Claude Anet
Lydia Sergijewna
Claude Anet

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Erster Teil

Es war Samstag, den 10. März 1917, als ein junges Mädchen aus einem Haus der Snamenskaja trat. Die breite, schneebedeckte Petersburger Straße, die von der Sonne hell beschienen war, bot an diesem Wintertage einen ungewohnten Anblick. Es fehlten die vielen eiligen Passanten, nur Gruppen von drei oder vier Arbeitern zogen inmitten der Fahrbahn schweren Schrittes gegen den Nikolaibahnhof. Einzelne Weiber, die Köpfe in Tücher aus grober Wolle gehüllt, standen, unbeweglich vor sich hinstarrend, auf dem Fußsteig. Das junge Mädchen bemerkte, daß ein Obsthändler langsam die Läden seines Geschäftes herunterließ. Eine lange Reihe von Straßenbahnwagen hielt in dem oberen Teil der Straße, der schwarz von dichtgedrängten Menschen war.

»Was ist los?« frug sich Lydia. »Wieder eine Demonstration auf dem Newski?« Ihr frisches Kindergesicht nahm eine ernste Miene an, die jedoch nicht lange anhielt. Das gewohnte Lächeln erschien bald wieder um den Mund, dessen Unterlippe ein wenig vorstand, zwei Grübchen bildeten sich auf ihren von der Kälte geröteten Wangen, ihre großen blauen, wundervoll klaren Augen leuchteten wieder auf, und sie schritt, ihren Pelzkragen schließend, dem Snamenskajaplatz zu. Je näher sie ihrem Ziele kam, desto stärker wurde das Gedränge, und etwa fünfzig Schritt vor dem Platz konnte sie gar nicht mehr weiter. Ein Militärkordon sperrte die Straße. Es waren Soldaten vom Regiment Litowsky, die hier, Gewehr bei Fuß, standen und vor denen sich die Menge staute. Die aufgepflanzten Bajonette funkelten in der Sonne. Die frierenden Soldaten stampften, von einem Fuß auf den anderen tretend, den hartknirschenden Schnee, und ihre grauen Lammfellmützen schwankten dadurch in sonderbar gleichmäßiger Bewegung hoch über den Köpfen der Menge auf und nieder. So oft die vor ihr Gedrängten sich verschoben, erhaschte Lydia sekundenlang einen Durchblick auf den von Menschen wimmelnden Platz und erblickte vor dem Reiterstandbild des unförmigen Alexander III. mit seinem noch unförmigeren Pferd eine dunkle Linie von Polizisten. Sie bemerkte zwei, drei junge Offiziere hinter ihrer Truppe und war von dem ernsten traurigen Ausdruck ihrer Gesichter betroffen. Rings umher wurde lebhaft debattiert. Es waren in der Menge fast nur Arbeiter und Studenten. Letztere, die Kappen auf dem Kopf, sprachen eifrig zu den Arbeitern. Sie drängte sich in eine dieser Gruppen. Ein ganz junger Hochschüler mit schwarzen Augen, frischem Mund, schlank, zart, kränklich, sprach dort mit erhobener Stimme. Leidenschaft glühte in ihm und gab seinen Worten einen unvergeßlichen Klang. Seine ehrliche Begeisterung gefiel dem jungen Mädchen, rasch schlüpfte sie zwischen zwei Arbeiter, um besser zu hören. Er rief:

»Genossen, ihr wißt, daß wir mit euch sind. Ja, gemeinsam werden wir mit dieser Regierung abrechnen! Aber noch ist die Stunde nicht gekommen. Wir haben noch Krieg. Wartet noch ein wenig –«

In diesem Augenblick bemerkte er das junge Mädchen; sie stand gegen ihn vorgeneigt und er las in ihrem Blick ihre Zustimmung zu seinen Worten. Aber die ungewöhnliche Schönheit ihres jugendlichen Gesichtes, die Reinheit ihrer Augen, die jene ihrer Seele widerspiegelten, die Begeisterung, die er darin las, ergriffen ihn derart, daß er wie geblendet verstummte. Er zögerte einen Moment und suchte nach Worten. – Noch während er sich mühte, seine Gedanken zu sammeln, entstand eine heftige Bewegung in der Menge. Die Soldaten waren auf ein kurzes Kommando um zwanzig Schritte vorgerückt und in dem Durcheinander der zurückweichenden Menschen zerstreute sich die Gruppe. Das junge Mädchen ging nachdenklich den Weg, den es gekommen, zurück, um in eine der Parallelstraßen des Newskiprospekt einzubiegen. Sie hatte nur einen Gedanken: »Wollen die Arbeiter wirklich die Revolution?« Erinnerungen an gelesene Bücher zogen durch ihren Kopf. – An einem schönen Sommertag hatte das französische Volk die Bastille erstürmt. Ruhmvoller Tag, sagt man, der die französischen Soldaten als Sieger durch ganz Europa und selbst bis nach Moskau führte! – Sie erinnerte sich an die Ereignisse des Jahres 1905, die von den Freunden des Fürsten Sergej Volynski, ihres Vaters, als Unruhen, aber von ihren eigenen Bekannten aus Studentenkreisen als Revolution bezeichnet wurden. Sie wußte nicht viel davon, sie war zu jener Zeit erst fünf Jahre alt gewesen und in ihrem Leben eines einzigen verwöhnten Kindes hatte sich auch damals nichts geändert. Doch, an einem Abend versagte das elektrische Licht und sie wurde bei Kerzenschein zu Bett gebracht. Sie selbst hatte in ihrem Zimmer überall Kerzen angezündet. Es war wie am Weihnachtsabend, und das war auch der ganze Eindruck, den sie von jener Krise behalten hatte: der eines Festes . . . Revolution, jetzt während des Krieges? – Das war unmöglich! Niemand konnte das wollen, sicher auch diese biederen Arbeiter nicht, die eben jetzt trotz all ihrer Derbheit, sie so gutmütig und sorgsam in dem Gedränge schützten. Wie verbunden sie sich ihnen fühlte! Sie hatten dieselbe Art zu lächeln, die gleichen weichen Worte, wie sie selbst. »Sie können wütend werden wie Papa,« dachte sie, »aber im Grunde sind es gemütliche Leute, unfähig, etwas Böses zu tun.« Und dann dachte sie an die gewaltige Polizeimacht Petersburgs und an das viele Militär, das die Kasernen der Stadt füllte. Und sogar die Studenten waren für die Aufrechterhaltung der Ordnung; ja, selbst die Studenten, die doch immer von unruhigen Plänen erfüllt waren, wollten während des Krieges keine Revolution! »Es wird einige Unruhen geben,« dachte sie, »und dann wird alles wieder in Ordnung kommen.«

Aber trotz alledem war ihr Herz bedrückt und ihr Kopf, den sie sonst mit erhobenem Kinn ein wenig nach hinten geneigt trug, senkte sich jetzt abwärts. Bald aber siegte ein stärkeres Gefühl über ihre Unruhe: die Neugierde. Sie wollte die Helden dieses Schauspieles sehen, wollte selbst diese ungeheuren Kräfte fühlen, die da ringsum die Straßen erregten, wollte die Gesichter betrachten, den Worten lauschen, wollte erforschen, was die Blicke all der Augen enthüllten. Sie beschleunigte ihre Schritte, um durch den Litejnijprospekt wieder den Newskiprospekt zu erreichen, aber Ecke Litejnij wurde sie abermals durch die Menge aufgehalten. Die Arbeiter marschierten langsam ins Wiborger Viertel, auf das andere Flußufer zurück. Sie versuchte gegen den Strom der Arbeiter vorzudringen, aber nach einigen Schritten wurde sie von einem großen Arbeiter in Bluse und gefütterter Lederkappe angehalten, der gemütlich brummte:

»Da muß man nicht hingehen, kleines Täubchen, es wird dort bös werden.« Er lächelte und ging weiter.

