Claude Anet
Lydia Sergijewna
Claude Anet

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Es waren die kürzesten Tage im Jahr und schon war die Nacht hereingebrochen, als Savinsky in das kleine Zimmer geführt wurde, das Fürst Volynski nicht mehr verließ. Er lehnte, wie stets, in seinem Fauteuil, eingehüllt in seine Schals; einer bedeckte Rücken und Schultern, ein zweiter lag um seine Beine. Savinsky war über seinen sichtlichen Verfall erschrocken. Die fieberglänzenden Augen lagen unter den gewölbten Brauen, wie glühende Kohlen in einem schwarzen Becken; seine rechte Hand, die auf der Lehne ruhte, war bleich und abgezehrt; die langen Fingernägel schienen die eines Leichnams. »Das ist das Ende,« dachte Savinsky bei diesem Anblick. »Lydia wird nur noch mich haben.« Schon hatte er Lord Douglas vergessen.

Der Fürst drehte sich mühsam dem Eintretenden zu.

»Ich freue mich sehr, Sie zu sehen,« sprach er mit matter Stimme.

Ein Hustenkrampf schüttelte ihn. Als er vorbei war, lächelte er schmerzlich.

»Ich bin hin . . . Vorbei mit Andalusien . . . Schade, schade . . . Das schöne Land! Man spürt schon Arabien; der Duft der Kräuter füllt einem die Nüstern, wenn der Südwind den Staub von den Wegen fegt . . . Ich bin sehr empfindlich für Parfüms, Nikolaus Wladimirowitsch. Vielleicht wegen meiner großen Nase . . . Sie werden bemerkt haben, Verehrtester, daß ich keine russische Nase hab . . . Eine meiner Großmütter muß dort unten, am schwarzen Meer, wo's so heiß ist, einen Tscherkessen geliebt haben . . . In manchen Augenblicken glaube ich noch die Glut des Orients in meinen Adern zu spüren. – Glauben Sie an die Seelenwanderung? Wenn etwas Wahres daran ist, dann bin ich gewiß ein Maure gewesen. Aus Cordova; vom Quadalquivir, den der Sommer zwischen den glühenden Ufern fast austrocknet. Ich erinnere mich, ich erinnere mich . . . Und unser Puschkin stammt von Abessyniern . . .«

Er sprach mit großer Anstrengung, heiser flüsternd und machte häufige Pausen, um dann, wie gehetzt, weiter zu keuchen. Er phantasierte ein wenig im Selbstgespräch. Die Anwesenheit Savinskys schien er vergessen zu haben. Er schnaufte.

»Hier riechts nach Schimmel; wir leben in einer Fäulnis. Die Newa, die ist niemals trocken. Immer ist sie voll Wasser; ein königlicher Fluß; nichts Ähnliches gibt es auf der Welt . . . Aber es ist ein russischer Fluß, gewaltig und unfruchtbar; er durchfließt einen Sumpf. Nur Peter der Große in seiner Verrücktheit konnte auf den Gedanken kommen, ganze Berge von Steinen in dieser feuchten Einöde anzuhäufen! . . . Was für eine Verirrung! Für mich aber gibt es noch ein Reich – das Reich der Toten . . . Wie sind die Verse Lafontaines? . . . ›Und deren Füße an das Reich der Toten rührten . . .‹ Ja, ja! . . . Meine Füße sind schon ganz darin; nie werden sie mehr zurückkehren . . . Und ich folge ihnen langsam . . .«

Er lachte und sein Lachen war knarrend, ächzend, wie das Stöhnen dürrer Zweige im Herbststurm. Ein langer Hustenanfall folgte.

Ein Diener brachte Tee. Der Fürst kam zu sich, bot Savinsky eine Zigarette und nahm selbst eine.

»Entschuldigen Sie mein Gefasel, bitte. Es ist die Petersburger Luft, die mich vergiftet hat. – Erzählen Sie mir, was es Neues gibt, Nikolaus Wladimirowitsch. – Ich habe Ihnen auch etwas zu sagen, ja, etwas sehr wichtiges, aber dann . . . Später, nach dem Tee . . .«

Savinsky unterrichtete ihn über die Situation, so, wie er sie beurteilte. Es war nicht daran zu zweifeln, daß die Macht der Bolschewiki sich festigte. Die Friedensverhandlungen gingen, seit Trotzki selbst in Brest-Litowsk war, rüstig vorwärts. Im Inneren nahm die vollständige Auflösung zu; der Zusammenbruch übertraf jede Vorstellung. Und jetzt hatten die Deutschen eine Handels- und Finanzkommission unter Graf Milbach geschickt. Der alte Lamshof von der Deutschen Bank war dabei. Er habe ihn zwar noch nicht gesehen, werde aber dieser Tage mit ihm zusammenkommen . . .

»Was werden die Deutschen machen?« schloß er. »Wir wissen nichts darüber. Wenn sie ein Armeekorps hierherschicken wollen, wer wird sie daran hindern? Man wird ihnen zujubeln und Ihre reizende Nachbarin wird große Empfänge zu ihren Ehren veranstalten. – Übrigens würden wir alle hingehen. – Wir stehen gern auf der Seite der Macht; das ist ein Nationalfehler. – Aber könnten sie denn diese ausgehungerte Stadt ernähren? Soll man auf sie hoffen? Ich gestehe Ihnen, daß ich selbst nicht mehr weiß, was man sich wünschen soll. –«

»Ich kann sie noch weniger leiden, als die Bolschewiki,« entgegnete der Fürst. »Gott wird mir diese Schmach ersparen; ich werde sie nicht mehr sehen . . . Aber lassen wir das. – Legen Sie ein Scheit ins Feuer, dort diesen großen, der schon ungeduldig darauf wartet . . . Ah, gleich wird er auflodern, der Bursche! Noch vor einem Jahr war er mit seinen Brüdern in den schönen Wäldern Finnlands. Und jetzt wird er die alten Knochen des letzten Fürsten Volynski wärmen . . . Sehen Sie, mein Lieber, das ist ein gut erfülltes Schicksal! Ein bißchen Rauch, ein wenig Wärme. Das verstreicht wie ein Traum und nichts bleibt davon übrig. Ja, ja . . . Jetzt aber, mein Freund, müssen wir Ernstes besprechen,« er nickte mit dem Kopf, »sehr Ernstes . . .«

Er schwieg eine Weile und Savinsky frug sich, ob der hinfällige Greis nicht durch irgendeine Gedankenverbindung getrieben, ihn bitten würde, die schwierige Frage der Grenzüberschreitung zu erwägen und mit ihm Pläne für eine Reise nach Ägypten oder Sizilien zu machen.

Aber der Fürst ließ ihn nicht lange im Zweifel.

»Es handelt sich um Lydia, um meine kleine Lydia . . . Sie wissen es, mein Lieber, sie ist meine einzige Sorge . . . Eine zarte Blüte, wie sie, in dieser tollen Stadt! Soldaten und Räuber in den Straßen und dieser Lenin, dieser Trotzki im Smolny! – Was wird man ihr antun, Nikolaus Wladimirowitsch? Sie ist so reizend, dieses Kind. Haben Sie es bemerkt? Wo sie vorbeigeht, bleiben die Leute stehen, um ihr nachzusehen . . . Sie ist eine Schönheit, mein Lieber, ich bin stolz auf sie, sehr stolz . . . Aber alles das ist nichts neben ihrer Seele. Da ist alles nur Reinheit, kein einziger verborgener Gedanke, kein Vorbehalt, kein Mißklang; alles ist hell, offen, gut und großmütig; ich lese in ihr, ich weiß alles, was sie denkt und was sie fühlt . . . Ja, Sie können's glauben, sie hat ein unvergleichliches Gemüt, meine Lydotschka. Sehen Sie, ich zittere um sie, sie wird ganz allein sein . . . Nun ist jetzt eine neue Sache da, ja, ich weiß, es ist Ihnen bekannt. Lydia sagte es Ihnen, sie sagt Ihnen ja alles. Dieser Lord Douglas will sie heiraten . . .«

Hier seufzte der Fürst und unterbrach sich, um Atem zu schöpfen. Er sah sehr traurig und bekümmert aus. Savinsky, den die Unterhaltung lebhaft interessierte, seit sie sich um Lydia drehte, begann sich mit einiger Unruhe zu fragen, wo der Fürst hinaus wolle. Dieser fuhr bald in seiner Rede fort.

»Um wahr zu sein, ich bewundere die Engländer sehr, aber ich liebe sie nicht . . . Sie sind ohne Falsch, aber sie sind hart; ohne Herz, mein Lieber, ohne Seele . . . Natürlich hätte ich nie daran gedacht, Lydia einem Engländer zu geben. – Nun, sehen Sie, Nikolaus Wladimirowitsch, mit mir ist's zu Ende und dann die Revolution . . . Und Lydia hier in der Stadt, die sie nicht verlassen will. Natürlich leugnet sie jede Gefahr, Sie kennen sie ja, aber mich foppt sie nicht mit so kindischen Schlichen. Nur meinetwegen will sie nicht fort . . .«

»Aber was hat sie Lord Douglas geantwortet?« unterbrach Savinsky, plötzlich danach fiebernd, genau zu erfahren, was sich zugetragen habe.

