Claude Anet
Lydia Sergijewna
Claude Anet

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Eines Abends ging sie zum Palais der Kscheschinskaja, auf das andere Ufer der Newa. Lenin, mit seinem wunderbaren Instinkt für eine wirkungsvolle Aufmachung, hatte sich sofort nach seiner Ankunft der Wohnung dieser durch ihren kaiserlichen Liebhaber berühmt gewordenen Tänzerin bemächtigt. Dort war jetzt das Mekka der Kommunisten, und die Regierung fand keine Handvoll Soldaten, um ihn zu vertreiben. Vom Balkon aus wiegelte er die Massen auf und versprach ihnen in kurzer Zeit die Vernichtung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, die Errichtung der Proletarierherrschaft und das Paradies auf Erden. Es war in Petersburg Mode geworden hinzugehen, um den gefürchteten Führer der Bolschewiki zu hören, und Lydia war viel zu neugierig, auf eine solche Sensation zu verzichten.

Es war ein wundervoller Tag. Ein klarer Himmel von unendlichem Blau wölbte sich über der Stadt und spiegelte sich in den Wassern der Newa, deren Quai die beiden jungen Leute entlang gingen.

Paul hielt sich stramm in seiner Junkeruniform. Ihn interessierte nicht Lenin, sondern nur Lydia. Ihr würde er auch bis ans Ende der Welt folgen, wenn nur der Krieg einmal aus wäre. Er war nur ein kleiner, harmloser und jetzt sehr unglücklicher Knabe. Solange der Krieg dauerte, durfte man an nichts anderes als an ihn denken. Er hatte fast mystische Gefühle für den Krieg, der ihm die erste und einzige Pflicht blieb. Aber wer kümmerte sich denn seit dem Umsturz noch um die Armee? Sie schmolz dahin, wie Schnee in der Sonne. Selbst in der Fähnrichsschule war der Glauben, der alle beseelt hatte, geschwunden, und jeder erwartete nach dem allgemeinen Zusammenbruch den unvermeidlichen Frieden, den die Revolution stempelte. Während selbst Offiziere schon die Front verließen, träumte der Junker Paul Volynski noch davon, hinzueilen, um sich mit dem Feind zu schlagen. Er wußte, daß General Brussilow im Südwesten eine Offensive plane und hatte um Versetzung zu einem der Regimenter, die daran teilnehmen sollten, gebeten. Aber würden sich denn überhaupt noch Soldaten finden, die ihren Offizieren folgen wollten? Paul, der viel Phantasie hatte, sah sich ganz allein über aufgewühlte Erde gegen die feindlichen Gräben schreiten, aus denen ihm ein Kugelhagel entgegenbrauste . . . Und Lydia müßte er verlassen. Würde er sie in Petersburg wiederfinden? Würde sie warten? Hatte denn das Leben ohne sie einen Zweck? Er war entschlossen, ihr eine Frage, von der sein Leben abhing, zu stellen. Aber von Tag zu Tag schob er es auf. So nahe und doch wieder so fern schien sie ihm; eine sehr liebe Freundin, aber so fern den Wünschen, die sein Herz bewegten. – Auch hatte er ihr noch eine Beichte abzulegen und sich geschworen, daß der Tag nicht zu Ende gehen dürfte, ohne daß er sich seiner Bürde entledige. Indessen hatten sie die Troitzkibrücke überschritten und näherten sich dem Palais der Kscheschinskaja. Vor dem Hause, das den Ausblick auf alle die Gärten hat, die sich bis zur Perspektive Kamenov-Ostrow erstrecken, drängte sich eine zahlreiche Menge. Bunt durcheinandergewürfelt standen Arbeiter und Bürger, Leute aus der Gesellschaft und Soldaten, Anhänger Lenins und Neugierige. Eine rote Fahne flatterte vom Dach, zwei andere schmückten den Balkon, auf dem der Prophet seinem Volk erscheinen sollte.

Lydia, die von dem Schauspiel nichts verlieren wollte, schlüpfte nach und nach bis in die vordersten Reihen der Wartenden. Sie hatte eine so behende Art sich durchzuschlängeln und verstand es, die Leute, die sie beiseite drängte, so lieb anzulächeln, daß man sie ohne Murren vorließ. Paul folgte knapp hinter ihr.

Zuerst erschien ein krausköpfiger Jude auf dem Balkon und begann die Menge aufzuwiegeln. Jemand in Lydias Nähe nannte seinen Namen: Sinowiew. Es war Lenins vertrautester Jünger und hatte mit seinem Meister unter dem Schutz der kaiserlichen Behörden vor vierzehn Tagen Deutschland durchquert. Sein großer, runder Kopf schien unmittelbar auf seinen Schultern zu sitzen. Seine Worte sprudelten mit einer schwindelerregenden Schnelligkeit hervor, als wäre er genötigt, in zehn Minuten alles das zu sagen, wozu er unter anderen Umständen wohl eine Stunde gebraucht hätte. Lydia starrte ihn mit offenem Mund an, und als er geendet hatte, wandte sie sich fassungslos zu ihrem Vetter. Sie hatte auf den Sinn der Rede gar nicht achten können, so gefesselt war sie von dem rasenden Lauf all der Worte, die einander überstürzten und alle von dem gleichen Haß getragen schienen. Beifallsklatschen ertönte in der Menge, die von einer solchen Kraftleistung hingerissen war. Plötzlich verdoppelte es sich: Lenin war erschienen! – Der Mann, der da auf dem kleinen Balkon stand und seine beiden weißen Hände auf das Gitter stützte, überraschte das Mädchen. Sie hatte einen mächtigen Volksführer erwartet, ein Ungeheuer in der Art eines Danton, dessen Bilder sie gesehen hatte, und nun war es nur ein harmloser Kleinbürger, der da herabblickte, sanft, verbindlich, lächelnd und salbungsvoll. Er war gut gekleidet, seine Wäsche war weiß und seine Krawatte sorgfältig gebunden. Er hatte kleine, ein wenig müde Augen, blonden gutgebürsteten Bart und Schnurrbart, und über seinen kahlen Schädel waren sorgfältig einige Haare gezogen. Auch die Art zu sprechen stimmte ganz zu seinem äußeren Eindruck. Zurückhaltende spärliche Bewegungen, kein Stimmaufwand, keines von all den blendenden Bildern, wie sie bei Volksrednern so beliebt sind und wie die Menge sie erwartet und bejubelt. Nein, in ruhigem Ton entwickelte er eine Reihe von abstrakten Folgerungen, die er durch schwache Handbewegungen oder dadurch unterstrich, daß er mit der geballten rechten Hand in die offene Linke hämmerte. Seine Rede war sehr kurz, aber der Beifall seiner Anhänger um so länger.

Als sie auf dem Heimwege die Brücke überschritten, verbarg Lydia nicht ihre Enttäuschung.

»Das also ist Lenin,« meinte sie zu ihrem Vetter. »Erscheint er dir so furchtbar? Mir macht er den Eindruck eines Bücherwurms. Ich glaube Danton und Robespierre müssen andere gewesen sein. Vor dem habe ich keine Angst . . .«

Aber Paul war ganz in seine eigenen Gedanken vertieft und hatte keine Lust, über Politik zu sprechen. Er dachte nur an das, was er Lydia sagen mußte, an die Beichte, die zu machen er entschlossen war. Es gab, wie er meinte, einen dunklen Punkt in seinem Leben, von dem er sich durch sein Geständnis reinigen mußte. Er war noch fast ein Kind, als er zur Armee gegangen war und dachte schon damals ausschließlich an den Krieg. Hinter der Front nahm er nie an den Unterhaltungen seiner Kameraden teil, die ihre erregten Nerven bei Wein und leichten Dämchen zu entspannen suchten. Dann kam er als Verwundeter in das Spital zurück; hier teilte er als Genesender das Zimmer mit einigen Offizieren. Zwei Mädchen aus der Gesellschaft, die Dienste als Rotekreuzschwestern machten, pflegten sie. Die eine hieß Anna Pawlowna. Die Schwesterntracht stand ihr gut, und die weiße Haube, die ihre schwarzen Haare verdeckte, umrahmte ein kleines blasses Gesicht, in dem zwei schöne braune Augen brannten. Paul hatte bemerkt, daß diese Augen seinen Blick suchten und stets lange auf ihm ruhten. Auch seinen Kameraden war es aufgefallen, und sie neckten ihn häufig damit. Diese Neckereien waren ihm gar nicht angenehm, und er antwortete niemals darauf. Der Schwester gegenüber war er ein wenig unsicher, mehr noch befangen und blieb kühl und abweisend. Wenn sie an seinem schon fast geheilten Arm den Verband wechselte, tat sie es mit unendlicher Sorgfalt und so langsam wie möglich; sie entblößte seinen knabenhaften Körper mehr als nötig gewesen wäre, und man wußte schließlich wirklich nicht, ob sie ihn pflegte oder liebkoste, wenn sie so lange über ihn gebeugt blieb. Richtete sie sich dann endlich auf, war sie noch bleicher als gewöhnlich. Einmal nun, an einem sehr, sehr heißen Sommernachmittag waren er und ein in Fieberträumen halb schlummernder Offizier allein im Zimmer. Anna Pawlowna kam, obwohl sie zu dieser Zeit nichts bei ihnen zu tun hatte, herein. Geräuschlos glitt sie durch den Raum und setzte sich an Pauls Bett, der dem einschläfernden Brummen einer großen Fliege lauschte, die gegen das Fenster stieß. Die Schwester flüsterte, aber ohne Zusammenhang, und plötzlich war sie über ihn gelehnt, hatte einen Arm unter seinen Kopf geschoben, während der andere sich unter seine Decke verirrte, und er fühlte zwei heiße Lippen an seinem Mund und eine spitze Zunge an seinen Zähnen. Das schien ihm ein Jahrhundert zu dauern. Endlich, als sich der zweite Kranke in seinem Bett stöhnend umdrehte, ließ sie ihn rasch los. »Wie ich dich liebe!« seufzte sie flüsternd und eilte davon. – Zwei Tage später, immer noch unter dem Eindruck einer unerklärlichen Beklemmung, hatte er das Spital verlassen.

Die Erinnerung an jene Stunde lastete schwer auf ihm und quälte ihn besonders, wenn er mit Lydia allein war. Er konnte sich nicht verzeihen, daß er nicht mehr ebenso rein sei wie sie selbst. Schon seit langem war er entschlossen, ihr alles zu beichten und sie um Verzeihung zu bitten. Erst dann, wenn er durch ihre Verzeihung wieder rein geworden, meinte er von seiner Liebe zu ihr sprechen zu können.

