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Brief des Kalifen Harun Arreschid an den König von Syrien, Mohammed Sinebi.

»Lieber Vetter! Ich schreibe diesen Brief, um Euch zu melden, daß ein Kaufmann von Damaskus namens Ganem, der Sohn des Abu Aïbu, die liebenswürdigste meiner Sklavinnen, genannt Herzenspein, verführt und die Flucht ergriffen hat. Mein Wunsch ist, daß Ihr nach Empfang dieses Brieses Ganem aufsuchen und verhaften lasset. Sobald Ihr seiner habhaft geworden sein werdet, so lasset ihn mit Ketten belasten, ihm drei Tage hintereinander fünfzig Hiebe mit dem Ochsenziemer geben und ihn sodann durch alle Stadtviertel führen mit einem Ausrufer, der vor ihm her ausrufe: »Dies ist die leichteste Strafe, welche der Beherrscher der Gläubigen demjenigen auslegt, der seinen Herrn beleidigt und eine seiner Sklavinnen verführt.« Hierauf möget Ihr mir ihn unter sicherer Bedeckung zuschicken. Doch dies ist nicht alles. Ich wünsche, daß Ihr sein Haus plündern, es abbrechen und die Materialien aus der Stadt mitten aufs Feld hinausschaffen lasset. Außerdem, wenn er Vater, Mutter, Schwestern, Frauen, Töchter oder andere Angehörige hat, so laßt diese nackt und bloß auskleiden und stellet sie so drei Tage hintereinander der ganzen Stadt zur Schau aus mit dem Verbot, daß niemand bei Lebensstrafe sie bei sich aufnehmen solle. Ich hoffe, daß Ihr meinen Auftrag ohne Verzug vollziehen werdet.

Harun Arreschid.«

 

Nachdem der Kalif diesen Brief geschrieben, übergab er ihn einem reitenden Boten mit dem Befehl, zu eilen und Tauben mitzunehmen, damit er umso schneller Nachricht erhielte, was Mohammed Sinebi getan habe.

Die Tauben zu Bagdad haben nämlich das Eigentümliche, daß sie, wie weit man sie auch in die Ferne mitgenommen, doch immer wieder nach Bagdad zurückkehren, sobald man sie fliegen läßt, zumal wenn sie Junge haben. Man bindet ihnen dann einen zusammengerollten Brief unter den Flügel und erhält dadurch von allen den Orten Nachricht, von woher man dergleichen zu haben wünscht.

Der Eilbote des Kalifen reiste, um der Ungeduld seines Herrn zu genügen, Tag und Nacht und begab sich bei seiner Ankunft zu Damaskus geradeswegs nach dem Palaste des Königs Sinebi, der sich sofort auf seinen Thron setzte, um den Brief des Kalifen zu empfangen. Nachdem ihm der Eilbote denselben überreicht hatte, nahm Mohammed ihn in die Hand, und als er die Handschrift erkannt hatte, stand er ehrerbietig auf, küßte den Brief und legte ihn auf seinen Kopf zum Zeichen, daß er bereit sei, die Befehle, welche er irgend enthalten konnte, mit Gehorsam zu vollziehen. Sodann öffnete er ihn, und als er ihn gelesen, stieg er von seinem Throne herab und setzte sich in Begleitung seiner vornehmsten Hausbeamten zu Pferde; zugleich ließ er den Polizeirichter zu sich rufen, und von seiner ganzen Leibwache begleitet, begab er sich dann nach Ganems Hause.

Seitdem der junge Kaufmann von Damaskus abgereist war, hatte seine Mutter keinen Brief von ihm erhalten. Unterdes waren die andern Kaufleute, in deren Gesellschaft er die Reise nach Bagdad unternommen hatte, sämtlich zurückgekehrt, und diese sagten ihr alle, daß sie ihren Sohn in der besten Gesundheit verlassen hätten. Da er indes nicht wiederkam und auch keine Nachricht von sich gab, so bedurfte es nichts weiter, um diese zärtliche Mutter zu überzeugen, daß er tot sei. Sie glaubte dies so fest, daß sie Trauer anlegte und Ganem ganz so beweinte, als ob sie ihn sterben gesehen und ihm die Augen zugedrückt hätte. Nie zeigte eine Mutter größere Betrübnis als sie, und anstatt Trost zu suchen, fand sie Lust daran, ihrem Schmerz Nahrung zu geben. Sie ließ mitten im Hofe ihres Hauses eine kuppelförmige Kapelle aufführen, unter welche sie ein Bild legte, das ihren Sohn vorstellen sollte, und das sie förmlich in ein Leichentuch hüllte. Sie brachte fast alle Tage und Nächte unter Tränen in dieser Kapelle zu, ganz so, als ob der Körper ihres Sohnes wirklich da beerdigt wäre; die schöne Herzensmacht, ihre Tochter, leistete ihr darin Gesellschaft und vermischte ihre Tränen mit denen ihrer Mutter.

So hatten sie schon lange Zeit in ihrer Betrübnis zugebracht, und die Nachbarschaft, welche ihren Jammer und ihr Wehklagen hörte, beklagte innig eine so zärtliche Familie, als eines Tages Mohammed Sinebi an die Tür pochte. Nachdem eine Sklavin ihm geöffnet hatte, trat er ungestüm herein und fragte, wo Ganem, der Sohn des Abu Aïbu, sei.

 

Dreihundertundzweiundfünfzigste Nacht.

Obwohl die Sklavin noch nie den König Sinebi gesehen hatte, so schloß sie doch aus seinem zahlreichen Gefolge, daß er einer der angesehensten Großen von Damaskus sein müsse. »Herr,« erwiderte sie ihm, »dieser Ganem, den Ihr suchet, ist tot. Meine Gebieterin, seine Mutter, befindet sich dort in jenem Grabmal, wo sie soeben seinen Verlust beweint.« Der König ließ nun, ohne sich an den Bericht der Sklavin zu kehren, durch seine Leibwache eine genaue Nachforschung nach Ganem in allen Winkeln des Hauses anstellen; endlich näherte er sich dem Grabmal, worin er Mutter und Tochter auf einem einfachen Teppich in Tränen schwimmend neben der Figur, welche Ganem vorstellte, sitzen sah. Die beiden armen Frauen bedeckten sogleich ihr Gesicht mit dem Schleier, als sie einen Mann an die Tür der Grabkapelle treten sahen; doch die Mutter, welche den König von Damaskus erkannte, stand auf und warf sich ihm zu Füßen. »Gute Frau,« sagte der Fürst zu ihr, »ich suche eigentlich Euren Sohn Ganem; ist er hier?« – »Ach, Herr,« rief sie aus, »der ist längst nicht mehr am Leben. Wollte Gott, daß ich ihn mit meinen eigenen Händen bestattet und den Trost hätte, seine Gebeine in diesem Grabmal zu haben. Ach, mein Sohn, mein teurer Sohn ...!« Sie wollte weiter sprechen, wurde aber von einem so heftigen Schmerz ergriffen, daß sie es nicht vermochte.

Sinebi ward davon gerührt. Er war ein Fürst von sanfter Gemütsart und voll Mitleid gegen die Leiden Unglücklicher. »Wenn Ganem allein der Schuldige ist,« sprach er bei sich selbst, »warum sollen da erst seine Mutter und Schwester bestraft werden, die doch ganz unschuldig sind? Ach, grausamer Harun Arreschid, in welche äußerste Verlegenheit versetzest du mich, indem du mich zum Werkzeuge deiner Rache machst und mich zwingst, Personen zu verfolgen, die dir nichts zuleide getan haben!«

Die Leibwache, welcher der König die Aufsuchung Ganems aufgetragen hatte, meldete ihm, daß ihr Nachforschen vergebens gewesen sei; er glaubte es auch, denn die Trauer der beiden Frauen ließ ihm keinen Zweifel mehr übrig. Er war nun voll Verzweiflung, als er sich in der Notwendigkeit sah, die Befehle des Kalifen zu vollziehen; doch wie groß auch sein Mitleiden war, so wagte er doch nicht den Zorn Haruns zu hintergehen. »Gute Frau,« sagte er zu Ganems Mutter, »gehet mit Eurer Tochter aus dieser Grabkapelle, denn Ihr seid hier nicht mehr sicher.« Sie gingen heraus, und um sie vor Mißhandlungen zu schützen, nahm er sein weites Oberkleid ab, deckte es über sie beide und befahl ihnen, sich nicht von seiner Seite zu entfernen. Als dies geschehen war, befahl er, den Pöbel hereinzulassen, um die Plünderung anzufangen, welche denn auch mit solcher Gier und mit einem solchen Geschrei vollzogen wurde, daß die Mutter und die Schwester Ganems, welche die Ursache nicht wußten, außerordentlich darüber erschraken. Man schleppte die kostbarsten Geräte, reichgefüllte Kästen, persische und indische Teppiche, Ruhepolster, mit Gold- und Silberstoff besetzt, Porzellangesäße, kurz, alles fort und ließ bloß die Mauern des Hauses stehen; und für die beiden unglücklichen Frauen war es ein höchst betrübendes Schauspiel, all ihr Hab und Gut plündern zu sehen, ohne zu wissen, wodurch sie diese grausame Behandlung verdient hätten.