»Haha, mein Lieber,« der Fürst lachte, »sie hat gar nichts geantwortet, wie die Mädchen es immer machen. Sie ist mit Scherzen darüber fortgehüpft, das war alles . . . Nun ist Lord Douglas wieder gekommen, gestern vor Tisch, und wurde diesmal dringender . . . Es scheint, daß er charmant ist, dieser Bursche. Wie finden Sie ihn?«

»Schön und – unbedeutend,« warf Savinsky nervös ein. »Er ist von altem Adel, er ist schön, zu schön, er ist jung, er ist reich. – Ein Adonis mit einem Scheckbuch. Und das bedeutet, daß er weiter nichts hinzuzufügen hat. Der bloße Gedanke, daß er der Gatte Lydia Sergijewnas sein könnte, ist lächerlich.«

»Ja, mein Freund, ich begreife, ich begreife und Sie haben Recht . . . Aber unter den jetzigen Verhältnissen muß man anders denken . . . Verstehen Sie das, Nikolaus Wladimirowitsch, er ist ein Ehrenmann und das bietet alle Sicherheit. Wenn er Lydia heiratet, dann führt er sie nach England . . . Ich krepiere hier, das ist einmal gewiß, aber ich hätte keine Sorgen mehr; ich entschlafe eines schönen Tages in Frieden, weil ich weiß, daß meine Tochter vor aller Gefahr geschützt ist . . . Das ist das Entscheidende, mein Freund . . . Ohne das gibt es keine Ruhe.«

Er sprach ganz leise, mit ruhiger Sicherheit, als hätte er nicht mehr den geringsten Zweifel über das, was er tun müsse.

»Nur ist es keiner von uns, der entscheidet. Lydia ist's. Nun, mit Lydia macht man nicht, was man will. Obgleich meine Tochter voller Vernunft ist. Aber in dieser Frage habe ich gar keinen Einfluß, denn sie meint, daß ich mich aufopfere. Dann haben wir immer unerhörte Debatten, die mich so aufregen. Erst gestern stritten wir uns wegen dieser Sache und zum Schluß hat sie mir ganz ernsthaft gesagt: ›Liebst du mich denn nicht mehr, Papa, daß du mich los sein willst? Wenn's so ist, dann sag mir's, dann geh ich fort.‹ Nun ich, mein Lieber, ich bin alt und schwach und als ich meine Lydotschka so sprechen hörte, da hab ich sie in meine Arme genommen; wie ein Kind hab ich geweint und sie beschworen, bei mir zu bleiben . . . Was wollen Sie? Es ist jammervoll, aber was soll ich tun? Und sonderbar ist, daß sie mit mir geweint hat, ich weiß wirklich nicht, warum! Sie hat auch schon kranke Nerven, alle haben wir kranke Nerven . . . Ich kann mit meiner Tochter nicht mehr darüber sprechen. Und deshalb bat ich Sie hierher . . . Sie sind der Einzige, den Lydia liebt. Ja, liebt mein Freund. Alles was Sie sagen, ist ihr heilig. Sie sind ein starker Mann, Nikolaus Wladimirowitsch, und in dieser Sache sind Sie ja ganz objektiv . . . Sprechen Sie mit ihr. Beschwören Sie sie, diesen Lord zu nehmen, – den im übrigen der Teufel holen soll – und sagen Sie ihr die Wahrheit, daß ich sterben werde, daß sie allein dastehen wird, daß ich es nicht ertrage, sie in dieser verfluchten Stadt zu lassen . . . Ich bitte Sie, tun Sie alles, was nötig ist. Ich kann mit dem Mädel nicht mehr sprechen. Wir würden nur wieder zusammen heulen. Sie sehen doch ein, wie dumm das ist . . . Darum bitte ich Sie, mir zu helfen. Sie werden es durchsetzen, da es doch nun mal sein muß . . . Sie sind doch ihr Freund!«

Der alte Mann verstummte. Er war tief erschüttert und atmete kaum . . . In sein Fauteuil eingeschrumpft, schien er kaum noch einen Funken Leben in sich zu haben.

Savinsky blickte wortlos vor sich hin. Seine edlen Züge waren hart geworden; scharfe leidende Falten lagen um seinen zusammengepreßten Mund, er war plötzlich alt, müde und alt . . .

Er strich sich mit der Hand über Stirn und Augen und erhob sich schwer.

»Ich sehe, daß es sein muß. Sie haben recht. Man darf heute nur an Lydia selbst denken. Weder Sie, noch ich können sie beschützen . . . Wissen Sie, wo ich sie finde?«

»Danke, mein Freund, danke.« Der Fürst drückte ihm die Hand und sah ihm tief in die Augen. »Warten Sie, ein Diener wird Sie zu ihr führen. Meine Frau ist hier unten und Sie wissen, man kann nicht mehr alles heizen . . . Sie wird Sie in ihrem Zimmer empfangen . . . Das hat nichts zu sagen, unter uns . . . Sie sind ja unser Freund, unser einziger Freund . . . Danke.«

Kurz darauf trat Savinsky, zum erstenmal, in Lydias Zimmer. Ein großer Raum, dessen zwei Fenster auf die Newa gingen. Es war ziemlich dunkel; eine elektrische Lampe in der Deckenbeleuchtung gab nur ein mattes Licht, da der Strom aus Mangel an Kohle ungenügend war. Eine Petroleumlampe, die unter einem Lampenschirm auf dem Tisch stand, beleuchtete Lydia. Sie lag in ein altes Tuch gehüllt auf dem Divan. Ihre gelösten Haare flatterten um sie, als sie jetzt zur Begrüßung ihres Freundes aufsprang. Sie fielen bis zur Hüfte, leichte goldene Wellen, die alles Licht aus dem Zimmer einzusaugen schienen. Bei diesem Anblick zuckte sein Herz; niemals hatte er sie so gesehen, in dieser häuslichen Verfassung, die eine so große Vertraulichkeit birgt und zum erstenmal fühlte er ein dunkles, leidenschaftliches Verlangen, sie in seine Arme zu schließen und nur für sich allein zu behalten. Und auf diese Frau sollte er jetzt verzichten! Wahrlich, das Opfer, das Fürst Sergius von ihm forderte, überstieg menschliche Kräfte. Unter der Wucht seiner Bewegung blieb er an der Schwelle stehen.

Aber schon war Lydia bei ihm.

»Sie werden entschuldigen, Nikolaus Wladimirowitsch, daß ich Sie so empfange. Ich hatte Kopfschmerzen und mußte meine Haare lösen, weil sie mich zu sehr drückten.«

Sie hob den Blick zu ihm.

»Aber Sie sind bleich, mein Freund! Was fehlt Ihnen? Sind Sie müde? . . . Sie haben hoffentlich keinen Ärger gehabt? Man wird uns gleich Tee bringen. Setzen Sie sich hierher auf den Divan neben mich.«

Sie nahm ihn beim Arm und zog ihn mit. Aber Savinsky lehnte den Platz neben ihr ab und nahm ein Fauteuil auf der anderen Seite des Tischchens. Im Nebenzimmer, dessen Tür offen war, hörte man die alte Katja auf und abgehen, die dort Wäsche einräumte. Öfters steckte sie den Kopf herein, um Lydia ein paar Worte zu sagen.

Ein Stubenmädchen brachte Tee. Lydia erkundigte sich nach Savinskys Familie. War er mit seinem Besuch in Finnland zufrieden? Sind die Kinder gesund? Savinsky bemerkte, trotz seiner Unruhe, daß eine Nuance in ihrem Ton ungewohnt sei. Sie sprach sehr herzlich, und doch war etwas Fremdes, etwas Konventionelles in ihrer Stimme, das neu zwischen ihnen war und ihm nicht entging.

Er erzählte von dem Leben, das seine Frau und seine Kinder in ihrer Villa führten; von der Ungeduld des kleinen Boris, nach Petersburg zurückzukehren, und wie schwer es für Sonja sei, ihre Tage so fern von ihm zuzubringen, sich in Sorgen um ihn verzehrend. Er sprach länger und eingehender, als durch ihre Höflichkeitsfrage eigentlich gerechtfertigt war, wie um das eigentliche Thema, das ihm schwer auf der Seele lag, von sich fern zu halten. Erst als er zu Ende war, ließ er seine Augen wieder auf ihr ruhen, was er während seiner Worte beharrlich vermieden hatte. Sie saß auf dem Divan, halb zurückgelehnt, die Hände um die Knie verschlungen, die Finger verkrampft. Ängstlich sah er auf ihren Mund, der zusammengepreßt war, als würde sie einen Schmerz verbeißen.

Entschieden füllte in diesem Raum eine quälende Spannung die Luft. Unbegreifliches schwebte zwischen ihnen, dessen Druck sie beide fühlten. Sicher war es die durch Lord Douglas aufgeworfene, bedeutungsvolle Frage. Sie mußte geklärt werden; es half alles Zögern nichts. Savinsky gab sich, ohne länger zu warten, einen Ruck, wie ein Selbstmörder sich geschlossenen Auges in den Abgrund stürzt. »Wo halten Sie mit Lord Douglas, Lydia Sergijewna? Ich habe an das, was Sie mir sagten, viel denken müssen.«

Lydia richtete sich auf, blickte ihn forschend an, als wollte sie bis auf den Grund seiner Seele dringen, und erwiderte ungestüm:

»Und Sie selbst, Nikolaus Wladimirowitsch, wo halten Sie mit Lord Douglas?«

Das Unerwartete dieser Frage, die überraschende, unmittelbare Verbindung, die sie plötzlich zwischen dem Lord, Savinsky und sich selbst schuf, verblüfften ihn.

Ein Schweigen entstand. Dann sprach Savinsky, kurz entschlossen, wobei er jedoch Lydia, die ihn nicht aus den Augen ließ, nicht anzublicken wagte:

»Ich glaube, Lydia Sergijewna, daß Sie unter den jetzigen Verhältnissen nicht das Recht haben, ihn zurückzuweisen.«

»Sind Sie auch sicher, Nikolaus Wladimirowitsch, daß dies wirklich Ihre Meinung, Ihre eigene, ehrliche Meinung ist? – Täuschen Sie mich nicht, Nikolaus Wladimirowitsch! Geben Sie gut acht! Sie wissen, daß ich Ihren Worten viel Gewicht beilege . . . Ich bitte Sie sehr, überlegen Sie reiflich Ihre Worte. Heute werden sie vielleicht von besonderer Bedeutung sein . . . Wählen Sie sie sorgfältig! – Mein Vater sprach ebenso wie Sie. Sicher hat er es Ihnen vorhin wiederholt; vielleicht hat er Sie beeinflußt? . . . Sie aber will ich hören und nicht ihn durch Ihren Mund!«

Sie hatte sich, während sie sprach, eigenartig erregt, trotzdem war die Farbe ihrer Wangen geschwunden und ihre Augen glänzten fast dunkel in ihrem bleichen Gesicht.

