freundliches, verheißungsvolles Wort gesprochen.

Gleichviel: als hoffnungsloser Liebhaber war ich gekommen, und als glücklicher, wenn auch noch nicht erklärter Bräutigam ritt ich wieder davon.

Das Glück war nun freilich nicht überschwänglich groß. Es bestand nur darin, daß ich in allen dienstfreien Augenblicken daran denken konnte, welch ein Siegespreis nach Beendigung des damals unabsehlichen Krieges meiner wartete, vorausgesetzt, daß man sich »dazu aufgelegt« fühlen würde, meine Liebe und Treue zu belohnen, und daß ich von Zeit zu Zeit die Versicherung eben dieser Lieb' und Treue nebst Berichten vom Kriegsschauplatz nach Tegernsee, später nach München schicken durfte.

Eine Antwort kam nie.

Anfangs hatte ich kein Arg dabei. War's nicht ganz richtig, daß ein junges Mädchen einem jungen Manne, mit dem sie nicht in aller Form verlobt war, keine zärtlichen Briefe schrieb? Und andere als zärtliche hätten mich doch nicht glücklich gemacht.

Wer weiß auch, ob nicht die puritanische Mama, die ohnehin das Verhältnis nicht billigen mochte, ein entschiedenes Verbot erlassen hatte.

Aber alle Mütter der Welt, alle korrekten Grundsätze hätten ein wahrhaft liebendes Herz nicht abhalten können, dem von Entbehrungen und Gefahren umringten Liebsten ein wenig Trost in die Ferne zukommen zu lassen. Wie beneidete ich meine Kameraden um gewisse Briefchen, mit denen sie sich in irgendeinen stillen Winkel schlichen, um im Genuß einer solchen »Liebesgabe« nicht gestört zu werden. Ich ging immer leer aus, obwohl ich doch meinerseits der Post mehr als mancher Beglücktere zu tun gab. Und eines Tages schämte ich mich der allzu selbstlosen Rolle, die ich spielte. Ich beschloß, keine Zeile mehr zu schreiben, ehe eine Nachfrage nach mir geschehe. Mochte sie mich nun für »untreu oder tot« halten – es war an ihr, zu zeigen, ob mein Leben oder Sterben den geringsten Wert für sie habe.

Wochen und Monate vergingen seit diesem Entschluß – und keine Zeile kam. Doch wenn Sie denken, ich hätte unter diesem völligen Zusammenbruch meiner Hoffnungen schwer gelitten, so irren Sie sich. Ich empfand vielmehr eine Erleichterung und erkannte, daß ich all die Zeit in einer trügerischen Illusion von Glück und Liebe befangen gewesen war, da im Grunde nur meine Sinne mit im Spiel gewesen und vielleicht mehr noch ein geheimer Trotz, diesem unnahbaren Wesen doch endlich näher zu kommen und das Eis zu schmelzen.

Was mir nun geschehen war, gab mir noch zeitig genug eine heilsame Lehre. Das war keine Frau, wie ich sie brauchte. Ein Glück, daß ich noch mit gutem Gewissen zurücktreten und stehen bleiben konnte, wo ich stand, ohne zu erleben, daß sie mir einen Schritt entgegentat.

So ging das Jahr zu Ende; wir hatten weder einen Weihnachts- noch einen Neujahrsgruß ausgetauscht. Im Februar wurde ich verwundet und nach Mainz transportiert. Wie ich in dem Hause, in welchem ich wochenlang die liebevollste Pflege fand, die kennen lernte, die im nächsten Jahr meine Frau wurde, gehört nicht hierher. Das Wort, das unser Schicksal entschied, war noch nicht zwischen uns gesprochen worden, wir wußten nur, daß wir einander fürs Leben gefunden hatten, da kam eines Tages ein Brief Abigails, sie habe in der Zeitung von meiner Verwundung gelesen und frage bei mir an, ob sie und die Mutter kommen sollten, mich zu pflegen. Von bräutlichen Gefühlen keine Spur, ein Brief, dessen Inhalt aus dem unpersönlichsten Gebot allgemeiner Nächstenliebe hervorgegangen sein konnte.

Vielleicht hatte die Mama ihn diktiert. Aber mußte die Tochter so sklavisch nachschreiben?

Ich bat Helene, der ich damals zuerst von meinem nun gelösten Verhältnis erzählte, in meinem Namen für das freundliche Anerbieten zu danken. Es fehle mir nichts, und ich sei in der besten Pflege.

Das war das letzte Lebenszeichen, das ich von meinem angebeteten »Bild ohne Gnade« erhielt. Ein allerletztes, das im Herbst 71 von mir ausging, die Verlobungsanzeige, kam als unbestellbar aus München zurück. Als ich kurz darauf selbst wieder nach Hause kam, erfuhr ich, die Damen seien schon vor dem Einmarsch der siegreichen Truppen fortgezogen, niemand wisse wohin, vielleicht nach Österreich zurück auf ihren Landsitz.