Nach geschehener Plünderung des Hauses gab Mohammed dem Polizeirichter Befehl, dasselbe nebst dem Grabmal niederreißen zu lassen, und während man damit beschäftigt war, führte er Herzensmacht nebst ihrer Mutter in seinen Palast. Hier verdoppelte er ihre Betrübnis, indem er ihnen den Willen des Kalifen kundtat. »Er will,« sprach er zu ihnen, »daß ich Euch entkleiden und Euch drei Tage lang nackt den Augen des Volkes bloßstellen lasse. Nur mit dem größten Widerwillen lasse ich diesen grausamen und schimpflichen Befehl vollziehen.« Der König sagte dies in einem Tone, der genug verriet, wie sehr er von Schmerz und Mitleiden durchdrungen war. Obwohl die Furcht, seinen Thron zu verlieren, ihn den Regungen seines Gefühls zu folgen hinderte, so milderte er doch die Strenge der Befehle Harun Arreschids einigermaßen dadurch, daß er für Ganems Mutter und für Herzensmacht weite Hemden ohne Ärmel von grobem Zeuge aus Pferdehaaren machen ließ.

Den folgenden Tag wurden diese beiden Opfer des Zornes des Kalifen entkleidet, und man zog ihnen die härenen Hemden an; auch nahm man ihren Kopfschmuck ab, so daß ihre Haare zerstreut um die Schultern flatterten. Herzensmacht hatte Haare vom schönsten Blond, die bis aus die Erde herabwallten. In diesem Aufzuge zeigte man sie beide dem Volke. Der Polizeirichter mit allen seinen Leuten begleitete sie, und so führte man sie durch die Stadt, vor ihnen her ging ein Ausrufer, der von Zeit zu Zeit mit lauter Stimme ausrief: »Dies ist die Züchtigung derer, welche sich den Zorn des Beherrschers der Gläubigen zugezogen haben!«

Während sie nun so, an Armen und Füßen entblößt, in einer so seltsamen Kleidung und ihre Beschämung hinter ihrem fliegenden haar, womit sie sich das Gesicht verdeckten, zu verbergen suchend, durch die Straßen von Damaskus zogen, brach alles Volk in Tränen aus.

Besonders die Frauen, welche durch ihre Gitterfenster auf die beiden Unschuldigen herabsahen und von der Schönheit und Jugend der liebenswürdigen Herzensmacht gerührt wurden, ließen laut ihr Wehklagen erschallen, indem sie unter ihren Fenstern vorüberzogen. Selbst die kleinen Kinder, durch dies Geschrei und diesen Anblick erschreckt, ließen ihr Weinen in diese allgemeine Betrübnis hinein ertönen und machten sie noch gräßlicher. Mit einem Wort, selbst wenn die Feinde in Damaskus eingedrungen wären und die ganze Stadt mit Feuer und Schwert verwüstet hätten, die Bestürzung hätte nicht größer sein können.

Es war beinahe Nacht geworden, als diese grauenvolle Szene endigte, und man führte nun die Mutter und die Tochter in den Palast Mohammeds zurück. Da sie nicht daran gewöhnt waren, barfuß zu gehen, so fühlten sie sich bei ihrer Ankunft daselbst so ermüdet, daß sie in Ohnmacht fielen und eine Weile darin verblieben. Die Königin von Damaskus, welche von ihrem Unglück lebhaft gerührt war, schickte ungeachtet des Verbotes, welches Harun Arreschid getan, einige Frauen an sie ab, um sie zu trösten, nebst Wein und allerlei Erfrischungen zu ihrer Stärkung.

Die Frauen der Königin trafen sie noch in Ohnmacht liegend und fast außerstande, von ihrem Beistande Gebrauch zu machen. Indes durch Anwendung der sorgfältigsten Mittel brachte man sie wieder zum Leben, und Ganems Mutter dankte ihnen nun für ihre Gefälligkeit. »Meine gute Frau,« sagte eine von den Frauen der Königin zu ihr, »wir fühlen nur zu sehr Euer Leiden, und die Königin von Syrien, unsere Gebieterin, hat uns durch den Auftrag, Euch beizustehen, viel Vergnügen gemacht. Wir können Euch zugleich versichern, daß diese Fürstin sowie der König, ihr Gemahl, vielen Anteil an Euren Leiden nehmen.« Die Mutter Ganems bat die Frauen der Königin, ihrer Fürstin in ihrem und ihrer Tochter Namen tausendfachen Dank abzustatten, und sagte dann zu derjenigen, welche soeben gesprochen hatte: »Edle Frau, der König hat mir nicht gesagt, warum der Beherrscher der Gläubigen uns diesen Schimpf antun läßt; ich bitte Euch daher, mir anzuzeigen, welches Verbrechen wir begangen haben.« – »Gute Frau,« erwiderte die Kammerfrau der Königin, »Euer Unglück ist durch Ganem veranlaßt. Er ist nicht tot, wie Ihr es geglaubt, sondern er ist angeklagt, die liebste Favoritin des Kalifen entführt zu haben, und da er sich durch eine schnelle Flucht dem Zorn dieses Fürsten entzogen hat, so ist die Strafe auf Euch gefallen. Jedermann verwünscht das Rachegefühl des Kalifen, doch jeder fürchtet ihn auch, und Ihr sehet, daß selbst der König Sinebi seinen Befehlen nicht entgegenzuhandeln wagt aus Furcht, ihm zu mißfallen. Alles, was wir also tun können, ist, Euch zu beklagen und Euch zur Geduld zu ermahnen.«

»Ich kenne meinen Sohn,« erwiderte Ganems Mutter; »ich habe ihn sehr sorgfältig und in jener Ehrerbietung gegen den Beherrscher der Gläubigen erzogen, welche diesem zukommt. Er hat das verbrechen, dessen man ihn beschuldigt, gewiß nicht begangen, und ich verbürge mich für seine Unschuld. Ich höre jetzt indes auf zu murren und mich zu beklagen, da ich für ihn leide, und da er also nicht tot ist. Ach, Ganem,« fuhr sie in einer frohen und zärtlichen Herzensbewegung fort, »mein geliebter Sohn Ganem, ist es möglich, daß du noch lebst? Ich bedaure jetzt nicht mehr den Verlust meines Vermögens, und wie weit auch immer die Befehle des Kalifen gehen mögen, ich verzeihe ihm seine Strenge, wofern nur der Himmel meinen Sohn erhalten hat. Bloß meine Tochter tut mir leid; ihre Leiden sind mein einziger Schmerz. Indes halte ich sie für eine zu gute Schwester, als daß sie nicht meinem Beispiel folgen sollte.«

Bei diesen Worten wendete sich Herzensmacht, die bisher ganz gleichgültig geschienen hatte, zu ihrer Mutter, umschlang mit ihren Armen ihren Hals und sagte zu ihr: »Ja, meine teure Mutter, ich werde stets deinem Beispiel folgen, wie weit dich auch immer deine Liebe zu meinem Bruder treiben mag.«

Mutter und Tochter vereinigten auf diese Weise ihre Seufzer und ihre Tränen und blieben eine lange Weile einander in den Armen liegen. Unterdes boten die Frauen der Königin, von diesem Schauspiel gerührt, alles auf, um die Mutter Ganems zu bewegen, einige Nahrungsmittel zu sich zu nehmen. Um ihnen zu willfahren, aß sie etwas, ebenso Herzensmacht.

Da der Befehl des Kalifen es so mit sich brachte, daß die Angehörigen Ganems drei Tage nacheinander in dem erwähnten Aufzuge dem Volke gezeigt werden sollten, so mußte Herzensmacht nebst ihrer Mutter den folgenden Tag zum andernmal von früh bis abend zur Schau stehen. Doch diesen und den folgenden Tag ging es nicht so wie früher. Die Straßen, welche anfangs mit Menschen angefüllt gewesen waren, wurden leer und öde; alle Kaufleute schlossen im Unwillen über die Behandlung, welche man der Witwe und Tochter Abu Aïbus antat, ihre Läden und blieben bei sich zu Hause; die Frauen, anstatt durch die Gitterfenster zu sehen, zogen sich in die Hintergemächer ihrer Häuser zurück; kurz, es fand sich keine Seele auf den öffentlichen Plätzen, über welche man diese beiden Unglücklichen führte, und es schien, als ob alle Einwohner von Damaskus die Stadt verlassen hätten.