Sie kamen auf den Kay und hier brach Paul, der bisher geschwiegen hatte, plötzlich los. Er sprach mit ganz besonderer Ungeschicklichkeit und schilderte die Szene mit allzu eingehender Drastik. Es klang fast, als wollte er sich mit diesem Erlebnis rühmen; er fühlte dies selbst, wurde immer verwirrter und gab sich immer mehr Mühe, dies zu verbergen. Er schloß endlich mit den Worten: »Es war meine Pflicht, dir alles dies zu erzählen.«

Lydia betrachtete ihn ganz entgeistert. Ihr Gesicht war ernst geworden, sie zögerte keinen Augenblick mit ihrer Antwort.

»Ich finde deine Geschichte sehr widerlich und ekelhaft. Außerdem ist sie gar nicht interessant. Wozu erzählst du mir das? Was geht das alles mich an?«

Paul vermochte nur ungeschickte Entschuldigungen zu stammeln und kam verzweifelter denn je in seine Schule zurück. Lydia ging zuerst in ihr Zimmer, ehe sie ihren Vater aufsuchte. Die Erzählung Pauls hatte sie verwirrt, sie war ihr ebenso peinlich wie sie ihr kindisch erschien. »Er ist doch noch ein dummer Junge!« dachte sie. Und bei diesen Worten überkam sie plötzlich eine wehe Erkenntnis: daß auch sie selbst nur ein Kind sei und so ganz allein in dieser Welt stehe, in der unheimliche und furchtbare Mächte ihre Fesseln gelöst hatten. Die Revolution erschien ihr mit einem Male als ein böses Ungeheuer, das nach und nach tausend Opfer verschlingen werde. Wo gab es jemand, bei dem sie Schutz finden könnte? Wird sie diese bangen Zeiten so allein, ohne einen wahren Freund durchschreiten können? Noch nie hatte sie ein ähnliches Gefühl von Schwäche und Einsamkeit empfunden. – Als ihre alte Amme Katja ins Zimmer kam, fand sie Lydia in Tränen.

 

Fürst Volynsky hatte eine besondere Art die Ereignisse zu betrachten und zu beurteilen. Nichts von allem, was in der Stadt geschah, wunderte ihn. Er hatte schon lange über Petersburg, diese »verdammte Stadt«, ein Kreuz gemacht. Auch das Schlimmste konnte ihn nicht mehr überraschen. Petersburg war in seinen Augen eine Schöpfung des Antichrist, eine Stadt ohne Vaterlandsgefühl, voll von Juden und Ausländern, der Sitz eines ungeheuren, durch und durch fauligen Beamtenheers, überdies im Sumpf erbaut, ungesund, fieberdurchseucht, die Hälfte des Jahres in Finsternis getaucht, ein Herd moralischer Verderbnis, der alle reinen Elemente, die ganz Rußland ihm zusandte, infizierte und aus gesunden Menschen in kürzester Zeit Wesen machte, für die es in keiner Sprache einen richtigen Ausdruck gab. Mit einer gewissen verbitterten Befriedigung nahm er deshalb die unheilvolle Kette von Ereignissen, die sich in dieser Stadt abspielten, zur Kenntnis. Mit hämischer Genugtuung hatte er den begeisterten Empfang vermerkt, der Lenin bei seiner Ankunft auf dem Finnländer Bahnhof bereitet worden war, und hatte sich gewaltig darüber amüsiert, daß er sich gerade im Palais der Kscheschinskaja einnistete. Die Neuigkeiten, die man ihm vom Sowjet berichtete, und das Überhandnehmen der Juden dort, bestätigten nur seine Ansicht. »Wie die Schwämme nach einem Regen schießen sie hervor,« meinte er, »diese Fäulnis wird alles bedecken.« Aber es gab auch wieder Augenblicke, in denen er den Zorn des Himmels auf die Hauptstadt herabrief: »Möge doch kein Stein auf dem anderen bleiben, wenn nicht ganz Rußland verloren sein soll!«

Für gewöhnlich jedoch verzichtete er auf all diese grämlichen Freuden, denn eigentlich beschäftigte ihn doch nur eine Frage: Was wird auf meinem Gut geschehen? Er hatte einen bedeutenden ererbten Besitz im Smolensker Gouvernement, auf dem er geboren war. Nur ein einziges Mal war er seiner vergötterten Frau, der er sonst ganz ergeben war, mit einem unverrückbaren Willen entgegengetreten. Das war, als sie ihr Kind erwartete und er darauf bestand, daß sie auf dem Gute lebe und dort das Kind zur Welt bringe. Der Gedanke, daß sein Erbe in Petersburg das Licht der Welt erblicken könnte, wäre ihm unfaßbar gewesen . . . Die schöne Fürstin Helene nahm diese Verbannung mit größtem Widerwillen hin; es war auch zu hart für sie, auf die Großstadt mit ihren Unterhaltungen verzichten zu müssen. Aber dieses eine Mal blieb der Fürst unbeugsam, und Lydia wurde, wie der Fürst sagte, auf »wahrem russischem Boden« geboren. Seither verbrachte er jeden Sommer dort und unterbrach seinen Aufenthalt nur, um kurze Reisen ins Ausland zu machen, wenn er seine Frau, die an die deutschen Kurorte und die französischen Seebäder gewöhnt war, begleitete. Er hatte den Ertrag seiner Besitzung bedeutend gehoben. Holz, Hafer und Weizen waren ergiebige Einnahmequellen, aber das Hauptgeschäft war seine persönliche Schöpfung, die Milchwirtschaft. Er hatte sie einem Schweizer, namens Schwarz, unterstellt, der aus seiner Heimat und aus Dänemark Kühe bezogen hatte, um sie mit den einheimischen Rindern, deren Vorfahren einem Ahnen des Fürsten von Katharina der Großen selbst geschenkt worden waren, zu kreuzen. Schwarz hatte es schließlich zu einer Herde von vierhundert Rindern gebracht; der größte Teil der Milch wurde täglich nach Moskau gesandt, und der Rest diente zur Herstellung des in Rußland berühmten Gruyère. – Als nun die Bauern von dem Regierungswechsel erfuhren, begannen sie langsam sich zu rühren. Schon seit langem betrachteten sie Grund und Boden im stillen als eigentlich ihnen gehörend. Aber es standen ihren Wünschen bisher zu große Hindernisse entgegen, die sie nicht zu überwinden wußten. Jetzt war aber eine andere Zeit gekommen. Die Berichte von Schwarz wurden immer seltener und beunruhigender und gaben dem Fürsten viel zu denken. »Die Bauern fällen im Wald Bäume,« »sie haben sich Futter angeeignet« und schließlich kam eines Tages die Meldung, daß sie ein Dutzend Kühe fortgetrieben hatten. Beim Lesen dieses Berichtes schäumte der Fürst vor Wut, und die Scheite in seinem Kamin, von seinem Schürhaken grimmig bearbeitet, prasselten und knisterten so heftig, als teilten sie seinen Zorn.

Holz, Futter, Getreide, das alles war ihm nicht nahe gegangen, aber seine Kühe anzurühren, diese preisgekrönten, sorgsam ausgewählten und durch weise Zucht in jahrelanger Arbeit verbesserte Rasse, das konnte er nicht verwinden. »Dieser Schwarz, der Idiot, weiß sich auch nicht zu wehren!« rief er. »Meine Kühe in ihren dreckigen Ställen! Das will ich mal sehen! Ich muß sofort hin!«

Und es war unmöglich, ihn zur Vernunft zu bringen. Weder die ungeheuren Schwierigkeiten einer Reise auf den von Deserteuren überschwemmten Linien, noch der schlechter gewordene Zustand seiner fast gelähmten Beine, der ihn zwang, sich im Rollwagen zu dem Zug führen zu lassen, konnten ihn zurückhalten. Seine Frau hatte alle möglichen Anstrengungen gemacht, ihn dazu zu bestimmen, den Sommer mit Lydia in Finnland zu verbringen. Sie selbst wollte zwar nicht mitgehen, da, wie sie sagte, ihre Gesundheit selbst eine Reise von wenig Stunden nicht gestattete. Sie war fest entschlossen, die Revolution nicht zu beachten; schon der Gedanke an den von Soldaten wimmelnden Bahnhof war ihr unerträglich. Sie vermochte die unruhigen Zeiten, die hereingebrochen waren, nur in dem unberührten Frieden ihres Hauses zu überstehen. Denn hier herein drang kein Geräusch von draußen, und ihre kranken Nerven fanden nur hier die Ruhe, an die sie gewöhnt waren. Sie las keine einzige Zeitung und hatte ihrem Freund Vasiliew verboten, von den Vorgängen draußen in der Stadt zu erzählen. Wenn ihr Mann und ihre Tochter eine Villa in Finnland bewohnten, könnten sie sie besuchen kommen und so den Kontakt, der ihr teuer war, aufrechterhalten. Sie würden auch die Schupow-Karamin dort treffen, die schon abgereist waren. Aber durchaus nicht deshalb, weil sie an der nahen Zukunft verzweifelten; die schöne Natalie war nach wie vor von der friedlichen Entwicklung der Revolution überzeugt und bewunderte die wechselnden Helden des Tages mit außerordentlicher Schmiegsamkeit – augenblicklich war Kerenski ihr Abgott und Fürst Lwow war reif für den Kehrichthaufen –, aber Finnland bot ihnen die große Annehmlichkeit, mit Petersburg in engstem Kontakt zu sein . . .

Der Fürst hörte nicht auf seine Frau. Lydia ergriff mit Freude die Gelegenheit, einige Monate auf dem Land zu verbringen; Petersburg war ihr jetzt zuwider geworden. Die Revolution freute sie nicht mehr, sie wollte ihr entfliehen. Sie fühlte sich angegriffen und hoffte auf dem Land, wo sie so viele glückliche Sommer verbracht hatte, ihre Ruhe wieder zu finden. So reisten der Fürst und seine Tochter gegen den 10. Mai, einige Tage nach einem größeren Auflauf auf dem Newski, bei dem man zum ersten Male die wenig vertrauenerweckenden, bis an die Zähne bewaffneten jungen Bolschewiki gesehen hatte, nach Smolensk. General Vasiliew hatte doch noch so viel Einfluß gehabt, daß er ihnen durch allerlei geheimnisvolle Mittel ein Abteil zu reservieren vermochte, in dem sie die Fahrt gut überstanden.

Vierundzwanzig Stunden später bestieg Paul Volynski einen Zug nach Czernowitz, wo er sich der Armee Kowilows anzuschließen hatte. Er war zwar noch nicht Offizier, aber seiner Bitte an die Front geschickt zu werden, hatte man entsprochen.