Savinsky, dessen unerschütterliche Kaltblütigkeit und nie versiegenden, überlegenen Humor man bei den hitzigsten geschäftlichen Debatten stets bewunderte, war von dieser heftigen Mahnung ganz verwirrt. Er wußte keine Antwort. Durfte er den alten, zärtlich besorgten Vater verraten? Er zögerte, stammelte, versuchte sich durch einige allgemeine Phrasen über das Ungewöhnliche der Lage und über die Sorgen, die man sich selbstverständlich um nahestehende Personen macht, von der eigentlichen Antwort zu befreien. Er schämte sich selbst seiner einfältigen Worte, die er in einem so ernsten Augenblick gebrauchte. Er schloß schließlich mit einer noch verbrauchteren Wendung:

»Wir wollen ja nur Ihr Glück, liebste Freundin.«

Er war ganz überrascht, daß Lydia sich mit dieser abschweifenden Erwiderung zufrieden gab und nicht darauf bestand, ihre bündig gestellte Frage ebenso beantwortet zu sehen. Ja, sie schien jetzt ruhiger, fast sogar zufrieden und wechselte selbst das Thema, indem sie ihn nach seinen Erlebnissen seit seiner Rückkehr fragte.

In einem plötzlichen Mitteilungsbedürfnis, erzählte ihr Savinsky von dem Besuch Semeonows am Tage vorher und wie dieser Mann ihn erbittert und aus seiner Ruhe gebracht habe, die er hätte bewahren sollen, und daß er fürchten müsse, jetzt in ihm einen Feind zu haben. Er zitierte den Ausspruch Semeonows über den Wert eines Menschenlebens.

Lydia, die ihm mit großer Aufmerksamkeit zugehört hatte, unterbrach ihn lebhaft:

»Dieser Mann kann sehr gefährlich sein, Nikolaus Wladimirowitsch . . . Ich mag ihn nicht, ich fürchte mich vor ihm. Geben Sie acht, wenn er an Rache denkt! Er ist allmächtig, wie es scheint.«

Savinsky hob die Schultern.

»Es ist nun mal so«, meinte er fatalistisch. »Wir alle stehen in Gottes Hand.«

Lydia fiel es wieder auf, wie müde und abgespannt er aussah. Sie überlegte eine Weile, abermals mit ernstem Gesicht und eingezogener Lippe.

»Ich möchte Sie noch etwas fragen. Lachen Sie mich aber nicht aus, Nikolaus Wladimirowitsch, wenn ich Sie heute so ausfrage. – Haben Sie nach Ihrem Gespräch mit Semeonow nicht daran gedacht, sich nach Finnland zu retten?«

Savinsky blickte sie so erstaunt an, als verstünde er die Frage nicht recht.

»Mich nach Finnland retten, ich, warum denn? . . . Nicht einmal an die Möglichkeit dachte ich . . .«

Lydia sah, daß er die Wahrheit sprach. Und wieder war ein langes Schweigen. Ein Diener, der melden kam, daß das Abendessen aufgetragen werde, unterbrach es. Savinsky erhob sich, um Abschied zu nehmen. Lydia hielt ihn zurück.

»Warten Sie einen Augenblick, ich gehe mit hinunter. Nur eine Minute, bis ich mich frisiert habe.«

Sie setzte sich an den Toilettentisch und nahm ihre schweren Haare, die Rücken und Schultern bedeckten, auf. Sie kämmte sie, flocht zwei Zöpfe und rollte sie mit ihren schlanken, eilenden Fingern geschickt auf das Hinterhaupt, wo sie mit Kamm und Nadeln befestigt wurden. Savinsky betrachtete sie andächtig schweigend. So zusehen zu dürfen, schien ihm eine neue, reizende Intimität, die ihn mit ihr verband, und er fühlte eine warme Glückswelle sein Herz beleben. Sonst dachte er an nichts mehr. Ihr so nahe zu sein, erfüllte ihn.

Bald war sie fertig und verließ mit ihm das Zimmer. Als sie auf der Treppe waren, sagte sie im Tonfall eines kleinen Kindes, das schlimm war und wissen will, ob man ihm noch böse ist:

»Werden Sie auch jetzt noch mit mir spazierengehen wollen, Nikolaus Wladimirowitsch? – Ich will Ihnen eine wichtige Sache erklären, die Sie nicht verstehen: daß die Lösung von Ihnen und Papa in Wirklichkeit eben gar keine Revolutionslösung ist . . . Sie begreifen doch, was ich sagen will, daß man diese Lösung nicht gerade wählen muß, während wir in vollster Auflösung leben . . .«

Savinsky blieb verdutzt stehen.

»Nein, Lydia Sergijewna, ich gestehe, ich begreife das nicht. Was wollen Sie damit sagen, gütiger Gott?«

»Natürlich verstehen Sie es nicht. Wie können Sie auch. – Es ist ein bißchen zu kompliziert für einen nüchternen Mann, wie Sie. Aber es wird schon der Tag kommen, an dem ich es Ihnen erklären werde, ich verspreche es Ihnen.«

Sie lachte fröhlich, entzückt, und neckte ihn so reizend mit seiner Schwerfälligkeit, daß Savinsky schließlich in ihr Lachen einstimmte.

 

Nach einer Nacht, in der er wenig Schlaf gefunden hatte, erwachte Savinsky erst spät am anderen Morgen. Während er sich ankleidete, tönte die Wohnungsklingel. Seine Bedienerin brachte ihm gleich darauf die Karte des Besuchers. Er las: Bogdanow, Unterkommissar des Bezirks Kasan. Savinsky runzelte die Stirn. Was zum Teufel suchte die Polizei bei ihm? Es war das erstemal, daß sie zu ihm kam, bisher hatte er nie anders, als durch Vermittlung des Hauskomitees mit ihr zu tun gehabt.

Der Kommissar trat ein. Ein schmaler Jude, dürr, gelb, kurzsichtig, fahrig. Er war außerordentlich höflich. Mit wenigen Worten unterrichtete er Savinsky über den Zweck seines Besuches. Eine Revision der Pässe sei angeordnet und er komme, um Savinsky zu bitten, ihm den seinen für kurze Zeit anzuvertrauen.

Savinsky war außer sich. Er rief, er könne unmöglich seinen Paß aus der Hand geben. Was sollte in dieser Stadt, in der man jeden Tag Gefahr lief, auf offener Straße verhaftet zu werden, ohne Legitimation aus ihm werden? Noch dazu habe er ein Dauervisum für Finnland, wo seine Familie wohne und wohin er jeden Moment gerufen werden könne.

Der kleine Kommissar verneigte sich verbindlich.

»Ich sehe das ein, Nikolaus Wladimirowitsch, ich verstehe das alles. Glauben Sie mir, ich bin untröstlich. Ich würde viel darum geben, Ihnen diese Unannehmlichkeit zu ersparen. Aber, leider, – der Auftrag ist bündig und gilt für alle! Alle Pässe müssen vom Kommissar bestätigt werden . . . Bedauerlicherweise sind viele falsche Pässe im Umlauf. Daher diese Maßnahme, zu der wir genötigt sind.«

Savinsky widersetzte sich noch immer. Er werde selbst an das Ministerium des Äußeren telephonieren, um die Sache zu erledigen.

Der kleine Jude wandte ein, daß dies nicht ins Ressort des Außenministeriums falle, sondern ausschließlich Sache des Polizeikommissariats sei.

Savinsky ereiferte sich immer mehr; der Kommissar blieb lächelnd, ehrerbietig, aber unbeugsam.

»Wenn Sie aber von Semeonow selbst einen Befehl bekämen?«

Bogdanow verbeugte sich bei diesem Namen, aber sein Gesicht Nahm einen ironischen Ausdruck an, der Savinsky nicht entging.

»Selbstverständlich, wenn Leo Borissowitsch selbst interveniert, ist die Sache erledigt . . . Aber das wäre eine große Ausnahme, ich versichere Sie . . . Ich selbst wäre natürlich glücklich, glauben Sie mir, nur allzu glücklich.«

Schon war Savinsky beim Telephon. Unglücklicherweise war Semeonow im Volkskommissariat noch nicht erschienen. Auf einen Anruf in seiner Wohnung teilte eine Männerstimme, nachdem sie Savinsky um den Namen gefragt hatte, mit, daß er bereits fort sei. – Wohin? – Unbekannt. –

Savinsky legte den Hörer hin. Er war wütend.

»Ich nehme an, daß Sie warten können, bis ich eine Verbindung mit Semeonow erreicht habe?«

Der Kleine seufzte.

»Ich muß den Paß aufs Kommissariat bringen. Es ist mir wirklich sehr unangenehm, aber . . . Ich bin genötigt, verstehen Sie . . . Ich wäre Ihnen gern dienlich, trotzdem . . . Urteilen Sie doch selbst! Ich habe meine Befehle . . .«

Sein Widerstand schien Savinsky übertrieben und gemacht.

»Es ist elf Uhr. Geben Sie mir bis Mittag Zeit. Kommen Sie dann nochmals, indessen werde ich Semeonow gefunden haben.«

»Ausgeschlossen; Sie sehen doch . . . Unmöglich! – Wie soll ichs ausdrücken? – Aber Sie werden doch selbst begreifen . . . Versetzen Sie sich in meine Lage . . .«

»Ich begreife durchaus nicht,« rief Savinsky erschöpft.

Aber plötzlich verstand er; der kleine Bogdanow hatte Angst, daß er diese Stunde zur Flucht benützen könnte!

»Sie fürchten, daß ich durchgehe!« lachte er. »Ah, jetzt ist mir alles klar. Und selbstverständlich würde Ihnen auch mein Ehrenwort nicht genügen?«

Bogdanow protestierte aus Höflichkeit, aber es war zweifellos, daß Savinsky seine Bedenken richtig eingeschätzt hatte.

