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Dreizehntes Capitel.
Die Frage und die Antwort.

Selwyn, der rasch reiste und mit seinen Gedanken beschäftigt war, kam zur richtigen Zeit in die Nähe seines Bestimmungsortes. Er ließ jetzt sein Sinnen fahren, um sich umzuschauen, doch er erkannte nur wenige Gegenstände mehr, so hatte sich die ganze Gegend verändert. Zu seiner Ueberraschung war die Grange vom Angesicht der Erde verschwunden, und eine Eisenbahn, (welche bei ihrer anfänglichen Projektirung Mr. Croßly zu Grunde gerichtet hatte, jetzt aber unter glücklicheren Aussichten in voller Thätigkeit war), ging über den Platz, wo der alte Herrensitz stand und vielleicht über eben jenen Fleck, wo er um die sanfte Therese gefreit hatte. Indem der Zug eine gute Strecke lang an den Besitzungen des Mr. Massinger hinfuhr, flog er dem Dorfe T.... zu, und in wenigen Minuten hatte er einige seiner Passagiere auf der kleinen Haltstelle abgesetzt und brauste dann wieder weiter.

Selwyn gelangte, die enge, hölzerne Stiege hinankletternd, in die Dorfstraße, und auf sein Fragen wurde er zum Häuschen der Mrs. Morgan hingewiesen, welches beinahe eine Meile weiter oben lag. Bald hatte er es erreicht, es war eine niedliche Behausung, etwas von der Landstraße abseits gelegen und halb unter dichtbelaubten Bäumen verborgen. Die Thüre der vordern Stube stand offen, und als seine Schritte auf dem mit Backsteinen gepflasterten Gartenweg ertönten, schaute ein Weib heraus und kam ihm rasch entgegen. An dem noch hübschen Gesichte, das jetzt von Angst und Wachen gefurcht war, erkannte er Nanny, die ihn sogleich wieder erkannte.

»O Mr. Grice, wie freut es mich, daß Sie gekommen sind, Sir!« rief sie, indem sie zu weinen anfing. »Ich hätte immer gern wissen mögen, ob Sie wohl kommen würden. Sie werden entschuldigen, daß ich Sie nicht gleich in das Haus führe, Sir, bitte, setzen Sie Sich hieher, bis wir ein bißchen geplaudert haben.«

Sie wischte mit ihrer Schürze die Bank vor der Hausthüre ab, und dann stand sie in sichtlicher Unruhe und Verlegenheit da.

»Ich war neugierig, ob Sie wohl kommen werden, Sir,« wiederholte sie.

»Ei, was konnte ich anderes thun auf den Brief hin, den Sie mir sandten? Er hat mir einige Angst verursacht, und ich hoffe, Sie schrieben ihn nicht ohne vernünftige Gründe.«

Er schwieg, und sie, überaus geschäftig mit ihren Schurzbändern, schaute verlegen darein und schwieg gleichfalls.

»Kommen Sie, meine gute Frau, und sagen Sie mir offen, was es damit für eine Bewandtniß hat? Haben Sie Ihre Meinung geändert? Oder ist vielleicht die Frau, von der Sie schrieben, todt?«

»Nein, Sir, sie ist es nicht; sie ist oben und schläft,« entgegnete Nanny, indem sie auf ein kleines Gitterfenster deutete, das sich über der mit Laub umgebenen Hausthüre befand. »Die Wahrheit ist, Mr. Grice, ich bin ganz in Verwirrung, und manchmal fürchte ich, ich habe Sie umsonst einen so langen Weg machen lassen, und ein anderes Mal denke ich, nein – wenn ich ihm nicht geschrieben hätte, thät' ich es jetzt. So steht es just, Sir, und ich habe es um des Besten willen gethan, sei ihm, wie ihm wolle.«

»Sehr wohl,« sagte Selwyn mit kennbarer Mäßigung. »Hören Sie, auf jeden Fall werde ich nicht böse sein, noch Sie tadeln, also seien Sie unbesorgt. Und jetzt erklären Sie mir genau jeden Umstand, und überlassen Sie die Schlüsse mir. Vor allem, wer ist die Kranke?«

»Sie –« und hiebei deutete die Frau mit verkehrtem Daumen auf das Fenster über ihnen – »sie ist die Mutter meines Mannes, Mrs. Elisabeth Morgan. Mein seliger Mann, Sir, denn ich verlor ihn vor vier Jahren, ach! er war ein guter Mann – eines ausgenommen – und wir haben glücklich gelebt, mit Ausnahme eines Dinges – und es schmerzte mich tief, ihn zu verlieren, der arme Mann. Er wurde mir ganz plötzlich entrissen, vor vier Jahren, in dem Häuschen unten bei B–, wo Ihre liebe Frau und die theuren Kleinen bei uns waren. Ich hoffe, sie sind alle wohl, gewiß, Sir? und Sie werden mir verzeihen, daß ich nicht gleich nach ihnen fragte …«

»Sie sind alle wohl,« sagte er mit Zeichen wachsender Ungeduld, »doch wann wollen Sie einmal zur Sache kommen?«

»Bitte um Verzeihung, Mr. Grice, doch ich muß so in meiner Weise reden, oder ich komme nicht vom Fleck, noch verstehen Sie die Sache, wie sie ist, und das sollen Sie doch. Also ich sagte Ihnen, mein Mann wurde mir plötzlich entrissen und ließ mich allein zurück mit dem Buben, obwohl nicht ganz ohne Mittel, denn er war ein sparsamer Mann, und er hatte ein gutes Herz, der Arme. Nun, seine Mutter, als die es hörte, wurde wundersam erweicht. Es hatte stets eine Art von Kälte zwischen uns geherrscht, seit er mich heirathete, weil ich nicht von seiner Religion bin, Sir, und sie hat stets versucht, deßhalb zwischen mir und meinem Manne Unfrieden zu stiften, was Schuld war, daß er von ihr fortzog, um unsern Frieden zu erhalten. Nun, sie wurde durch seinen Tod erweicht, und sie schrieb mir und machte mir alle Arten Versprechungen des Buben wegen; sie hatte stets eine Zärtlichkeit für ihn gehabt, seit er Kind war, und sie erbot sich, ihn in die Lehre zu thun, und sie wolle alles für ihn thun, wenn ich zurückkehrte und ihn brächte, um in ihrer Nähe zu bleiben. So dachte ich hin und her, und es schien mir für ihn daß Beste, da ich einsah, ich könnte nicht viel thun für ihn unten in B–, ausgenommen, er ginge zur See, was ein hartes Leben ist und ich wollte das für ihn ganz und gar nicht. Und so zog ich wieder hieher, Sir, ich brachte ihn mit in das Dorf, indem ich ihren Versprechungen glaubte, wie Sie sehen. Aber ich ermüde Ihre Geduld, ich weiß es, doch ich kann nicht rascher vorwärts kommen, so gern ich auch möchte. –

»Jetzt, Mr. Grice, nachdem wir eine Weile hier gewesen, sah ich ihre Absicht; ich sah, daß sie hoffte, ihn von seiner Kirche in die ihrige hinüberzuziehen für all das, was sie für ihn that.