 

Nikolaus Savinsky hatte seine Frau und seine Kinder in einer Villa in Finnland, etwa fünfzig Kilometer weit von Petersburg, untergebracht. Er blieb allein in seiner Wohnung und fuhr jeden Samstag im Automobil hinaus, um seine Familie zu besuchen. Sonja erkundigte sich jedesmal fieberhaft nach allen Ereignissen der Woche und bemühte sich die Sorgen, die er ihr möglicherweise verheimlichte, aus seinen Mienen zu lesen. Sie staunte über seine unveränderte Ruhe. Er kam stets mit derselben lächelnden und ironischen Heiterkeit, die sie allerdings mit vielen Zweifeln belauerte, aus der Stadt. »Ist das eine Komödie?« frug sie sich. »Will er mir wegen meines Zustandes jede Angst ersparen und täuscht er mir deswegen eine Ruhe vor, die nicht wahr sein kann?«

Savinsky berichtete die täglichen Vorfälle. Es schien ihm nichts von allem nahe zu gehen.

»Meine Teure,« meinte er, »das Alter, in dem man sich ereifert, liegt hinter mir. Ich bin im jetzigen Rußland, wie ein Gesunder unter Tollhäuslern. Ich verzichte schon lange darauf, meine Zeitgenossen ernst zu nehmen. Es sind bloß Kranke. Sobald sie gefährlich werden, verlasse ich sie ohne Bedauern. Wir können in England oder wo sonst es dir gefällt leben. Ich habe Pfunde. Das ist eine gute Valuta, die wird noch steigen. Boris wird schon als Bub die Fahrt nach Europa machen, zu der ja jeder Russe verdammt ist. Und wenn die Krise vorbei ist, werde ich nach Rußland zurückkehren, um zu arbeiten – wenn es dann noch ein Rußland gibt und wenn ich noch Lust an der Arbeit habe.«

Sonja bemerkte, daß er nur mit seinem Sohn ernsthafter sprach.

»Mein Kleiner«, sagte er eines Tages, »wir leben in einer bedeutsamen Zeit. Glaube nicht, was die Leute erzählen, glaube nicht, daß es sich bloß um eine vorübergehende Episode handelt und daß jenes Rußland, das ich kannte, jemals wiederkehrt. Es kommen neue Zeiten. Es ist ein gewaltiges Emporstreben von unten zum Licht. Die verborgene Seele des russischen Volles bewegt sich unruhig. Doch auch in der Gesellschaft, die neu ersteht, wird es immer wieder eine Aristokratie geben. Aber es wird nicht mehr die gleiche wie früher sein, die ihre Stellung und ihre Pflichten vergessen hatte. Die neue führende Klasse wird von Fleiß und Talent bestimmt werden. Sie wird tausendmal mehr Macht haben als jene, die heute, weil sie unfähig wurde, verschwindet. Jetzt handelt es sich nicht mehr darum, wie groß dein Erbe einst sein wird; vielleicht wird es bald vollständig entwertet; das hat gar keine Bedeutung. Wichtig wird nur deine Persönlichkeit sein, dein Können, die Kraft, die ich dir vererben kann. Wenn du etwas wert bist, kannst du in der Gesellschaft von morgen einen viel höheren Platz einnehmen, als meiner in der von gestern war. Arbeiten muß man, um ein Mann zu sein, Boris, das ist alles.«

Der Kleine hörte andächtig, hingegeben zu. Seine Augen glänzten vor Freude darüber, daß man in dieser Weise zu ihm sprach, daß er gewissermaßen über sein Alter hinausgehoben wurde. Er war stolz auf seinen Vater, er wollte so wie er werden.

»Schlimmstenfalls«, fuhr Savinsky fort, »wirst du für zwei Jahre in England in die Schule gehen.«

»Aber ich mag nicht geprügelt werden!« wandte der Kleine ein. Der einzige Begriff, den er sich von einer englischen Schule machte, war der, daß die Lehrer dort öfters handgreiflich werden. Sein Vater lachte.

»Die bedeutendsten Männer sind gehauen worden. Uns erscheint dies sonderbar, aber die Engländer, die vorzügliche Charaktereigenschaften haben, meinen, daß nur der ein richtiger Mann werden kann, der in seiner Jugend auch eine gute Züchtigung hinzunehmen wußte.«

»Niemals,« schrie Boris, »ich bin ein Russe, man wird mich nicht anrühren oder ich werde um mich schlagen und lieber sterben.«

»Aber, aber«, begütigte Nikolaus, »so wird es eben ein französisches Gymnasium sein. Dort lernt man besser als bei den Engländern und dein wertvoller Körper ist nicht durch schulmeisterliche Hiebe bedroht.«

 

In Petersburg zeigte Savinsky dieselbe, sich abseits haltende Gleichgültigkeit. Er mengte sich nicht in öffentliche Dinge. Die provisorische Regierung hatte oft seine Ratschläge eingeholt und auch seine Unterstützung erbeten. Er gab seine Meinung ab, obgleich er wußte, daß es zwecklos sei, aber er wollte keinerlei Stellung annehmen, wie hoch sie auch gewesen wäre. Er sah diese Regierung wie einen Korkpropfen auf den Wellen tanzen. Die guten Leute, aus denen sie bestand, waren ohne Einfluß, ohne Macht, und, schlimmer noch als dies alles, sie hatten keinerlei Willen, weder guten, noch schlechten. Sie arbeiteten in die Luft. Was konnte man von diesem Nichts erwarten? Ein einziger Mann ragte hervor, Alexander Feodorowitsch Kerenski. Aber auch bei diesem vermochte Savinsky keine Schaffenskraft zu entdecken; nur die Pose der Energie. Er verglich ihn mit einem schlauen Herkules auf dem Jahrmarkt, der unter dem Beifall der verblüfften Menge mit falschen, hohlen Gewichten jongliert. Überdies schreckte der gesunddenkende Savinsky vor den hysterischen Kundgebungen zurück, die allerorts, an der Front, im Lande und in der Hauptstadt das Erscheinen dieses von seinen eigenen Worten berauschten Schönredners begleiteten. Savinsky erwartete eine Katastrophe, aber er erwartete sie mit einem überlegenen Lächeln, mit jenem lächelnden Fatalismus, von dem kein richtiger Russe sich je zu befreien vermag. Er begriff, daß gewaltige, geheime, schwer faßbare und gewissenlose Kräfte ihr Spiel trieben und daß kein einzelner Mensch sie werde meistern können. Wie allen seinen Landsleuten fehlte auch ihm nicht eine Reihe von ausgeklügelten überfeinen Begründungen, mit denen er seine Ansicht bewies. »Wir machen eine ernste Krankheit durch, deren Ursachen sich im Dunkel der Zeiten verlieren. Wir können nur den Kranken beobachten, aber wir sind nicht imstande, den Prozeß zu beschleunigen, und noch weniger können wir voraussehen, wie er verlaufen wird. Wir können nur abwarten und zusehen.«

Im Juli dachte er schon, daß die Krise gekommen sei. Die Extremisten erschienen auf der Straße und waren für achtundvierzig Stunden Herren der Stadt. Dann siegte unbegreiflicherweise, fast ohne Kampf, die Regierung, und das Leben nahm wieder seinen ruhigen gesetzlosen Lauf. Savinsky fühlte als Folge dieser Zufallsentscheidung eine große Verachtung für Lenin, der mit der Gewalt in der Hand (tausend Maschinengewehre!) sich unfähig erwiesen hatte, eine Entscheidung zu erzwingen, und der versäumt hatte, rechtzeitig eine brauchbare Organisation zu schaffen, – und eine noch größere Verachtung für Kerenski, der durch einen unverhofften Sieg Herr der Situation geworden war und es nicht verstand, in diesem Augenblick seine Gegner zu vernichten, Lenin und Trotzki verschwinden zu lassen, um damit die ganze bolschewistische Partei zu erledigen und Rußland endlich in dieser so leicht aufgerichteten Ordnung eine kurze Atempause zu geben. Es fiel ihm nicht schwer, seiner Frau bei seinem nächsten Besuch zu beweisen, wie recht er mit seiner Gleichgültigkeit habe und wie wahrscheinlich es sei, daß die gegenwärtige Anarchie sich endlos lange ohne ernstere Zwischenfälle halten werde.

Aber im Grunde genommen interessierte Savinsky sich trotz aller seiner Worte und vielleicht ohne es sich selbst zu bekennen, ungemein für alles, was um ihn vorging, und er versuchte den ungewissen Lauf der Dinge wenigstens zu erraten. Es schienen zwei Seelen in seiner Brust zu wohnen, die des neugierigen Zusehers, der die Revolution, die dieses gewaltige Reich erbeben ließ, wie von einem anderen Planeten aus beobachtete und die des Mitwirkenden an all den Ereignissen, der er doch, wenn auch unfreiwillig war. Er war sich dieser Zwiespältigkeit seiner Ansichten bewußt, erkannte auch, daß sie unvereinbar seien, aber er litt nicht darunter. Niemals hatte er so eifrig, wie zu dieser Zeit, in seiner Bank gearbeitet. Er sorgte für die Zukunft, nützte alle seine hervorragenden Fähigkeiten aus, um aus den kleinsten Möglichkeiten Nutzen zu ziehen, spielte unter diesen schwierigsten Umständen mit gewagtem Einsatz ein kühnes Spiel und begann unauffällig, unter dem Schutz des allgemeinen Wirbels eine Reihe neuer Unternehmungen, die ihm, sobald die Ordnung wiederkehren würde, eine zehnfache Kraft geben und ihn zu der führenden Macht der russischen Finanzwelt machen sollten. Doch in alledem war eine unbekannte Größe, das Gelingen blieb letzten Endes immer dem glücklichen Zufall überlassen, alles war doch nur ein gewaltiges Hasardieren und – eben darum so verlockend, so reizvoll! Die angespannte Tätigkeit schien ihm, statt ihn zu ermüden, nur neue Kräfte zu geben. Er war frisch und voll Energie, und wenn er sein Bureau verließ, schritt er kraftvoll dahin von einer gewissen Freudigkeit erfüllt, die seine hohe Gestalt noch strammer aufrichtete und seine breite Brust noch stärker wölbte. Noch war er jung! Die Frauen bemerkten ihn noch, und im Vorbeigehen fühlte er manch schönes Auge lachend oder träumend auf sich ruhen. Er war dafür nicht unempfindlich, und obwohl er keinen Nutzen daraus zog, war ihm doch das Bewußtsein angenehm, seine alte Macht, der er einst viele angenehme Stunden verdankte, noch nicht verloren zu haben.