Savinsky faßte endlich einen Entschluß. Er ging mit Bogdanow in die Bank, suchte dort den Paß und übergab ihn dem kleinen Kommissar, der ihn mit vielen Bücklingen entgegennahm.

»Ich danke Ihnen, Nikolaus Wladimirowitsch. Ich werde sofort eine vorschriftsmäßige Quittung ausstellen, die Ihnen so lange als Legitimation dient, bis ich den Paß zurückbringe.«

Und er füllte einen Bogen, der den Siegel des Kommissariats trug, mit der Nummer des Passes und allen Personaldaten aus. Dann verschwand er.

»Also bin ich ein Gefangener!« sagte sich Savinsky. »Das Gefängnis ist groß, das ganze Rußland, aber ein Gefängnis ist es trotzdem.«

Eine Stunde lang suchte er Semeonow telephonisch zu erreichen. Weder in dessen Wohnung, noch im Volkskommissariat, noch im Smolny war er zu finden. Semeonow schien rein aus Petersburg verschwunden. Erschöpft gab Savinsky endlich seine vergeblichen Versuche auf und nahm sich vor, nachmittags beim früheren Ministerium am Schloßplatz vorzusprechen.

Er ging zu Iwan Schupow-Karamin. Den traf er an. Savinsky wollte wissen, ob man ihm seinen Paß abgenommen habe. – Nein, er hatte auch nichts dergleichen gehört. –

Das gab Savinsky zu denken. Offenbar also handelte es sich um einen Kniff des erfinderischen Semeonow, der damit seinem hochgeschätzten Freund Savinsky die Abhängigkeit vor Augen führen wollte, in der er ihn hielt. Er ging nachdenklich über den Hof, um einen Sprung zu Lydia zu machen, der er sagen wollte, daß er nachmittag nicht mit ihr gehen könne, denn solange diese Paßgeschichte nicht geordnet war, hatte er keine Ruhe.

Er war sehr abgespannt, aber der Anblick Lydias, die er allein antraf, heiterte ihn wieder auf. Mit Galgenhumor erzählte er seine Erlebnisse. Am wichtigsten von seinem ganzen Bericht schien es Lydia, daß er Petersburg jetzt nicht mehr verlassen könne. Sie ließ sich das zweimal bestätigen.

»Also sind Sie hier gefangen!«

Erst dann, als sie diesen Umstand vollkommen zweifelsfrei festgestellt hatte, schien ihr der Gedanke klar zu werden, daß ihr Freund von den Bolschewiki verfolgt werde, und sie zeigte ihre Besorgnisse.

»Das ist mal unvermeidlich,« meinte Savinsky. »Ich glaube doch noch so viel bei Semeonow zu gelten, um diesen Zwischenfall beilegen zu können.«

Sie schwieg eine Weile.

»Und wenn Sie nichts ausrichten, wollen Sie, daß ich zu Semeonow gehe?«

Savinsky fuhr auf. Was für verrückte Gedanken!

»Aber was fällt Ihnen ein, Lydia Sergijewna! Haben Sie ihn denn seither gesehen?«

»Nein,« sie lächelte.

»Wieso also . . .

»Es ist mir nur so eingefallen . . . Sie wissen doch, daß er immer sehr zuvorkommend gegen mich war, und wenn wir uns bei Natalie trafen, schien er meine Gesellschaft zu suchen. Da dachte ich eben, daß er wegen so einer Kleinigkeit mir ganz sicher gefällig sein wird, auch wenn er sie Ihnen abschlägt. Vielleicht ist es Ihnen auch unangenehm, ihn bitten zu müssen?«

»Nein, nein!« rief Savinsky. »Davon kann keine Rede sein. Das ist eine Sache, die nur zwischen mir und ihm ausgetragen werden kann. Was ich ihm am meisten verüble, ist, daß er mich hindert, nachmittags mit Ihnen auszugehen. Das werde ich ihm nicht verzeihen.«

Als er Lydia verließ, sagte er noch:

»Wissen Sie, daß ich nicht schlafen konnte? . . . Ja, ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht, was Sie gestern beim Abschied gemeint haben könnten. Ich bin nicht darauf gekommen.«

Lydia schaute ihn schelmisch an.

»Sie sehen, daß es Dinge gibt, von denen ein kleines Mädel mehr versteht, als ein großer Herr. Ich erkläre es Ihnen morgen, wenn es Sie dann noch interessiert.«

Auch im Laufe des Nachmittags gelang es Savinsky nicht, Semeonows habhaft zu werden. Er verlor seine Zeit im Smolny und im Ministerium. Schließlich ließ er ein ziemlich kühl gehaltenes Billet für Semeonow in dessen Wohnung zurück.

Am nächsten Vormittag verlangte Semeonow ihn zum Telephon. Mit vollendeter Höflichkeit drückte er sein Bedauern aus und bat, ihn zu entschuldigen, er sei durch wichtige Besprechungen mit den deutschen Delegierten den ganzen Tag in Atem gehalten worden. Bezüglich der Paßangelegenheit sei die Sache schon erledigt. Er habe bereits die nötigen Weisungen gegeben. Er bat Savinsky, nicht böse zu sein; leider sei noch viel Unordnung in den Ämtern. Erst langsam werde alles in richtigen Gang kommen. –

Eine Stunde später brachte der kleine Bogdanow das unentbehrliche Dokument. –

Diese leidige Paßgeschichte hinterließ bei Savinsky einen recht üblen Eindruck; so ein Katz- und Maus-Spiel war doch recht unerfreulich. Zum erstenmal fühlte er jetzt, daß seine Lage nicht unbedenklich sei, und wenn Semeonow irgendwie erfahren würde, daß er noch Beziehungen zu dem geächteten Spaßki unterhalte, dann konnte sie mit einem Schlage sogar gefährlich werden. Er hatte den bestimmten Eindruck, daß er auf Semeonow nicht den geringsten Einfluß habe. Dieser schien bloß eine fühllose, politische Maschine zu sein, deren Gang durch nichts aufzuhalten war. Er überlegte lange. Das Wichtigste war, zunächst Spaßki zu verständigen, daß er ihm keine Boten mehr schicken dürfe. Es mußte eine Zwischenperson gefunden werden, denn weniger denn je dachte Savinsky jetzt daran, den Kampf gegen die Tyrannen im Smolny aufzugeben. Im Gegenteil, dieser Zwischenfall steigerte nur noch sein sehnsüchtiges Verlangen, sie bald an den Laternenpfählen einer Newabrücke hängen zu sehen. Und von einem plötzlichen Wunsch ergriffen, etwas zu unternehmen, ging er auf die Suche nach jenem Freund, den er brauchte, um mit den Führern der Donbewegung in Verbindung zu bleiben. Auf der Straße achtete er sorgfältig darauf, ob er nicht beobachtet werde. – Nein, Straße und Quai waren leer. Um sicher zu sein, überquerte er den Moika-Kanal und durchschritt eines der Häuser, das einen zweiten Ausgang in die Millionaja hat. – Es war kein Aufpasser hinter ihm. –

Nachmittags kam er mit Lydia zusammen. Die jungen Mädchen hatten in Rußland seit jeher große Freiheiten, so gingen sie auch immer allein aus oder mit Bekannten, die ihnen gefielen. Nur wenn sie sehr vorsichtig sein wollten, vermieden sie es, sich allzuoft mit demselben Begleiter auf der Straße zu zeigen.

Seit der Revolution, und noch mehr seit der Bolschewikizeit, waren aber auch diese freiwilligen Beschränkungen aufgegeben. Wenn auch Lydia und Savinsky bisher für ihre Spaziergänge wenig besuchte Orte, wie die Quais, den Sommergarten oder die Newaanlagen vorgezogen hatten, so geschah dies nur aus zufälliger Laune und gewiß nicht aus irgendwelcher Vorsicht. Es wäre auch sicher niemandem eingefallen, darüber zu reden, daß die Tochter des Fürsten Volynski mit einem Freund ihres Vaters gesehen wurde, besonders nicht, wenn dieser Freund der hochachtbare Nikolaus Wladimirowitsch Savinsky war, der als Muster eines guten Ehemanns und soliden Bürgers galt. So zögerten sie diesmal nicht, besonders, da es drei Tage vor Weihnachten war und beide zahllose Besorgungen zu machen hatten, ihren Weg durch die elegante Morskaja und über den Newski-Prospekt zu nehmen. Hier, im Stadtzentrum, war ein dichtes Gedränge auf den Straßen, aber die Leute gingen ohne Eifer und ohne Fröhlichkeit ihren Geschäften nach. Auf allen Gesichtern las man nur den gleichen Ausdruck der Besorgnis; die Unruhe über die Gegenwart und die Sorge um die Zukunft erfüllten alle Herzen. Der Mangel an allen Waren wurde täglich fühlbarer, und die Preise, sowohl der Lebensmittel, die man sich nur unter größten Schwierigkeiten verschaffen konnte, wie auch der wenigen Brennstoffe, die man auftrieb, stiegen fast von Stunde zu Stunde.

Und gerade in dieser schweren Zeit hatten die Bolschewiki alle Banken besetzt und niemand konnte das Geld beheben, das er im Depot hatte. So sah man den Festtagen ohne jede Freude entgegen. Die Verkäufer von Luxuswaren sahen keine Kunden, nur die Geschäfte, in denen Eßbares feilgeboten wurde, waren ständig belagert. Aber vor den Preisen, die für Truthühner, Gänse oder Hühner, die man für den Weihnachtsbraten brauchte, verlangt wurden, schreckte so mancher, entmutigt den Kopf schüttelnd, zurück. Die meisten Leute aber kauften trotzdem, denn es waren ja Russen, die stets eine bewundernswerte Nichtachtung des Geldes auszeichnet.