Am vierten Tage schickte der König Mohammed Sinebi, der die Befehle des Kalifen pünktlich vollziehen wollte, obwohl er sie nicht billigte, in alle Stadtviertel Ausrufer und ließ allen Einheimischen und Fremden in Damaskus, von welchem Stande sie auch sein möchten, bei Strafe ihres Lebens und bei Strafe, nach ihrem Tode den Hunden zum Fraß vorgeworfen zu werden, streng verbieten, der Mutter und Schwester Ganems ein Obdach anzubieten oder ihnen auch nur einen Bissen Brot, einen Tropfen Wasser, kurz, die mindeste Unterstützung zu reichen oder die geringste Gemeinschaft mit ihnen zu haben.

Nachdem die Ausrufer getan hatten, was ihnen der König anbefohlen, befahl dieser Fürst, daß man Mutter und Tochter aus dem Palaste herauslassen und ihnen die Freiheit gestatten sollte, hinzugehen, wohin sie wollten. Kaum sah man sie öffentlich erscheinen, als sich alle Leute von ihnen entfernten; einen so großen Eindruck hatte das soeben erlassene verbot auf die Gemüter gemacht. Sie bemerkten sehr bald, daß man sie zu meiden suchte, indes, da ihnen die Ursache unbekannt war, so waren sie darüber sehr verwundert, und ihr Erstaunen stieg, als sie bei ihrem Eintritt in die Straße unter andern einige ihrer besten Freunde erkannten, die bei ihrer Erscheinung ebenso eilig als die andern davonflohen. »Was ist denn das?« sagte Ganems Mutter, »sind wir denn verpestet? Muß denn die ungerechte und grausame Behandlung, die man uns angetan, uns auch noch allen unsern Mitbürgern verhaßt machen? Wohlan denn, meine Tochter,« fuhr sie fort, »wir wollen so schnell als möglich Damaskus verlassen und nicht länger in einer Stadt verweilen, wo wir sogar unsern Freunden ein Greuel sind.«

Unter solchen Gesprächen erreichten die beiden unglücklichen Frauen das eine Ende der Stadt und begaben sich in ein altes verfallenes Gemäuer, um darin die Nacht zuzubringen. Hier suchten einige von Mitleid bewegte Muselmänner sie bald nach Sonnenuntergang auf und brachten ihnen Lebensmittel, wagten aber nicht, stehen zu bleiben und sie zu trösten, aus Furcht, entdeckt und als Übertreter der Befehle des Kalifen bestraft zu werden.

Unterdes hatte der König Sinebi die Taube fliegen lassen, um Harun Arreschid von der pünktlichen Vollziehung seines Befehls zu benachrichtigen. Er meldete ihm alles, was geschehen war, und beschwor ihn, ihn doch wissen zu lassen, was er über die Mutter und Schwester Ganems verfügen wollte. Er empfing sehr bald auf demselben Wege die Antwort des Kalifen, der ihm schrieb, daß er sie für immer aus Damaskus verbannen solle. Sogleich schickte der König von Syrien Leute nach dem Gemäuer mit dem Befehl, Mutter und Tochter festzunehmen und sie drei Tagereisen von Damaskus wegzuführen und dort zu lassen mit dem Verbot, daß sie nie mehr in die Stadt zurückkehren sollten.

Sinebis Leute entledigten sich ihres Auftrages; doch in Vollziehung der Befehle des Kalifen minder genau als ihr Herr, gaben sie der Mutter wie der Tochter aus Mitleid etwas Scheidemünze, um dafür Lebensmittel zu kaufen, und hingen einer jeden einen Sack um den Hals, damit sie die Lebensmittel hineinstecken könnten.

In dieser beklagenswerten Lage erreichten sie das nächste Dorf. Die Bäuerinnen versammelten sich hier um sie her, und da man ungeachtet ihrer Verkleidung dennoch bemerkte, daß es Personen von höherem Stande wären, so fragte man sie, aus welchem Grunde sie denn in einer Kleidung zu reisen genötigt wären, die ihnen nicht angemessen zu sein schien. Anstatt auf diese Frage zu antworten, fingen sie an zu weinen, was denn bloß die Neugierde der Bäuerinnen vermehrte und ihnen Mitleid einflößte. Ganems Mutter erzählte ihnen, was sie und ihre Tochter ausgestanden hätten. Die guten Landfrauen wurden davon gerührt und suchten sie zu trösten. Sie bewirteten sie, so gut es ihre Armut gestattete, bewogen sie, ihre pferdehaarenen Hemden, die ihnen so unbequem waren, gegen andere zu vertauschen, die sie ihnen schenkten nebst Schuhen und Kopfbedeckungen zu Schonung ihrer Haare.

Nachdem Herzensmacht und ihre Mutter sich bei den mildtätigen Landfrauen bedankt hatten, gingen sie in kleinen Tagereisen weiter nach Halep zu. Sie gewöhnten sich, in der Nähe von Moscheen oder in den Moscheen selber Nachtherberge zu nehmen, wo sie die Nacht auf dem Teppich des Fußbodens oder – wenn kein Teppich da war – auf dem bloßen Steinpflaster zubrachten, oder sie suchten an den öffentlichen Orten, die zur Aufnahme der Reisenden bestimmt sind, unterzukommen. An Lebensmitteln fehlte es ihnen niemals; denn sie trafen auf ihrem Wege sehr oft Orte an, wo Brot, gekochter Reis und andere Lebensmittel unentgeltlich an bedürftige Reisende verteilt wurden.

Endlich gelangten sie nach Halep. Sie wollten sich indes daselbst nicht verweilen, sondern setzten ihre Reise nach dem Euphrat fort, setzten über diesen Strom und gingen dann durch Mesopotamien bis nach Mossul. Von da begaben sie sich, wie viele Beschwerden sie auch schon ausgestanden hatten, bis nach Bagdad. Dahin strebten nämlich ihre Wünsche in der Hoffnung, Ganem dort zu finden; obwohl sie nicht hätten glauben sollen, ihn in einer Stadt anzutreffen, wo der Kalif seinen Sitz hatte, so hofften sie es doch, weil sie es wünschten. Ihre Liebe zu ihm war ungeachtet so vieler Leiden, statt abzunehmen, nur noch mehr gestiegen, und ihre Gespräche hatten gewöhnlich ihn zum Gegenstande, ja sie erkundigten sich bei allen, die ihnen begegneten, nach ihm.

Doch lassen wir jetzt Herzensmacht und ihre Mutter und wenden uns zu Herzenspein zurück.

Diese war seit jenem Unglückstage immer noch in den finstern Turm sehr fest verschlossen. Indes wie unangenehm auch ihre Gefangenschaft war, so war sie doch weit minder darüber betrübt als über das Unglück Ganems, dessen Los sie in eine tödliche Ungewißheit und Unruhe versetzte; es gab fast keinen Augenblick, wo sie ihn nicht bejammerte.

In der einen Nacht, wo der Kalif ganz allein innerhalb der Ringmauern seines Palastes umherspazierte – was bei ihm sehr häufig vorkam, denn er war der neugierigste Fürst von der Welt, auch erfuhr er auf diesen nächtlichen Spaziergängen oft Dinge, die in seinem Palaste vorgingen, und die sonst nie zu seinen Ohren gelangt sein würden –, in der einen Nacht also spazierte er an dem finstern Turme vorüber, und da er darin reden zu hören glaubte, so blieb er stehen. Um alles besser vernehmen zu können, näherte er sich der Tür und hörte ganz deutlich folgende Worte, welche die noch immer vom Andenken an Ganem erfüllte Herzenspein ganz deutlich und mit ziemlich lauter Stimme sprach: »O Ganem, du unglücklicher Ganem, wo bist du jetzt? An welchen Ort hat dich dein beklagenswertes Schicksal hingeführt? Ach, ich war es, die dich unglücklich machte! Warum ließest du mich nicht lieber elend umkommen, anstatt mir so edelmütig Hilfe zu leisten? Welche traurige Frucht hast du von deiner Sorgfalt und ehrerbietigen Achtung geerntet? Der Beherrscher der Gläubigen, der dir doch hätte Gerechtigkeit widerfahren lassen sollen, verfolgt dich zum Lohne dafür, daß du mich stets als eine ihm geheiligte Person behandeltest; du büßest dein ganzes Vermögen ein und siehst dich genötigt, dein Heil in der Flucht zu suchen. Ach Kalif, barbarischer Kalif, was wirst du zu deiner Entschuldigung vorbringen können, wenn du einst mit Ganem vor dem Richterstuhl des Ewigen stehen wirst und die Engel in deiner Gegenwart die Wahrheit bezeugen werden? Alle deine gegenwärtige Macht, vor welcher fast der ganze Erdkreis zittert, wird dich nicht schützen können, daß du nicht verdammt und für deine ungerechte Gewalttätigkeit bestraft werdest.« Herzenspein brach bei diesen Worten ab; denn ihre Seufzer und Tränen hinderten sie, weiter zu sprechen.