Doch schon im nächsten Jahr drang das Gerücht zu uns, die schöne Abigail habe sich ebenfalls vermählt mit einem hochbejahrten reichen Norddeutschen, der sie in einem Badeorte kennen gelernt. Übrigens ein feiner und überall hochgeachteter Mann, großer Kunstfreund und Besitzer einer ausgewählten Gemäldesammlung neuerer Meister, der das schöne Fräulein wohl mehr als eine Zierde seiner Galerie, ein atmendes plastisches Kunstwerk sich angeeignet habe, da er fünfunddreißig Jahre älter sei und von schweren gichtischen Gebrechen geplagt.

Daß der kalte Fisch, wie man Abigail nannte, sich nicht lange besonnen habe, eine solche Heirat einzugehen, schien niemand zu verwundern.

Seitdem hatte ich nie wieder ein Wort von ihr gehört; der Ort, wo sie lebte, war mir nicht im Gedächtnis geblieben, nur den Namen Windham hatte ich behalten. Und nun las ich ihn in dem Lokalblatt, das ich ahnungslos überflogen hatte, und konnte nicht zweifeln, es war ihr Gatte, von dessen Bildergalerie hier die Rede war.

Ich rief den Kellner und fragte, ob er mir Näheres von dem Besitzer dieser Galerie und seiner Familie sagen könne. Er wußte nicht mehr, als daß Herr Windham vor etlichen Jahren gestorben sei und seine Sammlung der Stadt vermacht habe. Ob er eine Frau gehabt, könne er nicht sagen. Vielleicht wisse es der Wirt. Der sitze aber in seinem Privatzimmer mit ein paar Freunden beim Skat und liebe es nicht, dabei gestört zu werden.

Ich verbat das auch und suchte mir vorzureden, daß ich durchaus kein Interesse daran hätte, ob eine Frau Abigail Windham als Witwe in dieser Stadt lebe, oder etwa mit ihrer Mutter wieder auf dem steirischen Landgut. Was war mir diese alte Flamme? Ein Bild und ein Name. Und vielleicht war auch das Urbild in diesen elf Jahren stark verblichen oder nachgedunkelt, und ein Wiedersehen konnte keinem von uns erwünscht sein.

Lassen Sie mich gestehen, daß auch ein nie ganz unterdrücktes Gefühl eigener Verschuldung sich wieder in mir regte.

Im Grunde, was hatte ich ihr vorzuwerfen? Sie hatte nur nicht gehalten, was sie nie versprochen hatte, was ihrer Natur nun einmal versagt war. Wer weiß, wenn ich mich auf ihr einfaches Wort verlassen und alles der Zukunft anheimgestellt hätte, wäre der zarte Keim einer Neigung zu mir am Ende wirklich kräftig zur Blüte gediehen und ein so langsam erschlossenes Herz hätte doch wohl keinen geringeren Wert gehabt, als eines, das über Nacht sich entscheidet. Nein, es war ein schnöder Wankelmut gewesen, mich plötzlich von ihr abzuwenden. Freilich, ob ich mit ihr so glücklich geworden wäre, wie mit meiner armen Helene –! Aber darauf kam es nicht an. Ich hatte ihr meine Treue gelobt, und war's eine Übereilung gewesen, als Ehrenmann war ich verpflichtet, sie nicht im Stich zu lassen.

Ähnliche Betrachtungen hatte ich im Laufe der letzten Jahre mehr als einmal angestellt und sie immer mit Sophismen zurückzudrängen gesucht. An jenem Abend gewannen sie eine solche Macht über mich, daß ich in sehr trübseliger Stimmung dasaß, einen bitteren Geschmack auf der Zunge, den selbst der edle Wein nicht wegspülen konnte.

Darüber war es spät geworden. Die Spieler hatten das Lokal verlassen, nur eine einzige Schachpartie zog sich hartnäckig in die Länge. Ich brach endlich auf und merkte nun erst, daß schwerer Wein und schwere Gedanken nicht gut zusammen taugen. Denn der Kopf brannte mir, und am Herzen fühlte ich einen lästigen Druck. Das besserte sich aber, als ich in die linde Nachtluft hinaustrat und meinen wohlbekannten Weg nach dem Gasthof einschlug. Keiner Menschenseele begegnete ich, als einem Nachtwächter, der in dieser altertümlichen Stadt noch mit Spieß und Laterne die Runde machte – damals wenigstens. Die Laterne war überflüssig, denn ein zauberhafter Mondschein lag auf Dächern und Gassen und ließ die krausen Ornamente der alten Erker und selbst die Inschriften über den Haustüren taghell hervortreten. Die Nacht war so wundervoll, daß ich noch einen weiten Umweg machte, eh' ich mich entschloß, mein Zimmer aufzusuchen, das über Tag ziemlich schwül gewesen war. Hoffentlich hatte das Zimmermädchen die Fenster offen gelassen.