So ertrug er anfangs eigentlich besser, als er gedacht hätte, die Trennung von seiner Frau, die doch seit vierzehn Jahren stets um ihn gewesen war. Er ging jetzt abends öfter ins Restaurant oder zu Freunden und kam so auch wieder unter Leute. Die Petersburger Gesellschaft war zwar wie alljährlich um diese Zeit schon zerstreut, aber die großen Unannehmlichkeiten, die in diesen Tagen jede Reise mit sich brachte, hatten doch mehr Leute als sonst in der Hauptstadt zurückgehalten. Manche waren wohl durch die ersten Schüsse erschreckt über die Grenze geeilt und hatten sich in Finnland niedergelassen; andere auch hatten in ihrer Aufregung erst in Schweden Halt gemacht und alles was ihnen an Effekten, Schmuck und Geld erreichbar war, mitgenommen. Sie verkauften ein Stück ihres Besitzes nach dem anderen, um während der wenigen Monate, die ihrer Meinung nach der Aufenthalt im Ausland dauern werde, in Stockholm ein üppiges Leben zu führen. In der Hauptstadt blieb aber doch noch der größte Teil des alten Adels und der Geschäftsleute, die sich noch bemühten, dem Sturm die Reste ihres Vermögens zu entreißen. Es lag wie ein heiterer, unbekümmerter Rausch über dieser Gesellschaft, ein Verlangen danach – wenigstens vor den anderen – sich fröhlich den Schicksalsschlägen, die wie Hagel niederprasselten, darzubieten. So erfuhr man während des Essens vom Besitzer selbst, der es plaudernd berichtete, daß die Bauern sein historisches Schloß in X geplündert und aus den wertvollen Büchern des achtzehnten Jahrhunderts, die seine Bibliothek zierten, ein Freudenfeuer angezündet hatten. »Und da beschuldigt man sie stumpf und ungebildet zu sein,« schloß er seine Erzählung, »sie, denen doch die größten Geister, Rousseau und Voltaire, als Quelle von Licht und Wärme gerade gut genug sind!«

In dieser sonderbaren Geistesverfassung, die alle Dinge von einem neuen ungewohnten Standpunkt aus betrachtete, fanden sich auch die Frauen mit der ihnen angeborenen Schmiegsamkeit in die neuen Lebensbedingungen der Revolution. Sie waren immer sorglos gewesen und gleichgültiger als überall gegen die Gesetze einer Gesellschaft, die ja in allen ihren Feinheiten doch nur dem Westen nachgeahmt waren. Sie waren gewohnt, ohne viel Bedenken, ganz ihren Launen oder Leidenschaften zu folgen. Der Zwang, dem sie sich fügten, war nie ein drückender gewesen. Nun erhofften sie von der allgemeinen Umwälzung eine neue Aera, in der sie noch freier sein würden. Die Furcht, die sie anfangs gefühlt hatten und die noch nicht ganz von ihnen gewichen war, ließ sie die Freuden einer Existenz, die sie bedroht und schwanken fühlten, nur noch eifriger auskosten. Man spielte mit einer nie vorher gekannten Leidenschaft Karten, man tanzte unermüdlicher denn je und man verbrachte sogar, mit Mut gewappnet, manche Nächte auf den Inseln bei den Zigeunern. Die Gefahren eines solchen Abenteuers, die mögliche Begegnung marodierender Soldaten, Flintenschüsse, die man gewärtigen mußte – alles dies gab diesen einst alltäglichen Festen jene Würze, die die erregten Nerven jetzt verlangten.

Savinsky nahm wohl an diesem Leben teil, aber mehr beobachtend, als selbst mitgerissen. Er nahm nur die äußerlichen Eindrücke von diesen Szenen in sich auf; er ging wohl mit, aber ging nicht auf darin. Mit einem leichten Scherz entzog er sich zu lebhaftem Treiben und ging heim, wo ihn allerdings die Leere seiner großen Wohnung zu bedrücken begann. In klarblickenden Stunden sagte er sich wohl, daß es in diesen unruhigen Zeiten nicht klug sei, zu viel grübelnd mit sich allein zu bleiben und daß Zerstreuung, selbst für Menschen seiner Art, nötig sei.

Er kam mit Politikern zusammen, und sein unverbrauchter Trieb nach Klarheit suchte den Verkehr mit Männern aller Parteien. Programm und Aushängeschild bedeuteten ihm nicht viel, er hoffte und glaubte wahre Männer zu finden und suchte unermüdlich. Meist begegnete er neben allerdings oft ungewöhnlicher Intelligenz nur Unsicherheit, Schwanken und Verwirrung.

In dieser Zeit brachte ein Freund Andreas Spaßki zu ihm. Er stand, eben von der Front zurückgekehrt, noch ganz unter dem niederschmetternden Eindruck der Erfolge, die die unerhörteste bolschewistische Propaganda dort hatte; eine Propaganda, die den Soldaten einfach sagte: »Ihr wollt den Frieden? Hört auf zu kämpfen! Ihr wollt Grundbesitz? Geht mit euren Waffen in eure Dörfer und nehmt ihn euch!« Es war ein Wunder, daß überhaupt noch einige Millionen unter den Fahnen blieben. Kornilow, der Oberkommandierende, hoffte trotzdem noch, falls man ihm die Vollmacht dazu gäbe, eine neue, zwar kleinere, aber verläßliche Armee zu bilden, mit der er den Krieg fortzuführen vermöchte. Spaßki sollte in Petersburg durch eine kräftige Agitation die Bemühungen Kornilows unterstützen und trug sich mit dem Gedanken, eine große Zeitung »Das neue Rußland« zu gründen, die sowohl die bolschewistische Partei wie auch Kerenski, den sozial-revolutionären Romantiker, bekämpfen sollte. Savinsky behielt aus der langen Unterhaltung, die er mit Spaßki führte, einen ungemein günstigen Eindruck. Besonders die zuversichtliche, zielbewußte Tatfreudigkeit dieses Realpolitikers, die ihn ebenso sehr von den unklaren Schwärmern, wie von den bestürzten Führern unterschied, hatten seine Zuneigung gewonnen.

Seine leidenschaftliche und doch auch verachtende Neugier führte Savinsky auch mit Männern zusammen, die im Sowjet tätig waren. So lernte er Semeonow kennen, den ehemaligen Gardeoffizier und früheren Freund Spaßkis, der schon in den ersten Revolutionstagen zur bolschewistischen Partei übergeschwenkt war. Dieser Semeonow schien ihm von all den Leuten, die er ringsum sah, eine der bemerkenswertesten Personen zu sein. Zunächst war es schon überraschend, bei diesem Agitator Lenins die besten Umgangsformen und die Gewohnheiten der guten Gesellschaft zu finden; überdies war er sehr gebildet und auf zahlreichen Gebieten ungemein belesen. Er imponierte durch die eisige Kälte seiner Schlußfolgerungen, durch das mathematisch genaue Ineinandergreifen seiner Gedanken, durch die Gewandtheit seiner Rede und durch die Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte, von denen aus er die Situation Rußlands betrachtete. Die treffenden Vergleiche, die er mit ähnlichen Krisen der alten und neuen Geschichte anstellte, der völlige Mangel jeden Gefühls in seinen Worten und endlich die Schamlosigkeit, mit der er behauptete, keine menschliche Frage, sondern nur politische Zweckmäßigkeit anzuerkennen, verblüfften. Damit Hand in Hand ging eine nie versagende geistige Schöpfungskraft und ein gewisser spöttischer Einschlag, der seinen Reden eine seltsame Würze gab.

Zu Nikolaus Savinsky, dessen Vertrauen ihm wichtig war, sagte er:

»Seien Sie versichert, Nikolaus Wladimirowitsch, daß wir den Bolschewismus nicht vermeiden werden. Sie kennen doch die russische Seele; sie ist von dem bei unserm Freunden, den Franzosen, so beliebten Weg der goldenen Mitte weit entfernt; sie hat die Tugend, Extreme zu bevorzugen, sie fühlt sich durch jede Gewalt angezogen und überläßt sich ihr gerne. Sie schreckt vor nichts zurück. Der Kommunismus aber ist die Reinkultur des Absolutismus. Darin liegt eine Möglichkeit des Erfolges . . . Vielleicht ist er eine Utopie, eine nicht verwertbare Theorie? Glauben Sie nur nicht, daß dies einen Russen abschrecken könnte. Im Gegenteil, unsere Russen lieben es zu beweisen, daß ihnen nichts unmöglich ist. Es ist eine wundervolle Kraft in diesem Volk: es hat den Glauben an sich. Es will gerade das versuchen, was noch niemals versucht wurde. Und wie religiös ist es! Es umarmt die ganze Welt. Wer war es, der einst sagte, ein Russe könne nicht glücklich sein, wenn er nicht sieht, daß die ganze Welt seine Freude teilt? So wird er auch dem Weltkommunismus entgegenstreben und in der Wüste wird er Lichtsignale einrichten, um sein Glück den anderen Planeten mitzuteilen; erst dann wird er ruhig atmen. Und in Lenin erkennt er einen Mann von gleichem Blut. Lenin bleibt nicht auf halbem Wege stehen, er geht bis ans Ende. Nichts kann der russischen Seele besser gefallen . . . Was aber habt Ihr als Ersatz zu bieten? . . . Als die Revolution ausbrach, begriff der Bauer zwei Dinge: daß sie ihm Frieden und Landbesitz bringen müsse. Ihr aber versteht weder Krieg zu führen, noch Frieden zu schließen, und Grund und Boden – gehören heute niemand! Wie wollt Ihr, daß unser russischer Iwan Euch folgen soll? . . . Uns aber, uns versteht er bei dem ersten Wort. Wir werden mit ihm siegen.«

»Aber halten Sie den vollständigen Kommunismus, wie ihn die Sozialdemokraten lehren, gegenwärtig in Rußland für möglich?« warf Savinsky ein. »Es scheint mir, soweit ich die Schriften von Marx im Gedächtnis habe, daß ein Kommunismus nur in einer bis zur höchsten Blüte entwickelten und industrialisierten Gesellschaft durchführbar ist. Wir in Rußland sind weit davon entfernt. Hier haben Sie eine gewaltige Überzahl unwissender Bauern und kaum einen Arbeiter auf dreißig von ihnen! Die Industrie steckt in den Kinderschuhen. Schließlich hat der Krieg uns jetzt ganz zugrunde gerichtet. Wo bleibt da der Zustand der Überproduktion, der Ihrem Propheten nach die vollständige Sozialisierung einleiten soll?«