»Sie hatte das seit seiner Geburt versucht, auf die und auf jene Art, und jetzt dachte sie ein leichtes Spiel zu haben. Sie hat ein altes hartes Herz, gewiß. Und verschlagen – doch ich vergaß, Sir, Sie sind nicht unseres Glaubens,« sagte Nanny zögernd.

»Nein, Gott sei Dank, ich bin es nicht,« erwiederte Selwyn ernst. »Sie hat ohne Zweifel blos gethan, was sie als ihre Pflicht erkannte, obwohl Sie weder die Augen haben, um es einzusehen, noch die Kraft, es zu begreifen. Wie sollten Sie es auch?«

»Wir wollen nicht über diese Sache streiten, Mr. Grice, mit Ihrer Erlaubniß, Sir,« bemerkte Nanny mit einfacher Würde. »Natürlich, Sie haben Ihre Meinung, und ich meine, und sie sind beide sehr verschieden. Das aber that sie, und sie ließ es ihm bald merken. Ich brauche nicht dabei zu verweilen,« sagte die Mutter, indem sie ein ganzes Capitel voll Angst und Kummer mit dieser Bemerkung und mit einem schweren Seufzer überging. »Dank sei Gott, er kannte seinen Glauben und gab ihn nicht auf; doch er wollte keinen Unfrieden machen, noch mir zur Last fallen, und so ging er fort zur See. Eines Morgens früh ging er fort, machte mit dem Capitän alles ab, und er kam zurück, um zu sagen ›Leb' wohl, Mutter,‹ und er ging zur See. Sie war Schuld. Ich hoffe, Gott wird ihr ihre Falschheit und ihre Härte vergeben, jetzt, wo sie auf ihrem Sterbebette liegt –

»Sie brauchen nicht zu reden, Sir, ich komme jetzt zu der Sache. Als mein Junge fort war, sprach ich nicht mit ihr, und ich wollte nicht – nein, ich wollte nicht – bis sie krank wurde. Eines Sonntages traf sie ein Schlag, und man sandte nach mir, da ich ihre einzige Verwandte im Orte bin. Ich pflege sie Tag und Nacht, ich will nicht davon reden, denn um des Herrn willen, der seinen Feinden vergab,« sagte Nanny, indem sie mit ehrfurchtsvoller Verneigung aufwärts blickte, »war ich ihr eine Tochter, und als sie wieder ein bißchen zu sich kam, und es erfuhr, erzeigte sie sich dankbar. Ich muß das sagen: der Doktor sagt, sie verdanke ihr Leben meiner Pflege, und sie war mir dankbar. Nun, sie wurde besser, doch letzten Sonntag, gerade drei Wochen nach ihrem ersten Schlaganfall, traf sie ganz unverhofft ein zweiter, und seitdem ist sie fast wie kindisch. Der Doktor sagt, es sei mit ihr vorbei, und obwohl sie sich sehr sträubt, sie war ihr Lebtag lang ein starkes Weib, so wird es doch nicht lang mehr dauern; und wahrhaftig, in der vergangenen Nacht dachte ich, ihre Zeit sei gekommen.«

»Jetzt, meine gute Frau, habe ich Ihnen zugehört, so geduldig als ich nur konnte, und nun bitte ich, sagen Sie mir einmal doch, welchen irdischen Grund haben Sie für die Annahme, dieses Alles habe etwas mit mir zu schaffen. Die Kranke, von der Sie sprechen, sah ich nie in meinem ganzen Leben.«

»Danke Ihnen für Ihre Güte, Sir, denn ich weiß, ich kann nicht erzählen, doch ich bin jetzt zur Sache gekommen, und das ist das. Während sie nach jenem ersten Schlage sehr schlimm dalag, sprach sie wie von unversehens eine gute Zeit lang mit sich selbst, und stets nannte sie Ihren Namen – ja, Sir – Mr. Sellin Grice, nannte sie Sie – und dann irrte sie wieder zum alten Mr. Georg Massinger und zum jungen Mr. Bernard ab, worauf sie wieder auf Sie zurückkam, so daß zuletzt ein Narr sich denken mußte, es geht etwas in ihrem Geiste um, und das, Sir, glaube auch ich.«

»Es ist sehr absonderlich! Nie kam ich ihr in den Weg in meinem Leben, wenigstens so viel ich weiß.«

»Doch, Sir, sie scheint sehr bekannt mit Ihnen und dem jungen Mr. Bernard und wiederholte immer wieder dieselben Namen wie eine Verrückte. Bitte, Sir, ist Ihnen je irgendwie Unrecht geschehen, nach Ihrem Wissen?«

Er schwieg; auf diese Frage flog sein Gedächtniß bis zu den frühesten Tagen, so weit er es vermochte, zurück – zu Tagen, um welche allerdings etwas Geheimnißvolles hing, wie er es stets unbestimmt fühlte, obwohl er nie genau darüber nachgespürt hatte. Indem er dessen sich erinnerte, wurde er erregt, und wiederholt fragte er Nanny über den Inhalt der Irrreden der Kranken; doch es war klar, sie hingen nicht mehr zusammen, als um in diesem ehrlichen Geiste Ueberraschung und schwachen Argwohn zu erzeugen.

»Doch eines will ich Ihnen sagen, Sir, und dieß ist das Sonderbarste von allem und bewog mich, Ihnen zu schreiben. Seit sie jener zweite Schlag traf, sprach sie sehr wenig, doch die ersten Worte, die sie hervorstieß, waren: » Sende nach Sellin Grice!« Und als ich sie fragte: »Was?« sagte sie abermals: » Bring' mir Sellin Grice,« und dann sagte sie mir sehr leise, wo Sie wohnten. Als ich sie fragte: »Meinen Sie Mr. Grice, der Miß Therese Croßly heirathete?« da begann sie von Mr. Georg Massinger zu flüstern, der schon so viele Jahre todt ist, was mich zum Glauben brachte, sie sei kindisch. Doch als ich darüber so bei mir nachsann, wurde ich sehr unruhig über alles, so daß ich Ihnen schrieb; doch ich konnte nicht viel schreiben, da ich nicht genug gebildet bin. Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, Sir, wenn ich Sie umsonst gestört hätte.«

»Es freut mich, daß Sie schrieben,« erwiederte er zerstreut; und nach einer Pause des Nachdenkens fragte er, ob sonst etwas vorgefallen sei?