So erreichte ich das Hotel, fand die Tür noch angelehnt, den Portier aber in seiner Zelle in tiefen Schlaf gesunken. Ich gönnte ihm seine Ruhe, zumal ich den Zimmerschlüssel hatte stecken lassen. Den Weg zur Treppe hinauf konnte ich auch bei dem schläfrigen Gaslicht ohne Führer finden. Ich hoffte einen langen Schlaf zu tun, denn ich fühlte eine bleierne Müdigkeit in allen Gliedern. Als ich aber meine Tür öffnete, sah ich etwas, das plötzlich alle träumerische Dumpfheit von mir nahm und mich mit einem jähen Ausruf der Überraschung an die Schwelle festbannte.

Die beiden Fenster des Zimmers gingen nach einem freien Platz hinaus und ließen das grelle Mondlicht breit hereindringen. Desto dunkler war es in der hinteren Ecke, wo das Bett stand, und gegenüber an der anderen Wand bei dem Sofa. Und doch sah ich deutlich, daß jemand auf dem Sofa saß, eine schwarzgekleidete Frauengestalt, nichts Helles an ihr als das Gesicht. Das sah unbeweglich aus einem schwarzen Schleier hervor, der von der einen Hand unter dem Kinn zusammengehalten wurde, während die andere einen Blumenstrauß gegen das Gesicht hielt. Sie mußte ihn aus dem Glase genommen haben, das auf dem Tisch vor dem Sofa stand, ein paar Rosen und Jasminblüten, die mir die Frau meines Freundes nach Tische in ihrem Garten gepflückt hatte.

Auch bei meinem Eintritt regte sich die verhüllte Gestalt nicht im Mindesten. Erst als ich mich ermannte und dicht an den Tisch trat – die Worte versagten mir, ich traute noch immer meinen Augen nicht – hob die Fremde den Kopf, den sie auf die Lehne des Sofas hatte zurücksinken lassen, und ich sah nun trotz der Dunkelheit ganz deutlich zwei große graue Augen auf mich gerichtet.

Abigail!

Die Gestalt blieb ruhig sitzen. Sie schien durchaus nicht verlegen, an diesem Ort, zu dieser mitternächtigen Stunde sich mir gegenüber zu befinden. Nur die Hand mit den Blumen ließ sie in den Schoß sinken. Dann, nach einer Weile hörte ich sie sagen – die Stimme klang mir unheimlich fremd:

»Kennen Sie mich wirklich noch? War alle Mühe, die Sie sich gegeben haben, mich zu vergessen, umsonst? Nun, das macht Ihnen alle Ehre. Ich sehe, daß ich Sie doch richtig taxiert habe.«

»Abigail!« rief ich wieder. »Ist es denn möglich? Sie hier? Wie kommen Sie in dieses Zimmer, zu so ungewohnter Zeit?«

Ich hatte mich jetzt an das Halbdunkel gewöhnt und sah deutlich, daß ein kalter, lauernder Zug ihren Mund entstellte. Übrigens erschien sie mir schöner, als ich sie im Gedächtnis hatte, nur blasser, und die Brauen zogen sich zuweilen schmerzlich zusammen.

»Wie ich hierher gekommen bin?« erwiderte sie langsam, mit einer etwas heiseren Stimme, wie jemand, der einsam lebt und das Sprechen oft Tage lang nicht mehr übt. »Das ist sehr einfach. Ich hörte, Sie seien hier, auf kurze Zeit. Daß Sie mich nicht aufsuchen würden, wußte ich. Da mußte ich mich wohl entschließen, zu Ihnen zu kommen. Den Weg hier herauf zeigte mir freilich niemand. Der Portier schlief. Aber ich las Ihren Namen auf der schwarzen Tafel unten und dabei die Nummer Ihres Zimmers. Da war ich so frei, mich hier häuslich niederzulassen, um Sie zu erwarten. Ich möchte doch gern, da ich jetzt so einsam bin – mein Mann ist vor drei Jahren gestorben – einen alten Freund einmal wieder begrüßen. Sie wissen, on revient toujours –! Freilich, so ein armer revenant macht eine traurige Figur, aber wenn ich häßlich geworden bin, Sie dürfen mir's nicht vorwerfen, Sie sind ja schuld daran – doch davon wollen wir jetzt nicht reden. Man muß sich das bißchen hübsche Gegenwart nicht durch unliebsame Rückblicke verderben.«