Sie flüchtete in ein Haustor. Vier junge Arbeiter zogen in eifriger Unterhaltung vorbei. Sie folgte ihnen, um zu hören, was sie sagten.

»Hast du's gesehen, Vasil,« sprach der Kleinste, dessen Augen vor Freude strahlten, »der Offizier hat ›Vorwärts!‹ kommandiert, aber die Kosaken haben sich nicht gerührt. Wenn schon die Kosaken auf unserer Seite sind, dann steht unsere Sache gut!«

Lydia überquerte nachdenklich den Fontankakanal, erreichte durch die Italianskaja die Michaelstraße und versuchte, dem Hotel Europe entlangschlüpfend, nochmals auf den Newskiprospekt zu gelangen. Kosaken galoppierten, ihre kleinen Pferde zurückhaltend, gemütlich auf den Trottoirs. Es waren ganz junge Burschen, blond und lächelnd, die sich große Mühe gaben all den Menschen, denen sie scherzende Worte zuriefen, auszuweichen. Wieder fühlte das junge Mädchen beruhigendes Vertrauen. Alles dies machte eher den Eindruck eines Festzuges. Auf keinem Gesicht sah man Haß oder Erregung. Zwischen diesen fröhlichen Kosaken und den gemütlichen Arbeitern konnte es ja gar keine Zusammenstöße geben! »Ja, Gottlob, alles wird sich beruhigen und im Herbst werden wir den Krieg gewinnen.« Sie war höchst erstaunt, als sie in diesem Augenblick fühlte, daß ihre Augen voll Tränen standen und daß sie bis ins Innerste erschüttert sei. Die Atmosphäre, in der sie sich seit einer Stunde bewegte, mußte sie doch mehr angegriffen haben, als sie gemeint hatte. »Wir müssen den Krieg gewinnen!« wiederholte sie bekräftigend.

Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, hörte sie plötzlich einen Schuß fallen, dem nach einer Sekunde atemlos banger Stille eine Salve folgte, deren trockener, kurzer Krach verhängnisvoll die eisige Luft zerriß. Noch ein Moment beklemmendster Erstarrung und dann brauste eine Flut von Menschen, die den Newski herunterflüchteten, um sie. Sie fühlte sich in die Höhe gehoben und durch das Drängen der wahnsinnigen Massen mitgetragen; endlich fand sie wieder Boden unter ihren Füßen und rannte, von rechts, links und rückwärts gepreßt und gestoßen mit zitternden Knien so rasch sie nur konnte gegen den Michaelsplatz. Ihr einziger Gedanke war nur ja nicht hinzufallen! Sie hatte keine Herrschaft mehr über ihr Fühlen und Handeln. Es war ihr unmöglich gegen die besinnungslose Angst anzukämpfen, die sich ihrer, wie aller anderen Menschen rundum bemächtigt hatte. Im Weiterrennen blickte sie ängstlich nach den Häusern, ob sie nicht in einem Geschäft oder in einem Hausflur Zuflucht finden könnte, aber sämtliche Türen waren in einer Sekunde geschlossen worden. Es gab nirgend eine Rettung. Die Istwostschiks auf der Straße hieben auf ihre Pferde ein und ihre Schlitten sausten über den Schnee. Ein dicker Hofkutscher, der einen, mit dem kaiserlichen Wappen geschmückten Landauer lenkte, verlor seinen Hut. An der Ecke des Platzes warf ein Schlitten, der zu kurz gewendet hatte, um. Trotz ihrer überstürzten Flucht behielt Lydia doch noch einiges Bewußtsein; sie verglich sich einem Sandkorn, das der Wind in der Wüste vor sich hertreibt. Immer noch spähte sie nach einer Zuflucht, als ihr ein Mann in einem Pelz mit Otterkragen auffiel, der nicht weit von ihr wie durch ein Wunder als einziger unbeweglich dastand. Er war sehr groß, breitschulterig und es schien, als könne ihn nichts aus seiner Ruhe bringen. Er rührte sich nicht, während die Menge rings um ihn in heftigem Wirbel, wie der Strudel eines Wildbaches um einen Felsen, dahinflutete. So erblickte sie ihn für den Bruchteil einer Sekunde, als sie einen heftigen Stoß in den Rücken bekam. Sie strauchelte, machte noch einige Schritte, ohne das Gleichgewicht wieder zu finden und stürzte schließlich gerade vor seinen Füßen nieder.

Sie blieb nur wenige Sekunden betäubt, halb bewußtlos. Als sie wieder zu sich kam, sah sie, daß der Mann im Pelz über sie gebeugt war und einen Arm unter ihren Körper geschoben hatte, um sie aufzuheben. Mit der andern Hand klopfte er den Schnee von ihrem Mantel. Als er fertig war, wandte er ihr den Kopf zu und jetzt konnte sie auch sein Gesicht sehen. Es hatte energische, regelmäßige Züge, mit einem ernsten Mund und einem kleinen kurzgestutzten Schnurrbart. Die Augen waren grau und sinnend, aber als er jetzt das junge Mädchen ansah, leuchteten sie auf. Sie fühlte sich in seinem Arm sehr wohl: die Angst war ganz verflogen. Er schien eine selbstbewußte, sichere Stärke auszuströmen. Und als er sie anblickte, sprach er mit tiefer, wohlklingender Stimme: »Sie haben sich doch nicht verletzt, mein Kind?«

»Aber nein!« erwiderte sie mit einem flüchtigen Lächeln. »Ich weiß gar nicht, wie das kam. So eine Dummheit!«

»Dumm ist es bloß von so einem kleinen Mädchen, wie Sie es sind, hier ganz allein herumzustrolchen. Meinen Sie nicht?«

Er machte ihr noch einige sanfte Vorwürfe und hielt sie weiter an sich gelehnt. Sie richtete sich endlich auf, obgleich es gar nicht angenehm war, die Stütze seines Armes zu verlassen, von dem ihr schien, als könnte er alles Bedrückende von ihr fernhalten und sie in eine Welt voll frohen Entzückens versetzen. Und dann fühlte sie auch, daß sie allein keinen Mut mehr hätte. Aber es mußte doch geschehen. Sie löste sich von ihm und lächelte ihn an; sie hatte all den Zauber und die Anmut eines zwar schon großen Mädchens, das aber doch noch ein Kind ist.

»Wie soll ich Ihnen danken? Ohne Sie wäre ich von diesen Wahnsinnigen zerstampft worden.«

Erst jetzt bemerkte sie, daß sie allein auf dem Platz standen, der jetzt vollkommen ausgestorben war. All die Menschen waren einfach verschwunden, man wußte nicht wohin. Selbst der umgestürzte Schlitten war fort. In der Verlängerung der Michaelstraße sah man den Newskiprospekt, auch dieser war jetzt ganz leer; nur zwei Reihen Soldaten standen zwischen dem Gostiny-Dwor und dem Hotel Europe. Und eben während sie hinblickte erschien ein Schlitten, der sich im langsamen Trab seines müden Gaules dem Militärkordon näherte. Ein Student lehnte darin, aus dessen Ärmel Blut sickerte, das eine über ihn gebeugte junge Frau mit dem Taschentuch auffing. Der Schlitten fuhr so nahe an den Kordon heran, daß sein Pferd die Reihe der unbeweglich dastehenden Soldaten fast berührte. Da erhob sich die junge Frau, schwenkte das blutgetränkte Tuch über ihrem Kopf und rief mit gellender Stimme:

»Was habt Ihr getan, Brüder? Seht, Ihr habt auf Euresgleichen geschossen!« Es entstand eine leichte Bewegung in der Truppe, dann traten die zunächst stehenden Soldaten zur Seite, der Schlitten durchfuhr langsam die Sperre und verschwand.

Diese tragische Szene machte auf Lydia einen ergreifenden Eindruck. Sie wandte sich zu ihrem Gefährten; er stand unbeweglich und sie konnte aus seiner Miene, die erstarrt schien, nichts entnehmen. Ihr Blick ruhte fragend in seinen Augen.