»Ein Ding ausgenommen, ist das alles,« antwortete Nanny, deren »Gesichtspunkte« in einer Ordnung aneinandergereiht schienen, die durch nichts unterbrochen werden durfte. »Gestern ging es plötzlich mit ihr besser, so eine Stunde lang, und sie hieß mich an Mr. Bernard schreiben und ihn bitten, er möge zu ihr kommen, was ich that; dann ließ sie mich einige Briefe, welche sie aufbewahrt hatte, zusammenpacken – jeden Papierschnitzel, ich versichere Sie, Sir, den sie besaß. So legte ich sie alle in ein Packet zusammen, und der Doktor mußte es versiegeln und darauf schreiben: »Für Mr. Bernard Massinger,« und jenes Packet liegt jetzt unter ihrem Kopfkissen, so wahr ich eine Sünderin bin. Als dieses geschehen war, wurde sie schlechter, und heute ist sie ihrem Ende nahe, wie ich fest glaube.«

»Kennt sie Mr. Massinger?«

»Sie kennt ihn sehr gut, Sir. Sie kannte ihn Jahre lang. Ehe mein Mann mich heirathete, sah er oft, daß jener junge Gentleman sie besuchte; und sie schienen wundersam vertraut miteinander. – Es ist blos Frau Horner, Sir, sie steht mir in der Pflege bei,« sagte Nanny erklärend, als eine kleine bucklige Frau an der Hausthüre erschien. »Und sie ist vollkommen taub, sonst hätte ich sie nicht hereingenommen. Die meisten Leute plaudern so gern.«

»Sie rührt sich. Sie schnappte nach Luft. Sie ist unruhig,« berichtete dieser neue Ankömmling in dem den Tauben eigenthümlichen Ton, worauf Nanny, gegen ihren Besuch sich verneigend, hineinging.

Im nächsten Augenblick steckte sie ihren Kopf durch das Fenster oben und bat ihn, rasch hinaufzukommen. Er willfuhr und sah sich in einem hübschen, großen Zimmer; Nanny stützte den Kopf ihrer Verwandten, die seufzend nach Athem rang. Diese auffallenden Züge hatte er früher gesehen, doch wo? Das sterbende Antlitz, welches ihn dunkel an längst entschwundene Jahre zu erinnern schien, zog ihn mit bewußter Vertraulichkeit an ihre Seite, und wie er sich ängstlich über sie beugte, sprach er:

»Mrs. Morgan, ich bin Selwyn Grice. Können Sie mich hören? Ich bin Selwyn Grice.«

Ihr Geist mußte für Außendinge völlig verschlossen gewesen sein, doch dieser Name besaß die Gewalt, ihr Bewußtsein zurückzuzwingen. Ueber ihre Züge flog augenblicklich ein Strahl der Wiedererkennung, und die von ihm erfaßte Hand schloß sich mit einem krampfartigen Griff in die seinige. Sie schien sprechen zu wollen – er beugte sein Ohr zu ihren Lippen herab, doch unterschied er blos Ein Wort –

»Georg –«

Die Natur war zu schwach, um mehr zu vermögen; sie schien seine ernste Aufforderung nicht mehr zu hören, und indem sie ganz regungslos blieb, erkaltete sie, während er neben ihr stand.

»Ich kam zu spät. Sie starb, während sie zu schlafen schien,« bemerkte er zu der Schwiegertochter, als sie die Stiege hinuntergingen.

Was sollte er jetzt anfangen? Er wußte nichts von der Verstorbenen, und es schien kein Leitfaden vorhanden, durch den er möglicher Weise dem Geheimnisse, das an die Alte geknüpft war, auf die Spur kommen konnte.

»Sind Sie dessen gewiß, daß keine Briefe, keine Papiere vorhanden sind, die mich aufhellen könnten?«

»Nein, Sir, ich bin sicher, es sind keine da, außer dem, was sie für Mr. Bernard bestimmt hat. Sie hieß mich alle Winkel ausstöbern, um sie zu finden. Doch ihr Testament ist noch nicht gelesen. Sie hat es gemacht, ehe sie der zweite Schlag traf; es wird ihnen jedoch wenig nützen.«

»Ich sehe nicht ein, was es mir nützen soll,« erwiderte Selwyn nachdenklich. »Doch ich will Ihnen etwas sagen, Nanny – Sie bemerkten, daß Sie Mr. Massinger hier erwarteten?«

»Ja, Sir, sie bat ihn zu kommen. Ich denke, Sie bleiben und warten auf ihn, Mr. Grice?«

»Das werde ich,« sprach er, obwohl er keine große Hoffnung hatte, durch diesen Schritt Aufklärung zu erhalten. Er fragte nach der Adresse des Notars, der das Testament aufgesetzt hatte, und da er sich dann sehr ermüdet fühlte (Aufregung jeder Art griff ihn seit seiner schweren Krankheit stets an), bereitete er sich vor, in das Dorfwirthshaus zu gehen, das Nanny ihm empfahl.

»Wenn Mr. Massinger kommt, so theilen Sie ihm mit, daß ich ihn erwarte,« trug er ihr ernstlich auf; dann suchte er die Ruhe, in welcher er die Auftritte der letzten Stunden bald vergaß.

Gegen die Erwartung kam Mr. Massinger nicht; das Leichenbegängniß wurde daher gehalten, das Testament eröffnet, doch nichts befriedigte die Neugier Selwyns. Der Notar wußte von der Verstorbenen nur, daß sie von ihren Nachbarn als eine Frau von strengem und zurückhaltendem Charakter stets gemieden wurde; das Testament zeigte blos, daß sie ihre Feindschaft auf dem Todbette vergessen zu haben schien, denn sie hatte ihr kleines Vermögen ihrem Enkel vermacht, und dreißig Pfund erhielt ihre Schwiegertochter als Vermächtniß.

»Gewiß, es ist eine seltsame Geschichte,« dachte sich Selwyn. »Doch vielleicht war die alte Frau verrückt, oder jenes Weib, ihre Tochter, mag falsch gehört haben. Ich werde mich nicht weiter darum kümmern, sondern morgen heimreisen. Ich hätte wohl schreiben sollen,« fügte er hinzu, indem er mit einigem Selbstvorwurf an Therese dachte. »Doch es war eine so lange Geschichte zu schreiben, und jetzt werde ich vor einem Briefe dort sein.«

Er ging zu Nanny's Häuschen und eröffnete ihr seine Absicht.

»Ich will Mr. Massinger noch einmal Gelegenheit geben und erst morgen Mittag abreisen. Sollte er inzwischen anlangen, so werden Sie es mich wissen lassen. Und selbst wenn er nicht kommt, kann ich ihn ja in der Stadt besuchen,« setzte Selwyn im Geiste bei, indem er mehr sich sträubte, als er selbst es merkte, seine letzte Hoffnung auf Lösung des Geheimnisses aufzugeben.

Spät an jenem Abend öffnete Nanny auf ein rasches Klopfen hin ihre Thüre, und vor ihr stand Bernard Massinger. Er schien sehr aufgeregt, und hastig fragte er nach dem Befinden der Mrs. Morgan.

»Sie ist todt, Sir. Und begraben,« entgegnete Nanny feierlich. Ihr gutes Herz war gerührt, als sie sah, wie die Nachricht ihn schmerzte.