Noch immer fand ich kein Wort. Was ich aus dem ganzen Abenteuer machen sollte, war mir rätselhaft. Abigail, die ich so stolz und zurückhaltend gekannt hatte, jetzt hier um Mitternacht auf meinem stillen Gasthofzimmer, nur um mich wieder zu begrüßen! –

»Es ist so dunkel hier«, stammelte ich endlich. »Erlauben Sie, daß ich Licht mache.«

»Nein, lassen Sie!« fiel sie mir ins Wort. »Es ist hell genug, daß wir unsere Augen sehen können, und weiter bedarf es nichts. Ich bin eitel, müssen Sie wissen. Sie sollen nicht auf meinem Gesicht die Spuren der vielen Jahre sehen, die seit unserm letzten Begegnen verflossen sind. Ich habe die Zeit nicht gerade sehr lustig zugebracht. Wenn Sie mich nicht hätten sitzen lassen, wäre ich vielleicht vergnügt gewesen, und wer sich glücklich fühlt, altert nicht!«

»Gnädige Frau –!« rief ich und wollte ihr sagen, daß ich mich zwar nicht frei von Schuld wisse, sie aber, was geschehen, mitverschuldet habe. Sie ließ mich aber nicht zu Worte kommen.

»Nennen Sie mich mit meinem Mädchennamen, nicht ›gnädige Frau‹!« sagte sie. »Solange mein Mann lebte, mußte ich mir diese Anrede gefallen lassen, die mir doch nicht zukam. Ich war nur die barmherzige Schwester meines guten Mannes, nicht sein Weib. Und noch etwas freilich: sein Modell, daß er vergötterte, anbetete, dessen Schönheit zu preisen er nicht müde wurde. Anfangs machte mir das Vergnügen, bald aber langweilte mich's. Und daß er mich in hundert Stellungen und Lagen zeichnete, erschien mir vollends als eine unausstehliche Frohne. Aber was sollt' ich machen? Es war seine einzige Freude, und die durfte ich ihm nicht stören, er war ein so edler, lieber Mensch, weit besser als Sie. Und doch fühlt' ich mich wie erlöst, als er endlich seinen Leiden erlegen war.«

»Abigail,« sagte ich, »es ist mir lieb, daß ich es einmal vom Herzen wälzen kann, was mich so lange bedrückt hat.« – Und nun sagt' ich ihr alles, meinen Kummer über ihre Kälte, die getäuschte Hoffnung, während des langen Feldzuges werde das Band von ihrem Herzen springen, und daß ich endlich verzweifelt sei, jemals das Eis um ihre Brust zu schmelzen.

»O,« sagte sie, mit einem leisen Zittern in der Stimme, »Sie stellen das sehr zu Ihrem Vorteil dar, mein Herr. Wenn Sie mich wirklich geliebt hätten, wäre Ihnen die Geduld nicht ausgegangen, darauf zu warten, daß ich, da ich die Liebe erst mühsam buchstabieren mußte, endlich bis zum Z gelangte, nachdem ich doch einmal A gesagt hatte. Aber sobald Sie im Felde waren, hörte ich auf, für Sie zu existieren.«

»Wie können Sie das sagen! Alle Briefe, die ich Ihnen schrieb –«

»Ich habe nicht einen einzigen bekommen.«

Wir starrten einander an. Jedem von uns drängte sich derselbe Gedanke auf, daß die Mutter meine Briefe unterschlagen habe. Aber keines brachte das über die Lippen.

»Je nun,« sagte sie endlich, »was hilft es, sich über verlorene Dinge den Kopf oder gar das Herz zu zerbrechen! Sie haben einen hinlänglichen Ersatz gefunden, und auch ich hätte es viel schlimmer haben können. Am Ende wären wir Zwei nicht einmal glücklich miteinander geworden. Ich gestehe Ihnen ehrlich, ich weiß immer noch nicht, ob ich im Grunde gut oder schlecht bin. Vielleicht bin ich keins von beiden. Vielleicht denkt die Natur, wenn sie einen Menschen besonders schön geschaffen hat, sie habe nun genug für ihn getan und brauche ihm weiter nichts ins Leben mitzugeben. Mein Mann, der ein Kunstenthusiast war, verlangte auch nicht mehr. Sie aber – ich glaube, es hätte Sie bald gelangweilt, meine schönen Schultern und Arme anzugaffen.«

Damit schlug sie den schwarzen Schleier zurück und lag hingegossen in der reizendsten Haltung, mit einem ernsten Blick an sich selbst hinunterschauend. Aber ohne Eitelkeit, nur wie man ein Bild betrachtet. Sie war in der Tat noch schöner geworden mit der größeren Reife, die blassen Arme ein wenig voller und auch jetzt nur oben an der Achsel mit einem schmalen Band umschlungen, das alle Augenblicke herabzurutschen drohte, worauf sie es ruhig wieder in die Höhe schob. Ich sah wieder die drei kleinen Narben am linken Oberarm, und wieder kam mir das Gelüst, meine Lippen darauf zu drücken und von den glatten, weichen Schlangen ihrer Arme meinen Hals umstrickt zu fühlen.