»Es wird Zeit fortzugehen,« sprach er mit müder, trauriger Stimme. »Kann ich noch etwas für Sie tun? Wo wohnen Sie?«

Das war nicht mehr dieselbe Stimme wie vorhin. Sie fühlte es und antwortete eingeschüchtert:

»Auf dem Schloßquai; aber ich kann durch die Millionnaja gehen! Es ist dort ein Durchgang. Und« setzte sie mit einem kleinen Zittern in der Stimme hinzu, »ich kann ganz gut allein gehen.«

Ohne ein weiteres Wort nahm er ihren Arm und sie gingen die kurze Strecke Wegs bis zur Millionnaja. Die Straßen waren verödet, es herrschte vollkommene Stille. Fast kam es Lydia vor, als wäre alles nur ein Angsttraum gewesen. Ihr linker Fuß schmerzte zwar und sie hinkte ein wenig, aber sie verbarg dies so gut als nur möglich. Sie schwiegen den ganzen Weg. An der Ecke der Millionnaja angelangt, blieb er stehen und neigte sich zu ihr.

»Ich verlasse Sie jetzt. Es ist keinerlei Gefahr mehr. Und mein Schlitten erwartet mich beim Hotel Europe. Ich muß in die Duma.«

Seine Worte waren knapp, ohne Liebenswürdigkeit, aber seine Stimme hatte wieder jenen zärtlichen Klang, den das junge Mädchen vorhin, als er seine ersten Worte an sie richtete, so dankbar empfunden hatte. Sie wußte nicht, was sie erwidern sollte. Es war sehr schmerzlich, den Freund so zu verlassen. Den Freund? Der Gedanke ließ sie stutzen. Ein Freund von höchstens einer knappen halben Stunde. Aber ist es nicht ein Freund, bei dem man Zuflucht sucht und der einen beschützt? Sie blieb in ihren Gedanken bei diesem Wort und blickte ihn an.

»Wir werden uns wiedersehen.«

»Das gebe Gott!«

Er verneigte sich vor ihr, schüttelte ihr kräftig die Hand und verschwand.

Lydia zögerte, allein geblieben, einen Augenblick und entschloß sich dann durch eine der kleinen Quergassen nach Hause zu gelangen. Nach zwei Minuten stand sie auf dem Quai. Eben versank die Sonne. Es war fünf Uhr. Ein mildes Licht ergoß sich aus den vergoldeten Wolken auf die wundervolle Rundsicht, die sich ihr bot: die Newa, deren Eis noch vom Schnee bedeckt war; links, der einzigartige Bogen der Schloßbrücke; rechts, die mächtigen Pfeiler der Troitzkibrücke und gerade vor ihr, wie ein großes, am Ufer lagerndes Tier die schweren, flachen Gebäude der Peter-Pauls-Festung. Nur ein schlanker Turm ragte spitz zum Himmel, so hoch, als wolle er eine Wolke aufspießen, so dünn wie eine Nadel und das Gold, das ihn bedeckte, schien noch die Strahlen der eben versunkenen Sonne zurückzuhalten. Eine Ruhe, wie man sie nur in diesen herrlichen nördlichen Ländern kennt, lag über der Natur.

»Ja, alles ist unverändert, alles ist noch am gleichen Platz wie gestern,« sagte sich Lydia und ohne den Grund dafür zu suchen, fühlte sie eine warme Glückswelle in sich aufsteigen. –

 

Das Palais des Fürsten Volynski hatte nur eine bescheidene Fassade. Aber hinter den kleinen, an der Flußseite gelegenen Salons, gab es einen ganz in Weiß und Gold gehaltenen Ballsaal, eine Bildergalerie und eine ganze Reihe wundervoll reicher Gemächer in dem vornehmen Stil der ersten Regierungsjahre Nikolaus I.

Hatte man die dreifachen Türen, die die äußere Kälte abhielten, hinter sich geschlossen, so befand man sich in einer trotz des Krieges und des Mangels an Kohle und Öl auch in diesem Jahre noch behaglich warmen Halle. In den Fabriken fehlte zwar das Brennmaterial, aber die alteingesessenen Familien Petersburgs hatten seit langem ihre Vorkehrungen getroffen und ihre mit Kohle angefüllten Keller und das Holz, das in ihren großen Höfen in schönen Scheiten bis zur Höhe des ersten Stockwerkes aufgeschichtet lag, sicherten ihnen einen sorglosen Winter.

Sobald Lydia nach Hause kam, selbst wenn es ein oder zwei Uhr nachts war, suchte sie immer gleich ihren Vater auf.

Es war ein schon bejahrter Mann, den indes mehr sein Leiden, als sein Alter gebeugt hatte. Seine steifen Beine versagten ihm den Dienst und der Fürst verließ fast niemals sein kleines, mit Büchern gefülltes Zimmer, das die Aussicht auf die Newa hatte und sehr einfach mit Fauteuils und einem Sofa aus grünem Leder ausgestattet war. Stets saß er in seinem großen Lehnstuhl zwischen Tisch und Kamin, hatte die Beine in eine große, schwarzweiß gewürfelte Decke gehüllt und sein Stock mit dem Elfenbeinknopf lehnte in Reichweite. Obgleich das ganze Haus von einer Zentralheizung erwärmt wurde, ließ der Fürst von Oktober bis Mai ein Holzfeuer in seinem Kamin brennen und eine seiner liebsten Zerstreuungen war es, mit einem fast vier Fuß langen Schürhaken in der Glut zu stochern und dabei sprach er zu den Holzklötzen, oft von einem trockenen Husten unterbrochen, der seine riesige Gestalt von ungewöhnlicher Magerkeit und seinen kleinen Kopf mit den runzeligen Zügen, mit der schmalen, charakteristischen Nase, mit den dunklen, tiefliegenden Augen unter den buschigen schwarzen Brauen erbeben ließ, so daß sein schon weißer Spitzbart heftig zitterte.

»Auch du wirst dich nicht retten können, mein Lieber,« rief er einem Holzscheit zu, indem er mit dem Schürhaken hineinstieß, »du wirst auch daran glauben müssen!«

Und schwerfällig stieß und drehte er ihn so lange bis die Flamme daran leckte.

Oder auch sprach er:

»Von wo kommst du denn, he? Denkst du wohl noch an die Frühlingstage in den Wäldern Finnlands, als noch der Schnee deine Füße bedeckte, aber die Sonne schon in deinen Zweigen spielte? Erinnerst du dich an den Schauer des neuerwachenden Lebens, der dein schlafendes Herz weckte, und an das fast schmerzende Schwellen der Knospen an den Enden deiner Zweige, die aufzuspringen sich sehnten? – – – Und welche Reise bis hierher! Die schönen bunten Barken, die der Schlepper über den Ladogasee zog! Und nun bist du hier, mein Lieber und erfüllst deine Bestimmung, die alten Knochen des Fürsten Sergius Volynski zu wärmen!«

Oft kauerte Lydia ganz in ihre schönen blonden Haare gehüllt, auf dem Sofa und lauschte den Unterhaltungen ihres Vaters. Er verstand es, alles, was er sagte eigenartig zu beleben und sein Kind träumte lange schweigsam mit großen offenen Augen vor sich hin. Wie sie ihn liebte! Es war ein so zartes, tiefes Verständnis zwischen ihnen, daß es jeder Erklärung entrückt, Lydia einfach wie ein Wunder schien. Was immer für Worte sie auch wechseln mochten, sie fühlte an seinem Blick, seinem Schweigen, an dem Klang seiner Stimme, daß sie ihm alles auf der Welt sei und sie wußte, daß sie selbst für niemand anderen jemals die Gefühle haben könne, die sie an diesen kranken Greis mit den feurigen Augen banden.