»Ach, welch' ein Unglück! – Ich erhielt Ihren Brief nicht – Sie sind ihre Schwiegertochter? – ich erhielt Ihren Brief erst spät, weil er mir an zwei bis drei Orte nachfolgen mußte. Doch wie ich ihn erhielt, eilte ich hieher und finde – O Himmel! Arme Mutter!«

Seine blauen Augen waren voll Bewegung und Thränen; er bedeckte sie mit seiner Hand und wiederholte diese Handlung mehrere Male, während er den Einzelnheiten ihrer Krankheit zuhörte, die Nanny ihm in ihrer weitschweifenden Erzählungsweise mittheilte.

»Sagte – sagte sie viel? Sprach sie von irgend wem?« war seine nächste ängstliche Frage.

»Sie sprach, Mr. Bernard, eine gute Zeit lang von Ihnen und von Mr. Grice. Ebenso von Mr. Georg Massinger; doch Mr. Grice sagt mir, sie müsse irrgeredet haben, denn er sprach in seinem Leben nie mit ihr, und der alte Mr. Georg liegt ja schon so und so viel Jahre im Grab.«

Das Antlitz ihres Zuhörers war blaß, während er sie betrachtete.

»Wollen Sie damit sagen – ist Mr. Grice in der Nachbarschaft?«

Nanny erzählte ihm von Selwyn's Ankunft und seinem Aufenthalt; auf dieses horchte er schweigend, aber mit ängstlichem Blick. Als sie zu Ende war, schöpfte er tief Athem, und dann sagte er rasch:

»Ei, natürlich, ein Kind konnte erkennen, daß sie irrredete. – Von einem Manne reden, den sie nie gesehen hatte und von meinem alten Vater – dem alten Mr. Georg – und auf so sinnlose Art! Sie waren sehr thöricht, deßwegen jenen Gentleman herzurufen. Wo sind die Papiere? rasch!«

»Hier sind sie, Mr. Bernard. Ich versprach ihr, sie in Ihre Hände und in keine andern zu legen, und so …«

Sie schloß einen alten Schrank auf und holte ein Packet hervor, daß er in seine Brust steckte, indem er seinen leichten Rock mit zitternden Fingern darüber zuknöpfte.

»Jetzt, mit Ihrer Erlaubniß, Sir, will ich Ihnen zeigen, wo Mr. Grice wohnt. Er ist ungewöhnlich besorgt, Sie zu sehen.«

»Ich kann mich nicht aufhalten – unmöglich!« antwortete er. »Ich fahre mit dem Eilzug zurück, und habe daher nur mehr einige Minuten frei. Sagen Sie dem Gentleman, ich könnte ihm nicht den geringsten Aufschluß geben – nicht ein Wort – und glaube, sie habe irrgeredet, als sie ihn nannte. Ich bin erstaunt, daß Sie wegen einer solchen Thorheit ihn behelligten. Das hätten Sie besser wissen sollen.«

Mit diesen Worten öffnete er hastig die Thüre.

Als sie mit dem Lichte hinter ihm stand, bemerkte sie, daß sein Schatten ganz deutlich an der Wand des Ganges erschien, und daß er beim Anblick desselben heftig auffuhr, als ob er sich einbildete, es sei eine fremde Gestalt. Rasch sich wieder sammelnd, eilte er in die Dunkelheit hinaus, und überließ die schlichte Nanny der ihr widerstrebenden Ansicht, daß er Recht habe, und daß Mr. Grice ohne Grund durch sie beunruhigt worden sei.

Derselben Meinung war Selwyn, als sie ihm am nächsten Morgen diesen Vorfall erzählte; er war jedoch freundlich genug, keinen Aerger zu zeigen und ihr zu danken, als sie sich trennten. »Ein Gentleman milder, als er aussieht,« dachte sie, während sie seiner sich entfernenden Gestalt nachschaute; in der That würde es mehr als der gegenwärtigen Enttäuschung bedurft haben, um ihn an diesem Morgen aufzubringen. Er war aus dem Schlafe in einer eigenthümlich ernsten und religiösen Geistesstimmung erwacht. Seine ersten Gedanken waren dem Gebet und der Selbsterforschung gewidmet, und die Selbstprüfung hatte ihn beschämt, zerknirscht und von einem Gefühl aufrichtiger Demuth durchdrungen. Ein Rückblick auf die letzten Tage zeigte ihm klar, daß seine »Bekehrung« noch nicht so vollständig sei, als er gemeint hatte; daß er sehr in Gefahr stehe, wieder an die Erde gefesselt zu werden, wenn er nicht wachsam wäre; daß, während er dieses neue Interesse verfolgte und sich mit zahlreichen, hoffnungsvollen Vermuthungen beschäftigte, sein Geist ungestüm und aufgeregt war und fast ganz das Beten vernachlässigt hatte. Indem Selwyn so mit dem Ernste eines Mannes, der aufrichtig um sein Seelenheil besorgt ist, nachdachte, ertrug er zum ersten Mal in seinem Leben eine Enttäuschung gelassen und demüthigte sich in Einfalt vor Demjenigen, der das Herz sucht und mit dessen Sprache und Unbestand unendliches Mitleid hat.

Von diesem Gedanken erfüllt, hatte er sich in das Coupé gesetzt und war eine ziemliche Strecke gefahren, ehe er äußeren Gegenständen seine Aufmerksamkeit zuwendete, endlich jedoch bemerkte er, daß er einen einzigen Reisegefährten hatte, einen bejahrten Gentleman, der mit geschäftigen Lippen aus einem dicken Buche las. Etwas in dessen Aeußern bewog Selwyn zu einem zweiten Blicke, und da gewahrte er, daß er sich in Gesellschaft eines katholischen Priesters befinde, und als er ihn aufmerksamer betrachtete, war er überrascht, die unvergessenen Züge des Paters Lawrence, seines früheren Freundes zu erkennen. Aus mehr als einem Grunde war ihm diese Entdeckung nicht angenehm; und als der Priester sein Buch schloß und heiter aufschaute, gleichsam als wäre er zur Unterhaltung vorbereitet, war die nun erfolgende Wiedererkennung auf beiden Seiten einigermaßen zurückhaltend. Sie waren indeß hinreichend artig; und Mr. Lawrence fragte mit einem zögernden Blick auf seinen Gefährten freundlich nach Therese und den Kindern. Selwyn antwortete kurz; natürliche Gefühlsabneigung war der Unterhaltung hinderlich, und jeder der beiden Reisenden nahm sich innerlich vor, bei erster Gelegenheit das Coupé zu wechseln.