Lydia und Savinsky waren viel zu sehr miteinander beschäftigt, als daß sie auf das Straßenleben geachtet hätten. Sie kehrten in einer Teestube in der Nähe des Newski ein, die von verarmten Damen der Gesellschaft und ehemaligen Offizieren kürzlich eröffnet worden war. Zufällig kannte Lydia einen von ihnen, mit dem sie öfters getanzt hatte; er gesellte sich zu ihnen. Er war ein großer, junger Mann, mit regelmäßigen Gesichtszügen. Den Wechsel in seinem Leben schien er mit dem größten Gleichmut hinzunehmen. Er scherzte sogar gerne darüber. Zu anderen Zeiten hätte ihn Savinsky zwar unbedeutend, aber harmlos gefunden, und nicht schlimmer als Zehntausende ähnlicher junger Männer. Jetzt aber mißfiel er ihm gewaltig; er nahm die Dinge doch mit einer allzu aufreizenden Leichtigkeit! Er fühlte sich in seiner neuen Stellung so wohl, als wäre er dazu geboren, Kellner zu sein und nicht Gardeoffizier, lächelnd seinen Kunden Tee zu servieren und nicht Männer in die Schlacht zu führen. Hatte er wirklich in diesen Zeiten nichts Besseres zu tun? Bei den Bolschewiki arbeitete man wenigstens, ja, man bewies eine erstaunliche Tatkraft; der unleidliche Semeonow zeigt einen unbeugsamen Willen. Und hier ging ein so großer Tölpel aus einer der besten Petersburger Familien mit Teetablettes herum! Er dachte an Spaßki, der am Don bemüht war, eine Armee aufzubringen. Hier gab es gewiß hunderttausend ähnlicher Herren der ehemaligen Armee, die es vorzogen, in der Stadt zu faulenzen, von Gelegenheitsgeschäften zu leben und Stufe um Stufe hinabzusteigen, immer tiefer auf dem Weg, der langsam, aber unfehlbar in Schmach und Elend führt. Bei der Donarmee wurde die Rekrutierung täglich schwieriger und in den Städten gab es hunderttausende ehemalige Offiziere, die einen ehrlosen Untergang dem Versuch vorzogen, Rußland zu retten! – Savinsky grübelte schwermütig über diese Zeichen der Zeit und blieb stumm.

Lydia legte, als sie ihn so in sich versunken sah, ihre Hand auf die seine und neigte sich mit der Frage zu ihm, welche Sorge ihn bedrücke.

Er war von dem Ton, mit dem sie diese einfache Frage stellte, ganz ergriffen. Er glaubte beinahe Zärtlichkeit herauszuhören. Wieder einmal wurde seine ganze Verstimmung fortgeweht. Er sah Lydia tief in die Augen.

»Es gibt keine Sorgen, die vor dem Klang Ihrer Stimme bestehen könnten!«

Niemals noch hatte er so unverhüllte Worte zu ihr gesprochen, und fast meinte er zu deutlich gewesen zu sein, da es ihm schien, als ob Lydia leicht errötet wäre. Er blieb einen Augenblick verlegen; dann erinnerte er sich ihrer Anspielung und der Erklärung, die sie ihm schuldete. So frug er sie jetzt nach den Gründen, die sie so dunkel angedeutet hatte, daß ihm nicht klar geworden war, warum sie die Verbindung mit Lord Douglas ablehne.

»Das ist hier schwer zu sagen. Immerhin glaube ich, daß es mir möglich sein wird,« entgegnete sie. »Nur müssen Sie ein wenig näher kommen, Nikolaus Wladimirowitsch, es ist nicht nötig, daß man uns zuhört.«

Savinsky rückte seinen Sessel heran und beugte sich weit über den Tisch, so daß sein Gesicht ihre Haare streifte. Sie begann, ein wenig befangen.

»Ich verstehe es sehr gut, Nikolaus Wladimirowitsch, warum Papa wünscht, daß ich diesen Engländer heirate. Papa denkt einzig und allein daran, daß er krank ist und daß Petersburg heute keine Stadt ist, in der Leute unserer Gesellschaftsklasse sicher sind. Trotzdem ich ihm das Liebste auf der Welt bin, würde er sich damit abfinden, mich zu verlieren, wenn er mich dadurch gerettet wüßte. Die Ehe, die er mir vorschlägt, ist sozusagen eine vernünftige Lösung. Ja, einen Mann zu nehmen, der jung, schön, reich ist und mir eine große gesellschaftliche Position verbürgt, dagegen läßt sich kaum etwas einwenden; ja, es wäre sogar außerordentlich klug, und wissen Sie, Nikolaus Wladimirowitsch, zu anderen Zeiten hätte ich es wahrscheinlich auch getan, natürlich, wenn ich keinen anderen geliebt hätte . . . Aber ist es jetzt am Platz, von vernünftigen Lösungen zu sprechen, hier, in dieser Stadt der Narren? Ich soll etwas Überlegtes tun, etwas Kluges, das alles beilegt, jetzt in diesen Tagen, in diesem Rußland, wie wir es vor Augen haben? – Der bloße Gedanke daran ist schon schrecklich! Dieses Ideal ist nichts für uns, nichts für mich; Sie verstehen doch, das paßt nicht hierher, jetzt nicht mehr. Ich sagte, daß Sie und Papa so sprechen, wie Sie es vor einem Jahr auch getan hätten, damals als noch alles ruhig war. Aber heute, da man kaum weiß, ob man den nächsten Tag erleben wird, heute alles so weit vorausberechnen und sein ganzes Leben mit einem Schlag festlegen – das ganze Leben, bedenken Sie doch! – das wäre widersinnig, lieber Freund, ganz widersinnig! Was Sie mir zur Rettung vor der Revolution vorschlagen, das kann man nicht tun, eben wegen der Revolution nicht tun. Und weil Sie ein Mann sind, haben Sie das alles nicht verstanden, und ich mußte kommen und Ihnen die Augen öffnen . . .«

Sie blickte Savinsky an, als ob sie sich fragen würde: »Darf ich mich eigentlich über diesen großen Herrn, der so klug und so angesehen ist, in solcher Weise lustig machen? – Ja, ich darf, und es ist köstlich, es zu tun.«

Savinsky erwiderte nichts. Der Sophismus in Lydias Worten war so offenkundig, so leicht widerlegbar, und doch lag für ihn etwas so Verführerisches darin, daß er weder Lust noch die Kraft hatte, sie zur Logik zu bekehren. Auch fühlte er in seinem Herzen, daß sie eine ganz entzückende Stunde ihres seltsamen Lebens zu zweit genossen hatten; was brauchte er weiter zu denken? Es kommt ja doch alles von selbst ins rechte Geleise! –

 

Weihnachten verbrachte er in Petersburg. Er hatte eine lange Unterredung mit dem alten Lamshof von der Deutschen Bank gehabt, die so interessant gewesen war, daß sie eine zweite Begegnung vereinbarten, die gerade am Weihnachtsabend stattfinden sollte. Savinsky wollte auf diese seltene Möglichkeit, sich über die Absichten der Deutschen genau zu unterrichten, nicht verzichten; er hoffte, ihre Meinung über die Bolschewiki, wie sie sich zu ihnen stellen wollten, und vor allem, wie lange sie dulden würden, daß sie die Macht in Rußland behielten, aus authentischer Quelle zu erfahren. Denn es war für ihn keinen Augenblick zweifelhaft, daß die Existenz Lenins und Trotzkis nur von der Gnade der Berliner Schicksalsgötter abhing. Er sandte seiner Frau daher eine Nachricht, daß Geschäfte ihn in der Stadt zurückhielten, aber daß er am Sylvesterabend bei ihr und den Kindern sein werde. Er schrieb ihr überaus herzlich, denn er dachte voll Zärtlichkeit an sie. Jetzt, da er eine andere liebte, fühlte er die Bande der Freundschaft, die ihn mit Sonja verknüpften, stärker als jemals. In dem Bild, das er von seiner Frau in sich trug, bildete ihre vornehme Gesinnung den Grundton. Er hatte vollstes Vertrauen zu ihr, die von so ruhiger Güte war, wie gern hätte er von den neuen Gefühlen, die ihn bewegten, mit ihr gesprochen. Er hatte keinen besseren Freund, keinen lieberen Vertrauten, als sie. –

Natalie gab ein Souper für fünfzehn Personen. Champagner wurde getrunken, und die Stimmung war bald sehr fröhlich. Diesmal hatte Natalie, die zu bemerken glaubte, daß Lord Douglas gegen sie stets kühler wurde, aber mit Lydia auffallend gern plauderte, letztere neben Savinsky gesetzt. Nikolaus fühlte sich um zwanzig Jahre verjüngt. Aber hatte er denn selbst damals diese wunderbare Lust am Leben, wie sie ihn jetzt erfüllte, diese kraftvolle Freude, wie sie jetzt aus seinem tiefsten Wesen hervorbrach, gekannt? Seine ganze Vergangenheit, auf die er nur gleichgültige Blicke warf, erschien ihm schal und inhaltlos im Vergleich mit seinem jetzigen Erleben. Die junge Zauberin an seiner Seite hatte ihm einen Trank eingegeben, der ihm die ganze Welt in Schönheit erstrahlen ließ. Mit nachsichtigem Wohlwollen betrachtete er die Leute ringsumher. Selbst Lord Douglas schien ihm liebenswert. Dieser Antinous aus Thule trug es Lydia in keiner Weise nach, daß sie ihm einen Korb gegeben hatte; gewiß meinte er, daß ihre endgültige Antwort anders lauten werde. Sicher glaubte er das Spiel schließlich mit den Trümpfen, die er in der Hand hielt, doch zu gewinnen. Er lachte und scherzte mit dem jungen Mädchen und Savinsky nahm daran keinen Anstoß. Und selbst als Lydia gegen Mitternacht aufbrach, sah er sie ohne Besorgnis in seiner Begleitung den Heimweg antreten, so sehr war er davon durchdrungen, daß ein Geschöpf, wie Lydia, niemals diesen Mann, der einer so fremden Rasse angehörte, heiraten würde.