»Damit befasse ich mich nicht. Ich betrachte die Situation nur vom politischen Standpunkt. Die einzige Partei, die heute Erfolg haben kann, ist jene, die Land und Frieden verspricht. Warum habt Ihr uns dieses herrliche Programm überlassen? . . . Ich halte mich an die, welche Erfolg haben und deswegen bin ich Bolschewik. Wenn der Kommunismus undurchführbar ist – nun schön, dann werden wir keine Kommunisten mehr sein, sobald wir an der Macht sind. Aber die Macht werden wir haben, die Macht über Rußland, eine ganze Welt wird damit uns gehören! Begreifen Sie auch recht, was das bedeutet? Einmal an der Herrschaft werden wir schon zu steuern verstehen. Aber wenn Sie ein Schiff lenken wollen, müssen Sie erst drinstehen und das Steuer in der Faust halten. Und darauf bereite ich mich vor. Alle geistigen Kräfte werden wir nötig haben, Sie nicht ausgenommen, mein verehrter Nikolaus Wladimirowitsch. In wenigen Monaten wird es zu wählen gelten: auswandern oder mit uns arbeiten. – Ein Emigrant ist gewiß das Schrecklichste auf der Welt; aber ein Russe in der Fremde verliert jede Existenzberechtigung. Der Russe ist wie Antheus; er hat nur Kräfte, wenn sein großer Fuß in heimatlicher Erde wurzelt. Sie sind viel zu sehr Russe, um unser ›reiches und großes Land‹ verlassen zu können. Ich sage es Ihnen, Nikolaus Wladimirowitsch, so und nicht anders wird es sein: wenn Sie vor der Wahl stehen, dann werden Sie lieber zu uns kommen, als nach London oder Paris zu gehen!«

Savinsky lächelte. Als Semeonow ihn verlassen hatte, sann er noch lange über diesen aus Ehrgeiz zum Bolschewismus Bekehrten . . . »Dieser Mann,« sagte er sich, »wird durch keine sentimentalen Skrupel aufgehalten werden. Wenn er zur Macht kommt, wird er nicht zögern, die Guillotine vor dem Winterpalais zu errichten. Wenn es viele junge Leute seiner Art gibt, werden wir vielleicht wirklich Lenin als roten Zaren Rußlands erleben.«

Indes überstürzten sich die Ereignisse in gewaltsamem Lauf in dem von Semeonow prophezeiten Sinne. Die Verhaftung des Generals Kornilow hatte der Bolschewikenpartei neue Kräfte gegeben. Sie besaß jetzt schon die Majorität im Petersburger Sowjet, und ihre Zeitungen kündigten unverhüllt den bald bevorstehenden Staatsstreich an.

Die Stadt selbst aber blieb trotz der hochgehenden Wogen politischer Agitation ruhig. Sie lebte mechanisch weiter, ein jeder bekümmerte sich nur noch um seine persönlichen Geschäfte, um sein eigenes Vergnügen und wartete, – worauf wußte keiner, aber auf etwas, das unaufhaltsam kommen mußte . . .

Aber dieses Warten war furchtbar. Der Boden schien unter den Füßen zu entschwinden. Was würde dieses schreckliche Morgen bringen? Jeder Tag war voll neuer Überraschungen und Schrecken. Savinsky, der seine kühle Überlegung nicht leicht verlor, beobachtete auch an sich, daß seine Nerven nachgaben.

Es war ein sonderbarer Wechsel von Augenblicken vollster Erschlaffung und solchen überreizter Tätigkeit; und dieses Auf und Nieder brachte eine seltsame Bewegtheit in sein Leben, aus dem zumindest die Langeweile verbannt war. –

Die Schupow-Karamin waren nach Petersburg zurückgekehrt. Die schöne Natalie hätte Kerenski, den sie noch vor kurzem verehrt hatte, jetzt am liebsten auf dem Scheiterhaufen gesehen. Ihrer Meinung nach war nichts als Eitelkeit an ihm und er hätte die Revolution nur gemacht, um im Winterpalais im eigenen Bett des Zaren schlafen zu können. Um diese kindische Sehnsucht zu befriedigen, hatte er nicht gezögert, Rußland in einen Abgrund zu stürzen. Nur dem Gedanken lebend, den Diktator von dem Thron zu verjagen, auf den er geklettert war, schrie sie laut nach den Bolschewiki. »Lenin wird diesen kleinen Narren, wie er es verdient, bestrafen,« sagte sie. Sie vertrat die kühnsten Gedanken. Rußland könne nur durch eine neue Revolution aus dieser Krise befreit werden; nur ein Übermaß an Leiden könne ihm die Gesundheit wiedergeben. Ein Monat unter Lenin wäre das Heil. Solange der Kommunismus das ersehnte Ideal bleibe, fasziniere er das ganze Volk; einmal in die Tat umgesetzt, würde jeder einsehen, daß er zu nichts führe, und von dem mißlungenen Versuch der Sozialisierung würde man endlich und mit einem einzigen Ruck zu dem früheren monarchistischen Zustand zurückkehren, zu jener Autokratie, die allein Rußland groß gemacht hatte. Sicherlich würde die Herrschaft der Bolschewiki furchtbar zu ertragen sein, aber es sei eine notwendige Übergangszeit . . . Viele Freunde Natalies waren der gleichen Meinung.

Indessen traf sie schon ihre Vorsichtsmaßregeln, um sich während der unvermeidlichen und peinlichen Regierung Lenins ein erträgliches Leben zu sichern. Sie führte einen politischen Salon. Was hätte sie nicht darum gegeben, Trotzki bei sich zu empfangen! Aber dieser wilde, jähzornige, schlecht erzogene Mann, übrigens ein Jude, blieb unnahbar. Als Ersatz nahm sie, was sie gerade fand, und Savinsky war nur wenig überrascht, Semeonow, von dem man eben viel zu sprechen begann, eines Tags bei ihr zu treffen.

In der luxuriösen Wohnung der Schupows fühlte sich der Gardeoffizier bald vollkommen zu Hause. Er gab sich hier ganz als Staatsmann. In einem großen Klubfauteuil sitzend, ein Bein über das andere geschlagen, weit nach rückwärts gelehnt, zitierte er, mit seinem kühlen Blick die Gesichter prüfend und mit einem halben Lächeln auf seinen schmalen Lippen, Machiawell, Talleyrand und Robespierre, Hegel und Karl Marx und würzte mit kleinen Scherzworten die extremsten Theorien, die er seinen Zuhörern vorsetzte. Er schien sich, nach seinen Worten zu urteilen, rein theoretischen Gedankenübungen zu überlassen, und auf dieses Gebiet folgte man ihm mit Interesse in einer Art Ideenrausch, der nichts von der Möglichkeit einer Verwirklichung ahnen wollte. Eines Tags unterbrach Spaßki, denn auch ihn hatte die schöne Hausfrau heranzuziehen verstanden, den Lauf dieser Vorträge durch den bescheidenen Einwurf:

»Ihre Revolution wird viel Blut kosten.«

»Zweifellos,« erwiderte Semeonow kalt. »Aber die erste Revolution, jene von Kerenski, scheiterte gerade daran, daß sie die Todesstrafe kassierte. Großes schafft man eben nur durch Gewalt, und Blut ist das notwendige Baumaterial der neuen Gesellschaft.«

Obgleich man an die Verwegenheiten in der Redeweise Semeonows schon gewöhnt war, durchlief doch bei diesen Worten ein Frösteln die alten Vertrauten der Schupows. Natalie sprach mit einem reizenden Lächeln und einem Aufblitzen ihrer auf den bolschewistischen Theoretiker gerichteten Augen:

»Es ist wirklich ein Glück, Leo Borissowitsch, daß wir zu Ihren Freunden zählen. Sie werden uns leiten. Gewiß werden Sie auch für so eine arme unnütze Biene, wie ich es bin, eine Zelle finden, in der sie für das Glück aller arbeiten kann. Das Bewußtsein, ein tätiger Teil eines gewaltigen und gut geleiteten Ganzen zu sein, einem Ideal zu dienen, muß wundervoll sein. – Aber was werden Sie mit mir anfangen? Wozu kann ich wohl taugen? – Ich möchte nicht gerne Wäsche waschen, ich würde es auch sehr schlecht machen, auch nicht Kleider nähen . . .«

Sie zupfte geziert verlegen an ihrem Rock.

»Sie werden meine Sekretärin, Natalie Iwanowna,« unterbrach sie Semeonow. »Ich rate Ihnen, schon von morgen an Schreibmaschine und Stenographie zu lernen.«

Wäre dies in einem leichten Plauderton gesagt worden, dann hätte man darüber hinweggleiten können, aber diese Worte fielen so trocken, mit so kalter befehlender Stimme, daß der kleine Zwischenfall bei seinen Zeugen den peinlichsten Eindruck hinterließ und eine bestürzte Stille entstand.

Als Spaßki und Savinsky gemeinsam das Haus verließen, sagte Savinsky nach einem langen Schweigen, als beende er damit eine lebhafte Reihe ungesprochener Gedanken:

»Na, Ihr Freund Semeonow ist aber ein nettes Ungeheuer!«

Spaßki lächelte.

»Wenn Sie es so ausdrücken wollen. – Er ist ein besessener Streber! – Im übrigen sehr klug. Er ist ein ebenso überzeugter Kommunist wie Zarist und würde Ihnen mit der gleichen zwingenden Logik beweisen, daß dies nur scheinbar zwei gegensätzliche, eigentlich aber gleichbedeutende Begriffe sind und daß man letzten Endes beide sehr gut vereinigen könne. Vorläufig ist seine ganze Haltung bloß eine Spielerei, aber wenn er im Kommunismus seinen Wunsch erfüllen kann, die Kraft, die er in sich fühlt, auszunützen, wenn er dort den Weg sieht, der – ich weiß zwar nicht wie – zu irgendeiner Größe führt, dann wird er sich ganz hineinstürzen, ohne weiter nach rechts oder links zu sehen. Dann wird er furchtbar sein und wenn es ihm nötig erscheint, Sie und mich und uns alle hängen . . . Er ist um so gefährlicher, weil er anständig ist und man ihn nicht kaufen kann, weder durch Geld, noch durch Weiber, noch durch Wein. Er hat kein Verhältnis, keinen Freund, er lebt wie ein Asket. Ich glaube er hat noch nie eine Frau berührt . . . Hüten Sie sich vor Menschen ohne Leidenschaften, Nikolaus Wladimirowitsch!«

 

Mitte Oktober brachte Sonja Savinskaja einen Sohn zur Welt, der den Namen Basil erhielt. Es war diesmal eine schwere Niederkunft, und der Arzt fürchtete Komplikationen. Nikolaus verbrachte zehn Tage an dem Krankenlager seiner Frau, um das Ende der kritischen Zeit abzuwarten. Als es ihr besser ging, machte er mit seinen Kindern lange Ausflüge in die Wälder. Die Luft war schon rauh, man fühlte den nahen Winter.