Auf einer ruhigen Landstation, wo die Blumen an den Fenstern schmachtend ihre Köpfe in der Sommerhitze hängen lassen – wo in den Zwischenzeiten eine stille Ruhe herrscht – sitzt in einem kleinen gegen die sonnige Plattform offenen Zimmer ein junger Telegraphist vor seinem trägen Instrument. Er hat so wenig Arbeit, daß er, um sich vor dem Einschlafen bei dieser schwülen Stille zu bewahren, Schnellkugel spielt – ein prächtiges, neugekauftes Kegelspiel – und das Tiktak der Kugel, der er manchen wohlgezielten Wurf gibt, ist der einzige hörbare Ton. Doch horch – ein andrer Schall kommt von fern her, ein schriller, matter Pfiff und ein Gesumm, das zu stets wachsendem Brausen anschwillt. Ein Zug naht sich. Ei, laßt ihn kommen. Es ist ein Extrazug, er hält hier nicht, mag er vorbeisausen; und er saust mit einem wilden Lärm vorüber, indem er bei seinem Durchrasseln die Fenster und die Plattform der Station erschüttert und die Kegel aus ihren künstlichen Stellungen tanzen läßt. Der Telegraphist hält inne, um durch die offne Thüre die vorbeifliegenden Wagen und die weißschimmernden Gesichter der Passagiere zu betrachten, worauf er sein Spiel wieder aufnimmt. Wiederum herrscht Stille, bis nach einem warnenden Gurgeln ihrer tiefen Kehle die Uhr – drei schlägt. Er schaut sorglos auf; plötzlich aber, als ob die Zeiger mit ernster, feierlicher Warnung hinzeigten, stößt er einen furchtbaren Schrei aus, und beide Arme in die Höhe schleudernd, stürzt er wie ein Wahnsinniger auf die Plattform hinaus. Der Stationsmeister kommt gemächlich einen Seitenweg daher, sieht ihn und eilt auf ihn zu.

»Ich gab kein Signal. – Ich gab kein Signal, und der obere Zug muß eben auf dem Wege sein!« rief der Junge.

»Mein Gott!«

Der Mann taumelt rückwärts, über die entsetzliche Gefahr erbleichend. Wenn der obere Zug seine Zeit einhält und die nächste Station verlassen hat, wo er gemäß gebührender Anzeige hätte warten sollen, bis dieser Extrazug vorüber war, mußten sie unvermeidlich aufeinanderstoßen und ein Unglück erfolgen. Ein Tunnel ist auf dieser Strecke. Möge Gott an diesem Tage gnädig sein.

Rasch wird Allarm geschlagen, und aus verschiedenen Ecken fahren die Bediensteten auf. Jetzt arbeiten die Signale mit wahnsinniger Eile. Nach athemloser Pause zittert die Nadel mit der Antwort – der obere Zug habe die nächste Station verlassen und eile unbewußt der Gefahr entgegen. So mußte man auf das Schlimmste vorbereitet sein. Männer eilen mit ernsten Gesichtern die Bahn entlang. Ein Arzt und dann ein andrer erscheint auf der Szene; die wenigen Bewohner der Nachbarschaft lassen ihre Beschäftigungen liegen und sammeln sich mit spähenden Augen auf der kleinen Brücke an, welche die Schienen überspannt; und diese ganze Zeit steht der arme, nachlässige Junge, von einem Dutzend Füßen entrüstet gestoßen, zitternd und weinend auf der Plattform.


»Ei, wir hatten solches in meinen jüngeren Jahren nicht zu ertragen,« sagte Pater Lawrence, als der Zug, der mit verzweifeltem Gekreisch in den Tunnel hineingerasselt und dann in der nur von spärlichen Lichtstrahlen flüchtig erhellten Finsterniß dahingebraust war, endlich wieder in den hellen Sonnenschein hinaus dampfte und triumphirend den Feldern zukreischte, die er im Flug hinter sich ließ.

Der alte Gentleman lachte, obwohl noch ziemlich erregt, denn wenn er auch oft auf der Fahrt ist, kann er sich doch nie ganz an diese Art zu reisen gewöhnen, noch seinen Schrecken vor diesen unterirdischen Fahrten vollkommen überwinden. Auch Selwyn fühlt ein seltsames Unbehagen, und um ihm zu entgehen, zeigt er sich zum Gespräch geneigt. Es herrscht nun mehr guter Wille zwischen ihnen, als während ihrer bisherigen zweistündigen Fahrt.

»An jenen Tagen reisten wir auf eine Art, die von der jetzigen sehr verschieden war,« fuhr der Priester fort. »Damals hieß es: langsam voran, aber sicher; diese Generation aber hat den Satz umgekehrt. Es ist auch zu schnell für einen alten Zauderer, wie ich bin.«

»Du würdest kein Römling sein, wenn Du Dich nicht dem Fortschritt jeder Art widersetztest,« dachte Selwyn; doch er sagte:

»Ei, bedauern Sie wirklich die gute alte Postkutsche so sehr? Ihre Zeit ist vorbei, und nimmer kommt sie wieder, verlassen Sie sich darauf. Doch – auch ich muß gestehen, daß ich noch eine geheime Neigung für sie hege, der alten Zeiten wegen. Für einen lustigen, jungen Burschen lag etwas Unterhaltendes in dem Reisen jener Tage; man traf gar oft mit fröhlicher Gesellschaft zusammen, und da war der derbmuntre Kutscher mit seinen unerschöpflichen Geschichten, und man hatte Zeit, auf hundert Vorfälle am Wege zu achten. Indeß muß ich Ihnen sagen, jetzt möchte ich nicht mehr in einer Kutsche bis London fahren. Die Verbesserungen, über die wir da brummen, sind, alles in allem genommen, Ihnen, Sir, und mir nützlich.«

»Ein seltsamer Vorfall kommt mir eben jetzt wieder in den Sinn,« bemerkte Mr. Lawrence gleich darauf. »Vor einigen Tagen reiste ich auf dieser Strecke mit einer Dame, der Mrs. Thrale, und diese, obwohl im Allgemeinen eine kräftige und verständige Frau, gerieth in einen sehr erregten Zustand, als wir durch jenen Tunnel hinter uns fuhren. Ich versichere Sie, sie war weiß wie Asche und schnappte nach Athem, so lange wir im Tunnel waren; nachher sagte sie mir, sie würde sicher die Macht zu athmen verloren haben, wenn wir das Freie nicht bald erreicht hätten, so erdrückend war ihr Erstickungsgefühl. Wir waren nicht wie heute in Finsterniß, da wir Lampen im Wagen hatten: Nun – und hier folgt der Widerspruch – am nächsten Abend mußten wir den nämlichen Weg zurück machen, und da ich natürlich sehr besorgt um sie war, machte ich es mir zum Vorsatz, sie in ein Gespräch zu verwickeln, bis wir den Tunnel hinter uns hatten, und dann fragte ich sie, ob sie sich gefürchtet hätte. Und sie konnte kaum glauben, daß sie ohne Wissen jene gefürchtete Probe bestanden habe; doch es war so.«