Endlich, als würde sie durch meine zudringlich prüfenden Blicke belästigt, nahm sie die Falten des Schleiers über ihrer Brust wieder zusammen und stand auf.

»Dieses Sträußchen nehm' ich zum Andenken mit«, sagte sie. »Ihr habt viel schönere Blumen als wir, auch duften sie, was unsere nicht tun.«

Sie zog eine Handvoll Immortellen hervor, die sie im tiefen Ausschnitt ihres schwarzen Sammetkleides getragen hatte. »Wollen Sie sie haben? Auch zum Andenken? Wozu soll ich mich auch sonst putzen, als für einen guten Freund? So gut wird mir's nicht alle Tage.«

»Abigail!« rief ich, jetzt vollends hingerissen, da sie in ihrer ganzen Schönheit am mondbeschienenen Fenster vor mir stand, das blonde Haar unter dem Schleier vorleuchtend, – »soll dies unser letztes Begegnen gewesen sein? Sie sind wieder frei, und ich so einsam wie Sie, und daß wir nicht früher zusammenkommen konnten, – wir haben jetzt eingesehen, daß es nicht unsere Schuld war. Liebe Abigail – können Sie sich – kannst du dich jetzt noch entschließen, mein Weib zu werden?«

Ich stürzte auf sie zu und wollte sie in meine Arme ziehen. Sie trat aber einen großen Schritt zurück und streckte beide Hände abwehrend gegen mich aus.

»Nein, mein Herr!« sagte sie, und ein kühler, spöttischer Ausdruck des weißen Gesichts schlug meine Wallung nieder. »Machen wir keine Dummheit. Sie haben mich darum gebracht, zu erfahren, wie das Leben an der Seite eines geliebten Menschen sein könnte. Das holt man nie wieder nach. Sie würden beständig Vergleiche anstellen zwischen mir und der guten kleinen Frau, die Sie so glücklich gemacht hat und so ganz anders war als ich – oder können Sie leugnen, daß Sie glauben, eine bessere Frau habe nie ein Mensch besessen! – Nun und ich, wenn ich auch gewünscht hätte, mein Mann möchte dreißig Jahre jünger gewesen sein, – wie er mich angebetet, wird mich niemand mehr anbeten. Also einen Strich darunter und ohne Winseln und Wehklagen! Aber ich seh' es Ihnen an, Sie sind jetzt sehr verliebt in mich, nun, und warum sollte ich Sie verschmachten lassen? Ich bin ja jetzt ganz unabhängig und kann über meine Person nach Belieben verfügen. Wenn man's einmal verscherzt hat, sich am Glück satt zu trinken, warum soll man verschmähen, einmal davon zu nippen, um sich wenigstens eine kurze Illusion von Glück zu verschaffen, zumal in einer so schwülen Nacht, wo ein armes Menschenkind eine Erfrischung wohl brauchen kann?«

Ich kann nicht beschreiben, wie wunderlich diese Worte auf mich wirkten. Dies Gemisch von Schwermut und Leichtfertigkeit, von Resignation und Genußsucht war mir so fremd an dem einst so spröden und kühlen Wesen, daß ich mich erst eine Weile fassen mußte, eh' ich etwas gewiß sehr Einfältiges erwidern konnte.

Ich hörte sie auch leise lachen. »Sie wundern sich, daß ich trotz meiner puritanischen Erziehung so wenig prüde bin. Nun, das vergeht einem mit den Jahren, der dunkle Grund dringt immer mehr herauf, vor Wut und Gram über ein verlorenes Leben könnte selbst ein Engel von einem keuschen Weibe zu einer Teufelin werden. Aber Sie brauchen keine Angst zu haben; ich dränge mich Ihnen nicht auf. Ich sagt' es ja schon, ein armer revenant darf nicht große Ansprüche machen. Also leben Sie wohl und gute Nacht!«

Sie hatte das mit so eigentümlich gedämpfter Stimme, wie ergeben in ein trauriges Schicksal, gesprochen, daß mein ganzes Herz ihr wieder entgegenschlug. Ich streckte den Arm aus, sie an meine Brust zu ziehen, aber wieder trat sie zurück.

