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Er hatte den Brief seiner Sekretärin gegeben mit dem Auftrage, diese dürren, todeskalten Worte darauf zu schreiben. Nicht einmal lesen hatte er wollen, was ich ihm zu sagen hatte.

Und ich hatte gehofft – gehofft – In einer Anwandlung plötzlicher Schwäche ließ ich mich auf einen Stuhl fallen. Verbarg mein Gesicht in den Händen. Aber auch so noch fühlte ich, daß die Schamröte mir in die Wangen gestiegen war. Weinen hätte ich mögen vor Beschämung, wenn ich hätte weinen können.

Noch einmal durchlebte ich die Szene in Tim Bradleys Lokal. Nein, ich konnte Philipp nicht tadeln, wenn ich bedachte, wie ich ausgesehen hatte! Wie hatte ich Närrin nur erwarten können, daß ein Mann dies ertrug: Seine Geliebte, die Frau, der er vertraute, halbnackt, in diesem grotesken Putz, den gemeinen Blicken halbbetrunkener Männer ausgesetzt. Wie hatte ich auch nur versuchen können, das Philipp zu erklären? Jetzt erst wußte ich ganz klar, daß ich damals, gleich nachdem ich Mutter gefunden hatte, zu Phil hätte gehen müssen. Er hätte mich verstanden und hätte mir geholfen. Obwohl er durch Geburt und Beruf einer anderen Welt angehörte, war er einsichtsvoll, großherzig, alles andere als ein Snob. Nur durch meine sinnlosen, unverzeihlichen Lügen hatte ich seine Liebe, seine Achtung und sein Vertrauen verloren. Er begriff nur Wahrheit. Unaufrichtigkeit war ihm unverständlich und unerträglich.

Wohl eine halbe Stunde saß ich so; vergaß, daß ich in unserem Laden erwartet wurde. Endlich weckte mich ein Klopfen an der Tür aus meiner Betäubung.

»Sind Sie zu Hause, Miß Carton?«

Auf meine Antwort öffnete die Wirtin.

»Ich habe doch richtig gehört, daß Sie wieder zurückgegangen sind«, sagte sie freundlich. »Es ist jemand im Vorzimmer, der mit Ihnen sprechen will. Er sagt, es ist sehr wichtig.«

Jemand, der mich dringend sprechen wollte! Eine jähe Hoffnung sprang in mir auf. Philipp?! Hatte er es sich doch überlegt? War gekommen, mich zu sehen?! Aber warum kam er dann nicht gleich zu mir ins Zimmer? Oder hatte Mrs. Peterson ihn zurückgehalten?

»Ich komme gleich. Danke, Mrs. Peterson!«

Damit lief ich zum Spiegel, ordnete mein Haar. Fast überrascht war ich. Ich hatte geglaubt, wie ein Gespenst auszusehen, und schon wieder hatte die Hoffnung meine Augen belebt!

Dann lief ich in den Vorraum hinaus, stand – nein, nicht Philipp – stand Red Jacobs gegenüber!

»Was wollen Sie hier?« stammelte ich. »Wie haben Sie mich gefunden? Was wünschen Sie?«

»Komme von Mona«, antwortete er ernst. »Sadie schickt mich. Es ist keine Minute zu verlieren. Sie nehmen am besten ein Taxi. Kommen Sie, warten Sie nicht!«

»Sie meinen … Mutter … stirbt?«

»Es sieht so aus. Wenn Sie sie noch vorher sehen wollen, müssen Sie sich beeilen. Sadie hatte Ihre Adresse von Mona. Kommen Sie?«

Und in meinem neuen Schmerz, in der Bitternis dieser Stunde, war es Red Jacobs, der Gangster, der mich zu trösten suchte. Vielleicht hat der Engel der Vergeltung dir, Red, für dein Herz, das an diesem Tage weich war, einen Merkstrich zu deinen Gunsten in dein Schuldbuch geschrieben.

Als das Taxi an diesem Wintermorgen durch die Straßen von New York fuhr, war ich noch zu betäubt, um sprechen zu können. Um die Wahrheit zu sagen, ich weinte nicht nur, weil es mit meiner Mutter zu Ende ging. Ich weinte, weil Philipp nicht gekommen war.

Sein Name war in meinem Herzen, als der Wagen endlich vor dem grauen, schmutzigen Hause hielt und wir an einigen Frauen vorbei, die unruhig beisammen standen und bei unserem Anblick verstummten, die Treppe hinaufeilten.

Mutter schlief. Sadie saß an ihrem Bett. Ein seltsamer Anblick war sie – die Tränen, die über ihre Wangen liefen, hatten dicke Spuren in ihr verschminktes Gesicht gezogen.

Ich beugte mich über Mutter herab, streichelte sie, flüsterte zärtliche Worte, aber diese Gestalt lag still, ganz still. Nein, meine Mutter konnte nicht mehr antworten, nie wieder würde sie mir mit einem Lächeln Willkommen bieten.