Es bedurfte nicht mehr, um den Kalifen wieder zur Besinnung zu bringen. Er sah wohl, daß, wenn das, was er soeben gehört hatte, wahr wäre, seine Favoritin unschuldig sein würde, und daß er sich mit seinen gegen Ganem und dessen Familie erlassenen Befehlen übereilt habe. Um diese Sache, wobei seine sonst so gepriesene Gerechtigkeitsliebe ins Spiel kam, gründlich zu untersuchen, kehrte er sogleich in seine Zimmer zurück, und sobald er in denselben angelangt war, trug er Mesrur auf, nach dem finstern Turme hinzugehen und Herzenspein zu ihm herzuführen.

Das Oberhaupt der Verschnittenen schloß aus diesem Befehl und noch mehr aus der Miene des Kalifen, daß er seiner Favoritin zu verzeihen und sie wieder an seine Seite zu berufen willens sei. Er war darüber sehr erfreut, denn er liebte Herzenspein und hatte, als sie in Ungnade fiel, vielen Anteil an ihrem Schicksale genommen. Augenblicklich flog er nun zum Turme und sagte in freudigem Tone zu der Favoritin: »Gnädige Frau, bemühet Euch doch, mir alsbald zu folgen; ich hoffe, daß Ihr in diesen häßlichen finstern Turm nicht mehr zurückkehren werdet. Der Beherrscher der Gläubigen will mit Euch sprechen, und ich schöpfe daraus eine günstige Vorbedeutung.«

Herzenspein folgte dem Mesrur, der sie in das Gemach des Kalifen einführte. Gleich beim Eintreten warf sie sich vor dem Fürsten nieder und blieb in dieser Lage, die Augen voll Tränen. »Herzenspein,« sagte der Kalif zu ihr, ohne sie zu heißen aufzustehen, »es scheint, daß du mich der Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit beschuldigest. Wer ist denn nun derjenige, der ungeachtet seiner Achtung und seiner Rücksichten, die er gegen mich bewiesen, sich in einer unglücklichen Lage befindet? Rede, du weißt, wie gutmütig ich von Natur bin, und wie gern ich jedem Gerechtigkeit widerfahren lasse.«

Die Favoritin merkte aus dieser Rede, daß der Kalif sie behorcht habe, und suchte nun diese gute Gelegenheit zu benutzen, um ihren geliebten Ganem zu rechtfertigen. »Beherrscher der Gläubigen,« antwortete sie, »wenn mir irgend ein Wort entschlüpft sein sollte, welches Euer Majestät nicht genehm ist, so bitte ich demütigst, mir zu verzeihen. Doch derjenige, dessen Unschuld und Elend Ihr kennen zu lernen wünscht, ist Ganem, der unglückliche Sohn Abu Aïbus, der Kaufmann von Damaskus. Er rettete mir das Leben und gab mir einen Zufluchtsort in seinem Hause. Ich gestehe, daß in ihm vielleicht bei meinem ersten Anblick der Gedanke aufgestiegen sein mag, sich mir ganz zu widmen, und vielleicht auch die Hoffnung, daß ich mir seine zarte Aufmerksamkeit gefallen lassen würde; – ich schloß dies wenigstens aus der zuvorkommenden Sorgfalt, womit er mich bewirtete und mir alle Dienstleistungen erwies, die mir in meiner damaligen Lage nur irgend wünschenswert sein konnten. Doch kaum hatte er vernommen, daß ich die Ehre hätte, Euch anzugehören, als er zu mir sagte: »Ach, gnädige Frau, was dem Herrn gehört, ist dem Sklaven verwehrt.« Von diesem Augenblick an –ich muß seiner Tugend diese Gerechtigkeit widerfahren lassen – war sein Betragen nie mit seinen Worten im Widerspruch. Indes Ihr wisset, Beherrscher der Gläubigen, mit welcher Strenge Ihr ihn behandelt habt, und Ihr werdet einst vor Gottes Richterstuhl Rechenschaft davon geben müssen.«

Der Kalif nahm seiner Favoritin diese freimütige Rede gar nicht übel. »Allein«, fuhr er fort, »kann ich mich denn auf deine Versicherungen in Hinsicht der Enthaltsamkeit Ganems verlassen?« – »Ja,« antwortete sie, »Ihr könnt es; ich möchte um alles in der Welt nicht Euch die Wahrheit verhehlen; und um Euch einen Beweis von meiner Aufrichtigkeit zu geben, muß ich Euch ein Geständnis ablegen, das Euch mißfallen wird, wofür ich aber Euer Majestät im voraus um Verzeihung bitte.« – »Rede, meine Tochter,« sagte hierauf Harun Arreschid; »ich verzeihe dir alles, wofern du mir nur nichts verheimlichst.« »Nun gut,« erwiderte Herzenspein, »so wisset, daß die ehrerbietige Aufmerksamkeit Ganems nebst den Gefälligkeiten, die er mir erwies, mir Achtung gegen ihn einflößten. Ja, noch mehr – Ihr kennet die zwingende Gewalt der Liebe –: ich fühlte in meinem Herzen die zarteste Neigung aufkeimen. Er bemerkte es; doch anstatt meine Schwachheit zu benutzen, und ungeachtet der Glut, die in ihm selber aufflammte, blieb er fortwährend seiner Pflicht getreu, und alles, was seine Leidenschaft ihm zu entlocken vermochte, waren die Worte, die ich Euer Majestät bereits wiederholt habe: »Was dem Herrn gehört, ist dem Sklaven verwehrt!«

Dieses offene Geständnis würde vielleicht jeden andern erbittert haben, doch den Kalifen besänftigte dies gerade noch vollends. Er befahl der Herzenspein, aufzustehen, ließ sie neben sich niedersetzen und sagte zu ihr: »Erzähle mir deine Geschichte von Anfang bis zu Ende.« Sie tat dies mit viel Verstand und Gewandtheit. Über das, was Sobeïde betraf, ging sie schnell hinweg und verbreitete sich mehr über die Verpflichtungen, die sie gegen Ganem hätte, und über die Kosten, die er sich ihretwegen gemacht; besonders rühmte sie sehr seine Verschwiegenheit, indem sie dadurch dem Kalifen begreiflich machen wollte, wie notwendig es für sie gewesen sei, im Hause Ganems sich verborgen zu halten, um Sobeïden zu täuschen. Zuletzt schloß sie mit der Flucht des jungen Kaufmanns, wobei sie ohne Hehl dem Kalifen gestand, daß sie ihn selber dazu gedrungen habe, um ihn seinem Zorne zu entziehen.

Als sie geendet hatte, sagte der Kalif zu ihr: »Ich glaube alles, was du mir da erzählt hast; aber warum hast du so lange gesäumt, mir Nachricht von dir zu geben? Mußtest du denn einen ganzen Monat nach meiner Rückkehr warten, bevor du mich wissen ließest, wo du wärest?«

– »Beherrscher der Gläubigen,« antwortete Herzenspein, »Ganem ging so selten aus, daß Ihr Euch nicht wundern dürft, wenn wir Eure Ankunft nicht gleich anfangs erfuhren. Außerdem hat Ganem, dem ich dies Briefchen an Morgendämmerung zu eigenhändiger Abgabe übergeben hatte, lange Zeit auf den günstigen Augenblick warten müssen, wo er es ihr überreichen konnte.«

»Es ist genug, Herzenspein,« erwiderte der Kalif, »ich erkenne meinen Fehler und wünsche ihn wieder gutzumachen und den jungen Kaufmann von Damaskus mit Wohltaten zu überhäufen. Überlege also, was ich wohl für ihn tun könnte; verlange von mir, was du willst, ich werde es dir gewähren.« Bei diesen Worten warf sich die Favoritin zu den Füßen des Kalifen, das Gesicht gegen den Boden gekehrt, und sagte dann, wieder aufstehend: »Beherrscher der Gläubigen, nachdem ich Euer Majestät für Ganem gedankt habe, bitte ich Euch untertänigst, in Euren Staaten bekanntmachen zu lassen, daß Ihr dem Sohne des Abu Aïbu verzeihet, und daß er sich bei Euch einfinden möchte.« – »Ich will noch mehr tun,« sagte der Kalif, »dafür, daß er dir das Leben gerettet, ferner, um seine gegen mich bewiesene Achtung zu belohnen, um ihn für den Verlust seines Vermögens zu entschädigen, und endlich, um das Unrecht, das ich seiner Familie zugefügt, wieder gutzumachen, gebe ich dich ihm zur Gemahlin.« Herzenspein konnte nicht Ausdrücke genug finden, um dem Kalifen für seine Großmut zu danken, sodann begab sie sich nach ihrem Zimmer, das sie schon vor ihrem traurigen Abenteuer bewohnt hatte. Es war noch ganz in seinem vorigen Zustand und ganz unberührt geblieben, doch was ihr am meisten Freude machte, war, die Kästen und Ballen Ganems da zu erblicken, welche Mesrur dahin hatte bringen lassen.