Ganz anders war ihr Verhältnis zu der Mutter. Die Fürstin Helene, die einst sehr schön, sehr umschwärmt gewesen war, blieb lange Zeit kinderlos. Erst als sie schon an die dreißig war, kam ein Mädchen, Lydia, zur Welt. Die Fürstin hatte ihr glänzendes Leben trotzdem bald wieder weiter geführt und war erst langsam, als sie älter wurde, häuslicher geworden. Sie ging seltener aus und schränkte den Kreis ihrer Freunde ein. Schließlich lebte sie fast nur noch zu Hause und man verstand nicht recht, womit sie sich beschäftigte, denn um ihren Haushalt kümmerte sie sich gar nicht. Auch im Sommer begleitete sie ihren Gatten und ihr Kind nicht mehr auf ihren Landsitz Petrowskoje bei Smolensk; sie stand jeden Tag später auf, ertrug nur künstliches Licht, blieb in letzter Zeit die ganzen Nächte wach und ging erst morgens zu Bett. Als der Krieg ausbrach war sie schon fast eine Einsiedlerin. Jetzt benützte sie die Gelegenheit, um sich vollkommen abzuschließen. Nur einen alten Freund, General Vasiljew ließ sie vor, der seit mehr als zwanzig Jahren eine schwärmerische Verehrung für sie bewahrte. Täglich verbrachte er viele Stunden bei ihr und speiste jeden Abend im Palais. Die Fürstin behielt trotz ihrer Einsamkeit ihr entzückendes liebenswürdiges Wesen und war stets gleich in ihrer gelassenen Stimmung. Den Fürsten und ihre Tochter sah sie nur selten, aber es fiel ihr schwer ihre Nähe zu entbehren. Lydia liebte ihre Mutter zärtlich, wie man ein schwaches, hilfsbedürftiges Wesen liebt, aber ohne jene Vertraulichkeit, die sie mit ihrem Vater verband.

Dieser neckte sie seit einiger Zeit manchesmal.

»Nun, Kleine, du wächst dich heraus! Bald wirst du eine große Dame sein und ein schöner Offizier wird dich entführen! Wehe ihm, wenn er dich nicht gut behandelt!«

Und in seiner welken Hand drohte sein Stock.

Lydia entgegnete: »Die jungen Leute gefallen mir nicht, Papa. Sie wissen nie etwas zu sagen, das mir nahe geht. Und überhaupt weißt du doch, daß ich immer nur dein kleines Mädchen bleiben will.«

Der Fürst räusperte sich, um seine Rührung zu verbergen . . .

 

Als sie an diesem Tage das Zimmer ihres Vaters betrat, fand sie ihn beim Lesen des Abendblattes. Kein einziges Wort von all den Ereignissen, die seit dem vorigen Tag die Hauptstadt bewegten, stand darin. Eine Zensur, die geschickter als die Polizei war, hatte alle Unruhen unterdrückt! – Der Zar im Hauptquartier, achtzehn Stunden von Petersburg; – Die Front ruhig, wie in den ganzen sechs Wintermonaten und doch hinderte dies die Berichterstatter nicht, ganze Seiten mit der Schilderung all der unterbliebenen Kämpfe zu füllen. Bloß die Spalte »Zuschübe« konnte den aufmerksamen Leser einigermaßen beunruhigen. Hier stand, daß die Kohlenzufuhren mangelhaft seien, so daß einige Fabriken die Arbeit einstellen mußten; daß die Getreidezüge aus Sibirien immer noch erwartet würden und daß die eisernen Vorräte der Stadt auf den tiefsten Stand zusammengeschmolzen seien. –

Lydia pflegte ihrem Vater alles zu berichten, was sie im Laufe des Tages getan und gesehen hatte. Diesmal aber meinte sie, wenn sie erzählen würde, daß die Truppen am Newskiprospekt geschossen hatten, würde sie den Fürst unnötig erregen und man würde ihr vielleicht auch am nächsten Abend den Besuch einer Freundin untersagen, bei der getanzt werden sollte. Übrigens würde bis morgen ja alles wieder ruhig sein. Sie begnügte sich daher zu berichten, daß der Newski von Polizei abgesperrt war und schilderte alle Einzelheiten der Gespräche, die sie angehört hatte, nicht ohne die beruhigende Haltung der Studenten besonders zu betonen.

Der Fürst hörte ihr schweigend zu.

»Ich hoffe, daß uns diese Schande erspart bleibt,« brummte er, als ihre Schilderung beendet war.

Und er rumorte mit heftigen Stößen seines Schürhakens im Kamin.

 

Am nächsten Tage aber nahm die Erregung nur noch zu. Man kämpfte auf dem Newski und vor dem Nikolausbahnhof, auf dem Suwarowprospekt und an vielen anderen Punkten der Stadt. Das Militär blieb teilnahmslos und die Polizei mußte allein dem ganzen Ansturm widerstehen. Arbeiterumzüge, an denen die Beteiligung allerdings nicht groß war, bildeten sich. Sie trugen rote Fahnen mit der Inschrift: »Nieder mit dem Krieg«, »Es lebe die soziale Revolution!« Manche behaupteten auch, nur Lockspitzel seien am Werk und der Minister des Innern selbst hätte den Aufstand hervorgerufen und organisiert, um die sozialistische Partei, der die lange Kriegsdauer und die immer schlechter werdende Versorgung der Stadt wachsende Macht gab, desto rascher vernichten zu können. Andere meinten, daß die Revolution ins Werk gesetzt sei, um dem Verrat der Minister ein Ende zu machen und besonders die Intriguen Protopopows mit Deutschland und die deutschfreundlichen Umtriebe der Kaiserin und ihrer Umgebung zu hintertreiben.

Aber war es denn wirklich die Revolution, die bevorstand?

Seit Jahren und Jahren hatte man sie angekündigt! Wenn Russen von der Herrschaft des Zaren sprachen, sagten sie stets: »Das kann sich nicht halten.« Nur aus dem Bedürfnis einen Zustand, in dem sie sich trotz alledem das Leben ganz behaglich und genußreich eingerichtet hatten, zu kritisieren. Die entgegengesetzten sozialen Klassen schienen die Revolution zu wünschen und selbst in der kaiserlichen Familie gab es Anhänger des Umsturzes, die ihre Ansicht kaum verbargen.

Und jetzt, da der Augenblick zur Verwirklichung aller dieser Wünsche gekommen schien, trat ein plötzlicher Umschwung der Stimmung ein! Niemand wollte mehr etwas von der Revolution wissen. Es gab nur das eine allgemeine Gefühl der Angst. Wo sollte das alles hinführen? Welchem ungewissen Schicksal trieb man entgegen? Ein eisiger Hauch erfaßte alle Herzen. Selbst die Führer jener Partei, deren Ziel es gewesen war, die Geister zu erregen und die Unzufriedenheit zu schüren, zitterten jetzt. Die Kadetten mit Miljukow an der Spitze, die die Regierung mitten im Krieg in schärfster Weise angegriffen hatten, lehnten jetzt die Revolution, die zum Greifen nahe war, ab. Sogar die Häupter der sozialistischen Parteien der Duma verurteilten die Umsturzbewegung und ein junger Advokat aus ihrer Mitte, dem man große Begabung nachrühmte und der in der Duma oft das Wort ergriff, A. F. Kerensky, versuchte noch Samstag Abend die Arbeiter in einer Versammlung, die er mit ihren Führern abhielt, zurückzuhalten. Die Furcht vor dem Morgen war allgemein. –

Durch einen unerklärlichen Umschwung verwandelte sich die Angst zwei Tage später in begeisterten Jubel, an dem unsere kleine Freundin Lydia, wie fast alle Einwohner Petersburgs teilnahmen. Es war Montag, den 12. März, als das Militär zum Volk überging und damit war die Revolution in einem Augenblick zur Tatsache geworden!