Zuerst hatte Savinsky mit Freude die Ruhe geatmet, die er in der finnischen Landschaft fand. Er meinte, tausend Meilen weit von dem doch so nahen Petersburg zu sein; kein einziger Widerhall von all dessen Unruhe drang in diese stillen Wälder. Bald aber fühlte er Langeweile. »Trotzdem ich friedlich bei meiner Frau und meinen Kindern lebe, die ich liebe?« fragte er sich und stutzte bei diesem letzten Wort. »Liebe ich Sonja so, wie ich meine Kinder liebe?« frug er sich. »Ein schönes Thema zum Grübeln. – Sicherlich habe ich sie geliebt. Die Frauen, die ich vor ihr kannte, waren mir bloß ein reizender Zeitvertreib, die angenehmste Art der Zerstreuung. Sonja war mir etwas anderes, sie hat mein Herz erfüllt. Sie erfüllt es noch immer, aber nicht mehr in der gleichen Weise. Gewiß ist dies die Folge der Gewohnheit und auch – warum es leugnen – ein Zeichen des Alters. Es sind doch schon fünfundvierzig Jahre, die vorbei sind; ein großer Teil meines Lebens ist zu Ende, und doch kann ich mich nicht beklagen, ich habe nur die Freuden der Liebe gekannt, ohne ihre Leiden. Jetzt kann ich mit einer teuren Gefährtin und heranwachsenden Kindern langsam dem Alter zuschreiten . . .«

Er liebte es nicht, an die Vergangenheit zu denken, und dies war, ohne daß er sich darüber klar wurde, der beste Beweis seiner vollen Kraft und Gesundheit. Aber heute stimmte ihn der Gedanke, daß der schönste Teil seines Lebens vorbei sei, plötzlich traurig. Er sah auf die schwarzen Fichten, die ihn umgaben und deren Zweige vom kalten Nordwind zu zittern schienen. Die Landschaft selbst lenkte die Gedanken auf den Tod, wird doch das ganze Leben ringsum während des langen nordischen Winters verlöschen.

»Aber diese Wälder werden wiedererstehen,« dachte Savinsky schmerzlich, »die kahlen Birken werden wieder junge, zarte Blätter tragen; wilde Gräser werden diese nackte Erde wieder bedecken, Blumen werden sich im lauen Maiwind wiegen. Der Frühling kommt für die ganze Natur, nur für mich nicht mehr . . .«

Und plötzlich sehnte er sich nach Petersburg zurück. Wohl war dort das Leben erbärmlich, unruhig und es zerrte an den Nerven; aber es war doch Leben, Leben voll Bewegung und Macht; Leben, das einen oft so kraftvoll mitriß, daß der Atem stockte! Er schauderte bei dem Gedanken an ein langes Exil im Ausland. Ein Nichtstun voll Luxus in den großen internationalen Hotels erschien ihm unerträglich. Die Erinnerung an die Voraussage Semeonows kam ihm. »Sollte er recht haben,« frug er sich, »werde ich am Tage der Entscheidung Rußland, selbst unter Lenin, vorziehen?«

Er lächelte. Diese Gedanken waren romantisch, zwecklos. Nein, er würde, falls es nötig wäre, ins Ausland reisen. Aber zuerst mußte er seine Angelegenheiten in Ordnung bringen. Noch an diesem Abend kündigte er Sonja seine Rückkehr nach Petersburg für den nächsten Tag an. Um sie zu beruhigen, sagte er, daß er die Wohnung instandsetzen wolle und daß sie, wenn die Dinge wie bisher verlaufen, sobald sie genesen sei, etwa Mitte November mit den Kindern werde heimkehren können.

 

Bei seiner Rückkehr nach Petersburg in den letzten Oktobertagen empfand Savinsky eine grimmige Freude, als er den fieberhaften Pulsschlag der Stadt wieder fühlte.

Der Herbst sah eine täglich verschlimmerte Lage. Nebel verdüsterten den Himmel, und die Hoffnung in den Herzen wurde matter. Nur eine Partei entfaltete eine unheilverkündende Tätigkeit: die Bolschewiki. Der Inhalt ihrer Zeitungen wurde unerhört aufreizend; sie kündeten unverblümt einen baldigen Gewaltstreich an. Ihre roten Garden exerzierten öffentlich mit Waffen, während das Oberhaupt der Regierung, A. F. Kerenski, auch weiter seine wohlklingenden Reden hielt. Auch von monarchistischen Verschwörungen hörte Savinsky; in den Salons summte es davon. Aber, wenn er den Andeutungen nachforschte, fand er nur unklare Vermutungen dahinter und einen neuen Beweis der allgemeinen Unruhe. Und er begann selbst zu fürchten, daß die Herrschaft der Kommunisten nicht zu verhindern sein werde. War es übrigens wünschenswert, daß die Bolschewiki die vorteilhafte Rolle einer Oppositionspartei behielten? Wie lange würden sie sich halten können, wenn sie selbst an der Macht wären? Die Szenen des Revolutionsdramas wechselten immer schneller; nichts blieb bestehen, auch die Kommunisten würden diesem allgemeinen Los nicht entgehen und ihre Zeit würde rasch um sein.

Mit diesen Betrachtungen kam Savinsky der These Natalie Schupows sehr nahe. Aber dies war ja doch nichts anderes, als eine rein theoretische Folgerung. Die Bolschewiki, einmal an der Macht, würden eine rücksichtslose Gewaltherrschaft führen. Auf allen Seiten hörte man schon jetzt das furchtbare Wort: Terror. Und hinter diesem Wort sah man Bilder aufsteigen, die alle Herzen mit Entsetzen füllten. Die Ankündigung des bevorstehenden Staatsstreiches lastete furchtbar auf den Menschen und hemmte alles Leben; man kam so weit, daß man schließlich die Ausführung und das Gelingen herbeiwünschte, nur um von diesem gräßlichen, entnervenden Warten befreit zu sein.

Savinsky blieb von dieser schwarzen Stimmung, die die Stadt beherrschte und gleich einer Seuche von einem auf den anderen übertragen wurde, nicht verschont. Trotz der vermehrten Unruhe, die jedes Zusammenkommen mit den verstörten Menschen mit sich brachte, konnte er sich jetzt immer schwerer dazu entschließen, allein zu bleiben. So verbrachte er viel unnütze Zeit mit zwecklosen Unterhaltungen, – nach denen er gegen die anderen und gegen sich selbst nur noch gereizter wurde. Und oft legte er sich die Frage vor, wozu er eigentlich noch in Petersburg bleibe, wo ihn, soweit er dies beurteilen konnte, nichts zurückhielt. –

Der Herbst, der traurige, nordische Herbst, machte Fortschritte; Schneegestöber wechselten mit Regenschauern und Nikolaus Savinskys Gedanken glichen dem Wetter und waren ebenso trübe. Eines Spätnachmittags, als er müde und entnervt sein Bureau verließ und ihm vor der unerträglichen Öde seiner leeren Wohnung graute, beschloß er eine Stunde bei Natalie Schupow-Karamin zu verbringen, die er seit seiner Rückkehr nach Petersburg nicht gesehen hatte. Er ging die Newski-Perspektive entlang. Die großen Bogenlampen, von denen nur jede zweite brannte, warfen ein bleiches Licht auf die Fußsteige und die Menge, die dort unausgesetzt auf und nieder ging. An der Ecke des Hotel Europe schrien die Zeitungsjungen ihre Blätter aus; die Straßenbahnen waren bis zu den Trittbrettern überfüllt. Ein ungewohntes Leben, eine fühlbare Rastlosigkeit zeigte das Straßenbild und doch lag es wie eine bange Scheu über dem lärmlosen Gewimmel. Alle Vorbeigehenden schienen gleich schlechter Laune; die Luft war schneidend und nebelig. Zerfließender Schnee machte das Pflaster glitschig. Savinsky dachte an die finnische Villa, die seine Frau und seine Kinder behütete . . . Und in Europa gab es Länder, weit weg vom Krieg, wo noch heiße Sonne schien. Er sah Granada vor sich mit seinen duftenden, trockenen Hügeln. Aber sogleich sagte er sich auch: »Ich würde dort vor Langeweile sterben!« –

Bei Natalie Iwanowna war zahlreiche Gesellschaft. Savinsky wurde zuerst vom Hausherrn mit Beschlag belegt, der, ihn in einem kleinen Salon zurückhaltend, wegen verschiedener Geschäfte, die ihm Sorgen machten, um seinen Rat bat. Eine schwedische Finanzgruppe wollte seine Eisenwerke im Ural erwerben.

»Verkaufen Sie,« riet Savinsky, »aber lassen Sie sich den Betrag in Stockholm erlegen. Sie werden eines Tages froh sein, schwedische Kronen zu haben.«

Aber Schupow glaubte an ein Steigen des Rubels. Er wollte Petersburg aus sehr dunklen Gründen nicht verlassen, besonders ein halbverhungertes und von der Revolution halb zugrunde gerichtetes Petersburg nicht, in welchem er sicher sein konnte, zu Schleuderpreisen und mit einer durch die allgemeine Unordnung gesicherten Straflosigkeit seine Laster befriedigen zu können. Tatsache war, daß man ihm wiederholt in den armen Vierteln weit draußen in der Vorstadt begegnet war, wo er, schlecht gekleidet, unter den spielenden Kindern Opfer für seine widerlichen Begierden suchte. –

Savinsky verließ ihn und trat in den Empfangsraum, in dem Natalie herrschte. Sie war an diesem Tage stark umlagert und kaum eingetreten, frug Savinsky sich, verstimmt wie jedesmal, wenn er dieses Haus betrat, welche unselige Idee ihn wieder zu dieser Frau, für die er doch gar keine Sympathie fühlte, geführt hatte. Er begrüßte sie und wollte sich gleich wieder zurückziehen, aber Natalie war keineswegs gesonnen auf die Gesellschaft eines so angesehenen Mannes so rasch zu verzichten und bat ihn, ein Fauteuil heranrückend, bei ihr Platz zu nehmen. Dann rief sie fröhlich einem jungen Mädchen, das, Savinsky den Rücken kehrend, beim Büfett hantierte, zu:

»Lydia Sergijewna, seien Sie so lieb, einen Tee für Nikolaus Wladimirowitsch.«

Eine Minute später kam Lydia, ein Glas Tee in der Hand, zu Savinsky. Er sah sie und erkannte sie sofort. Er hatte sie nicht vergessen, weder ihre Anmut, noch ihre Angst, noch das kindliche Herz, das gegen seine Hand geklopft hatte, als er sie an jenem ersten Revolutionstage auf dem Michaelsplatze aufrichtete. Er nahm den Tee, reichte ihr die Hand und sprach, sich verbeugend:

»Wir kennen uns, Lydia Sergijewna. Nur Ihr Name war mir bisher fremd. Sie erinnern sich doch noch an mich? Jetzt, da ich Sie wiedergefunden habe, lasse ich Sie nicht so bald wieder fort. Kommen Sie, wir wollen in einem stillen Winkel plaudern.«

Und ohne die Hand des jungen Mädchens freizugeben, zog er Lydia, die sich nicht sträubte, in ein anstoßendes Boudoir, das leer war; hier herrschte eine Ruhe, die durch das Stimmengewirr, das aus den Nebenräumen drang, nur noch verstärkt wirkte. Ein gedämpftes Licht erhellte den behaglichen Raum und Savinsky fühlte zum erstenmal an diesem Tage ein Aufatmen, ein Loslösen seiner Nerven von der Umgebung, als hätte ihn der Zauberteppich eines Magiers plötzlich hundert Meilen weit von Petersburg und der Revolution entführt. Er erkundigte sich bei Lydia, was sie seit jenem Tage, als sie in den Wirbel der Menge geraten war, gemacht hätte. Ob die damaligen Erfahrungen sie von ihrer Neugier geheilt hätten? Ob sie eingesehen habe, daß sich ein junges Mädchen ihrer Art nicht in die Gefahren der Straßentumulte wagen dürfe? Er sprach halb scherzhaft, halb in ernstem Ton.