 

Dreihundertunddreiundfünfzigste Nacht.

Den folgenden Tag gab Harun Arreschid dem Großwesir Befehl, in allen Städten des Reichs bekanntmachen zu lassen, daß er Ganem, dem Sohne des Abu Aïbu, verzeihe, doch diese Bekanntmachung war fruchtlos, denn es verging eine geraume Zeit, ohne daß man von dem jungen Kaufmann das mindeste vernahm. Herzenspein glaubte, daß er gewiß den Schmerz über ihren Verlust nicht habe überleben können, und eine quälende Unruhe ergriff ihr Gemüt. Da indes die Hoffnung immer das letzte ist, was die Liebenden verläßt, so bat sie den Kalifen, ihr zu erlauben, daß sie selber Nachforschungen wegen Ganem anstellen könnte. Nachdem ihr der Kalif Erlaubnis gegeben, nahm sie aus ihrer Schatulle einen Beutel mit tausend Goldstücken und ritt eines Morgens, auf einer reich geschmückten Mauleselin sitzend, aus dem Palaste. Zwei schwarze Verschnittene, welche von beiden Seiten her ihre Hand auf dem Bug des Maulesels liegen hatten, begleiteten sie.

Sie ritt von Moschee zu Moschee, um Schenkungen an fromme Muselmänner zu machen und ihre Gebete für die Vollführung einer höchst wichtigen Angelegenheit zu Hilfe zu rufen, von der, wie sie sagte, die Ruhe zweier Personen abhinge. Sie verwendete den ganzen Tag und den ganzen Beutel mit tausend Goldstücken, um Almosen in den Moscheen zu geben, und kehrte am Abend nach dem Palaste zurück.

Den folgenden Tag nahm sie einen Beutel mit ebensovielen Goldstücken und begab sich in demselben Aufzuge nach dem Juwelierplatze. Sie hielt am Eingange still, und ohne abzusteigen, ließ sie durch einen ihrer schwarzen Verschnittenen den Vorsteher oder Ältesten rufen. Dieser, der ein sehr mildtätiger Mann war und mehr als zwei Drittel seiner Einnahme zur Unterstützung armer Fremder – sie mochten nun krank oder in übeln Umständen sein – verwendete, ließ Herzenspein nicht lange warten, die er an ihrer Kleidung für eine Dame des Hofes erkannte. »Ich wende mich an Euch,« sagte sie zu ihm, indem sie ihm den Beutel einhändigte, »als an einen Mann, dessen Frömmigkeit die ganze Stadt rühmt. Ich bitte Euch, diese Goldstücke unter die armen Fremden, denen Ihr beistehet, zu verteilen; denn ich weiß recht gut, daß Ihr zu Eurem täglichen Geschäft macht, die Fremden, die sich an Eure Mildtätigkeit wenden, zu unterstützen. Ich weiß auch, daß Ihr ihren Bedürfnissen zuvorkommt, und daß für Euch nichts angenehmer ist, als eine Gelegenheit zu finden, ihr Elend zu mildern.« – »Gnädige Frau,« antwortete ihr der Vorsteher, »mit Vergnügen werde ich Euren Befehl vollziehen, doch, wenn Ihr wünschet, Eure Wohltaten persönlich auszuspenden, so bemühet Euch bis in meine Wohnung, und Ihr werdet da zwei Frauen finden, die Eures Mitleids würdig sind. Ich traf sie gestern, als sie eben hier in der Stadt anlangten. Sie waren in einem beklagenswerten Zustande, und ich wurde umsomehr davon gerührt, da es mir vorkam, als seien es Personen von Stande. Mitten durch die Lumpen, womit sie bedeckt waren, und ungeachtet der Wirkung, welche die Sonnenglut auf ihr Gesicht gemacht hatte, entdeckte ich an ihnen einen edeln Anstand, der sonst Armen, die ich unterstütze, eben nicht eigen zu sein pflegt. Ich führte sie beide in mein Haus und übergab sie den Händen meiner Frau, welche von ihnen dasselbe urteilte wie ich. Sie ließ ihnen von unsern Sklavinnen eine gute Lagerstatt bereiten, während sie selber ihnen das Gesicht wusch und ihnen frische und reine Wäsche anziehen half. Wir wissen noch immer nicht, wer sie sind, weil wir sie erst etwas ausruhen lassen, ehe wir sie mit unseren Fragen ermüden.«

Herzenspein empfand, ohne recht zu wissen, warum, einige Neugierde, sie zu sehen. Der Vorsteher wollte sie nach seiner Wohnung führen, doch sie nahm dies von ihm nicht an und ließ sich durch einen Sklaven dahin geleiten, den er ihr mitgab. Als sie an der Haustür angelangt war, stieg sie ab und folgte dem Sklaven, welcher vorausgeeilt war, um seine Gebieterin, welche soeben bei Herzensmacht und ihrer Mutter – denn diese beiden waren es selber – im Gemache war, davon zu benachrichtigen.

Als die Frau des Vorstehers durch ihren Sklaven erfuhr, daß eine Frau vom Hofe in ihrem Hause sei, so ging sie aus dem Zimmer, worin sie eben war, hinaus, um sie zu empfangen; doch Herzenspein, welche dem Sklaven auf dem Fuße folgte, ließ ihr nicht Zeit dazu, sondern trat ins Zimmer. Die Frau des Vorstehers warf sich vor ihr nieder, um ihre Ehrerbietung gegen alles, was zum Hofstaat des Kalifen gehörte, zu bezeigen. Herzenspein hob sie auf und sagte zu ihr: »Meine gute Frau, ich bitte Euch, mich mit den beiden fremden Frauen sprechen zu lassen, die gestern abend hier in Bagdad eingetroffen sind.« - »Gnädige Frau,« erwiderte die Gattin des Vorstehers, »sie liegen hier in diesen beiden kleinen Betten, die Ihr hier nebeneinander sehet.« Sogleich näherte sich die Favoritin dem Bette der Mutter, betrachtete sie aufmerksam und sagte dann: »Meine gute Frau, ich komme, um Euch meine Unterstützung anzubieten. Ich bin nicht ohne Einfluß in dieser Stadt und werde vielleicht Euch und Eurer Gefährtin nützlich sein können.« – »Gnädige Frau,« erwiderte die Mutter Ganems, »an den gefälligen Anerbietungen, die Ihr uns machet, sehe ich, daß der Himmel uns noch nicht ganz verlassen hat. Wir hatten indes nach den Unfällen, die uns betroffen, wohl Ursache, es zu glauben.« Bei diesen Worten fing sie so bitterlich an zu weinen, daß Herzenspein und die Frau des Vorstehers ebenfalls ihre Tränen nicht zurückhalten konnten.