Einige Tage später ereignete sich zwischen ihm und Lydia ein Zwischenfall, der ihm unverständlich schien. Es war ein so unvermuteter Schlag, daß er davon ganz verwirrt blieb. Er war mit dem jungen Mädchen ausgegangen, um Einkäufe am Newski zu machen und als sie bei einem Spielwarenladen vorbeikamen, traten sie ein. Er mußte seinen Kindern Neujahrsgeschenke mitbringen. Bis dahin war Lydias Stimmung fröhlich und sogar herzlich gewesen. Im Geschäft aber fiel es Savinsky auf, wie zerstreut sie mit einem Male war. Er brauchte sehr lange, bevor er seine Wahl getroffen hatte und Lydia schien keinerlei Interesse daran zu nehmen und sprach fast nichts. Wenn er um Rat fragte, antwortete sie nur einsilbig, fast abweisend und Nikolaus verstand den Grund ihrer so plötzlichen Verstimmung nicht.

Zufällig kam auch Lord Douglas in das Geschäft. Lydia sprach liebenswürdig mit ihm, er lachte und plauderte wie gewöhnlich. Er half Savinsky bei seiner Auswahl und erkundigte sich nach dessen Frau, wobei er Savinsky dazu beglückwünschte, daß er sie in Finnland untergebracht habe, obgleich Petersburg in dieser Zeit noch interessanter sei, als jemals früher. Schließlich bat er Savinsky, ihr seine Empfehlungen zu bestellen, wenn er sie wieder besuche.

Savinsky dankte und fügte hinzu: »Ich werde den Neujahrstag bei ihr verbringen, ich reise übermorgen.« Dann wandte er sich wieder den Spielsachen zu, die man herbeitrug. Im gleichen Augenblick sprach Lydia mit erhobener Stimme zu Lord Douglas: »Wollen Sie mich nach Hause begleiten? Es wird spät und ich habe noch eine Verabredung.«

Douglas sagte entzückt zu. Lydia reichte Savinsky die Hand: »Auf Wiedersehen, Nikolaus Wladimirowitsch. Es tut mir leid, Sie verlassen zu müssen, aber ich hab' mich schon sehr verspätet. Wir sehen uns bald, nicht wahr?«

Sie sprach diese Worte in jenem gleichgültigen, gesellschaftlichen Ton, in dem Natalie geistesabwesend ihr Liebenswürdigkeiten zu sagen pflegte und war schon draußen, ehe noch Savinsky sich von der Überraschung erholt hatte und sie zurückhalten konnte. Er hatte nur ein paar unzusammenhängende Worte zu murmeln vermocht und blickte fassungslos von der Türe, die sich eben hinter ihr geschlossen hatte, auf die Reihe russischer Puppen, die mit ihren purpurroten Wangen vor ihm auf dem Tisch lagen und ihn aus wasserblauen Augen anglotzten.

Was mochte in Lydia vorgehen? Wie war dieser plötzliche Stimmungsumschwung zu erklären? Wie war es, nach allem, was sie gesagt hatte, zu begreifen, daß sie ihn freiwillig verließ, um mit dem Lord fortzugehen? Was war das für eine Verabredung, von der sie vorher kein Wort gesagt hatte? Savinsky gab es auf, die Seele dieses jungen Mädchens zu verstehen. Auf diesem Gebiet kam er sich verloren vor, wie in unbekannten Ländern . . . Was verstand er denn überhaupt von den Frauen? Seine lange Ehe hatte ihn von der Welt isoliert; seine Frau war gewiß nicht kompliziert, war ohne Stimmungen und ohne Launen. Er las in ihr, wie in einem offenen Buch und niemals hatte er über sie nachzudenken gehabt. So hatte er fünfzehn Jahre in restlos sentimentaler Ruhe mit ihr verlebt. Und vorher, zwischen zwanzig und dreißig, hatte er wohl manches Abenteuer, aber keine Erlebnisse gehabt. Er hatte Siege errungen, deren er sich nicht rühmte, denn sie hatten gar zu wenig Mühe gekostet . . ., er hatte Abschiedsstunden erlebt, die kein anderes Gefühl in ihm zurückließen, als das der Freude über die wiedergefundene Freiheit, nachdem sie einige Wochen oder Monate verloren gewesen . . . Niemals war er psychologischen Problemen gegenübergestanden, so fand er auch jetzt keinen Schlüssel zu den launischen Stimmungen Lydias, die ihn so unvorbereitet trafen. Lange dachte er über sie nach. Hatte er sie vielleicht unbewußt gekränkt? Nein, er war sicher, daß er sie in keiner Weise verletzt haben konnte. Mochte sie vielleicht erraten haben, daß seine Gefühle ihr gegenüber nicht mehr bloß die des guten Freundes waren, für den er sich ausgab? Dieser Gedanke hatte etwas Verlockendes und er hielt sich länger dabei auf. Wenn sie sich ihrer Macht über ihn bewußt geworden war und nach rechter Frauenart Mißbrauch damit trieb? – Nein, dann müßte sie wohl eine ganz andere Lydia sein, als die, deren verehrtes Bild er in sich trug! – Er verzichtete schließlich darauf, die Erklärung ihres so sonderbaren Benehmens zu finden und nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit Lydia selbst mit jener Natürlichkeit, die zwischen ihnen bestand, darum zu befragen.

Aber seine Absicht wurde zunächst durchkreuzt, denn er konnte Lydia vor seiner Abreise nicht mehr sehen. Sie war, wie man ihm telephonisch sagte, leicht erkrankt und hütete das Bett. Er schrieb ihr ein paar Zeilen, wünschte ihr ein gutes neues Jahr und teilte ihr mit, daß er am zweiten oder dritten Januar zurück sein werde. Antwort erhielt er nicht. Es war ja eigentlich auch keine nötig, aber er fühlte sich trotzdem enttäuscht. Am vorletzten Tage des Jahres reiste er zeitig morgens mit dem ersten Zug. An der Grenze entstand eine Schwierigkeit; der Bolschewiki-Kommissar erklärte, daß die alten Sichtvermerke ungültig seien und daß man ein Visum des Volkskommissariats haben müsse. Und Savinsky sah ein, daß er gegen das Schicksal nicht ankämpfen könne. Trotzdem war er sehr verzweifelt. Er dachte an die Enttäuschung von Frau und Kindern. Er hatte das Gefühl, als wäre es ein Verrat, wenn er am Neujahrstag nicht bei ihnen sei. Ein Beamter des Paßbureaus kam ihm unvermutet zu Hilfe. Er war schon unter dem Zaren hier angestellt gewesen und kannte Savinsky seit längerer Zeit. In einem Augenblick, als der Kommissar, ein brutaler Kronstädter Matrose mit flackernden Augen, aus dem Zimmer gegangen war, flüsterte er Savinsky zu, daß er dienstlich im Auto nach Petersburg fahre und gerne bereit wäre, ihn mitzunehmen. Es seien kaum dreißig Kilometer, wenn alles klappte, würden sie noch vor Mittag in der Stadt sein und vielleicht könnte Savinsky sein Visum sofort bekommen und mit dem ersten Zug am Nachmittag wieder zurückreisen. Um bei dem Kommissar keinen Argwohn zu erwecken, sollte Savinsky das Auto außerhalb der Station erwarten.

Savinsky ließ sein Gepäck im Zollamt und ging langsam auf der Straße gegen Petersburg zurück. Eine Viertelstunde später saß er im Auto, das sich durch den hohen Schnee mühsam seinen Weg bahnte.

Der Reisegefährte Savinskys war ein kluger, angenehmer Mensch. Er hatte seine Stelle behalten, um nicht zu verhungern und auch, weil er hier an der Grenze die Möglichkeit hatte, seinen alten Freunden zu helfen. Sobald er übrigens genug habe, werde er einfach die wenigen Schritte über die berühmte Holzbrücke, die Finnland von Rußland trennt, hinübergehen. Sie sprachen französisch, um von dem Soldaten, der das Auto lenkte, nicht verstanden zu werden. Savinsky erfuhr hier eine Neuigkeit, die für ihn von größter Bedeutung war. Der Beamte war über die Absichten der kommunistischen Partei in Finnland und über die Mittel, die ihr zur Verfügung standen, durch einen glücklichen Zufall genau unterrichtet. Danach war es nicht zu bezweifeln, daß die Finnländer Kommunisten von Petersburg Geld und Waffen zugesandt erhielten. Emmissäre von Lenin und Trotzki pendelten ununterbrochen zwischen Petersburg und Helsingfors. Zufolge sicheren Nachrichten war ein Staatsstreich gegen die schwache bürgerliche Regierung für Mitte Januar zu gewärtigen. Der Beamte zweifelte nicht an dem Erfolg der Kommunisten. – Das gab Savinsky viel zu denken. Seine Familie war auch in Finnland nicht mehr sicher. Aber würde denn Sonja ohne ihn ins Ausland gehen wollen? Und seine Depots von den finnischen Banken mußte er abziehen, denn sie würden ja das gleiche Schicksal haben wie die Petersburger.

Im Kommissariat für äußere Angelegenheiten hatte Savinsky das Glück, Semeonow zufällig im Hausflur zu treffen. Er wurde sehr liebenswürdig von ihm begrüßt und gefragt, ob er ihm irgendwie nützlich sein könne. Savinsky erklärte ihm, daß er an der Grenze angehalten worden sei. Semeonow wurde sofort sehr ernst.

»Wir geben keine Ausreisebewilligungen mehr. Es sind zu viel Leute geflüchtet. Sie haben die Unordnung in den finnischen Ämtern benutzt, um, wie wir von unseren Agenten erfahren haben, nach Schweden zu gelangen.«

»Aber ich habe doch nicht die Absicht, nach Schweden zu gehen,« erwiderte Savinsky lebhaft.