Verloren auch sie …

So jung, so unschuldig sah sie aus! Es war, als ob der Todesengel mit einer einzigen Handbewegung alle Qual von ihren Zügen fortgestrichen hätte. Zum erstenmal sah ich ganz stark und überzeugend die Ähnlichkeit dieses Gesichtes mit dem Bild, das ich als Kind in Händen gehalten hatte. Sah die junge Mona Carton vor mir, die damals von zu Hause fortgelaufen war, das Leben zu suchen.

*

Eine seltsame Szene war Mutters Begräbnis. Der Sarg war im Zimmer aufgestellt worden. Ich wunderte mich, woher die vielen Blumen kamen, die man um den Sarg aufgebaut hatte. Ein Priester im Chorrock stand vor dem Sarg und betete mit halblauter Stimme.

Ich sah Tränen in den Augen von Menschen, denen ich nicht zugetraut hätte, daß sie die reinigende Macht des Kummers noch kannten. In vergangenen Tagen mußte Mutter bei diesen seltsamen Menschen, die sich jetzt um ihren Sarg drängten, beliebt gewesen sein. Im Vorraum trat eine Gestalt aus der Dunkelheit, Sadie Cahills ringgeschmückte Hand legte sich auf die meine.

»Sie müssen es nicht zu schwer nehmen, Kleine. Oder wünschen Sie Mona, daß sie wieder in diese harte, jämmerliche Welt zurückgestoßen würde? Glauben Sie mir, wenn es so etwas gibt wie diesen Himmel, von dem er da drin redet, dann hat Mona ein Anrecht auf einen Platz darin. Und in den letzten Monaten hatte sie ja auch Zeit nachzudenken. Erst unlängst hat sie mir selber gesagt, daß sie nicht mehr leben wolle.«

Auch Red Jacobs war da, bemühte sich, gleichgültig auszusehen, aber ich fühlte, daß er mich, wenn er sich unbeobachtet glaubte, mitleidig von der Seite ansah. Und Burke Lanahan war erschienen, sah feierlich und ernst aus. Keine Spur von Haß gegen die Frau, die versucht hatte, ihn zu töten, war in seinen Zügen. Sein Gesicht schien mir an diesem Tage nicht so aufgeschwemmt und widerwärtig, wie ich es von früher in Erinnerung hatte. Mit einer sonderbaren Feierlichkeit kamen die Leute – außer Jacobs und Lanahan kannte ich keinen von ihnen – der Reihe nach zu mir, versuchten auf ihre Weise ein nettes Wort zu sagen. Sonderbar klang das, so wie die Menschen sonderbar waren, die ich da kennenlernte, aber ich fühlte, daß ich es annehmen und sogar dankbar sein mußte.

»Warum haben Sie uns denn nicht gesagt, Mädel«, sagte einer, »daß Sie Tag und Nacht arbeiteten, um für Ihre Mutter zu sorgen? Es hätte sich mancher unter uns gefunden, der da mit ein paar Lappen ausgeholfen hätte.«

Etwas bange war mir vor diesen Menschen, und dann kam mir wieder der Gedanke, daß ich nun furchtbar allein war, ganz verlassen. Als der Sarg aus dem Hause getragen wurde, warteten zwei Reporter, ich hörte ihre Photoapparate knacken. Und da wußte ich, daß die Abendblätter diese Szene im Bild bringen würden, mit Texten:

»Mona Carruthers' Tochter folgt dem Sarg ihrer Mutter.«

Nach der Beerdigung kehrte ich in Mutters Wohnung zurück. Ganz still war es jetzt – nach all dem Trubel der Trauergäste.

Ich durchsuchte die Schubladen, und als ich in einer Schachtel einen Babyschuh, eine mit einem Seidenband umwickelte Locke und eine kleine Kinderrassel fand, traten mir wieder Tränen in die Augen. Dann fand ich auch ein Bild von Burke Lanahan, vor fünfzehn Jahren aufgenommen. Ich riß es in kleine Stücke und warf es fort.

Im Schrank ein paar Kleider von schäbiger Eleganz, ein alter, abgeschabter Pelzmantel. Eine dünne Goldkette. Arme Mutter!

Unschlüssig stand ich jetzt da, überlegte, was ich jetzt tun sollte, als ich aus der anstoßenden Kammer ein Geräusch hörte. Erschrocken blickte ich auf – auf der Türschwelle stand Burke Lanahan.

»Dachte mir«, sagte er, »daß ich Sie hier finden würde. Setzen Sie sich, Eve, ich muß mit Ihnen reden! Kommen Sie!«

»Ich will nicht mit Ihnen sprechen! Ich hasse, ich verabscheue Sie!«

»Warum?«

Aus seiner Gegenfrage klang wirklich nur Staunen heraus. Er hatte sich eben setzen wollen, blieb aber stehen, und sogar in meiner Erbitterung entging mir nicht, daß in seiner Haltung etwas von einem herabgekommenen Gentleman war.