»Ja, es ist sonderbar, was uns die Nerven für Streiche spielen können,« bemerkte Selwyn. »Ich erfuhr das bei mehr als einer Gelegenheit. Ich erinnere mich, daß ich bald nach meiner Ankunft in England durch zu angestrengtes Studiren erkrankte. Die Aerzte sagten, ich solle auf das Land, und die Bücher einstweilen Bücher sein lassen. Ich begab mich also zu einem Freund nach Derbyshire, und sogleich schien mir der Wechsel wohl zu bekommen – ich verbrachte Stunden, indem ich allein in der schönen Nachbarschaft umherstrich. Doch kaum werden Sie es glauben, welch' wunderliche Gedanken bei diesen wilden, einsamen Spaziergängen durch meinen Kopf schossen. Es scheint sonderbar, hier bei hellem Tageslicht so etwas zu sagen, doch ich pflegte Elfen zu sehen – ein gutes Volk, wie Sie wissen – und dieß so klar, wie ich Sie jetzt sehe. Es waren kleine, winzige Geschöpfe in grüner Tracht, und sie fanden sich auf der Spitze eines jeden Hügelchens, und fast unter meinen Füßen fuhren sie empor. Ich erinnere mich ihrer Geberden und ihrer Tracht mit der deutlichsten Klarheit; ja ich pflegte sogar mit ihnen zu sprechen. Während meines Besuches hatte ich einen andern Anfall meiner früheren Krankheit, und als ich wieder genas, sah ich nie mehr eine Spur von einer Fee; so war es klar, daß jene Erscheinungen einem kranken Hirn entsprangen. Es war eine wunderliche Täuschung.«

»Etwas Bedeutenderes,« fuhr Selwyn fort, »begegnete mir kurz bevor ich Amerika verließ. In der Nacht, ehe ich mich einschiffte, begab ich mich ziemlich früh in mein Schlafzimmer – und ich hatte mich noch nicht ausgekleidet, ich weiß es ganz bestimmt, so war ich eingeschlummert; da überkam mich plötzlich ein sehr seltsames Gefühl: es schien mir, als sei ich wieder auf dem Verdeck des Schiffes, auf dem ich absegeln sollte – und das ich in der That an jenem Morgen in fröhlicher Laune besucht hatte, erfreut darüber, am Punkt der Abreise zu sein. Ich sah mich also wieder auf dem Verdeck; und seltsam zu erwähnen, ich sah, so zu sagen, mein zweites Ich gegen das Schiffsgeländer sich lehnen – einen jungen Burschen – genau wie ich gekleidet, der mich mit einem festen, betrübten Blick anschaute. Während ich nun hinsah, bewegte er sich langsam, glitt über die Seite des Schiffes hinunter und schien unter dem Wasser zu verschwinden. Als ich wieder zu vollem Bewußtsein kam, stand ich in meinem Schlafzimmer – ich stand, wohl bemerkt – einen Stiefelzieher in der Hand, weil ich eben im Begriffe war, einen widerspenstigen Stiefel auszuziehen. Der Vorfall machte auf mich einen solchen Eindruck, daß ich nicht mit jenem Schiffe abfuhr, sondern erst sechs Monate später Amerika verließ.

»Ich muß hinzufügen – was mich höchlich überraschte – daß jenem Schiff nicht der mindeste Unfall begegnete: sicher und zu rechter Zeit erreichte es London.«

»Als ich endlich wieder Muth gefaßt und herübergefahren war, erwähnte ich den Vorfall zufällig gegen einen Freund. ›Sie hatten mehr Kühnheit, als ich gehabt hätte,‹ sagte er, ›nach dieser Warnung den Ocean zu durchkreuzen; und obwohl Sie dieses Mal entronnen sind, würde ich Ihnen doch rathen, nie mehr dasselbe zu wagen.‹ Er erzählte mir dann einen sonderbaren Vorfall, der ihm selbst vor einigen Jahren begegnet war. Er lebte damals zu Nantes, und seine Gattin war herübergefahren, um einige Verwandte zu besuchen. Als die Zeit ihrer Rückkehr, das Schiff und alles bestimmt war, empfand er plötzlich ein sehr niederdrückendes Gefühl, das ihn Tag und Nacht verfolgte, und ihn beständig drängte, ihre Rückkehr mittelst jenes Schiffes zu hindern. Er mochte anfangen, was er wollte, er konnte sich dieses eigenthümlichen Gefühles nicht erwehren, und zuletzt schrieb er und bat sie, nicht nach ihren früheren Vereinbarungen zu handeln, sondern zu Land bis Dower zu reisen und die See so wenig als möglich zu benützen. Obwohl sie auf keine Weise seine Befürchtungen theilte, und die Aenderung des Weges weit mehr Ungemach und Auslagen mit sich brachte, war sein Wunsch doch so drängend abgefaßt, daß sie ihn erfüllte und mit jenem Schiffe nicht absegelte. Und es war gut, denn einige Tage später scheiterte jenes Schiff, und alle die an Bord waren, kamen um. Dieß alles ist unzweifelhaft wahr, da es mir ein wohlbekannter Freund erzählte, ein Mann von Verstand und Wahrheit.«

»Der Ungläubigste muß es gewiß als ein sehr seltsames Zusammentreffen betrachten,« sagte Mr. Lawrence. »Ich kann Ihnen etwas ebenso Auffallendes erzählen, aber mit unglücklichem Ausgang. Ich kannte die Person – es war ein kleiner Grundbesitzer im Norden. Er hatte sich versuchen lassen, ungerechter Weise ein Feld in Besitz zu nehmen, das einem Neffen zu Theil hätte werden sollen, wie Jedermann behauptete; es fiel jedoch in den Griff jenes Mannes und konnte ihm nicht leicht entrissen werden. Der Neffe starb bald; das Feld blieb in den Händen des Oheims, und es bildete einen sehr fruchtbaren Theil seines Eigenthums. Aber seltsam zu sagen, der Mann konnte nie vermocht werden, dasselbe zu betreten – nie setzte er einen Fuß in dessen Umhägung, und er pflegte ihm auszuweichen, indem er stets einen andern Weg, einen langen ›Umweg‹ einschlug. Dieß dauerte bei zwanzig Jahre, gewiß keine geringe Zeit. In einer Nacht nun wurde der alte Mann mit einigen Freunden in einer benachbarten Schenke aufgeräumt, und sie begannen ihn wegen seines Aberglaubens zu verspotten, und zuletzt kam es zu einer Wette, daß er es nicht wage, auf seinem Heimweg über jenes Feld zu gehen. Auf dieses hin schwur er, er werde es wagen, und bald darauf trennten sie sich. Am Eingang jener Wiese befand sich eine große, mit zwei Tritten versehene, plumpe Zaunsteige, wie sie oft bei Spaziergängen die Glieder von Fußgängern gefährden. Am nächsten Morgen fand man ihn bei jener Steige liegen, sein Kopf war zwischen den Querhölzern eingeklemmt, er war maustodt. Offenbar war er beim Hinuntersteigen ausgeglitten und hatte sich den Hals gebrochen – und da lag er. Es war ein sehr sonderbarer und trübseliger Unfall.«