Auch dies war ein herrlicher, kalter Tag, an dem die klare Sonne leuchtete. Am frühen Nachmittag hatte sich eine ganze Anzahl von Mitgliedern der besten Gesellschaft in einem Hause der Millionaja versammelt, das gerade hinter dem Palais des Fürsten Sergius Volynski gelegen, von diesem durch einen großen Hof getrennt war. Die Parterrewohnung gehörte einem gewissen Ivan Schupow-Karamin, der unter dem letzten kaiserlichen Kabinett einen hohen Posten im Ministerium des Innern bekleidet hatte. Er war eine, wegen ihrer Laster, ihrer Spottlust und ihrer ungewöhnlich reichen Gastlichkeit sehr bekannte Persönlichkeit. Er hatte eine zwanzig Jahre jüngere Frau, von der man nicht recht wußte, woher sie stammte, die es aber mit allen erdenklichen Mittelchen verstanden hatte, ihr Haus zu einem der beliebtesten Treffpunkte der Petersburger Gesellschaft zu machen. Natalie Schupow-Karamin war liebenswürdig und freundlich, aber mehr aus Gewohnheit, als aus Veranlagung und das stereotype Lächeln, das sie stets zur Schau trug, hatte schon jene kleinen Falten um ihren Mund gezeichnet, wie man sie in stärkerem Maße meist bei Diplomaten findet. Sie hatte eine Schwäche, die man in Rußland, wo die Natürlichkeit selbst in den Salons zu Hause ist, selten findet. Durch eine gewisse unterwürfige Liebedienerei vor allen Tagesgrößen, wie verschieden sie auch sein und wie oft sie auch wechseln mochten, hatte sie Anspruch darauf, in das Buch der Snobs verzeichnet zu werden, in dem der russischen Welt nur ein winziger Platz vorbehalten ist. Als diese schöne Dame gegen Mittag den Triumph des Pöbels erkannte, hatte sie an zahlreiche Freunde telephoniert, sie mögen zu ihr kommen, um den »tapferen Soldaten, diesen Helden der größten und friedlichsten aller Revolutionen« zuzujubeln.

Etwa zwanzig Personen aus der Nachbarschaft, unter ihnen Lydia, hatten sich eingefunden und sahen dem Vorbeimarsch der »Helden« von den Fenstern der Wohnung aus zu. Sie zogen in ungeordneten Scharen durch die Straße, ein rotes Band an dem Gewehr, eine rote Kokarde an der Brust; ohne Offiziere, in wirrem Durcheinander, strömten sie zum Duma-Palais, das jetzt vom Volk besetzt war. Störend war nur, daß diese Helden, die da auf die Stadt losgelassen waren, ihre Begeisterung darin äußerten, daß sie aus Flinten und Revolvern unausgesetzt in die Luft schossen. Wenn die Schüsse gerade vor den Fenstern der Schupows losgingen, hatten die Zuseher in der Wohnung große Mühe, ihr Zusammenzucken und erschrockenes Zurückweichen halbwegs zu bemänteln.

»Das ist nur die erste Freude,« meinte die lächelnde Natalie. »Unsere Soldaten sind ja so gutmütig. Morgen werden sie ruhig in ihre Kasernen zurückkehren, da sie ja alles erreicht haben, was sie wollten und unserem teueren Volk die Freiheit errangen.«

»Ja,« rief die kleine Fürstin Mirskaja, die den Vorbeiziehenden unausgesetzt applaudierte, »morgen werden sie mit derselben Begeisterung zur Front eilen und den Deutschen zeigen, was die Kraft eines freien Volkes vermag.«

»Welch erhebendes Schauspiel,« sagte eine andere Frau. »Das ist doch nur bei uns möglich.«

»Wir werden Europa zeigen,« fügte ein würdiger Herr hinzu, »daß nur in Rußland eine große Revolution möglich ist, ohne daß ein Tropfen Blut fließt.«

»Ja, es ist schön,« sprach auch Lydia, deren junges Gesicht vor Erregung glühte, »alle fühlen heute ein und dasselbe, alle sind wir Brüder und Schwestern. Ich möchte am liebsten mit in die Duma, dort müssen sich erhebende Szenen abspielen. Immerhin,« fügte sie mit einem reizenden, verwirrten Lächeln hinzu, »finde ich diese tolle Schießerei nicht sehr angenehm.«

»Ach, das bedeutet nichts, liebste, kleine Freundin,« beruhigte sie Natalie Schupow, »es ist der erste Rausch. Das bißchen Ausgelassenheit ist wohl zu entschuldigen.«

Indessen war der Zug der Soldaten vorüber und die Straße blieb fast leer. Einige Zivilisten nur eilten ihren Wohnungen zu.

In diesem Augenblick erblickte Lydia auf dem gegenüberliegenden Trottoir jenen Herrn im Pelz, der ihr zwei Tage vorher auf der Michaelerstraße behilflich gewesen war. Er ging langsam vorbei und seine Haltung und ganze Persönlichkeit strömte wieder jene überlegene Ruhe aus, an der ihn Lydia sofort erkannte.

Sie wandte sich an Natalie: »Kennen Sie den Herrn, der dort drüben geht?«

»Aber natürlich Liebste, der ist in Petersburg bekannt genug. Sein Leben ist ein ganzer Roman. Als junger Mann führte er ein glänzendes Leben und hatte große Erfolge in der Gesellschaft. Mit dreißig Jahren verliebte er sich in ein junges Mädchen, hat sie geheiratet und seither ist er wie verschollen. Sie haben sich zurückgezogen, sind Einsiedler geworden. Außer um seine Geschäfte, die er großartig versteht, kümmert er sich um nichts, als um seine Familie. Ich glaube, es sind schon vierzehn Jahre, daß das so fort geht. Er ist seiner Frau nicht überdrüssig und sie liebt ihn, wie am ersten Tag. Es ist die beste Ehe in der Stadt. Sie gehen ineinander auf und verkehren kaum mit jemand. – Er sieht noch verschlossener aus, als gewöhnlich. Sicher muß die Revolution unseren Geschäftsleuten große Sorgen bringen. – Gott, sie werden sich rasch hinein finden!«

»Sie haben mir seinen Namen noch nicht genannt,« sagte Lydia, dem Vorübergehenden nachdenklich mit den Augen folgend.

»Er heißt Nikolaus Wladimir Savinsky und ist Präsident der Nordischen Bank.«

»Savinsky,« rief der Hausherr zum Fenster eilend. »Wo ist er?«

Es war bisher gar nicht aufgefallen, daß Ivan Schupow-Karamin an der allgemeinen Freude nicht teilgenommen und sich möglichst von den Fenstern entfernt, im Hintergrund des Zimmers aufgehalten hatte.

Sein dickes, aufgeschwemmtes Gesicht mit den zitternden Wangen, das an Ludwig XVIII. erinnerte, war heute noch bleicher, als gewöhnlich. Sehr erregt fügte er hinzu: »Ich muß ihn unbedingt sprechen!«

Er blickte auf die Straße.

»Ich laufe ihm nach. Aber kann man sich schon auf die Straße trauen, wird nicht mehr geschossen?«

Und mit aller Geschwindigkeit, deren seine kleinen dicken Beinchen fähig waren, eilte er zur Türe. Plötzlich aber kam er zurückgelaufen, stürzte zu einem Blumenarrangement, das die eine Salonecke zierte und riß das breite rote Band herunter mit dem es umwickelt war, um es als mächtige Kokarde in seinem Knopfloch zu befestigen.

»Man muß mit der Mode gehen,« kicherte er.

Und so kam es, daß Ivan Schupow-Karamin, gestern noch im Ministerium Sr. Majestät Nikolaus II. am ersten Tage der Revolution mit dem roten Abzeichen im Knopfloch auf die Straße trat.