»Warum ich Sie hasse? Ist es möglich, daß Sie gar nicht begreifen, was Sie mir angetan haben? Einem hilflosen kleinen Kind haben Sie die Mutter genommen –«

»Wir wollen nicht theatralisch werden«, schnitt er kurz ab, »damals war Monas Glück bei mir und nicht dort. Ihr Leben mit diesem widerwärtigen tabakkauenden Heuchler war die reine Hölle. Sie können das nicht anders nennen. Wenn es möglich gewesen wäre, hätten wir Sie auch mitgenommen, aber das Leben, das wir führten, heute hier, morgen dort –«

»Eine Mutter gehört zu ihrem Kind«, sagte ich. »Gewiß war das Leben dort eine Hölle, aber ich mußte in dieser Hölle leben. Mich ließ man sühnen, was Mutter getan hatte. Ich bin geschlagen, mißhandelt, verhöhnt worden, mich haben die Leute verachtet von dem frühesten Tage an, an den ich mich erinnern kann. Glauben Sie, ich habe nicht nächtelang geweint? Habe mich nicht nach jemand gesehnt, der mich schützen und zu mir gut sein könnte? Wenn es einen Gott gibt, wird er Sie so elend machen, wie ich gewesen bin – und so elend, wie ich jetzt noch bin!«

Röte überzog seine Stirn.

»Das wußte ich natürlich nicht … dachte nie, daß Sie es so schwer hätten.«

»Dann mögen Sie es jetzt wissen. Darum hasse ich Sie, und ich hasse Sie auch, weil Sie Mutter schlecht behandelt haben. Wären Sie gut zu ihr gewesen, so könnte das eine Entschuldigung sein. Aber Sie verließen sie, als sie krank und elend war. So handeln Männer wie Sie! Kein Wunder, daß Mutter auf Sie schoß!«

»Sie verstehen mich ganz und gar nicht, Mädel«, antwortete er zögernd. »Ich habe diese Frau geliebt. Ich habe sogar nur sie geliebt, bis –«

»Bis –?«

»Nein, wir wollen nicht davon reden. Sie ist tot, man kann nicht darüber sprechen. Aber glauben Sie mir, Mona war zuerst meiner müde. Sie –«

»Beschimpfen Sie die Tote nicht! Gehen Sie fort! Gehen Sie, ich will Sie nicht sehen!«

Ich war vor ihn hingetreten, ich glaube, ich hätte mich auf ihn gestürzt.

»Lassen Sie das, Kleine!«

Mit einer sicheren, aber nicht groben Hand schob er mich zurück. »Sie sind ein gutes Kind, das hat man bereits gesehen, aber Sie sind jung und begreifen die Welt nicht. Hoffe, Sie werden sie nie begreifen. Darum bin ich jetzt auch hier. Ich will Ihnen helfen, wenigstens für den Augenblick. Für ein Kind wie Sie ist es keine Kleinigkeit, in dieser Stadt allein zu stehen. Ich will, daß Sie nicht länger in diesem Hause bleiben. Anderswo sollen Sie leben, nicht in Verbindung bleiben mit den Leuten, die Mona und mich kennen. Auch mit Tim sollen Sie sich nicht einlassen.«

Während er sprach, suchte er in seiner Tasche, und jetzt zog er ein Bündel Banknoten hervor. Mein Blick fiel auf ein paar gelbe Hundertdollarscheine.

Ich glaube, ich begriff sogar in diesem Augenblick, daß Burke Lanahan es gut meinte. Bei all seinen Fehlern, und er hatte deren viele, war er weichherzig. Aber ich wollte nicht gut von ihm denken. Je schwärzer ich ihn sah, um so eher konnte ich meine verirrte, unglückliche Mutter begreifen und entschuldigen.

»Ich soll Geld von Ihnen nehmen?« rief ich. »Von Ihnen, der Sie Mutter sogar jetzt noch beschimpfen, nachdem sie tot ist? Von Ihnen, der Sie wagen zu sagen, meine Mutter hätte andere Liebhaber gehabt –«

»Ich will sie nicht anschwärzen, nicht schlecht von ihr sprechen. Ich dachte, Sie wußten es. Fragen Sie doch Jacobs, wenn Sie mir nicht glauben! Sie scheinen ja gut mit ihm zu stehen.«

»Ich stehe gar nicht gut mit ihm!« schrie ich. »Ich verabscheue ihn, so wie ich Sie verabscheue und alle Männer Ihrer Art –«

»So ist's recht«, antwortete er gelassen. »Verabscheuen Sie sie nur, je mehr, desto besser. Halten Sie sich von ihnen fern, halten Sie sich an Ihresgleichen, das ist ein guter Rat.«

»Was meinen Sie damit?«

Etwas wie eine Warnung hatte aus seinen Worten herausgeklungen.