»Immer werde ich nicht zur Stelle sein, um Sie aufzulesen,« sagte er, »außer Sie nehmen mich als Ihre Leibwache in Dienst und verlassen ohne mich nicht das Haus.«

»Das möchte ich ganz gern,« erwiderte Lydia. »Ich dachte seit damals oft an Sie und ich bin sicher, daß ich in Ihrer Gesellschaft niemals und vor nichts Furcht hätte . . . Obwohl ich ganz schrecklich feige bin!« fügte sie lächelnd hinzu, indem sie ihn aus ihren großen Augen mit ein wenig zurückgelehntem Kopf voll ansah. Wieder fühlte sie in seiner Nähe jenes Gefühl der Sicherheit, das sie damals in der Michaelstraße in seinen Armen plötzlich empfunden hatte. Seine bloße Gegenwart schien zu genügen, um alle Angst und Unruhe zu vertreiben, als lebte er allein fern von allen Sorgen und als könnte er durch die von ihm ausstrahlende Kraft seine heitere Ruhe auf die wenigen Auserwählten, die in seiner Nähe leben durften, übertragen. Schon fühlte sie, ohne sich klar zu sein warum, vielleicht an der Art seines Blickes oder an dem Ton, mit dem er zu ihr sprach, daß er ihr ein Freund sein werde, daß sie eine Stütze, einen Halt an ihm haben werde . . . Paul? Paul war ja sehr lieb, sie hatte ihn so gern, aber er war noch so jung, so kindlich; da war sie es, die ihn führen mußte . . .

Während sie von hunderterlei Dingen plauderten, wobei Lydia ihren Gedanken nachhing, ließ Nikolaus prüfend seine Augen auf ihren frischen Zügen ruhen und stellte auch seine Betrachtungen an. »Das ist ein echtes Mädchen der russischen Erde, eine reine Blüte, die von nichts beschmutzt wurde; die ›Tajana aus dem Dorf‹. Glücklich der Jüngling, der sie einst lieben wird und noch glücklicher, der von ihr geliebt werden wird! Gibt es in irgendeinem Lande Mädchen, die einem offener in die Augen blicken, als die russischen?«

Indessen frug er sie, wo sie den Sommer verbracht habe.

»Bei uns daheim, auf dem Lande in der Nähe von Smolensk. Ich wollte unsere Bauern während der Revolution sehen. Oh, Nikolaus Wladimirowitsch, welch' interessante Beobachtungen machte ich da! Ich muß Ihnen einmal davon erzählen, wenn Sie wollen. Ich kenne sie genau, unsere Bauern. Aber . . .«

In diesem Augenblick trat Natalie Schupow-Karamin, gefolgt von Leo Semeonow in das Boudoir.

»Ja, wo verstecken Sie sich denn? Ich dachte schon, Sie wären fort. Hier ist Leo Borissowitsch, der mit unserer kleinen Prinzessin bekannt werden möchte.«

Sie stellte ihn Lydia vor, die beim Anblick seines bleichen Gesichtes mit Mühe eine abwehrende Bewegung unterdrückte, denn sie hatte jenen eisigen Blick wiedererkannt, der sie schon auf dem Newski erschauern gemacht. Semeonow verneigte sich zeremoniell.

Savinsky zog sie rasch beiseite, um sich zu verabschieden.

»Ihren Bericht über die Bauern sind Sie mir noch schuldig. Über die Vorgänge auf dem Lande bin ich fast gar nicht unterrichtet und doch sind sie sehr wichtig. Nur Sie können mich aufklären. Wann kann ich Sie wiedersehen?«

»Kommen Sie morgen abend zu uns. Ich werde Ihnen von meinem Sommer erzählen.«

Savinsky ging und ließ sie mit Semeneow zurück.

 

Am folgenden Tage begab Savinsky sich nach anstrengender Arbeit von seiner Bank zu dem Fürsten Volynski, den er wohl kannte, doch nur selten sah. Der Fürst fühlte sich nicht wohl und empfing ihn nicht, denn es war eben der Arzt bei ihm. Man führte Savinsky zu der Fürstin, die mit ihrer Tochter und General Vasiljew beim Tee saß. Die Fürstin hatte unter der Einsamkeit des Sommers sehr gelitten. Dann hatte man ihren Gatten in einem traurigen Zustand zurückgebracht: beim Verlassen des Wagens nach einer Ausfahrt hatten seine schwachen Beine versagt, er war gestürzt und hatte sich den Schenkel verrenkt oder sogar gebrochen. Nun war er vollständig hilflos gewesen, man mußte ihn nach Petersburg zurückbringen, um einen Chirurgen zu konsultieren. Die Rückreise war wie ein Fiebertraum. Zwanzig Stunden im Kupee ohne Möglichkeit seinen Platz zu verlassen, zehn Personen in einem Abteil und mitten unter den Soldaten seine Tochter!

Lydia lächelte zu den aufgeregten Worten ihrer Mutter. Ihrer unbekümmerten Jugend hatten diese Abenteuer nichts anhaben können und sie hatte alle Beschwerden heiter ertragen. Kaum war sie mit ihrem Tee fertig, zog sie Savinsky in eine Ecke des Salons, in der sie sich behaglich niederließen und begann den Bericht von ihren Sommererlebnissen. Es bereitete ihr eine wahre Freude, sprechen zu können und ihre sprudelnde Lebhaftigkeit gab ihren Erzählungen eine ungewöhnliche Frische.

»Ich war froh, wieder einmal auf unser Gut zurückzukehren, denn wissen Sie, bei uns, da ist das wahre Land; Wälder und Wiesen, soweit das Auge reicht. Von einer kleinen Station bei Smolensk haben wir zwei Stunden Wagenfahrt, dann sind wir bei unserem Haus. Das ist so groß und ganz aus Holz und alt, uralt, denn es wurde noch unter Katharina gebaut. Unweit davon, einige hundert Schritte bloß, ist die Wohnung des Verwalters und daneben sind einige Wirtschaftsgebäude, in denen Papa seine schönsten Kühe hält. Die übrigen sind auf die umliegenden Gehöfte verteilt. Zehn Minuten geht man in das Dorf. Ein kleines Dorf von dreihundert Familien, genau so, wie alle russischen Dörfchen: schmutzig und elend, obwohl es unseren Bauern ganz gut geht und manche sogar reich sind. Papa hat eine Schule bauen lassen und hält auch einen Arzt, einen weiblichen Arzt. Eine Jüdin aus Odessa, mit kurzen Haaren und Brille, ein Original, halb wie ein Mann gekleidet. Mit Papa streitet sie manchmal, mit mir aber nicht, denn wir verstehen uns sehr gut. Trotz ihrer Barschheit ist sie gut und gibt sich mit unseren Bauern viel Mühe. Und das wird ihr nicht leicht gemacht. Sie können sich nicht denken, wie unglaublich mißtrauisch und verschlossen die Leute sind. Wenn man ihnen eine Medizin verschreibt, ist ihr erster Gedanke, daß man sie vergiften will. Aber Rachel Papp zankt sie dann schrecklich aus und schließlich gehorchen sie ihr. Und so faßten sie langsam Vertrauen zu ihr. – Schon während des Krieges, besonders 1916 wurde im Dorf vieles anders. Alle jungen Burschen und die Männer bis zu vierzig waren fort. Man wußte, daß zwei gefallen und zehn in deutscher Gefangenschaft waren. Dann hat man uns einige österreichische Gefangene gegeben. Riesig liebe Leute; sie lebten ganz frei bei uns und unsere Weiber hatten sie sehr gern. Sie behaupteten, daß sie viel besser wären, als ihre eigenen Männer. Und es ist wahr, sie arbeiteten mehr, betranken sich nicht und prügelten niemals die Frauen. Ihr Anführer hieß Fritz. Er war aus Kärnten. Ganz abgemagert war er zu uns gekommen, doch dann hat er sich schnell erholt. Und denken Sie nur, Nikolaus Wladimirowitsch, einen süßen kleinen Muff aus Maulwurfsfell hatte er. Erst sprach er nur deutsch mit Rachel Papp, aber im Handumdrehen lernte er so viel russisch, daß er sich mit den Frauen verständigen konnte. Er war Hirte. Er hütete und pflegte die Tiere wundervoll, bald waren ihm alle Tiere des Dorfes überlassen. In achtzehn Monaten hat er kein einziges Tier verloren, das hatte man früher niemals erlebt. So ging im Dorf, trotzdem die Männer fort waren, alles ruhig und in Ordnung während des ganzen Krieges weiter. – Dieses Jahr aber fand ich vieles anders. Zuerst sind etwa zwanzig Eingerückte zurückgekommen; sie waren einfach aus den Schützengräben davongelaufen und mit ihren Gewehren nach Hause gekommen. Sie wollten nicht arbeiten, aber hatten den ganzen Tag, abends und die halbe Nacht zu schwätzen und Geschichten zu erzählen. Immer stand ein Haufen von Bauern bei ihnen um zuzuhören. Selbstverständlich wußte bald das ganze Dorf, daß unser Gut aufgeteilt würde. Für sie war die ganze Revolution nichts anderes, als der Landbesitz von Papa. Aber wie sie ihn nehmen, wie sie ihn aufteilen und bearbeiten sollten, alles das war recht schwierig zu entscheiden. Und über diese heiklen Punkte begann täglich von neuem die Unterhaltung. Mit uns waren sie noch immer sehr höflich, sehr ehrerbietig, man muß aber auch wissen, daß Papa stets sehr gut zu ihnen gewesen ist, und außerdem fürchten sie ihn auch. Also immer noch devotes Grüßen und tiefes Verneigen des ganzen Körpers. Ihre Unabhängigkeit aber zeigten sie in ganz sonderbarer Art . . . Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll . . . Es ist sehr schwierig.«

Lydia zog die Stirn in Falten und überlegte. Plötzlich frug sie lebhaft: »Wissen Sie, wie man in den Pyrenäen die Geier jagt?«

Savinsky begann zu lachen.