Aber er vermochte Savinsky, der schon einen großen Vorsprung hatte, nicht mehr einzuholen und sah ihn gerade noch an der Ecke des Suwarow-Platzes verschwinden. Schupow blieb atemlos stehen. Der ungewohnte Anblick der fast leeren Straße machte ihm Angst; er kehrte um und ging eiligst nach Hause zurück.

Savinsky aber ging mit gleichmäßigen Schritten weiter und suchte, links und rechts ausblickend nach einem Schlitten. Aber an diesem Montag waren die Iswostschiks von Petersburg zu Hause geblieben und dies allein hätte genügt, das ganze Bild der Stadt von Grund auf zu verändern. Bisher schienen sie den Unruhen, die die Hauptstadt bewegten, ziemlich gleichgültig gegenüberzustehen. Noch gestern waren sie in ihrem langsamen Schritt in den Straßen zu sehen gewesen, bald den Truppen, bald den Demonstranten ausweichend, wobei sie die einen ebenso teilnahmslos wie die anderen betrachteten; oder sie standen mit ihren Schlitten wie immer an den Straßenecken, sie selbst auf ihren Sitzen zusammengesunken, die hohe Pelzmütze in die Stirne gedrückt, halb schlafend, mit winzigen Äuglein vor sich hin blinzelnd, in den regungslosen Traum verloren, dem sie ewig nachhängen. An diesem Montag der Revolution aber waren sie zu Hause geblieben, schluckten ihren Tee und knabberten Brotrinden.

Savinsky, der auf dem rechten Newaufer wohnte, beschritt die Troitzkibrücke. Dem Leben ringsum schenkte er gar keine Aufmerksamkeit. Die vielen vorbeisausenden Militärautomobile, die links und rechts von Soldaten eskortiert wurden, die auf den vorderen Kotflügeln ausgestreckt, mit dem Gewehr im Anschlag, eine moderne Ausgabe antiker Siegerbilder zu sein schienen, bemerkte er kaum. Nahe bei der Litejnijbrücke gingen Leute zu Fuß über den gefrorenen Fluß. Die Sonne stand schon sehr tief, die Luft war kalt und der Wind eisig. Mit Erstaunen bemerkte Savinsky, daß auf der Peter-Pauls-Festung noch die dreifarbige Reichsflagge wehte.

Nach einer halben Stunde Gehens war Savinsky vor dem großen Gebäude auf dem Prospekt Kamenow-Ostrow angelangt, in dem er wohnte. Seine Frau hatte ihn schon ängstlich erwartet und kaum hörte sie ihn die Wohnungstür öffnen, lief sie in das Vorzimmer, um ihn zu umarmen. Sofie Savinskaja war eine schöne dreißigjährige Frau; sie trug die Haare in der Mitte gescheitelt, wodurch die Regelmäßigkeit ihrer klassischen Züge noch besonders hervorgehoben wurde und die schöne Stirn mit dem ruhigen Blick der wundervoll großen schwarzen Augen erst richtig zur Geltung kam. Sie hätte in der Gesellschaft die größten Erfolge haben können, wenn sie nicht, gleich ihrem Manne, den sie so liebte, dies verachtet und fast auf jeden Verkehr verzichtet hätte. Man sah sie nirgends; inmitten der freiesten Sitten Europas gaben sie das seltene Beispiel einer Ehe, bei der weder dem Mann noch der Frau das Geringste nachzusagen war. Zu jener Zeit, in die der Beginn dieser Erzählung fällt, hatten sie drei Kinder, den zwölfjährigen Boris und zwei Mädchen von zehn und vier Jahren. Frau Savinsky erwartete für den Herbst ein viertes Kind.

Sie schloß ihren Mann noch zärtlicher als sonst in die Arme und sprach in erregtem Ton: »Was ich für Angst hatte! Wo warst du? Was gibt es Neues?«

Nikolaus Savinsky zuckte mit den Schultern.

»Nichts Gutes, Liebste! Wie du weißt, ist das Militär zum Volk übergegangen.«

»Aber so viel ich hörte, blieb alles ruhig,« sprach sie, ihren Mann in einen kleinen Salon führend. »Gottlob, es ist nirgends Blut geflossen. Wir werden eine neue Regierung bekommen, sicher deinen Freund Lwow, Rodzianko, Miljukow – lauter anständige Männer.«

Die Stirne von Savinsky umwölkte sich; man las die Sorgen aus seinen schönen Zügen. Nur mit Mühe vermochte er zu lächeln, als er seiner Frau erwiderte:

»Liebste Sonja, wir gehen schweren Zeiten entgegen. Kein Mensch kann voraussehen, was der nächste Tag bringt. Du beurteilst dieses Land nur nach deinem Herzen; ich fürchte, du siehst zu rosig. Auf jeden Fall wird die Petersburger Luft für dich und für die Kinder nicht zuträglich sein. Sobald das Tauwetter eintritt, müßt ihr aufs Land fahren. Aber diesmal ins Ausland. Ich werde schon morgen an einen Agenten in Helsingfors schreiben, daß er uns eine Villa in Finnland, nahe bei Wiborg, findet. Dort kann ich euch leicht besuchen. Und wenn es zu arg wird, gehe auch ich über die Grenze. Ich habe genügend Geld im Ausland, wir können dort in Ruhe das Ende der trüben Tage – oder des Sturmes abwarten.«

Jetzt war es an Sofie, die Brauen zu runzeln und eine düstere Miene zu zeigen. Aber sie wußte, daß sie ihrem Mann nicht geradezu widersprechen durfte und begnügte sich mit den Worten:

»Du weißt, daß ich keine ruhige Minute hätte, wenn ich allein fort wäre und dich hier wüßte. Ich käme aus der Angst und den Sorgen nicht heraus und wenn die Zeitungen von Unruhen berichteten, weiß ich nicht, was ich täte.«

»Aber, aber; nur nicht gleich in den schwärzesten Farben sehen! Bisher verlief alles in größter Ruhe und das Ärgste liegt wohl hinter uns . . .«

Nikolaus bemühte sich seine Frau zu beruhigen, obgleich sein Herz von düsteren Ahnungen erfüllt war. Die Eindrücke der letzten Zeit waren, obwohl er sich dagegen wehrte, nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Die Ereignisse der drei letzten Tage besonders, die Kämpfe auf den Straßen, die offene Anarchie, die überall bemerkbar war, hatten in ihm die schwersten Befürchtungen für die Zukunft erweckt. Er konnte die Bilder, die er vor seinen Augen gehabt hatte, nicht aus seinem Gedächtnis löschen und besonders zwei der Szenen, die sich vor ihm abgespielt hatten, lebten noch immer mit furchtbarer Klarheit in ihm.

Eine davon war das Erlebnis vom vorigen Samstag, als er seinen Schlitten erwartend vor dem Hotel Europe stand und die Salve auf dem Newskiprospekt krachte. Diese ersten Schüsse wird er niemals vergessen können, es waren die Vorboten des furchtbarsten aller Kriege, des Bürgerkrieges. Dann das atemlose Hasten der tödlich erschrockenen Menge, die furchtbare Angst, die aus all den verzerrten Gesichtern sprach, das Bild dieser rücksichtslos einander niedertrampelnden Masse, das grauenvoller als alles andere war und schließlich dieses kleine Mädchen, das vor seine Füße geworfen wurde! Wie lieb und jung war doch dieses Kind! Noch sah er das erschrockene Gesicht vor sich mit den flehenden Augen und der ein wenig starken, in der Mitte gespalteten Unterlippe, die so zitterte. Sie war wie ein armes, kleines, angeschossenes Vöglein, dessen Herz in seiner Hand mit angstvollen Schlägen hämmerte, als er es aufhob.

Wie viele zarte Körper werden in diesem Kampf verbluten dachte er damals und dieser Eindruck war so stark gewesen, daß er ihn nicht vergessen konnte.