»Ich will damit sagen, daß es für ein Mädel wie Sie am besten ist, sich auf die eigenen Füße zu stellen und nie von eines Mannes Treue abzuhängen. Je mehr ein Mann Sie anbetet – um so schlimmer. Monas Tochter wird er doch nicht heiraten wollen. Darum wollte ich Ihnen doch auch für die nächste Zeit mit Geld aushelfen –«

»Sie beurteilen alle Männer nach sich selbst, Burke Lanahan«, sagte ich kalt. »Nicht einmal den Himmel würde ich aus Ihrer Hand annehmen! Ich wollte, ich könnte Sie tot hier zu meinen Füßen liegen sehen!«

»Bravo!«

Ich fuhr herum sah nach der Tür. Red Jacobs war durch das Vorzimmer eingetreten, auf seinen knallroten Lippen lag ein düster drohendes Lächeln, seine Augen brannten. Wie war er nur hereingekommen?

Lanahan warf einen Blick auf ihn, dann verzog auch sein Mund sich zu einem Lächeln.

»Ach, Jacobs hat einen Schlüssel zu dieser Wohnung!« spottete er. »Und ich hielt Sie für eine weiße Taube.« Oh, das war nicht das Lächeln, mit dem er meine Mutter gewonnen hatte! Höhnisch, gemein war es.

»Dann kann ich ja gehen«, sagte er spöttisch, »meine Hilfe wird hier wohl nicht gebraucht.«

Bevor ich ein Wort sagen konnte, war er an Jacobs vorbei ins Vorzimmer hinausgegangen. Und gleich darauf hörte ich die Wohnungstür ins Schloß fallen. Sprachlos stand ich Red gegenüber. Ein triumphierendes Lächeln lag auf seinen Lippen.

»Dem haben Sie es ordentlich gesagt«, meinte er endlich. »Das ist wohl das erste Mal in seinem Leben, daß jemand ihm Geld aus der Hand schlägt.«

»Wie sind Sie hier hereingekommen?« fragte ich. »Wo haben Sie den Schlüssel zu dieser Wohnung her?«

»Den habe ich schon lange, Baby! Die gute Mona –«

»Schweigen Sie! Lassen Sie meine tote Mutter ruhen!«

»Schön, Kleine, soll mir nur recht sein. Die Toten ruhen lassen. Aber um von Ihnen zu reden, der hochnäsige Bursche hat Sie wohl sitzen lassen, was? Staunen Sie nicht so, ich war doch auch neulich abend bei Bardley, mißzuverstehen war das nicht. Und ich weiß auch sehr wohl, was der Kerl in der Bude gesucht hat. Was anderes als sein kleines Goldkäferchen, hoho! Hätt' mich zu Tod lachen mögen, was er für ein Gesicht schnitt!«

Das war zuviel für mich. Im nächsten Augenblick sank ich in den Sessel, begann zu schluchzen. Red hatte sich über mich gebeugt, redete auf mich ein. Aber ich konnte nicht antworten. Ich war wie gelähmt. Vielleicht wollte ich auch gar nicht sprechen. Nichts ging mich das alles an – nichts.

»Hab' mir da was Feines ausgedacht«, sagte er, ermutigt durch mein Schweigen. »Wir gehören ja doch zusammen, wir beide, nicht? Vögel für ein Nest! Wenn du noch tanzen willst, Kleine, von mir aus, aber in besseren Lokalen. Ich kann auch tanzen! Paß auf, wenn wir zusammen auftreten – das wird etwas! Den Mann möchte ich sehen, dem du nicht den Kopf verdrehen könntest! Und ich hab' auch Erfolg bei Weibern, kannst du mir glauben. Du schmust dich an die Burschen heran, riskierst einen kleinen Cocktail, wenn's sein muß, 'n Kuß, und wenn's interessant wird, komme ich herein. Capito? Sollst sehen, wie die Johnnies blechen! Und mit den Damen, na, da machen wir es eben umgekehrt, Baby. Ich habe mir gedacht, verstehst du, wir mieten wo 'n Atelier, und ich bin Maler. Zum Maler kommen sie gern auf die Bude. Und während wir dann oben nett miteinander sind, kommst du, machst Krach, drohst, alles dem werten Herrn Gemahl zu verquatschen. Glaub mir, für ein Paar wie uns beide liegt das Geld auf der Straße.«

Dabei klopfte er mich vertraulich auf die Schulter. Jetzt erst erwachte ich aus meiner Starrheit, sprang auf.

»Kommen Sie mir nicht nahe! Ich –«

Aber er hatte seinen Arm um meine Schulter gelegt, preßte mich an sich.

»Auslassen!!«

»Wart, Kleine, du sollst sehen, daß ich nicht so übel bin! Du wirst noch an mir hängen, glaub' mir's!«

Er hatte mich bis an den Ofen gedrängt. Auf dem Sims sah ich die kleine Hasche mit der Medizin, die Mutter genommen hatte, wenn der Husten sie zu ersticken drohte. Meine freie Hand griff danach, der Daumen drückte den Korken heraus.

»Wehr' dich doch nicht so dumm! Schau mir in die Augen, sag: Hab ja immer auf dich gewartet, Red. Du wirst doch nur die Wahrheit sagen.«

Ganz nahe war sein Gesicht dem meinen, jetzt beugte er sich zurück – und im selben Augenblick goß ich den Inhalt der Flasche in sein gerötetes, rohes Gesicht. Er schrie auf.