»Natürlich nicht. Übrigens, welcher Zusammenhang besteht zwischen der Geierjagd und den Bauern, die das Gut wollen?«

»Nur Geduld, Sie werden es gleich sehen. – In dem Jahr vor Kriegsausbruch waren wir im Sommer mit einem Onkel von mir, der ein großer Jäger ist, in den Pyrenäen. Man empfahl ihm in den Bergen die Geier zu jagen. Der Mann, der ihn führen sollte, schilderte diese Jagd so leidenschaftlich und erregt, daß ich meinen Onkel bestürmte, mich mitzunehmen; wie Sie sich denken können, vermochte er mir das nicht abzuschlagen.«

»Ich begreife es sehr gut, Lydia Sergijewna, daß man Ihnen keinen Wunsch versagen kann.«

»Also um Mitternacht zogen wir los und vor Tagesanbruch waren wir bei einer Hütte in der Wildnis oben. Unser Führer nahm ein kleines totes Schaf und legte es auf einen Felsbrocken etwa zweihundert Schritte von der Hütte, der, die anderen überragend, von allen Seiten gut sichtbar war. Dann warteten wir in der Hütte versteckt. Es wurde Tag. Ich hätte gar zu gern geschlafen, aber jetzt hieß es aufpassen. Kaum war die Sonne aufgegangen, sah man ganz hoch am Himmel einen winzigen schwarzen Punkt, der langsam große Kreise zog. Es war ein Geier, der das Schaf entdeckt hatte. Wenige Minuten später gesellte sich ein zweiter hinzu, der ebenso in der Luft zu kreisen begann. Dann kamen immer mehr. Bald war es ein Dutzend. Und nach und nach wurden ihre Kreise enger und sie kamen tiefer und tiefer, um schließlich auf einem Felsen, dreihundert Schritte von dem Köder, zu landen. Also dann wurde es ganz spannend. Zwei oder drei Geier hüpften wackelnd gegen das Schaf hin, blieben stehen, um es von weitem zu betrachten, schienen sich zu beraten und eilten schließlich – warum weiß ich nicht – zu ihrem Felsen zurück. Und einige Augenblicke später begann dasselbe Spiel. Und so ging es immer wieder, nur kamen sie immer ein winziges Stück näher an ihre Beute. Es dauerte gewiß eine Stunde, bevor sie ganz nahe heran waren. Welche Geduld! Welche Bedächtigkeit! Und endlich wagte es ein Riesengeier, nach einer Zeit, die mir unendlich lange erschien, dem toten Schaf mit seinem Schnabel einen Hieb in den Bauch zu geben. Ich sah von meinem Platz genau, wie der kleine Körper einen Ruck erhielt. Der Geier flog rasch wieder fort, aber kurz danach waren alle Geier da und fielen wütend über den Kadaver her. Jetzt erst schossen mein Onkel und der Führer in den Haufen. Mit heftigem Rauschen ihrer großen Flügel erhoben sich die Geier in die Höhe und waren bald unsichtbar geworden. Aber drei von ihnen blieben tot auf dem Platz. – Und sehen Sie, Nikolaus Wladimirowitsch, an diese Geier erinnerten mich heuer im Sommer unsere Bauern. So wie jene kreisten sie immer näher um die Gehöfte und unser Haus. Sie standen in kleinen Gruppen bei den Gebäuden herum, sprachen miteinander und blickten forschend auf die Häuser. Wenn man sie anredete, waren sie ebenso höflich wie immer. Fragte ich sie, was sie da täten, so erwiderten sie: Wir gehen spazieren, Barin, wir gehen bloß spazieren. Aber sie kamen wieder, schauten weiter, debattierten weiter mit leiser Stimme und kamen von Tag zu Tag näher an das Haus heran. All dies verursachte schließlich ein Angstgefühl, dem man sich nicht entziehen konnte. Einmal traf mein Vater einen sogar schon im Vorzimmer. Er hielt ihn an und frug: »Was willst du Foma Fomitsch?« Der Bauer verbeugte sich bis zur Erde. »Nur ansehen, Barin, ansehen,« war seine unterwürfige Antwort. Mein Vater bekam einen rasenden Wutanfall. Sie wissen, das kommt manchmal bei ihm vor. ›Marsch hinaus, du Unseliger‹ brüllte er, ›aber rasch, sonst wirst du unter meinem Stock liegen bleiben.‹ Der Bauer ging, aber ganz langsam und fast schmunzelnd. Und Tags darauf stand er wieder ein paar Schritte vor den Fenstern des Salons, in den er, mit anderen Bauern flüsternd, hereinspähte. Es wurde einfach unerträglich. Sehen Sie, das war es, das mich an die Geier denken ließ, die das tote Schaf immer enger umkreisen, um es endlich zu verschlingen. Dann kam auch der Unfall von Papa und da sind wir abgereist. Papa hat noch die wertvollsten Bücher und einige alte Bilder nach Smolensk bringen lassen und kaum waren wir weg, sind die Bauern in das Haus eingedrungen. Sie wohnen nicht darin, haben aber die ganze Einrichtung herausgetragen und in ihre Hütten aufgeteilt. – Wie gerne wüßte ich, wer jetzt in meinem Bett schläft!« schloß sie mit einem verzagten Lächeln. –

Es war eine reizende Stunde, die Savinsky mit dem jungen Mädchen verplauderte.

»Ich weiß nicht, wie Sie es anstellen,« sagte ihr Nikolaus, »Sie erzählen mir Geschichten, die nicht betrüblicher sein können, doch wenn ich sie aus Ihrem Mund höre, kann ich nicht traurig darüber werden. Ich glaube, Sie sind eine kleine Fee, die alle Dinge mit ihrem Zauberstab verwandelt. Ihre Bauern werden mir jetzt nie mehr anders vorkommen, als wie jene mißtrauischen Geier aus den Pyrenäen.«

Es blieb ein Schweigen bis Lydia sprach.

»Können Sie erraten, was mir Semeonow gestern vorgeschlagen hat? Er will mich als Sekretärin nehmen, wenn die Bolschewiki zur Macht kommen. Er versichert, daß er eine große Rolle spielen werde. Er schwankt noch, ob er das Kriegsministerium oder das des Äußeren übernehmen soll. Besonders im Außenministerium sagt er, könnte er unmöglich ohne mich auskommen, da ich doch deutsch, französisch und englisch kann. Nur will er, daß ich Maschinenschreiben lerne. – Ich kann diesen Semeonow nicht leiden, diese Art eisiger Vernunftmenschen stößt mich schrecklich ab. Niemals könnte ich bei ihm arbeiten. – Aber Schreibmaschine will ich trotzdem lernen. Ich habe sogar schon heute früh begonnen. Ganz nahe von Ihrer Bank, Ecke Newski und Litejnij nehme ich Stunden.«

»Wenn es so weit kommt, daß alle Leute arbeiten müssen und Sie dann eine Stellung brauchen,« erwiderte Savinsky, »wird es meine Sache sein, Sie unterzubringen, so lange die Banken arbeiten. Aber glauben Sie mir, wenn die Zustände sich so entwickeln, wie es den Anschein hat, werden Sie ins Ausland müssen. Rußland wird für ein junges Mädchen aus Ihren Kreisen nicht bewohnbar sein. Wir werden zusammen nach Europa gehen. Bis dahin aber, wenn es Ihnen nicht langweilig ist und wenn Ihnen die Gesellschaft eines Mannes, der Ihr Vater sein könnte, nicht lästig ist, könnten wir uns öfter sehen.«

Als er Lydia verließ, kam eben Paul Volynski. Er war wieder in seiner alten Junkeruniform. An der Front hatte er nur bittere Enttäuschungen erlebt. Das Regiment, dem er zugeteilt war, hatte an der Offensive nicht teilgenommen; die Soldaten waren in so großer Zahl desertiert, daß ihn der Oberst nach Petersburg zurückgeschickt hatte. Hier war er, da er nicht wußte, wo er sich nützlich machen könne und da er von dem Gedanken, als Soldat zu dienen, noch immer erfüllt war, wieder in die Junkerschule eingetreten und hoffte nach Rückkehr geregelter Zustände als Offizier ausgemustert zu werden. Er kam zum Abendessen zu seiner Kusine. Lydia hatte ihm, wie immer, so auch an diesem Abend tausenderlei zu erzählen.

»Wo nur wäre es noch möglich, daß sich so unerhörte Dinge ereignen, wie bei uns?« begann sie. »Wie langweilig muß es doch überall sonst sein! – Es scheint, daß wir bald alle werden arbeiten müssen. Das wird sehr lustig sein. Ich lerne schon Schreibmaschine. Ja, lieber Paul, ich werde von meinem Gehalt leben! Ich werde eine bedeutende Stellung im Ministerium des Äußern haben, das ist schon abgemacht.«

Paul blickte seine Kusine an und sprach mit feierlichem Ernst, der sie laut auflachen machte: »Du bist ein Kind, Lydia. Alles erscheint Dir als Spielerei. Aber Gott weiß, was uns die Zukunft noch bringt.«

»Mag sein, ich habe aber keine Angst,« entgegnete sie, als sie ihrer Fröhlichkeit Herr geworden war. »Man wird auf die ›Kopfarbeiter‹, wie jene es nennen, so angewiesen sein, daß wir sicher sein können, du und ich, uns aus der Affäre zu ziehen. Siehst du, mir hat man schon zwei Posten angeboten, einer fabelhafter als der andere. Und wenn du nichts finden solltest, nehme ich dich in meine Dienste. Du wirst der Sekretär der Sekretärin sein.«

Diese Aussicht beruhigte den jungen Paul, seine Mienen zeigten wieder den gewohnten Ausdruck von Heiterkeit und Sorglosigkeit und den ganzen Abend spielten Lydia und er »Bolschewismus«, kosteten im voraus dessen fröhliche Möglichkeiten und vergaßen seine Schrecken.

»Alles ist gut, wenn ich dich nur niemals verlassen muß,« meinte Paul beim Fortgehen.

Lydia küßte ihn nach altem Brauch auf beide Wangen und sagte: »Aber natürlich nicht, man trennt doch keinen Bruder von seiner Schwester.«

Diese Antwort hörte Paul nicht gerne.

 


 


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