»Ich würde es eher als eine unmittelbare Heimsuchung dessen betrachten, der sich mit Nachdruck ›den Rächer des Beleidigten‹ nennt,« sagte Selwyn entschieden. »Der unglückliche Mann war die volle Länge seines Spannseils ausgelaufen – er wurde ›vom Schwert der Vergeltung‹ erwartet, und es traf ihn mitten in seiner Keckheit – es richtete ihn so zu sagen auf dem Schauplatz seines Verbrechens selbst. Ein Vorfall wie dieser sollte der ganzen Nachbarschaft von heilsamer und bestimmter Bedeutung sein.«

»Wir dürfen nicht allzu bereit sein, solche Dinge nach unserer besondern Ansicht auszulegen,« bemerkte der Priester. »Es zeigt mehr Nächstenliebe, anzunehmen, daß er in Folge der Dunkelheit und seines irrenden Gesichtes ausglitt, wie solches jedem begegnen könnte. Lassen Sie uns hoffen, daß, während er hilflos und doch bei vollem Verstand dalag, seine arme Seele mit seinem zerknirschten Gebete sich beschäftigte.«

»Es mag gewesen sein, wie Sie sagen (um des armen Unglücklichen willen wollen wir es hoffen), es mag gerade so gewesen sein, wie Sie sagen, und doch ist sein tragisches Ende nichtsdestoweniger eine unmittelbare und sichtbare Handlung der göttlichen Gerechtigkeit. Es ist eine feierliche, durch die Schrift und die Vernunft geoffenbarte Wahrheit, daß die Sünde, selbst nach der Reue und der Verzeihung, gestraft werden muß. Denn obgleich wir durch die Verdienste des Opfers des Heilandes vom entsetzlichen ewigen Tode, welchen unsre erste eigensinnige Uebertretung über uns verhängte, erlöst worden sind, so befindet sich doch der in blindem Irrthum, welcher glaubt, er sei auch der geringeren Folgen seiner Beleidigungen ledig. Die Liebe mag dem Verbrecher vergeben, doch die unendliche Gerechtigkeit verlangt, daß er gezüchtigt werde. Ob nun die Strafe rasch dem Verbrechen folgt, ob sie jahrelang verschoben wird, ob sie auffallend sichtbar, oder vom Dulder selbst unerkannt ist, ob sie in strenger, ob sie in milder Form auftritt – das ist Sache der ewigen Weisheit – doch kommen muß sie, kommt für jeden Sterblichen, der wissentlich die Vorschriften des allgemeinen Gesetzgebers verletzt hat.«

»In Aufrechthaltung jener so wundervollen Eigenschaft des Allerhöchsten – seiner anbetungswürdigen Gerechtigkeit – dürfen Sie nicht vergessen,« sagte sanft der Priester, »daß er ›mitten in seinem Gericht‹ der Gnade eingedenk ist, daß seine Barmherzigkeit über allen seinen Werken schwebt. Ninive …«

»Fand Gnade, als es bereute. Ich glaube, in der ganzen Schrift ist dieß eines der schlagendsten Beispiele der göttlichen Gerechtigkeit, die sich herabläßt, durch die Thränen des Beleidigers besänftigt zu scheinen. Doch selbst in diesem Fall war die Vergeltung blos zurückgehalten – dieß bezeugt der spätere Fall jener stolzen Stadt, welche eine ›Einöde und trocken wie eine Wüste‹ wurde. Und für ein Beispiel, in welchem die Hand der Bestrafung so lange zurückgehalten wurde, werden Sie hunderte finden, in welchen der Uebertreter durch sie ereilt wurde. Die heilige Schrift ist voll von Beispielen. Ich brauche sie einem Manne von Ihrem Wissen und Ihrem Nachdenken nicht anzuführen. Was mich betrifft, glaube ich, daß von allen dort erwähnten Beispielen zwei besonders der Erinnerung werth sind: das eine ein nationales, das andre ein individuelles; Sie werden sie auf dem Durchzug Israels durch die Wüste und im Leben des Königes David finden. Es ist eine schlagende, eine überaus bedeutsame Lehre, daß in beiden Fällen der Spruch der Strafe sogleich nach der Versicherung der Verzeihung verkündet wurde. Wie sprach Moses zu dem Allmächtigen? ›Verzeihe, ich bitte Dich, der Gottlosigkeit dieses Volkes gemäß der Größe Deiner Barmherzigkeit.‹ ›Ich habe vergeben,‹ antwortete der Herr, ›nach Deiner Bitte.‹ Und dann erklärte er, daß das verheißene Land blos von zweien aus jener Menge betreten werden soll; die übrigen müssen ihre Strafe tragen, die schwer, wenn auch gemildert ist; ihre Gebeine müssen in der ›Wüste‹ bleichen. Und was lehrt uns das Leben Davids? – Davids, des Hauptes der Büßer, dessen Psalmen so gewaltig die Angst eines wahrhaft zerknirschten Herzens schildern? Der Prophet Nathan wird zu ihm gesendet, um ihm zu sagen, daß, obwohl der Herr seine Sünde verziehen hat, die Strafe dafür nahe ist und ertragen werden muß. ›Das Schwert soll nicht ruhen, Dein Haus Geschlechter hindurch zu verfolgen.‹ Und ›Sieh, ich will Uebel wider Dich erheben aus Deiner eignen Familie!‹ Und war nicht David die meiste Zeit seines Lebens wahrhaft ein sorgenvoller bekümmerter Mann? Das ›Schwert‹ war in seinem ›Hause‹, und es war ein blutiges Schwert, ein Schwert, das nie in die Scheide kam. Das war ein merkwürdiges Beispiel einer Züchtigung, die auf verziehene Sünde folgte, und welche, obwohl sie streng und andauernd war, in einer milden Form kam – und gegen wen wurde sie angewendet? Gegen einen Ruchlosen? gegen eine verhärtete Seele? Nein, gegen – lassen Sie es mich wiederholen – gegen das Haupt der Büßer, gegen den ›Mann nach dem Herzen Gottes‹. Ach, warum wird von einem solchen Beispiel das Herz des gedankenlosen, des harthäutigen, des steten Sünders nicht tief ergriffen? »Wenn der Rechtschaffene mit Strafe heimgesucht werden soll, um wie viel mehr der Gottlose und der Sünder?«

»Es ist zuweilen eingewendet worden,« fuhr Selwyn fort, »daß die große Lehre der Vergeltung in diesem irdischen Leben, obwohl sie durch das alte Testament schlagend mit Beispielen dargethan ist, vom neuen nicht vollkommen aufgenommen wurde. Dieß erschien mir stets als ein voreiliger und irriger Schluß. Es ist wahr, im neuen Testament sind die Beispiele hiefür weniger häufig, aber warum? Offenbar deßhalb, weil der Messias, wie er erklärt, nicht kam, um das Gesetz und die Propheten zu vernichten, sondern er kam, sie zu erfüllen; und weil, wie der heilige Paulus sagt, ›die ganze Schrift durch Eingebung Gottes gegeben ward und nützlich ist in Bezug auf Tadel, Zurechtweisung und Belehrung in der Rechtschaffenheit.‹ Das Gesetz und das Evangelium stehen in vollkommenem Einklang; das eine sollte nie das andre beseitigen, ausgenommen in Bezug auf Ritualvorschriften.«