»Verdammtes Biest! Jetzt hast du mich – geblendet! Ich kann nicht sehen! Ich –«

Mehr hörte ich nicht. Ohne Hut und Mantel, so wie ich war, rannte ich aus der Tür, die Treppe hinab auf die Straße. Rannte, rannte, rannte – –

*

Und jetzt traf mich ein Schlag nach dem andern.

Das erste war, daß meine Wirtin mit der Zeitung, in der mein Bild war, zu mir kam und mich fragte, ob ich die Tochter dieser Mona Carruthers sei.

Im ersten Moment wollte ich es leugnen. Mein Name stand ja nicht in der Zeitung, und die Ähnlichkeit war auffällig, aber nicht zwingend. Im Augenblick aber wehrte sich etwas in mir. Durch Lügen hatte ich alles verloren, was mir teuer gewesen war. Keine Lüge sollte mehr über meine Lippen kommen.

So habe ich meiner Wirtin offen alles gesagt, habe erwartet, bei ihr Sympathie, Mitleid, vielleicht sogar Trost zu finden.

Jetzt weiß ich, daß es nur die Neugierde war, der Wunsch, alles zu erfahren, was sie bewog, nicht schon während meines Berichts ihr wahres Wesen zu zeigen. Als ich endlich geendet hatte und aufblickte, war ihre Miene verändert.

»So, also Sie sind die Tochter dieser Frau! Und wohnen hier in einem anständigen Haus, niemand merkt, daß Sie nachts in irgendeinem schlechten Lokal tanzen, daß Sie selbst schon Hals über Kopf in diesen Sumpf geraten sind. So ist das, unsereiner weiß nie, mit wem man es zu tun hat. Und Sie sahen so jung und anständig aus!«

»Ich –«

»Gar nicht glauben wollte ich es, als Mrs. Payson mir gestern abend dieses Zeitungsblatt mit Ihrem Bild brachte.«

»Aber ich mußte doch Geld verdienen, um für meine Mutter sorgen zu können«, stammelte ich. »Was hätte ich denn tun sollen?«

Sie zuckte die Achseln.

»Was versteht unsereiner von solchen Dingen? Ich bin siebenundfünfzig Jahre alt geworden, ohne mit Leuten Ihrer Art in Berührung zu kommen. Das einzige, was ich weiß, ist, daß ich Sie nicht länger hier behalten kann.« Ich wollte etwas sagen, aber sie wehrte ab. »Selbst wenn ich dazu Lust hätte, und das kann ich wirklich nicht behaupten, könnte ich es nicht, schon aus Rücksicht auf die anderen Mieter. Wo die Unterwelt sich erst einmal eingenistet hat, flüchten die anständigen Leute. Darum wünsche ich, daß Sie so rasch wie möglich ausziehen; heute morgen noch. Ich möchte zu Mittag über das Zimmer verfügen können.«

Das war um acht Uhr morgens – und in einer halben Stunde sollte ich im Geschäft sein.

Noch einmal suchte ich Mrs. Petersons Blick, aber nichts Menschliches war darin. So blieb mir nichts anderes übrig, als in aller Eile zu packen. Hastig stopfte ich alles, was ich besaß, in meinen Koffer. Wieder kamen mir Tränen in die Augen, als ich die kleinen, gestickten Taschentücher mit dem Monogramm E. M. aus dem Schrank nahm. Ach, es hatte einen Tag gegeben, an dem ich geglaubt hatte, ich würde Eve Monty heißen, Philipp Montys Frau sein!

Den ganzen Vormittag verbrachte ich mit Wohnungssuchen. Eine seltsame Scheu trieb mich immer wieder zurück, wenn ich endlich an ein Haus kam, dessen Adresse ich im Inseratenteil einer Zeitung angegeben gefunden hatte. Vielleicht war es nur eine fixe Idee, aber ich bildete mir ein, daß alle Welt diese Bilder in den Zeitungen gesehen hatte, mich erkannte und daß ich überall rohe, beschimpfende Zurückweisungen erhalten würde.

Zuletzt gab ich es auf, in einer der besseren Gegenden nach einem Zimmer zu suchen, und ich wandte mich in jene Quartiere, wo man, wenn man bares Geld bot, nicht viel gefragt wurde. Und dort fand ich zuletzt einen schäbigen, engen Raum, nicht hell und nicht allzu sauber, den nahm ich, zu müde nach der langen Suche. Das war bereits kurz nach zwölf Uhr.

Ich packte meinen Koffer nicht erst aus, sondern lief sofort wieder weg. Nachdem ich meine Miete auf eine Woche vorausbezahlt hatte, blieben mir gerade noch fünf Dollar.

Seit fünf Tagen war ich nicht mehr in unserem Geschäft gewesen. Als ich eintrat, wimmelte es gerade von Kunden. Mir wurde schwer ums Herz, als ich alle diese jungen Leute sah, die meine Kollegen waren: was ahnten sie vom Leben? Wußten sie überhaupt, was einem Menschen zustoßen konnte?