Die Favoritin des Kalifen sagte hierauf, nachdem sie ihre eigenen Tränen getrocknet, zu Ganems Mutter: »Teilet uns, ich bitte Euch darum, Eure Leiden mit und erzählet uns Eure Geschichte. Ihr werdet niemanden finden, der mehr geneigt wäre als wir, alles Mögliche zu Eurem Troste aufzubieten.« – »Gnädige Frau,« antwortete die unglückliche Witwe des Abu Aïbu, »eine Favoritin des Beherrschers der Gläubigen, eine Frau namens Herzenspein ist Urheberin meines ganzen Unglücks.« Bei diesen Worten fühlte sich die Favoritin wie vom Blitz getroffen; sie verhehlte indes ihre Verlegenheit und innere Bewegung und ließ Ganems Mutter weiterreden, welche also fortfuhr: »Ich bin die Witwe des Abu Aïbu, Kaufmanns zu Damaskus. Ich hatte einen Sohn namens Ganem, der eine Handelsreise nach Bagdad machte und hier beschuldigt wurde, die Herzenspein entführt zu haben. Der Kalif ließ ihn überall suchen, um ihn umbringen zu lassen, und da er ihn nicht finden konnte, schrieb er an den König von Damaskus, daß er unser Haus plündern und niederreißen, uns beide, meine Tochter und mich, drei Tage nacheinander ganz nackt den Augen des Volks bloßstellen und uns sodann für immer aus Syrien verbannen solle. Doch wie unwürdig man uns auch immer behandelt haben mag, ich würde mich gleichwohl noch trösten, wenn mein Sohn noch lebte und ich ihn irgendwo treffen könnte. Welche Freude würde es für seine Schwester und für mich sein, ihn wiederzusehen! In seiner Umarmung würden wir den Verlust unsers Vermögens und alle Leiden vergessen, die wir für ihn erduldet haben. Ach, ich bin überzeugt, daß er sich gegen den Kalifen ebensowenig vergangen hat als seine Schwester und ich.« – »Nein,« unterbrach sie Herzenspein, »er ist wirklich ebensowenig strafbar als Ihr. Ich kann Euch von seiner Unschuld versichern, da ich selber jene Herzenspein bin, über die Ihr Euch so sehr zu beklagen habt; ich bin es, die durch das Verhängnis der Sterne Euch alle Eure Leiden veranlaßt hat, und mir müßt Ihr den Verlust Eures Sohnes beimessen, wenn er nicht mehr auf der Welt ist. Doch wenn ich Euer Unglück herbeigeführt habe, so vermag ich auch wieder, es zu lindern. Ich habe Ganem vor dem Kalifen gerechtfertigt, dieser Fürst hat in seinem ganzen Reiche ausrufen lassen, daß er dem Sohne Abu Aïbus verzeihe, und Ihr dürft nicht zweifeln, daß er Euch nicht ebensoviel Gutes erzeigen wird, als er Euch Böses zugefügt hat. Ihr seid nicht mehr seine Feinde; er erwartet Ganem, um ihn für den mir erwiesenen Dienst dadurch zu belohnen, daß er uns vereinigte; er gibt mich ihm zur Gemahlin. So betrachtet mich denn nun als Eure Tochter und erlaubet mir, Euch ewige Freundschaft zu geloben.« Mit diesen Worten neigte sie sich zu Ganems Mutter herab, die darauf nichts zu antworten vermochte, so sehr hatte diese Rede sie in Staunen gesetzt. Herzenspein hielt sie lange Zeit umarmt und verließ sie bloß, um zu dem anderen Bette hinzueilen und Herzensmacht umarmen zu können, welche sich zu ihrem Empfange aufgesetzt hatte und ihr die Arme entgegenstreckte.

Nachdem die reizende Favoritin der Mutter und der Tochter alle möglichen Beweise von Wohlwollen gegeben, die sie nur irgend von der Gemahlin Ganems erwarten konnten, sprach sie zu ihnen: »Höret beide auf, euch zu betrüben; die Reichtümer, welche Ganem in dieser Stadt besaß, sind nicht verloren, sie befinden sich im Palaste des Kalifen, und zwar in meinen Zimmern. Ich weiß übrigens wohl, daß alle Reichtümer der Welt ohne Ganem euch nicht zu trösten imstande sein würden; ich kann mir dies von Ganems Mutter und Schwester recht gut denken, wenn ich von mir selber auf euch schließe, denn die Bande des Bluts haben in edlen Herzen nicht mindere Gewalt als die Liebe. Indes warum wollt ihr daran verzweifeln, euren Sohn jemals wiederzusehen? Wir werden ihn gewiß noch wiederfinden; mein glückliches Zusammentreffen mit euch gibt mir Hoffnung, vielleicht ist sogar schon heute der letzte Tag eurer Trübsal und der Anfang eines größeren Glücks, als ihr nur je zu Damaskus damals genossen habet, als ihr Ganem noch bei euch hattet.«

Herzenspein wollte noch weiterreden, als der Vorsteher der Juweliere hereintrat und sagte: »Gnädige Frau, ich habe jetzt soeben ein sehr rührendes Schauspiel gesehen. Es war dies nämlich ein junger Mann, welcher auf einem Kamel in das Hospital hiesiger Stadt gebracht wurde; er war mit Stricken auf das Kamel gebunden, weil er nicht Kraft hatte, sich auf demselben sitzend zu erhalten. Man hatte soeben die Stricke aufgebunden und wollte ihn in das Hospital hineintragen, als ich da vorüberging. Ich näherte mich dem jungen Manne, betrachtete ihn mit Aufmerksamkeit, und es kam mir vor, als ob sein Gesicht mir nicht ganz unbekannt wäre. Ich tat an ihn verschiedene Fragen über seine Familie, doch statt der Antwort entlockte ich ihm bloß Tränen und Seufzer. Er tat mir leid, und da ich aus meiner täglichen Erfahrung erkannte, daß er der sorgfältigsten Pflege bedürfte, so wollte ich ihn nicht in das Hospital bringen lassen, weil ich nur zu wohl weiß, wie man da mit den Kranken umgeht, und wie ungeschickt die Ärzte darin sind. Ich habe ihn also durch meine Sklaven hierher in meine Wohnung bringen lassen; diese haben ihn in ein besonderes Gemach gebracht, geben ihn auf meinen Befehl reines Linnenzeug von mir und bedienen ihn ganz so wie mich selber.«

Herzenspein zitterte bei dieser Rede des Juweliers und fühlte in sich eine Regung, wovon sie sich keinen Grund anzugeben vermochte. »Führet mich doch,« sagte sie zu dem Vorsteher, »in das Zimmer dieses Kranken, ich wünschte ihn zu sehen.« Der Mann führte sie sogleich hin, und während sie hinging, sagte Ganems Mutter zu Herzensmacht: »Ach, meine Tochter, wie beklagenswert auch immer dieser kranke Fremde sein mag, dein Bruder, wofern er noch lebt, befindet sich schwerlich in einer glücklicheren Lage als er.«

Als die Favoritin des Kalifen in das Zimmer, worin der Kranke lag, eingetreten war, näherte sie sich dem Bette, worein ihn die Sklaven des Hausherrn gebracht hatten. Sie erblickte hier einen jungen Mann mit geschlossenen Augen und einem blassen, abgezehrten und verweinten Angesicht: sie betrachtet ihn aufmerksamer, ihr Herz klopft, sie glaubt Ganem zu erkennen. Doch bald mißtraut sie wieder dem Zeugnis ihrer Augen. Wenn sie auch einerseits in dem Angesichte des Kranken einen ähnlichen Zug entdeckt, so erscheint er ihr doch im übrigen so verschieden von jenem, daß sie es nicht zu glauben wagt, daß er es wirklich sei. Da sie indes der Neugier, sich genau darüber zu unterrichten, nicht widerstehen kann, so sagt sie mit zitternder Stimme: »Ganem, bist du es, den ich hier vor mir sehe?« Bei diesen Worten hielt sie inne, um dem jungen Manne Zeit zur Antwort zu lassen; doch da er darauf nicht zu achten schien, fuhr sie fort: »Ach, Ganem, du bist es nicht. Bloß meine Einbildungskraft, die nur immer an deinem Bilde hängt, hat diesem Fremden eine täuschende Ähnlichkeit geliehen. Der Sohn des Abu Aïbu, wie krank er auch sein möchte, würde auf die Stimme seiner Herzenspein hören.« Bei dem Namen Herzenspein schlug Ganem – denn er war es wirklich – die Augen auf, wendete den Kopf nach der Seite hin, wo die Stimme herkam, und sagte, als er die Favoritin des Kalifen wiedererkannte: »Ach, gnädige Frau, seid Ihr es? Durch welches Wunder…?« Er vermochte nicht auszureden, sondern wurde von einem so plötzlichen Freudentaumel überwältigt, daß er in Ohnmacht fiel. Herzenspein und der Herr des Hauses eilten ihm zu Hilfe; doch sobald sie wieder einige Zeichen des Lebens an ihm entdeckten, bat der Vorsteher die Dame, sich zu entfernen, damit ihr Anblick nicht einen neuen Rückfall herbeiführen möge.