»Nicht hier!« flüsterte sie. »Was würden die Leute im Hause von mir denken, wenn ich morgen früh die Treppe hinunterginge! Begleiten Sie mich in meine Wohnung, da sind wir ungestört, und kein Hahn kräht danach, wenn ich mir Gesellschaft einlade. Wollen Sie? Nun so kommen Sie und lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren. Die Stunden eilen, und das Glück enteilt mit ihnen.«

Sie wandte sich nach der Türe, und ich sah wieder mit Entzücken ihren leichten, schwebenden Gang, der unhörbar über den Teppich glitt. All meine Sinne fieberten, als ich ihr folgte, die Treppe hinab, wo das Gas jetzt ausgelöscht war, zu dem unverschlossenen Hause hinaus. Draußen wollte ich mich ihres Armes bemächtigen, sie schüttelte aber stumm den Kopf und ging ruhig ihres Weges, doch so dicht neben mir, daß, wenn sie sich zu mir wandte, der kühle Hauch ihres Mundes mich berührte.

Das geschah nicht oft. Meist sah ich nur ihr Profil, und wieder fiel mir der durstige, lechzende Ausdruck ihres Mundes auf, halbgeöffnet, daß die Zähne vorschimmerten, die Oberlippe ein wenig vorgestreckt. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen, das Haar war aufgegangen und floß unter dem Schleier über ihren Rücken, die nackten Arme lagen übereinander geschlagen unter der entblößten Brust, die sie dem Nachtwind preisgab. »Friert dich nicht?« sagt' ich. Sie schüttelte nur wieder den Kopf. Dann warf sie mir plötzlich einen argwöhnisch lauernden Seitenblick zu.

»Du genierst dich, so mit mir über die Straße zu gehen«, sagte sie. »Aber sei unbesorgt, ich kompromittiere dich nicht. Auch wenn uns jemand begegnete, er würde nicht denken, ich führte dich jetzt zu einer Schäferstunde. Ich habe einen sehr guten Ruf, niemand würde wagen, ihn anzutasten. Man weiß, daß ich ganz ehrbar und abgeschieden wohne und keinen Mann über meine Schwelle lasse, außer dem alten Gärtner, der mir meine Blumen in Ordnung hält. Auch komm' ich gar nicht an die Luft, was hätte ich auch draußen zu suchen? Heute habe ich eine Ausnahme gemacht, um deinetwillen, on revient toujours à ses premiers amours; aber das hab ich dir ja schon einmal gesagt. Ja, siehst du, man wird eintönig, wenn man liebt, was liegt daran? Du wirst mich darum nicht verachten.«

In diesem Augenblick kam uns ein verspäteter Nachtschwärmer entgegen. Er ging aber an uns vorbei, als sähe er nur mich, nicht das schöne, seltsam gekleidete Weib an meiner Seite, dessen prachtvolle Schultern unter dem schwarzen Schleier sichtbar genug hervorschimmerten. Ich hörte sie leise lachen. »Hab' ich dir's nicht gesagt? Der werte Herr war nur so diskret, um mich nicht verlegen zu machen. Meinetwegen könnte er dieses Zartgefühl sparen. Was kümmert mich mein Ruf? Wen geht es was an, wenn ich einem alten Freunde, obwohl er's nicht um mich verdient hat, etwas zu Liebe tun will?«

Während sie sprach, eilte sie so rasch vorwärts – immer so lautlos, als ginge sie auf nackten Füßen –, daß ich kaum Schritt mit ihr halten konnte. So kamen wir vors Tor. Diese Gegend war mir unbekannt. Einige ärmliche Häuser, in denen Arbeiter wohnen mochten, standen rechts und links von der staubigen, mit Pappeln bepflanzten Chaussee, und endlich hörte jede Spur einer Ansiedelung auf. Der Mond war hinter eine helle Wolkenschicht gegangen, ein stärkerer Wind hatte sich aufgemacht und sauste durch die Wipfel über uns. »Sind wir bald am Ziel?« fragte ich, da ein unheimliches Gefühl mehr und mehr meine Brust beengte. »Bald!« flüsterte sie. »Du siehst schon die Mauer meines Gartens, dort zur Linken. Meine Wohnung liegt mitten darin. Bist du aber müde? Willst du umkehren?«

Statt aller Antwort suchte ich sie an mich zu ziehen. Ich fühlte ein brennendes Verlangen, sie auf den weißen Hals zu küssen. Aber wieder entwand sie sich mir und sagte: »Warte nur! Was du wünschest, wird dir früh genug. Und da sind wir schon. Du wirst dich wundern, wie hübsch ich wohne.«

Wir standen vor einem breiten eisernen Gitter, das den Eingang in einen weiten Garten verschloß. Von den Anlagen sah man nichts als eine Allee, die geradeaus sich weit in den Hintergrund erstreckte, aus zypressenartigen Taxussträuchern und Tujabäumchen gebildet, zwischen denen hier und da ein Marmorbild vorleuchtete. Am äußersten Ende ragte ein einstöckiger Bau in die Höhe, mit einem halbrunden Dach; das mußte die Villa sein. Es lag aber ein so bleicher Nebelduft über allem, daß man in solcher Entfernung nichts genau unterscheiden konnte.