Pritchard, der Manager, hatte mich, als ich eintrat, von ferne gesehen und kam jetzt mit ernster Miene auf mich zu.

»Was gibt's, Miß Carton?« fragte er überrascht. »Ich nehme doch nicht an, daß Sie jetzt um diese Zeit zur Arbeit kommen?«

»Doch, Mr. Pritchard«, sagte ich beschämt. »Ich … ich konnte nicht früher kommen. Ich mußte …«

»Sie waren fünf Tage fort, ohne sich zu entschuldigen, Miß Carton.« Er warf einen Blick um sich. »Vielleicht kommen Sie auf einen Moment ins Büro. Wir können dort ungestört sprechen.«

Mein Herz sank, als ich in das Kontor eintrat. Sollte ich nun auch noch meine Stellung verlieren? Nach allem auch dieser letzte Schlag?

Einen Moment mußte ich warten, dann kam Mr. Pritchard. Ich brauchte ihm nur ins Gesicht zu schauen, um zu wissen, daß ich hier nichts mehr zu hoffen hatte. Keine Spur von Sympathie oder Wohlwollen las ich in seinen Augen, nur Unmut.

»Ihre Stelle ist bereits besetzt«, sagte er kalt. »Wenn ich nicht irre, haben Sie Ihr Gehalt, als Sie letztes Mal hier waren, abgehoben?«

»Ja«, gestand ich zögernd. »Ich konnte nicht früher kommen, hatte einen … einen Todesfall in meiner Familie.«

»Ach?! Als wir Sie einstellten, Miß Carton, nahmen wir an, Sie wären in New York allein. Sie wissen doch, Miß Carton, daß wir, wenn wir Angestellte aufnehmen, auch Notizen über ihre Familienverhältnisse in das Merkblatt eintragen? Waren Sie denn außerhalb?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, ich war in New York.«

»Und wer war dieser Verwandte, von dem Sie sprechen?«

»Es war … meine Mutter.«

»So? Sehr unangenehm.« Seine Stimme klang kalt und teilnahmslos. Ich wußte in diesem Augenblick, daß er alles irgendwie erfahren hatte, daß mein Leben nackt vor ihm lag. Vielleicht hätte ich aufstehen, einfach gehen sollen, aber ich war so verzweifelt, daß ich einen letzten Versuch wagte.

»Kurz nachdem ich bei Ihnen eingetreten war, fand ich meine Mutter in New York«, sagte ich. »Und ich wollte für sie sorgen, darum habe ich Tag und Nacht gearbeitet. Daraus werden Sie einem Mädchen doch keinen Vorwurf machen, Mr. Pritchard? Oder habe ich meinen Dienst schlecht versehen? Wenn Sie nicht zufrieden gewesen wären, hätten Sie mir doch damals keine Gehaltserhöhung gegeben, nicht wahr? Es war schwer genug für mich, Sie können doch nicht –«

»Tut mir sehr leid, Miß Carton. Ich erwähnte bereits, daß Ihre Stellung schon besetzt ist. Ich habe auch wirklich nicht erwartet, daß Sie wiederkommen würden. Das ist, glaube ich, alles. Guten Tag.«

Ich ging fort, ohne um ein Zeugnis zu bitten.

Als ich auf die Straße hinaus kam, peitschte mir der Wind Staub ins Gesicht, trieb Papierblätter, die auf dem Boden lagen, hoch in die Luft. Ich blieb stehen, sah einem dieser Blätter nach, bis es endlich wieder herabfiel, in der Gosse liegen blieb. Ich begann zu zittern. Nicht besser ging es mir als diesem Blatt Papier. Schicksalsgefährten waren wir. Geprügelt war ich worden, niedergeschlagen, beschimpft, fortgejagt! Hatte es denn noch Sinn weiterzukämpfen? Keinen Menschen gab es auf Erden, der an mir Anteil nahm; niemand, der etwas anderes als gemeine Neugierde empfinden würde, wenn er morgen in der Zeitung las, daß ich Selbstmord begangen hatte.

Ja … der Fluß … der Hudson …

Planlos wanderte ich weiter, bis ich endlich müde war und nach Hause ging. Nur mehr einige Häuserblocks war ich von meiner neuen Wohnung entfernt, als ich meinen Namen rufen hörte. Erschrocken wandte ich mich um. Red Jacobs war eben aus einem Taxi gesprungen, kam auf mich zu.

»Dachtest wohl, du wärst mir ausgerückt, wie?« spottete er. »Na, da kennst du mich schlecht! Seit sechs Stunden bin ich hinter dir her, du kleiner Teufel!«

Seine Finger legten sich um mein Handgelenk.

Ich warf einen hastigen Blick um mich, sah in einiger Entfernung einen Mann in Uniform. Es war ein Polizist auf seiner Runde. Das gab mir wieder etwas Mut.