»Daran zweifle ich nicht.« Semeonow versuchte ein Lächeln. »Ich bin sogar davon überzeugt, daß Sie wichtige Gründe haben, Petersburg nicht zu verlassen . . .«

Er verstummte einen Augenblick und setzte dann etwas lauernd hinzu: »Und wäre es auch nur, um Ihre wertvolle Unterhaltung mit Lamshof fortzusetzen.«

Savinsky dachte mit Ingrimm: »Er weiß alles, was ich tue. In seinem früheren Satz war bestimmt eine Anspielung auf Lydia.« Er kämpfte aber seinen Zorn nieder und sprach eindringlich:

»Sie können davon überzeugt sein, daß ich nicht an Flucht denke. Aber ich habe wichtige Gründe nach Finnland zu reisen, wo meine Frau und meine Kinder sind . . . Ich beabsichtige, sie nach England zu schicken, um meinen Sohn in ein College zu geben und rechne darauf, daß Sie die Vidierung ihrer Pässe nicht ablehnen.«

»Ja, ich begreife, daß im Augenblick die englischen Schulen besser als unsere sind.« Semeonow dachte eine Weile nach. »Gut, ich werde Ihnen das Visum geben, Nikolaus Wladimirowitsch. Und ich verspreche auch, sobald Sie mir die Pässe Ihrer Frau und Ihrer Kinder bringen, die Ausreise aus Finnland darauf zu bewilligen . . . Aber nicht wahr, wir sprechen doch hier von Mann zu Mann – können Sie mir die Zusicherung geben, daß Sie in den ersten Tagen des Januar nach Petersburg zurückkehren? – Ich habe viel mit Ihnen zu besprechen, wissen Sie und eine Unterredung mit einem Menschen von Ihren Qualitäten bleibt für mich unendlich wertvoll.« Savinsky gab, innerlich vor Wut kochend, das verlangte Versprechen.

Noch am gleichen Abend war er bei seiner Frau, die sehr besorgt gewesen war, als sie ihn beim Frühzug vergeblich erwartet hatte.

Nur mit vieler Mühe konnte er sie überreden, ihm ihren Paß wegen des Ausreisevisums zu übergeben.

»Ich will aus Finnland nicht fort,« sagte Sonja mit Nachdruck. »Es ist schon genug, daß ich überhaupt hier bleibe und nicht nach Petersburg zu dir zurückkehre. Wenn man von hier fort muß, dann gehe ich nicht ohne dich. Warum bleibst du nicht endlich bei uns?«

Savinsky deutete auf sein Versprechen hin, daß er Semeonow gegeben hatte. Übrigens sei er durch seine Beziehungen zu diesem völlig geschützt. Und jetzt, da niemand wußte, was die Deutschen unternehmen wollten, mußte er zur Hand sein. Vielleicht würden sie Petersburg schon im nächsten Monat besetzen und dort zumindest Ordnung und Sicherheit herstellen. Da aber die Lage in Finnland von heute auf morgen gefährlich werden könnte, beschwor er sie, um der Kinder willen, ihn erst in Stockholm zu erwarten. Er, als einzelner Mann, würde immer Mittel und Wege finden, die Grenze zu überschreiten, schlimmstenfalls nachts auf Schmugglerpfaden. Sonja ließ sich endlich überzeugen, aber vermochte trotz ihrer Selbstbeherrschung ihre tiefe Traurigkeit nicht zu verbergen.

Am 2. Januar fuhr Sonja mit ihm nach Helsingfors, wo er seine Angelegenheiten bei den Banken erledigte. Sie speisten allein im Hotel Kemp. Sonja blieb still und ernst, vergeblich suchte Savinsky sie aufzuheitern. Auch auf seiner Stimmung lastete der neuerliche Abschied von ihr, der treuen Gefährtin seines Lebens, der Mutter seiner Kinder. Er ging zurück nach Petersburg, was würde aus ihm werden? Niemals noch war die Zukunft so ungewiß gewesen. Selbst Lydias Bild war verschwommen. Wie würde er sie wiederfinden? Als jene Lydia der früheren Tage oder als die Prinzessin aus dem Spielwarengeschäft? Wäre es nicht doch das einzig Kluge, bei seiner Familie zu bleiben? – Im Exil? – Losgerissen von seiner Arbeit, von dem Werk eines ganzen Menschenlebens? Um als alternder Mann zwecklos dahinzudämmern? – Und doch vermochte er sich von den düsteren Ahnungen, die ihn bedrückten, nicht zu befreien.

Der Abschied am nächsten Morgen war für beide herzzerreißend. –

 

Lydia wartete ungeduldig auf Savinskys Rückkehr. Schon gestern hätte er da sein können und heute hatte sie den ganzen Tag auf seinen Anruf gewartet. Würde er denn erst nachts ankommen? Was hielt ihn so lange in Finnland zurück? Sie ging nervös in ihrem Zimmer auf und ab, ihre Stirn zog sich in Falten. Sie wollte sich nicht niederlegen, sie wußte, daß sie doch keinen Schlaf finden würde. So ging sie vom Bett zum Fenster, vom Fenster zum Bett, rastlos, gedankenversunken . . . Über den Peter-Pauls-Dächern funkelten auf dem schwarzen Winterhimmel die klaren Steine; welch' erhabene Ruhe dort oben und welch' große Unruhe in diesem kleinen Zimmer! – Endlich blieb sie stehen; sie war müde, sie hätte sterben mögen. Und plötzlich wechselte der Ausdruck ihres Gesichtes. Sie murmelte als Abschluß ihrer schweren Gedanken: »Ja, ich muß es tun!« Ihre Augen blitzten auf, ihre Züge spannten sich. »Ich werde es tun!« flüsterte sie nochmals vor sich hin und ihre Wimpern senkten sich, während eine leichte Röte in ihre Wangen stieg. Sie hatte in all den Wirbeln, durch die sie sich geschleift fühlte, einen Halt gesehen . . .

Langsam entkleidete sie sich, rückte sich in ihrem Bett zurecht und schlief auch augenblicklich ein – denn, wie gewaltig auch die Stürme sein mochten, die sie bewegten, sie war erst achtzehn Jahre alt und in diesem Alter gibt es keine Sorgen, die der Schlaf nicht besiegt.

 

Am nächsten Morgen, der kalt und grau, ein rechter trüber Wintertag vor ihrem Fenster lag, wagte sie ihren Entschluß nicht voll zu betrachten; nur mit raschen Seitenblicken streifte sie ihn. Ja, was sie sich vorgenommen hatte, stand auch heute noch unverändert vor ihr, sie bereute nichts und widerrief nichts. Aber ein Ziel, so blendend, daß die Augen schmerzten, war besser nicht so lange zu betrachten. Sie war ja doch gewiß, es einmal zu erreichen. Wann und wie? – Unmöglich war es, dies vorauszusehen oder gar Schritt für Schritt den Weg dahin zu bestimmen. Indessen fühlte sie nur den einen wehmütigen Wunsch in sich, all den quälenden Fragen, mit denen jede Stunde ihr verzagtes, einsames Gemüt bestürmte, zu entrinnen und die Verantwortung für ihr Geschick anderen, festeren Händen anzuvertrauen. –

Katja ging in ihrer ein wenig gebückten Haltung geschäftig im Zimmer hin und her. »Sie ist doch gar nicht so alt,« dachte Julia, aus ihrem Bett nach ihr hinblinzelnd. »Noch keine fünfzig. Wie rasch die Frauen doch verwelken. Paar Jahre haben sie für sich und dann ist's aus . . .«

»Katja, Katja,« rief sie, »warum hältst du dich so krumm?«

Katja kam heran, sie neigte den Kopf.

»Ich hatte viel Kummer, mein kleines Täubchen,« und sie lächelte mit ihrem großen Mund, daß ihre Zahnlücken sichtbar wurden.

»Wie viele Zähne hast du noch?« frug Lydia neugierig und verschränkte die Arme unter ihrem Kopf.

»Aber das weiß ich doch nicht, mein Seelchen, ich habe sie ja nie gezählt. – Genug für das, wozu ich sie noch brauche.«

»Ich habe achtundzwanzig – und starke. Ich kann fest beißen, wenn ich will, schau nur.«

Sie hob einen ihrer Arme, daß der Spitzenärmel bis an die Schulter zurückglitt, näherte ihn ihrem Munde, den sie weit aufriß und biß mit voller Kraft in das zarte Fleisch. Als sie wieder losließ, sah man in kleinen roten Mustern zwei Reihen Zähnchen auf der weißen Haut.

»Aber Lydotschka, du bist ja heut' verrückt!« Und die Amme nahm den Arm ihrer jungen Herrin und streichelte ihn zart.

»Komm Katja, erzähl' mir die Geschichte von Iwan. Aber nur von dort an, wie er zum Schloß kommt, in dem die Prinzessin gefangen ist. Das ist die Stelle, die ich so liebe. Du weißt doch, wie die Königstochter auf dem Turm steht und in das Land hinausblickt. Erinnerst du dich an die Worte?«

»Das war so: ›Iwan erblickte nach kurzer Wanderung ein herrliches Schloß, das ganz aus Gold und Glas erbaut war und hörte überirdische Klänge daraus tönen, die ihn in Entzücken versetzten. Er entdeckte auf dem Söller des höchsten Turmes ein junges Mädchen von wunderbarer Schönheit, die Laute schlagend . . . Gespannt blickte sie nach der Richtung, in der Iwan stand, denn ihre alte Amme hatte sterbend zu ihr gesprochen: Weine nicht! Gräme dich nicht! Von dort her (da hatte sie nach Osten gezeigt) wird ein Mann kommen, kühn und mächtig, dich zu befreien . . . «

»Katja,« unterbrach Lydia plötzlich, »wie alt war Iwan, als er die Königstochter zur Frau nahm?«

»Ja, darüber wird in der Geschichte nichts gesagt. Aber er war gewiß ganz jung, vielleicht zwanzig . . .«

»Zwanzig Jahre! Zwanzig! – Einen Mann nehmen, der erst zwanzig Jahre alt ist! – Was für ein schrecklicher Gedanke! – Daran hatte ich niemals gedacht, wenn du mir diese Geschichte erzähltest . . . Und jetzt hab' ich sie gar nicht mehr gern . . .« –