»Willst du nicht aufschließen?« fragte ich. »Die Nacht vergeht.«

»O, sie ist noch lang genug«, antwortete sie leise, mit einem höhnischen Ton. »Und ich habe den Schlüssel vergessen. Was fangen wir nun an?«

»Da ist eine Klingel neben der Pforte«, sagte ich. »Sie wird den Gärtner wecken, wenn der schon schlafen sollte.«

»Unterstehe dich nicht, die Glocke zu ziehen! Niemand darf wissen, daß ich dich bei mir einlasse, der alte Mann am wenigsten. Er würde mich verachten und meine Blumen nicht mehr begießen. Aber wir brauchen auch niemand. Wenn wir uns nur ein wenig schmiegen, geht es auch so.«

Indem sie das sagte, sah ich, wie sie durch den Zwischenraum zweier Eisenstäbe hindurchglitt, so leicht, als wäre statt der üppigen Frauengestalt eine Wolke hineingeschwebt.

Nun stand sie drüben, jetzt wieder im hellen Mondschein, und nickte mir zu. »Wer mich lieb hat, folge mir nach!« rief sie, wieder mit ihrem schadenfrohen Lachen. Zugleich aber leuchtete mir nun ihre reife Schönheit voll entgegen, daß ich vor Sehnsucht und Ungeduld aus der Haut zu fahren dachte.

»Spiele nicht so grausam mit mir!« rief ich. »Du siehst wohl, auf diesem Wege kann ich nicht zu dir kommen. Hast du mich so weit gelockt, so vollende nun dein gutes Werk, hole den Schlüssel und laß mich ein!«

»Das könnte dem Herrn wohl gefallen!« höhnte sie durch das Gitter, und ihre Augen blitzten mich an. »Und morgen früh, wenn die Hähne krähen, ginge er auf und davon und ließe mich einsame Witwe ohne alle Gewissensbisse zurück. Denn ich bin nur schön bei Nacht. Wenn die Sonne scheint, darf ich mich nicht sehen lassen. Nein, schöner Herr, es war mir nur um ein sicheres Geleit zu tun, da eine tugendsame Frau um Mitternacht nicht gern allein auf der Straße betroffen wird. Und nun bedanke ich mich für den Ritterdienst und wünsche dem Herrn Major, oder was er sonst sein mag, eine glückliche Reise.«

Sie machte einen tiefen Knix, wobei sich die reizende Gestalt verführerischer als je darstellte, und wandte sich dann langsam ab, um die Allee hinaufzuschreiten.

»Abigail!« rief ich außer mir, »ist es möglich! So unmenschlich kannst du mich behandeln, mir erst alle Himmel offen zeigen und mich dann erbarmungslos in die schadenfrohe Hölle stürzen? Wenn ich es verscherzt habe, dich je die Meine zu nennen, stoß mich wenigstens nicht ohne jeden Trost von dir, gib mir einen Tropfen Liebe zu kosten, daß ich meine durstige Seele damit beschwichtige, nur einen Kuß, Abigail, aber nicht wie damals, als dein Herz nicht auf deinen Lippen war, sondern wie man einen Freund küßt, dem man ein schweres Vergehen verziehen hat!«

Sie war stehen geblieben und drehte sich ruhig wieder nach mir um. »Wenn dem Herrn mit so wenig gedient ist, – Abigail ist nicht grausam, obwohl das Leben ihr selbst grausam mitgespielt hat. Und überdies hätte ich auch wohl einmal Lust zu küssen, wozu ich mein Lebtag nicht recht gekommen bin.«