»Lassen Sie meine Hand aus, Jacobs«, warnte ich, »ich habe Ihnen gesagt, was ich von Ihnen halte. Lassen Sie mich!«

»Ja – dazu bin ich dir nachgefahren, nicht wahr? Du kommst jetzt mit mir, und Schluß! Unsinn, sich zu wehren! Ich meine es verdammt ernst. Du steigst in den Wagen, verstanden?«

Er wollte mich gegen die Wagentür zu drängen. Ich warf einen Blick auf den Chauffeur, aber der sah so aus, daß ich es nicht für ratsam hielt, ihn um Hilfe zu bitten. Dann wandte ich mich nach dem Polizisten um. Er kam langsam näher.

»Wenn Sie mich nicht sofort auslassen«, sagte ich lauter, »rufe ich um Hilfe! Dort kommt gerade ein Polizist. Ich sage ihm alles, was ich weiß!«

Diese Drohung hatte eine ungeahnte Wirkung. Jacobs wandte sich um, warf einen Blick nach dem Beamten, der näher kam, und gab meinen Arm frei. Dann zog er die Augenbrauen zusammen, eine unbestimmte Mischung aus Angst und Drohung war in seinem Blick.

»Verdammtes Biest! Darum wirst du mich doch nicht mehr los. Hast wohl gespitzelt bei uns, was? Für diesen Lausekerl, diesen Anwalt, he? Wolltest Mona nach uns aushorchen? Verlaß dich drauf, das streichen wir dir an! Für Red Jacobs ist diese Stadt nicht zu groß, um einen zu finden, den er sucht!«

Damit sprang er in den Wagen, warf die Tür ins Schloß und gab dem Chauffeur einen hastigen Befehl. Eben kam der Polizist heran.

»Was gibt's?« fragte er mich. »Was wollte dieser Mann? Kennen Sie ihn?«

»Nicht … nicht sehr gut.« Plötzlich fiel mir wieder ein, daß ich doch nicht mehr lügen wollte. »Doch, ich kenne ihn«, gestand ich. »Er hat mich belästigt, ist mir nachgefahren. Ich habe Angst vor ihm.«

Ich hatte eine furchtbare Angst, der Beamte könnte weitere Fragen stellen, aber er tat es nicht. Er sah freundlich aus, hatte einen väterlichen Zug im Gesicht. Und wollte nur wissen, wo ich wohnte. Ich bezeichnete das Haus, in das ich heute morgen gezogen war. Mißbilligend schüttelte er den Kopf.

»Keine gute Nachbarschaft, Fräulein. Sie täten besser, bald wieder wegzuziehen von hier. Wenn Sie New York einigermaßen kennen würden, hätten Sie wohl nicht in der Gegend gemietet. Arbeiten Sie irgendwo?«

Ich antwortete, ich sei auf der Suche nach einer Stellung, und über die Gegend hier wüßte ich nicht Bescheid.

Er zog ein Notizbuch aus der Tasche, schrieb ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier, riß es heraus und reichte es mir.

»Gehen Sie dorthin. Ich kenne die Frau, sie wird Ihnen behilflich sein. Aber hier bleiben Sie nicht lange.«

Ich dankte, ging ein paar Schritte und trat in das Haustor. Eine Frau, die irgendwo gestanden hatte, zog sich mit einem scheuen Blick hinter eine Tür zurück. In der ersten Etage hörte ich aus einer Wohnung Zanken. Der Polizist hatte recht, ich konnte nicht hier bleiben. Und selbst wenn er mich nicht vor dem Haus gewarnt hätte, wäre mir nichts anderes übriggeblieben als auszuziehen: schon aus Angst vor Red Jacobs.

Es dunkelte bereits, als ich mit meinem Koffer in dem Hause, dessen Adresse mir der Polizist gegeben hatte, vorsprach. Ich wurde von der Inhaberin einer kleinen, sauber aussehenden Pension in Empfang genommen, und als sie den Zettel gelesen hatte, lächelte sie sofort freundlich.

»Wer von Mr. McCarthy empfohlen ist, ist bei mir willkommen«, sagte sie. »Es trifft sich gut, daß ich gerade ein Zimmer frei habe, meist ist bei uns alles besetzt. Es ist zwar sehr klein, aber hell. Sie können es billig haben. Ich verlange nur drei Dollar wöchentlich.«

So gab ich ihr drei von meinen letzten fünf Dollar. Einen Seufzer konnte ich dabei allerdings nicht unterdrücken. Nur noch zwei Dollar standen zwischen mir und dem Nichts.