Das zweite Erlebnis, das nicht verblassen wollte, stammte vom heutigen Tage. Vor dem Wirbel der rotgeschmückten Soldaten, die den Newski entlang strömten, war er in einen Hausflur geflüchtet. Unter den Leuten, die dort Zuflucht gesucht hatten, bemerkte er einen Generalstabsoberst mit den schwarzweißen Achselspangen. Der Mann war nicht mehr jung und hatte jene klugen, durchgeistigten Züge, wie man sie bei Generalstabsoffizieren häufig sah. Er war erschreckend blaß und Savinsky beobachtete, wie bei jedem Schuß ein unmerkliches Zittern durch seine sehnige Gestalt ging. Und er hätte geschworen, daß es nicht Furcht war, die der Oberst empfand; es war ein anderes Gefühl, das ihn übermannte, ein Leiden aus seinem tiefsten Innern geboren . . . Später kam noch ein Fähnrich zu den Wartenden herein und ging auf den Oberst zu, mit dem er eine lange, leise geführte Unterredung hatte. Savinsky hatte sich genähert und hörte den Fähnrich sprechen: »Es muß sein, es muß unbedingt sein . . . Der kommandierende General des Arsenals wurde eben auf der Litejnij niedergeschossen und allen Offizieren, denen sie begegnen, reißen sie die Abzeichen herunter . . .« Der Oberst sagte lange nichts, aber seine Miene war erschütternd. Schließlich zuckte er resigniert mit den Schultern. »Was kann man tun?« Und der Fähnrich begann ihm so zart als möglich, die Achselspangen loszutrennen. Als er zu Ende war überreichte er sie dem Oberst, der sie in seine Tasche gleiten ließ. Savinsky glaubte eine Träne, eine einzige Träne in seinen hellen klaren Augen zu sehen. »Vorwärts!« sagte der Oberst und ging auf die Straße. Savinsky folgte ihm und sah, wie müde und schleppend er dahinschritt, als wäre er um zwanzig Jahre gealtert. –

Savinsky konnte auch diese Szene nicht vergessen und vor seinem Geiste wechselte das Bild des jungen Mädchens, das er von der Straße aufgelesen, mit dem des Oberst, über dessen Achsel sich der Fähnrich beugte. Auch jetzt, als er in dem kleinen Salon seiner Frau hundert beruhigende Gründe aufzählte, standen diese beiden Erlebnisse klar vor seinen Augen und er wußte ganz gut, wie wenig er an seine eigenen Worte glaubte. Es gelang ihm indes seine Frau zu überzeugen und als das Abendessen aufgetragen wurde, bei dem beide ihren Kindern gegenübersaßen, hatte sie ihre Ruhe wiedergefunden. Der aufgeweckte, für sein Alter große Boris, frug mit lebhaften Augen nach den Einzelheiten des Tages. Die Schule, in die er ging, war seit diesem Montag geschlossen, und sein Vater hatte ihm zu seinem größten Schmerz verboten, das Haus zu verlassen. Er wußte von allen Vorgängen nur so viel als die Dienerschaft berichtet hatte und sein kindliches Gemüt war durch deren dramatische Erzählungen stark erregt. Denn nach ihrer Darstellung überflossen die Straßen von Blut, die Hälfte der Truppen war dem Zaren treu geblieben und die sicheren Regimenter würden, von der nahen Nordfront in Eile herangeführt, die Ordnung in der Hauptstadt kämpfend wieder herstellen. Nikolaus hörte den eifrigen Worten seines Sohnes lächelnd zu und aus der Art, wie er ihn betrachtete, war leicht zu erkennen, wie sehr er dieses Kind liebte und wie stolz er auf seinen Buben war. Ruhig stellte der Vater die übertriebenen Schilderungen richtig und setzte seine zuversichtliche Meinung über die weitere Entwicklung des Umsturzes auseinander. Boris aber war damit gar nicht einverstanden.

»Aber Papa, so kann sich das doch nicht abspielen; du glaubst doch selbst nicht daran! Man wird bestimmt kämpfen! Ach, wenn ich groß wäre, würde ich auch ein Gewehr nehmen!«

»Für wen?« unterbrach der Vater.

»Für die Freiheit!« rief der Kleine begeistert.

»Ich glaube, Liebling,« sprach Savinsky, »daß es zu keiner Schlacht kommen wird. Niemand will mehr kämpfen.«

Und seine Stimme hatte ohne seinen Willen wieder ihren traurigen, ernsten Ton. –

Sonja verbrachte eine unruhige Woche. Die Ereignisse überstürzten sich derart, daß man an allem irre wurde und ihnen kaum zu folgen vermochte. Nach acht Tagen war nichts mehr von all den Einrichtungen übrig geblieben, die das große russische Reich zusammengehalten und die Ordnung von Archangelsk bis zum Kaukasus und von der Beresina bis zur Küste des Ozeans gestützt hatten. Aber Sonja überblickte das kaum; sie dachte bloß an die Folgen dieser Krise für ihr eigenes Heim. Sie sollte gezwungen werden, sich von ihrem Mann zu trennen, ihn allein in dieser vollständig der Anarchie verfallenen Stadt zurückzulassen! Sie, die in diesem engen Kreis der Familie, in dem Mann und Kinder ihr alles waren, ihr ganzes Glück gefunden hatte! Sie kannte keinen andern Ehrgeiz als diesen Schatz, der ihr gehörte, zu hüten; die politischen Fragen kümmerten sie nicht. Sie verlangte die öffentliche Sicherheit und Ruhe nur zur Aufrechterhaltung ihres häuslichen Glücks.

Aber die Tage verflossen und die Ruhe kehrte nicht wieder. Ebenso wie alle anderen Einwohner Petersburgs aus ihren Kreisen fühlte auch sie, daß man vor einem dunklen gähnenden Abgrund stand. Und bei ihr, wie bei allen anderen, herrschte am Ende dieser ersten Woche, die den endgültigen Zusammenbruch des Kaiserreiches durch die Abdankung des Zaren brachte, wieder nur ein Gefühl – die Angst. Wohl wurde man nicht direkt an seinem Leben oder an seinem Besitz bedroht. Nach den ersten Tagen des Schreckens war die Hauptstadt wieder ruhig geworden. Die Soldaten waren in ihre Kasernen zurückgekehrt, die Offiziere wieder auf ihren Plätzen; in den Theatern wurde wie gewöhnlich gespielt; die Geschäfte waren geöffnet; niemand hatte die Stadt verlassen. Wenn nicht eine aufgeregte Menschenmenge ständig die Straßen überfüllt hätte und an allen Straßenecken und Plätzen begeisterte Versammlungen stattgefunden hätten, wäre das äußere Bild der Stadt kein anderes als sonst gewesen. Aber im Geheimen war die ganze Stadt von einer grenzenlosen Angst beseelt, einer Angst, über die man nicht sprach, die man zu übersehen vorgab, aber der doch alle verfallen waren und die sich doch, wie sehr man sie auch verbarg, durch die allgemeine ungewöhnliche Erregung, durch die nervöse Unruhe, die jeden ergriffen hatte, durch ein erschrecktes Aufblitzen der Augen oder durch ein überlautes Lachen verriet. Diese Angst hatte weniger ihre Ursache in den während der Straßenkämpfe ausgestandenen Schrecken, als in der Ungewißheit über die Ereignisse jedes nächsten Tages. Es schien, als hätte das große Schiff, das die Schätze Rußlands trug mit einem Male Steuer und Bemannung verloren und treibe allein, mit geblähten Segeln auf das stürmische, mit Riffen besäte Meer hinaus . . .