Savinsky kam gegen fünf Uhr, nachdem er dem Fürsten einen kurzen Besuch gemacht hatte, zu ihr. Sie empfing ihn diesmal in einem kleinen Boudoir, das an das Wohnzimmer ihrer Mutter grenzte. Man hörte nebenan die Stimme der Fürstin, die mit General Wasiliew mit gewohntem Ernst ihre Nichtigkeiten besprach. Das Murmeln aus dem Nebenzimmer mischte sich mit dem eintönigen Summen des Samovars. – Noch bevor sie einander gegenüberstanden, waren Lydia und Nikolaus unruhig und nervös. Savinsky hatte seit mehreren Tagen, wenn er mit ihr zusammenkam, das Gefühl, sich auf gefährlichem Boden zu bewegen; kein Zeichen, kein Instinkt warnte ihn vor den Stellen, auf die er nicht treten durfte. Er fürchtete immer eine neuerliche Verstimmung Lydias. Wie war sie zu verhüten? Noch beim Betreten des Zimmers dachte er darüber nach, als er ihr aber ins Auge sah, war seine Freude, ihr wieder nahe zu sein, so groß, daß er alles andere darüber vergaß. Immerhin vermied er es, von Finnland und von der bevorstehenden Abreise seiner Frau zu sprechen. Er glaubte, Lydia darin verstanden zu haben, daß ihr jede Erwähnung einer Reise unerträglich sei; vermutlich deshalb, weil sie selbst Rußland nicht verlassen konnte! – Lydia war entzückend, herzlich und liebenswürdig, wie früher immer. Sie erzählte Savinsky all die tausend Kleinigkeiten, die in ihrem Leben Ereignisse bildeten. Von Lord Douglas fiel kein Wort. Aber bald, nachdem die Lebhaftigkeit der Anfangsunterhaltung verebbt war, entstand eine unbehagliche Spannung, die Savinsky rasch fühlte. Es schien, als wären sie beide in einem leichten Fieber. Aus Lydias Stimme glaubte er eine Spur von Befangenheit zu hören und ahnte unter der glatten Oberfläche ihres Geplauders eine Strömung geheimer bewegter Gedanken. Unvermitteltes Verstummen, gewisse Blicke, die, kaum bewußt geworden, schon abschweiften, zwei Hände, die keine Ruhe fanden, – – das waren die Wirbel an der Oberfläche, die ihn die tiefere Bewegung erraten ließen.

Savinsky selbst wurde durch Beobachtung dieser Zeichen von Nervosität bei dem jungen Mädchen noch verwirrter. Auch er zeigte Aufregung, Unruhe. Endlich vermochte er die wachsende Spannung nicht mehr zu ertragen; er erhob sich, ohne zu überlegen, stand auch sie auf. Er kam zu ihr heran, nahm ihre beiden Hände und sprach weich und kosend: »Was ist Ihnen, Lydia Sergijewna? Was geht vor? Bin ich nicht mehr Ihr Freund? Haben Sie kein Vertrauen mehr zu mir? Ich verstehe das alles nicht . . .«

Sie blickte ihn mit leichtgesenktem Kopf aus ihren großen Augen lange an, ohne zu sprechen. Eine beunruhigende Starre lag in diesen Augen und plötzlich sah Savinsky sie voll Tränen . . .

Das konnte er nicht ertragen. Ohne zu bedenken, daß man sie vom Nebenzimmer sehen könne, zog er Lydia in seine Arme und sprach in seiner Erregung alle die zusammenhanglosen Worte, wie man sie gebraucht, um weinende Kinder oder Frauen zu trösten.

»Lydia, Lydotschka, meine liebe, kleine Lydia, ich bitte Sie . . . fassen Sie sich, . . . aber, aber, warum denn so großer Kummer? – Was ist es denn? Weinen Sie doch nicht . . . Wenn auch die Tränen Sie noch viel schöner machen . . . Nun, nun, es wird schon besser . . . Sagen Sie mir doch, was Sie so quält . . . Nein, nicht mehr weinen, ich kann's ja nicht mitansehen. Wirklich, wenn Sie noch lang weinen, fang ich auch noch an . . . Denken Sie bloß der schöne Anblick von uns beiden . . .«

Und während er zu ihr herabgebeugt, halblaut auf sie einsprach und ihre Arme sanft streichelte, drückte er sie an sich und plötzlich fühlte er bei der Berührung ihrer schmiegsamen Gestalt, trotz seiner Gemütsbewegung, eine solch' seltsame Erregung, daß er sich ihr nur mit Mühe entziehen konnte. Lydias Wärme, ihr Fieber schienen in ihn überzuströmen, in sein Blut zu fließen. Dieser Umschwung seiner Stimmung war so unvermittelt heftig, daß er fast alle Herrschaft über sich verlor. Er hatte gerade noch die Kraft, das Mädchen sanft von sich zu drängen und in ein Fauteuil gleiten zu lassen.

Im Nebenzimmer raunten noch immer die klanglosen Stimmen, wie ein rasch hinabfließendes Gebirgsbächlein.

Lydia trocknete ihre Augen und wurde ruhig. Bald konnte sie wieder sprechen.

»Sie sind so gut, Nikolaus Wladimirowitsch . . . Ich muß wieder einmal um Verzeihung bitten . . . Ich weiß gar nicht, warum ich in den letzten Tagen so maßlos nervös bin . . . Glauben Sie nur nicht, daß ich bloß ein kleines Kind sei. Ich hab' viel überlegt. Hab' viel nachgedacht, zu viel gedacht . . . Das, glaub' ich, hat mich so erschöpft, aber jetzt ist es vorüber und ich hoffe, daß ich nie mehr so lächerlich wie heute sein werde.«

»Ja, ja, wir alle sind krank. Sehen Sie, Lydia Sergijewna, das bringen so die Zeiten mit sich. Ich selbst, ich erschrecke, wenn ich sehe, was alles ich imstande wäre . . . Vergessen wir, was geschehen ist, aber, wenn Sie sich genügend erholt haben, könnten Sie mir wohl die Ursache Ihres Kummers anvertrauen?«

Das Mädchen dachte eine Weile nach.

»Ich glaube, das Wesentliche kann ich Ihnen sagen . . . Ich weiß nicht, wieso es so plötzlich über mich kam, aber ich hatte das schreckliche Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein.«

Savinsky gab es einen Ruck, er wollte entgegnen. Sie kam ihm zuvor.

»Sie wollen einwenden, daß ich meine Eltern habe. Aber, Nikolaus Wladimirowitsch, meine Eltern haben ihr Leben hinter sich. Meines aber liegt noch vor mir und ich sehe nicht recht klar, nichts sehe ich, nur ein großes Alleinsein und dann eine trostlose, öde Leere . . . Dieser Gedanke ist fürchterlich.«

Sie verstummte, und auch Savinsky blieb lange still. Was konnte er diesem sehnsüchtig zuckenden, jungen Mädchenherzen geben? Konnte er sie denn durchs Leben geleiten? Er, der alt war und der nicht frei war? Nichts konnte er ihr geben und das Gefühl seiner Ohnmacht, ihren Schmerz zu lindern, erdrückte ihn.

»Liebste Kleine,« sprach er endlich. »Sie sind noch so jung. Man muß Geduld haben. Es wird wieder anders werden. Um die jetzigen schweren Zeiten zu ertragen, bin ich da. Sie wissen, daß ich Ihr Freund bin, daß Sie auf mich zählen können. Es ist nicht viel, sicher nicht, aber immerhin . . .«

Lydia unterbrach ihn lebhaft.

»Alles das weiß ich. Ich weiß, daß Sie mich wirklich lieb haben. – Aber auch Sie haben Ihr Leben gelebt, Sie haben Frau und Kinder . . .«

Und sie schien neuerlich ihre Ruhe zu verlieren. Savinsky fand tieftraurig keine Antwort . . .

In diesem Augenblick kam die Fürstin herein. Ob Savinsky ein bescheidenes Revolutionsdiner mit ihnen teilen wolle? – Savinsky lehnte ab. Er vermochte mit Lydia jetzt nicht in Gesellschaft anderer zu sein. Nachdem ihre Vertrautheit so weit fortgeschritten war, konnte ihn nur noch ein Alleinsein mit ihr befriedigen. –

Als er Lydia das nächstemal sah, schien sie die bewegte Szene, die sie einander so nahegebracht, vergessen zu haben. Der einzige Unterschied gegen früher, den Savinsky zu bemerken glaubte, war ein Anflug von Ernst in ihrem ganzen Wesen, etwas Bewußteres, als hätte sie einen Plan gefaßt, der ihr eine bestimmte Richtung gab. Von Lord Douglas war nie mehr die Rede zwischen ihnen. Von Finnland sprach er nur einmal, ohne seine Frau oder seine Kinder zu erwähnen, nur um zu sagen, daß er dort noch einiges zu ordnen habe. Die Nachrichten seien ungünstig. Man habe den Eindruck, auch da unmittelbar vor einer Krise zu stehen. Lydia nahm diese Mitteilungen ohne Entgegnung hin.

Durch einige Tage konnten sie nicht zusammen ausgehen. Eines Morgens – am Abend vorher hatten sie sich nicht gesehen – rief sie ihn zum Telephon. Zuerst hatte er Mühe, ihre Stimme zu erkennen. Klang und Ausdruck waren so ganz fremd. Er sagte es ihr auch und frug um die Ursache. Sie antwortete nicht darauf, aber in freierem Ton sagte sie ihm, sie hätte nachmittags keine Zeit, mit ihm zusammen zu sein, aber wenn er abends zu Hause bleibe, wolle sie ihn gegen sieben Uhr anrufen, um ein wenig mit ihm zu plaudern.

»Ich esse allein zu Hause und werde auf Ihren Anruf warten. Was aber soll ich den ganzen Tag anfangen, ohne Sie zu sehen?«

»Ach was, wir werden uns morgen sehen, Nikolaus Wladimirowitsch. Und heut' abend sprechen wir uns jedenfalls. Ich werde Ihnen etwas zu sagen haben.«

Die Stimme war wieder ernst geworden. Savinsky wollte das Gespräch fortsetzen, aber schon hatte Lydia abgeläutet.

 


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