Die nächste Woche ist in meiner Erinnerung nur ein schwerer, häßlicher Traum. Den ganzen Tag über wanderte ich durch die Straßen, suchte nach Arbeit. Erst versuchte ich es mit Vermittlungsbüros, aber da wurde man über tausend Dinge befragt, so gab ich es wieder auf. Es war klar, die Lügen hatten mir Unglück gebracht, aber mit der Wahrheit würde ich jetzt auch nicht weit kommen. Verweigerte man die Antwort auf all diese Fragen, so wurde man einfach fortgeschickt. Sagte ich die Wahrheit, so war das Ergebnis kaum besser. Höchstens ein kaltes: »Es tut uns leid, aber wir haben nichts Passendes für Sie.«

Und dann, an einem herrlichen Märzmorgen, stand ich ohne einen Nickel auf der Straße. Seit drei Tagen hatte ich nur mehr von Keks und Milch gelebt, und bei meiner unermüdlichen Wanderschaft war das doch wohl zu wenig. So geschwächt fühlte ich mich, daß ich mich am liebsten hingelegt hätte, um nicht mehr aufzuwachen. Als ich an einem Restaurant vorbeikam und im Schaufenster allerlei leckere Sachen ausgestellt sah, hatte ich ein schmerzliches Gefühl im Magen. Wenn ich mich nicht geschämt hätte, ich glaube, ich hätte vor einem Obststand ein paar Früchte, die auf das Pflaster gefallen waren und die man achtslos liegen ließ, aufgehoben.

Ich wußte: ich brauchte nur zu Sadie Cahill gehen, sie würde mich aufnehmen, mir zu essen geben, auch für das weitere sorgen. Aber der bloße Gedanke sie wiederzusehen oder gar Geld von ihr anzunehmen, erregte mir Unbehagen. Nein, es gab keine Wahl: man durfte nicht die Gefälligkeiten von Menschen annehmen, die man gering achtete.

Mutters Schicksal stand mir vor Augen. Keine Gewalt sollte mich in die Welt zurückführen, in der Mona Carruthers untergegangen war. An Philipp wagte ich gar nicht mehr zu denken. Und doch habe ich ihn in diesen Tagen einmal gesehen! Er fuhr in seinem Wagen mit einem anderen Mann über den Broadway. Die beiden waren in ein so ernstes Gespräch vertieft, daß sie nicht auf das Trottoir sahen, wo ich, ein erschöpftes, müde gehetztes, hungriges Mädel, stand. Das war der einzige Tag, an dem ich nicht weitersuchte, schon um drei Uhr nachmittags nach Hause ging.

Zwei Tage später führte mich ein Engel, der mit mir Mitleid haben mochte, wieder über den Broadway, und da kam ich an einem Kino vorbei. Neben dem Seiteneingang hing eine Tafel: »Platzanweiserinnen gesucht«. Einen Moment zögerte ich, dann trat ich kurz entschlossen ein. In einem kleinen Verschlag saß der Manager. Während ich um die Stelle bat, musterte er mich mit einem kurzen, prüfenden Blick. Fragen stellte er nicht. Dann sagte er, ich sollte abends wiederkommen!

Gut war die Bezahlung nicht, aber ich war wenigstens sicher, meine Miete nicht schuldig zu bleiben und essen zu können.

War das, nach allem Schweren, das ich durchgemacht hatte, eine Wendung zum Guten? Sollte es jetzt wieder aufwärts gehen? Durfte ich hoffen?

Ja, so ist man mit neunzehn Jahren: ich begann sofort Luftschlösser zu bauen. Natürlich war diese Stellung im Kino nur ein erster Anfang. Bald würde ich etwas Besseres finden, Sprosse für Sprosse die Leiter wieder hinaufsteigen. Gute Zeugnisse würden alles andere ersetzen, niemand würde weitere Fragen stellen. Und dann, eines Tages, würde ich zu Philipp gehen, würde ihn zwingen mich anzuhören. Nein, ich war nicht so verrückt zu hoffen, daß alles wieder gut werden, er mich wieder lieben würde, aber er sollte nur wissen, daß ich nicht so schlecht war, wie er geglaubt hatte. Dieser Wunsch war in mir zu einer Art Manie geworden.

Meine Arbeitszeit war von sechs Uhr abends bis Mitternacht. Ich wollte mich gut mit dem Manager stellen, darum richtete ich es so ein, daß ich immer eher zu früh da war. Manchmal ging ich am Ufer entlang, an Grants Grab vorbei, quer durch den Park am Hudson. Dort gefiel es mir gut, und wenn ich früh genug kam, setzte ich mich auch auf eine Viertelstunde auf eine Bank und beobachtete die Boote.

Irgendwo da drüben, jenseits des Hudson, mußte das kleine Haus liegen, das Phil für uns hatte mieten wollen. Vielleicht war es dieser Gedanke, der mich immer wieder in den Riverside Park zog.

Fröhliche, lärmende Kinder spielten rings um mich. Alte Männer, die nichts mehr zu tun hatten, saßen auf den Bänken und lasen ihre Zeitungen, – von der ersten bis zur letzten Zeile. Früher hätte ich all das nicht beachtet, mir über diese Leute nicht den Kopf zerbrochen. Jetzt schienen sie mir alle interessant und problematisch. Auch auf der Straße, wenn ich an Leuten vorbeikam, dachte ich darüber nach, wie sie sich wohl mit dem Leben herumschlügen und zuletzt damit fertig würden. Es tat wohl, sich vorzustellen, daß man nicht ein Einzelfall war, sondern nur eine von Millionen.

* * *

 


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