Sie kehrte um und trat wieder dicht an das Gitter heran. Mit den beiden glatten, weißen Armen griff sie durch die Stäbe hindurch und zog meinen Kopf rasch an ihr Gesicht heran. Ganz nahe sah ich ihre großen grauen Augen, die auch jetzt ohne Liebe und ohne Haß in kaltem Glanze strahlten. Dann fühlte ich, wie ihr Mund sich auf den meinen preßte, und ein seltsamer Schauer, halb Angst, halb Seligkeit, rann mir durch das Blut. Ihre Lippen waren kalt, aber ihr Atem glühte mich an, und mir war, als saugte sie mir die Seele aus dem Leibe. Vor meinen Augen wurde es schwarz, der Atem verging mir, ich suchte angstvoll mich loszumachen, aber ihr kühler, weicher Mund blieb fest auf meinen gedrückt – ich strebte danach, mich der Umstrickung ihrer Arme zu entwinden, – die weichen Schlangen umschnürten meinen Nacken wie stählerne Reifen, und wo war die Kraft meiner Arme geblieben? Wie wenn das Mark in ihnen durch jenen Kuß aufgezehrt würde, sanken sie kraftlos herab, der Todesschweiß trat mir auf die Stirn, wie ein halb ohnmächtiger armer Sünder, der die Folter erleidet, hing ich an dem Gitter, ich wollte schreien, und kein Ton durchbrach den so fest verschlossenen Mund, die Gedanken rasten mir durchs Hirn, wie bei einem ins tiefe Meer Versinkenden, noch zwei Augenblicke in dieser Qual, und es war um mich geschehen – da brach ein Schall wie das Klatschen einer Peitsche in die grauenhafte Stille hinein, sogleich löste sich der Mund drüben von dem meinigen, ein helles Gelächter erscholl zwischen den Stäben, ich verlor die Besinnung und brach zusammen.

 

Als ich wieder zu mir kam, sah ich meinen Freund, den Doktor, neben mir knien, beschäftigt, mir mit irgendeiner Essenz, die er aus seiner Handapotheke geholt, Stirn und Schläfe zu reiben. Sein Wagen stand dicht dabei in der Allee, ich begriff, daß ich seinem Kutscher die Erlösung von dem Gespenst zu verdanken hatte, da das Knallen der Peitsche es verscheuchte.

»Was Teufel, alter Freund, hast du hier draußen am Friedhof in der Geisterstunde zu suchen?« rief der Arzt, als ich mich ein wenig ermuntert hatte und, von ihm unterstützt, dem Wagen zuwanken konnte. »Du zitterst an allen Gliedern, deine Lippe blutet – wenn du geglaubt hast, daß es eine passende Nachkur nach Wildbad sein möchte, hier im Nachttau auf der kalten Erde zu schlafen, so bist du in einem großen Irrtum.«

Nicht um die Welt hätte ich's übers Herz gebracht, ihm den wahren Zusammenhang mitzuteilen. Der feurige Wein habe mich noch so spät umgetrieben, sagte ich, und so sei ich zuletzt dort am Gitter, wo ich einen Augenblick hätte rasten wollen, von einem Schwindel überrascht und zu Boden geworfen worden.

Das klang nicht unwahrscheinlich. Auch verfiel ich, nachdem mein hilfreicher Freund mich in meinem Gasthofsbette zur Ruhe gebracht, sofort in einen tiefen gesunden Schlaf, den niemand ängstlich zu bewachen brauchte. Als ich am späten Morgen aufstand, durch den Besuch des Doktors ermuntert, schien jede Spur des unheimlichen Nachtbesuches verschwunden.

Dennoch war ich durchaus nicht so tapfer, wie es einem Soldaten geziemte. Als der Abend kam – den Tag hatte ich in beklommenem Brüten auf meinem Zimmer zugebracht –, schrieb ich ein Billet an den Freund, ich müsse noch mit dem Nachtzuge abreisen. Auch jetzt gestand ich den wahren Grund nicht ein. Ein Arzt – ein Skeptiker von Beruf – wie hätte ich denken können, daß er meinem Bericht Glauben geschenkt hätte? Muß ich nicht fürchten, daß ich selbst Ihnen, verehrte Freunde, entweder als ein sonderbarer Schwärmer oder als ein fabulierender Phantast erscheine?

 

Alle waren verstummt. Endlich sagte die Frau vom Hause:

»Wenn ich ehrlich sein soll – aber ich darf Sie nicht dadurch verstimmen, lieber Herr Oberst – Ihre ganze Spukgeschichte halte ich nur für einen starken, ungewöhnlich hellen und zusammenhängenden Traum, den Sie geträumt haben. Der Portier des Hotels kann Ihnen nicht als Zeuge dienen, da er geschlafen haben soll, als zuerst die Frau und dann Sie selbst die Treppe betraten. Übrigens wenn wirklich der Wein dies ganze Abenteuer in Ihrem Kopfe gedichtet haben sollte, auch diesmal wäre im Weine Wahrheit gewesen – Ihr Gefühl für die verlassene Geliebte und die Nemesis, die sich Ihnen durch die entsetzliche Umarmung des Alps offenbart hätte.«

»Ich war auf diese Erklärung gefaßt«, sagte der Oberst und sah still vor sich hin. »Aber was sagen Sie zu Träumen, die in der Wirklichkeit sichtbare Spuren zurücklassen? Als ich am Morgen an meinen Tisch trat, war der Strauß von Rosen und Jasmin aus dem Glase verschwunden. Auf dem Sofa aber lag ein dürres Sträußchen verblichener Immortellen.«


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