Nachdem der junge Mann wieder zur Besinnung gekommen war, sah er sich nach allen Seiten um, und da er nicht mehr sah, was er suchte, rief er aus: »Schöne Herzenspein, was ist aus dir geworden? Standest du wirklich vor meinen Augen, oder war es bloß eine täuschende Erscheinung?« – »Nein, Herr,« sagte der Vorsteher zu ihm; »ich habe diese Dame hinauszugehen veranlaßt; indes werdet Ihr sie wiedersehen, sobald Ihr imstande sein werdet, ihren Anblick zu ertragen. Ihr habt jetzt Ruhe nötig, und nichts muß Euch daran hindern. Da Ihr, wie es mir vorkommt, jener Ganem seid, dem der Beherrscher der Gläubigen öffentlich in Bagdad hat Verzeihung verkündigen lassen, so muß ich Euch nur sagen, daß Eure Angelegenheiten eine ganz andere Gestalt genommen haben; dies zu wissen, sei Euch für den Augenblick genug. Die Dame, welche soeben mit Euch gesprochen, wird Euch ausführlicher davon unterrichten. Denket also bloß daran, Eure Gesundheit wieder herzustellen; was mich betrifft, so werde ich so viel dazu beitragen, als nur irgend in meinen Kräften steht.« Nachdem er dies gesprochen, ließ er Ganem in Ruhe und ging fort, um ihm die Arzneimittel bereiten zu lassen, die er zur Wiederherstellung seiner durch Fasten und Beschwerde erschöpften Kräfte für nötig erachtete.

Während dieser Zeit befand sich Herzenspein in dem Zimmer der Mutter Ganems und der Herzensmacht, wo sich fast dieselbe Szene wiederholte. Denn als Ganems Mutter erfuhr, daß jener kranke Fremde, den der Vorsteher in sein Haus hatte bringen lassen, Ganem sei, fiel sie vor Freuden darüber in Ohnmacht; und als sie sich durch die sorgfältige Pflege der Frau des Vorstehers und Herzenspeins wieder erholt hatte, wollte sie aufstehen und ihren Sohn besuchen. Doch der Vorsteher, der mittlerweile hereingetreten war, verhinderte sie daran und stellte ihr vor, Ganem sei so schwach und entkräftet, daß man nicht ohne Gefahr seines Lebens Gemütsbewegungen, wie sie der unvermutete Anblick einer geliebten Mutter hervorbringen müsse, hervorrufen dürfe. Der Vorsteher hatte keine lange Rede nötig, um Ganems Mutter zu überzeugen. Sobald man ihr gesagt hatte, daß sie mit ihrem Sohne nicht sprechen könne, ohne sein Leben zu gefährden, drang sie nicht weiter darauf, ihn zu sehen. Jetzt nahm Herzenspein das Wort und sagte zu ihr: »Wir wollen dem Himmel danken, daß er uns alle an einen und denselben Ort zusammengeführt hat. Ich will jetzt nach dem Palast zurückkehren, um dem Kalifen von allen diesen Abenteuern Nachricht zu geben, und morgen früh komme ich wieder zu euch.« Mit diesen Worten umarmte sie Mutter und Tochter und ging fort. Als sie im Palaste angekommen war, ließ sie den Kalifen um eine geheime Unterredung bitten. Diese ward ihr augenblicklich gewährt; man führte sie in das Kabinett des Fürsten, worin dieser sich ganz allein befand. Sie warf sich zuvörderst der Landessitte gemäß mit ihrem Angesicht vor ihm zur Erde nieder. Er hieß sie aufstehen und sich setzen und fragte sie sodann, ob sie von Ganem Nachricht hätte. »Beherrscher der Gläubigen,« sagte sie hierauf, »ich bin so glücklich gewesen, ihn nebst seiner Mutter und Schwester aufzufinden.« Der Kalif war neugierig, zu erfahren, wie sie in so kurzer Zeit dies möglich gemacht habe. Sie befriedigte seine Neugier und sagte ihm von Ganems Mutter und Schwester so viel Gutes, daß er Lust bekam, sie beide nebst dem jungen Kaufmann zu sehen.

 

Dreihundertundvierundfünfzigste Nacht.

Wenn Harun Arreschid auch aufbrausend war und sich in seiner Übereilung bisweilen zu grausamen Handlungen hinreißen ließ, so war er dagegen wieder der gerechteste und großmütigste Fürst von der Welt, sobald sein Zorn vorüber war und man ihn zur Einsicht seiner Ungerechtigkeit gebracht hatte. Da er nun nicht mehr daran zweifeln konnte, daß er Ganem und seine Familie ungerechterweise verfolgt und sie öffentlich gemißhandelt habe, beschloß er, ihnen eine öffentliche Genugtuung zu geben. »Ich freue mich,« sagte er zu Herzenspein, »über den glücklichen Erfolg deiner Nachforschungen; und zwar freut es mich weniger um deinet- als um meinetwillen. Ich werde das Versprechen, das ich dir getan, halten; du sollst Ganem heiraten, und ich erkläre hiermit, daß du von nun an nicht mehr meine Sklavin, sondern ganz frei bist. Geh jetzt wieder zu dem jungen Kaufmann, und sobald seine Gesundheit wieder hergestellt sein wird, kannst du ihn nebst seiner Mutter und Schwester zu mir führen.«

Den folgenden Morgen früh unterließ Herzenspein nicht, sich zu dem Vorsteher der Juweliere hinzubegeben, voll Ungeduld, sich nach dem Gesundheitszustand Ganems zu erkundigen, und der Mutter und Schwester desselben die guten Nachrichten, die sie ihnen zu melden hatte, mitzuteilen. Der erste, der ihr begegnete, war der Vorsteher, der ihr erzählte, Ganem habe die Nacht sehr gut zugebracht, und da seine Krankheit bloß aus Schwermut entstanden sei, so würde er, wenn die Ursache gehoben, sehr bald wieder geheilt sein.

In der Tat befand sich der Sohn Abu Aïbus um vieles besser. Die Ruhe und die wirksamen Heilmittel, die er zu sich genommen, und, mehr als dies alles, seine gegenwärtige Gemütsstimmung hatten eine so gute Wirkung hervorgebracht, daß der Vorsteher meinte, er könne jetzt ohne Gefahr seine Mutter, Schwester und Geliebte sehen, wofern man ihn nur auf ihren Empfang vorbereitete; denn sonst, wenn er noch nicht wüßte, daß seine Mutter und Schwester in Bagdad seien, müsse man fürchten, daß ihr Anblick ihm eine zu große Freude und Überraschung verursachen könnte. Es ward daher beschlossen, daß zuerst Herzenspein ganz allein in Ganems Zimmer treten und sodann, wenn es Zeit wäre, den beiden andern Frauen das Zeichen zum Eintritt geben sollte.

Nachdem alles so angeordnet war, ward Herzenspein durch den Vorsteher dem Kranken angemeldet, welcher so sehr über ihr Wiedersehen erfreut war, daß wenig fehlte, daß er nicht abermals ohnmächtig wurde. »Nun, Ganem,« sagte sie zu ihm, indem sie sich seinem Bette näherte, »da hast du deine Herzenspein wieder, die du für immer verloren zu haben glaubtest.« – »Ach, gnädige Frau,« unterbrach er sie hastig, »durch welches Wunder kommt Ihr vor meine Augen! Ich glaubte, Ihr wäret im Palaste des Kalifen. Ganz gewiß hat dieser Fürst Euch Gehör gegeben, Ihr habt seinen Argwohn verscheucht, und er hat Euch seine Liebe wiedergeschenkt.« – »Ja, mein teurer Ganem,« erwiderte Herzenspein, »ich habe mich in den Augen des Beherrschers der Gläubigen gerechtfertigt, welcher nun, um die Leiden, die er Euch verursacht hat, wieder gutzumachen, mich Euch zur Gemahlin gibt.« Diese letzten Worte erregten bei Ganem eine so lebhafte Freude, daß er durch nichts darauf zu antworten wußte als durch jenes beredte Schweigen der Liebenden. Endlich unterbrach er dasselbe und rief: »Ach, schöne Herzenspein, kann ich Eurer Rede Glauben beimessen? Darf ich wirklich glauben, daß der Kalif Euch dem Sohne Abu Aïbus überläßt?« – »Nichts ist gewisser als dies,« erwiderte die Schöne; »dieser Fürst, der Euch vor kurzem noch aufsuchen ließ, um Euch das Leben zu nehmen, und der in seiner Wut Eurer Mutter und Schwester tausend Beschimpfungen zufügen ließ, wünscht Euch jetzt zu sehen, um Euch für die Ehrerbietung, die Ihr gegen ihn bewiesen, zu belohnen, und es ist unzweifelhaft, daß er Eure ganze Familie mit Wohltaten überhäufen wird.«

Ganem fragte, wie denn der Kalif seine Mutter und Schwester habe behandeln lassen. Herzenspein erzählte es ihm. Er konnte diese Erzählung nicht ohne Tränen anhören, ungeachtet der frohen Stimmung, worein ihn die Nachricht von seiner Vermählung mit seiner Geliebten versetzt hatte. Doch als Herzenspein ihm sagte, sie wären gegenwärtig zu Bagdad, und zwar in einem und demselben Hause mit ihm, so schien seine Sehnsucht, sie zu sehen, so groß, daß die Favoritin sie unverzüglich befriedigen zu müssen glaubte. Sie rief sie also. Diese standen bereits an der Tür und warteten bloß auf diesen Wink; sie traten nun hinein, gingen auf Ganem zu, umarmten ihn nacheinander und küßten ihn wiederholt. Wie viele Tränen flossen bei dieser Umarmung! Ganems Gesicht war ganz davon überströmt, ebenso auch das seiner Mutter und Schwester. Auch Herzenspein vergoß viele Tränen. Selbst der Vorsteher und seine Frau, welche dies Schauspiel tief rührte, konnten ihre Tränen nicht zurückhalten, noch auch müde werden, die geheimen Wege der Vorsehung zu bewundern, welche in ihrem Hause vier Personen zusammengeführt, die das Schicksal so grausam getrennt hatte.