»Ich sehe, Mr. Grice, daß Sie eine düstre Ansicht über diesen Gegenstand haben; Sie betrachten das Leiden blos von seiner vergeltenden Seite. Damit übersehen Sie die tröstlichste, die erhebendste Hoffnung, welche der Christ fühlen kann – die Hoffnung, daß durch die Gnade und durch demüthige Vereinigung mit seinem duldenden Herrn Trübsale heilsam, ja verdienstlich werden könne.«

»Halten Sie, halten Sie,« unterbrach ihn Selwyn mit der Hitze, die er stets im Streit bezeigte. – »Vielleicht habe ich mich in diesem Punkt nicht klar ausgedrückt. Ich glaube, daß Trübsale heilsam sein können – im moralischen Sinn – und daß, wenn sie gehorsam aufgenommen werden, ihr wahrer Zweck darin besteht, zu mäßigen, zu läutern, friedliche Früchte der Rechtschaffenheit hervorzubringen; und dieß besonders, wenn es solche Trübsale sind, die dahin zielen, uns die Welt zu verleiden, oder uns aus geistiger Gleichgiltigkeit aufzurütteln – eine schwere Krankheit zum Beispiel. In diesen Fällen wird die Strafe zur Gnade; der Sünder wird in ›Liebe‹ gezüchtigt; und die vergeltende Geißel, welche das widerspenstige Herz verhärtet, wird zum Segen für das bereuende und gehorsame. So genommen ist das Leiden sehr heilsam; wenn Sie aber versuchen, allmählig zur Lehre menschlichen ›Verdienstes‹ vorzurücken, um, wie ich vermuthe, leicht auf die ›Genugthuung‹ und die ›Ablässe‹ hinüberzugleiten, dann, ich warne Sie, dann betreten Sie ein Feld, wo ich Ihnen blos in offner Fehde gegenübertreten kann.«

»Ich wünsche durchaus nicht, Sie auf jenes Gebiet zu drängen, Mr. Grice,« sagte der Priester, indem er die Aufregung seines Reisegefährten bemerkte: »Erinnern Sie sich, daß wir in früheren Jahren lange miteinander zu streiten pflegten, und daß wir stets endeten, wie wir begonnen hatten. Was ist das?«

Ein durchdringender Pfiff, heftig wiederholt und beantwortet – eine ungewöhnliche Bewegung, ein heiseres Rufen. Es fehlt irgendwo. Jedes Fenster klappt nieder, und ängstlich schauen die Köpfe hinaus. Die Gefahr wird im Moment begriffen: wir befinden uns auf derselben Linie mit einem nahenden Zuge.

Ein Schauspiel der Verwirrung, wie es jetzt erfolgte, ein so rasches und entsetzliches Pfeifen, ein so herzzerreißendes Geschrei der Verzweiflung, wie es jetzt aus den dahinfliegenden Wagen sich erhob – mögen wir es nie mehr hören oder sehen. Einige Thüren werden aufgestoßen, und die entsetzten Passagiere springen heraus; Andere rufen: Bremst, bremst! wir haben noch Aussicht auf Rettung. Durch besondere Fügung erblickten die Züge einander in ziemlicher Entfernung. Die Führer haben den Dampf abgeleitet, und stehen bleich und athemlos in furchtbarer Berechnung da. Die Bewegung ist merklich geschwächt – dennoch gleiten wir vorwärts – guter Gott, wir stoßen zusammen! Nein – die Maschinen bringen uns bis auf sechs Ellen an einander – dann bleiben wir stehen, Gesicht gegen Gesicht. Unser Führer springt herab – schwere Tropfen stehen auf seiner Stirne.

» Sechs Ellen zwischen uns und der Ewigkeit!« schreit er mit ausgestrecktem Arm. » Sechs Ellen zwischen uns und der Ewigkeit!« Er ist von dieser Stunde an ein gottesfürchtiger Mann.

»Wir sind gerettet, der Himmel sei gepriesen!« sagte Mr. Lawrence.

»Gott sei Dank!« rief Selwyn.

Dieser hatte sich in der schweren Prüfung sehr standhaft gezeigt; doch schien er zweimal auf dem Punkt, in Ohnmacht zu fallen, und die dunkel anschwellenden Adern seiner Stirne bewiesen, wie groß seine innere Beklemmung war. Als er sich jetzt bemühte, die Thüre aufzumachen, kamen zwei geschäftige Bedienstete herbei, um ihm beizustehen. Sie halfen dem bejahrten, vor Aufregung zitternden Priester sorgsam heraus und gingen, jeder auf einer Seite, mit ihm vorwärts, während Selwyn ohne Hilfe auf die Plattform schritt. Mr. Lawrence schaute zufällig rückwärts, und da sah er ihn taumeln, mit seiner Hand an den Kopf fahren, und indem er schwer gegen einen Gentleman fiel, der herbeieilte, um ihn zu stützen, riß er auch diesen unwiderstehlich mit zu Boden. Beide waren augenblicklich mit Blut bedeckt. Ein Arzt und Leute waren sogleich zur Stelle; beide wurden aufgehoben – der blutende Selwyn wurde untersucht, und dann nahmen Alle das Antlitz des Arztes wiederspiegelnd, eine ernste Miene an.

»Nein, es kann nicht sein, Doktor!« stammelte Mr. Lawrence.

»Es sprang ihm ein Blutgefäß im Kopf,« lautete die ruhige Antwort. »Der Tod muß augenblicklich erfolgt sein.«

Es war so. Doch seine letzten Gedanken waren ein Gebet; der heilige Name seines Schöpfers war das letzte Wort auf seinen Lippen, und so überlassen wir ihn getrost der göttlichen Gnade.

Tief bewegt wollte Mr. Lawrence fortgehen, als ihn ein tiefes Stöhnen des Gentleman's überraschte, der mit hingestürzt war, und dann, als er sich unverletzt sah, mit entsetzter Miene die Szene angestarrt hatte. Als zwei der Wärter, einem Zeichen des Arztes gehorchend, sich näherten, um die Leiche aufzuheben, fuhr er krampfhaft auf, und schrie in wildem Tone:

» Wo ist Dein Bruder?Wo ist Dein Bruder?«

Mit diesen sonderbaren Worten fiel Bernard Massinger in schwere Ohnmacht und wurde zu dem nächsten Meierhof getragen, wo er viele Stunden lag, ehe er wieder zum Bewußtsein zurückgebracht werden konnte.


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