Nachdem sie alle ihre Tränen abgetrocknet hatten, entlockte ihnen Ganem von neuem welche, indem er ihnen alles erzählte, was er von jenem Tage, an welchem er Herzenspein verlassen, bis zu dem Augenblick, wo ihn der Vorsteher in sein Haus aufnahm, gelitten hatte. Er sagte ihnen nämlich, wie er sich in ein nahes Dorf geflüchtet habe, wie er da krank geworden sei, wie er endlich, da es mit ihm besser geworden, einen Kameltreiber gebeten habe, ihn ins Hospital nach Bagdad zu führen. Herzenspein erzählte ihnen ebenfalls die Unannehmlichkeiten ihrer Gefangenschaft, wie der Kalif sie im Turme habe reden hören, sie sodann in sein Kabinett habe rufen lassen, und wodurch sie sich bei ihm gerechtfertigt habe. Endlich, nachdem sie sich einander ihre Begegnisse mitgeteilt hatten, sagte Herzenspein: »Laßt uns den Himmel segnen, der uns alle vereinigt hat, und laßt uns jetzt nur noch an das Glück denken, das uns erwartet. Sobald die Gesundheit Ganems wieder hergestellt sein wird, wird er nebst seiner Mutter und Schwester vor dem Kalifen erscheinen müssen; da sie indes nicht in dem Zustande sind, um sich zeigen zu können, so will ich jetzt die nötigen Vorkehrungen deshalb treffen; ich bitte Euch, bloß einen einzigen Augenblick zu warten.«

Mit diesen Worten ging sie fort und nach dem Palaste und kehrte bald darauf in das Haus des Vorstehers mit einem Beutel von tausend Goldstücken zurück. Sie gab diesen dem Vorsteher mit der Bitte, für Herzensmacht und ihre Mutter Kleider zu kaufen. Der Vorsteher, der ein Mann von Geschmack war, wählte sehr schöne aus und ließ sie schnell zurechtmachen. Nach Verlauf von drei Tagen waren sie fertig, und da Ganem sich zum Ausgehen stark genug fühlte, so schickte er sich dazu an. Doch an demselben Tage, wo er dem Kalifen seine Aufwartung machen wollte und sich nebst seiner Mutter und Herzensmacht bereits dazu anschickte, sah man den Großwesir Giafar in das Haus des Vorstehers hereintreten.

Dieser Minister, welcher zu Pferde und mit einem zahlreichen Gefolge angekommen war, sagte beim Eintreten zu Ganem: »Herr, ich komme hier im Namen des Beherrschers der Gläubigen, meines und Eures Herrn. Der Auftrag, den ich habe, ist sehr verschieden von jenem, dessen Andenken ich bei Euch nicht erst erneuern will: ich soll Euch nämlich begleiten und dem Kalifen vorstellen, der Euch zu sehen wünscht.« Ganem antwortete auf diese Anrede des Großwesirs bloß durch eine tiefe Verneigung und bestieg ein Pferd aus dem Marstall des Kalifen, das man ihm darbot, und das er mit vielem Anstand lenkte. Mutter und Tochter mußten Mauleselinnen besteigen, und während Herzenspein, die ebenfalls eine Mauleselin bestiegen, sie durch einen Nebenweg zu dem Fürsten hinführte, führte Giafar den Ganem auf einem andern Weg bis in den Empfangssaal hinein. Der Kalif saß darin auf einem Thron, umgeben von den Emiren, Wesiren, dem Oberhaupt der Trabanten und andern Hofleuten aus Arabien, Persien, Ägypten, Afrika, Syrien und seinen übrigen Besitzungen, der Fremden zu geschweigen.

Als der Großwesir den Ganem bis an den Fuß des Thrones geführt hatte, warf sich dieser junge Kaufmann mit dem Angesicht zur Erde, stand dann wieder auf und dichtete aus dem Stegreif eine schöne Anrede in Versen, die ihm den Beifall des ganzen Hofes verschaffte. Nach dieser Anrede ließ der Kalif ihn näher treten und sagte zu ihm: »Es freut mich, dich zu sehen und aus deinem Munde zu erfahren, wo du meine Favoritin gefunden und was du alles für sie getan hast.« Ganem gehorchte, und zwar auf eine so offene und unbefangene Weise, daß der Kalif von seiner Aufrichtigkeit überzeugt wurde. Der Fürst ließ ihm hierauf ein sehr reiches Kleid geben, wie es Sitte ist, allen denen zu reichen, die der Landesfürst bei sich empfängt, und sagte sodann zu ihm: »Ganem, ich will, daß du an meinem Hofe bleibest.« – »Beherrscher der Gläubigen,« erwiderte der junge Kaufmann, »ein Sklave hat keinen andern Willen als den seines Herrn, von welchem sein Gut und Leben abhängt.« Der Kalif war durch Ganems Antwort sehr befriedigt und wies ihm einen sehr bedeutenden Jahresgehalt an. Sodann stieg er vom Throne, winkte dem Großwesir und Ganem, ihm ganz allein zu folgen, und trat so in sein Zimmer.

Da er nicht zweifelte, Herzenspein nebst der Witwe und Tochter des Abu Aïbu würde wohl ebenfalls in der Nähe sein, so ließ er dieselben vor sich kommen. Sie warfen sich vor ihm nieder. Er hieß sie aufstehen und fand Herzensmacht so schön, daß er, nachdem er sie aufmerksam betrachtet hatte, zu ihr sagte: »Es tut mir so leid, eine so liebenswürdige Person so unwürdig behandelt zu haben, daß ich dir eine Genugtuung schuldig zu sein glaube, welche die angetane Beleidigung weit überwiegt. Ich mache dich zu meiner Gemahlin, und dies mag zugleich die Strafe Sobeïdens sein, welche somit die Urheberin deines Glückes wird, so wie sie der erste Anlaß deiner erlittenen Leiden gewesen ist. Doch das ist noch nicht genug,« fuhr er, zu Ganems Mutter sich wendend, fort; »Ihr, o Frau, seid noch jung, und ich glaube, daß Ihr eine eheliche Verbindung mit meinem Großwesir nicht verschmähen werdet. Ich gebe Euch Giafar zum Gemahl und Euch, Herzenspein, den Ganem; man lasse einen Kadi und Zeugen kommen, damit die drei Eheverträge augenblicklich entworfen und unterzeichnet werden können.« Ganem wollte dem Kalifen vorstellen, daß seine Schwester sich schon genug geehrt fühlen würde, wenn er sie unter die Zahl seiner Favoritinnen aufnähme; doch der Fürst wollte Herzensmacht durchaus heiraten.

Er fand übrigens diese Geschichte so außerordentlich, daß er einem berühmten Geschichtsschreiber Befehl gab, sie umständlich aufzusetzen. Sie wurde in seine Schatzkammer niedergelegt, von wo aus sie hernach durch mehrere Abschriften der Welt bekannt geworden ist.«

Als Scheherasade die Geschichte Ganems, des Sohnes des Abu Aïbu, zu Ende erzählt hatte, bezeigte ihr der Sultan von Indien, daß sie ihm viel Vergnügen gemacht habe. »Herr,« sagte hierauf die Sultanin, »da diese Geschichte Euch Unterhaltung gewährt hat, so bitte ich untertänigst Euer Majestät, auch noch die von den Abenteuern Harun Arreschids gnädigst anzuhören; sie wird Euch nicht minder befriedigen.«

Schachriar genehmigte es; doch da der Tag bereits anzubrechen begann, so verschob man es bis auf die folgende Nacht. Die Sultanin begann sodann folgendermaßen:

 


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