 

Der beste Freund Lydias war ihr zwanzigjähriger Vetter Paul Volynski, mit dem sie schon als Kind gespielt hatte. Für ihn gab es, seitdem sie lange Röcke trug, kein größeres Vergnügen, als sich ihr grenzenlos zu unterordnen. Obwohl noch sehr jung, war Paul schon im ersten Kriegsjahr freiwillig eingerückt, wurde 1916 verwundet in ein Petersburger Spital gebracht und lebte seither in der Schule der Junker (Offiziersanwärter), die im Sommerpalast, in dem der Zar Paul I. ermordet worden war, ganz nahe dem Palais seines Onkels Volynski untergebracht war. Bei diesem verbrachte er auch alle seine freien Stunden . . . Er war ein großer, schlanker Jüngling, der trotz des Krieges, trotz seiner Verwundung und trotz seiner zwanzig Jahre ein fast kindliches Gesicht behalten hatte, in dem helle, große Augen saßen, blau wie die seiner Kusine. Mancher zärtliche Frauenblick streifte ihn auf der Straße, dann aber beschleunigte er errötend seine Schritte. An diesem ersten Samstag der Revolution kam er zu Lydia zum Mittagessen. Seit dem Umsturz hatte er sie nur selten und flüchtig gesehen und hatte jetzt von den Ereignissen der letzten Woche und all den erregenden Eindrücken, die ihn beschäftigten, zu erzählen.

»Weißt du,« begann er, kaum eingetreten, »der letzte Sonntag war der schrecklichste Tag meines Lebens. Fast hätte ich mich erschossen. Wir hatten Bereitschaft in der Schule; wir wußten genau, was in der Stadt vorging und konnten die Schüsse vom Newski herüber hören und stell dir vor, um ein Uhr verbreitete sich das Gerücht, daß man uns bewaffnet auf die Straße führen werde, um die Polizei zu unterstützen. Ich sah uns schon einen Kordon auf dem Prospekt bilden und vor uns die Arbeiter stehen, die uns zuriefen. Der Offizier forderte sie auf auseinander zu gehen, aber sie kamen immer näher heran. Schon sah ich ihre Augen vor mir, aus denen so gar kein Haß sprach. Es war wie eine unbekannte Gewalt, die sie gegen uns trieb. In diesem Augenblick ertönte das Kommando: ›Setzt an!‹ und da glaubte ich . . .«

»Aber Paul,« unterbrach Lydia, die beim Zuhören blaß geworden war, »du warst doch gar nicht auf dem Newski.«

»Aber nein, natürlich war ich nicht dort und was ich dir eben erzählte, ging mir in dem Moment durch den Kopf, als es hieß, daß wir auf die Straße sollten und da sah ich alles das, was unten geschehen würde, so vor mir . . . Meine Aufregung war so groß, daß ich mich lieber getötet hätte, als dem Befehl zu gehorchen.«

Er war noch jetzt bei der Erinnerung an den Konflikt, der sich in ihm abgespielt hatte, ganz außer sich.

»Gott sei Dank,« fügte er aufseufzend hinzu, »der Befehl ist dann doch nicht gekommen!« –

Nach Tisch gingen sie aus und erreichten über den Platz vor dem Winterpalais das große Zentrum der Revolution, den Newskiprospekt. Es war nebelig und feucht. Ein gewaltiger Sturm war Freitag über die Stadt gebraust und Haufen frischen Schnees lagen noch in allen Straßen. Aber der Sturm hatte der Winterperiode, unter der die Bewohner Petersburgs furchtbar gelitten hatten, ein Ende gemacht, und wenn es auch noch fror, fühlte man doch schon an vereinzeltem mildem Wehen aufatmend das nahende Tauwetter.

Der Newski bot das gewohnte sonntägliche Bild. Ein doppelter Strom von Spaziergängern, die meistens mit der roten Kokarde geschmückt waren, bewegte sich auf den Fußsteigen. Man sah eine unendliche Menge müßig schlendernder Soldaten; es schien fast, als wüßten sie nicht recht, was sie anderes mit ihrer neuen Freiheit beginnen sollten, als die entgegenkommenden Offiziere, die wieder ihre Achselklappen trugen, nicht mehr zu grüßen. Immerhin zeigten sie eine gewisse kindliche Freude. Lydia machte ihren Vetter darauf aufmerksam, der sogleich erwiderte:

»Sie sind zufrieden, weil sie wissen, daß sie nicht mehr in den Krieg müssen.«

»Die Armen, ich kann das gut verstehen.«

Paul, der einen Augenblick sinnend ins Gedränge geblickt hatte, lächelte und sprach munter:

»Du hast Recht, Liebste, in den Schützengräben zu hocken ist kein Vergnügen. – Schau,« fügte er hinzu, indem er auf eine Gruppe Soldaten deutete, von denen jeder einen schweren Sack schleppte, »weißt du, wohin diese Burschen gehen? – Auf den Nikolausbahnhof, um mit dem nächsten Zug in ihre Dörfer zu fahren. Und du kannst sicher sein, daß sie keinen Urlaubsschein verlangt haben. Weißt du, wie man sie schon nennt? Die freiwilligen Urlauber! Ach, wie gerne wäre auch ich so ein freiwilliger Urlauber,« seufzte er. »Wir würden zusammen auf unser Gut fahren, statt daß ich die faden Vorlesungen und Übungen in der Offiziersschule mitmachen müßte. – Wann wird das alles zu Ende sein?«

Sein hübsches Gesicht nahm einen verzweifelten Ausdruck an.

In diesem Augenblick ertönten hinter ihnen lärmende Trompeten, die einen Militärmarsch bliesen. Einige Kompagnien eines Regimentes bogen, mit der Musik an der Spitze auf den Newski ein. Paul und Lydia blieben stehen, um ihren Vorbeimarsch zu betrachten und erkannten die Uniformen des Preobraschenskischen Regiments. Das Neue an dem Anblick waren die vielen roten Fahnen, die über den Köpfen der Soldaten wehten und die roten Banner mit weißen Aufschriften, die mitgetragen wurden und auf denen man, was das Überraschendste war, lesen konnte: »Krieg bis zum endgültigen Sieg!« »Vaterland und Freiheit!« Die Soldaten marschierten mit jenem gleichmäßig schweren Tritt, mit dem jedes russische Regiment diesen besonderen Eindruck von gewaltiger, unwiderstehlicher Kraft hervorruft. Die Menge jubelte ihnen zu, ein begeisterter Schwung riß alle mit. Wer hatte auch seit einer Woche noch an den Krieg gedacht? Und nun war er allen wieder gegenwärtig. Diesmal würde es die rote Fahne sein, die Rußland zum Sieg über seine Erbfeinde führt. Lydia klatschte in die Hände, und über das begeisterte Gesicht Pauls liefen Freudentränen.

Warum mußte Lydia gerade in diesem Augenblick hinter sich die zischenden Worte hören:

»Solange es bei großen Worten bleibt, werden wir immer unseren Mann stellen. Ich möchte die Gesichter in dem Regiment sehen, wenn wirklich der Befehl käme, an die Front zu gehen.«

Lydia schien es, als hätte eine kalte Schlange sie gestreift. Sie drehte sich rasch nach dem Sprecher um und erblickte einen jungen Offizier der Gardeartillerie mit hagerem, glattrasiertem Gesicht, mit spitzwinkeligen Brauen, breitem und verbissenem Mund. Sein starrer Blick war kalt und stechend. Er mißfiel ihr unsagbar.

»Dieser Mann ist gräßlich,« sprach sie, »gehen wir.«

Aber sie hatte keine Lust mehr spazieren zu gehen und führte ihren Vetter nach Hause. Sie war verstimmt und einsilbig.

 

Der junge Artillerieoffizier blickte zur Uhr auf dem Rathausturm, sie zeigte halb fünf. Da ging er, rasch ausschreitend, bis zur Karawanenstraße, in der er, fast gegenüber der Garage der Panzerautos, wohnte. In seinem Zimmer erwarteten ihn zwei junge Leute, der eine war in Offiziersuniform, der andere in Zivil. Zwischen den drei Personen begann sofort eine lange, politische Debatte, deren weitschweifige philosophische Betrachtungen einen europäischen Leser bald ermüden würden.

Der Hausherr, Leo Semeonow Borissowitsch, der eine wissenschaftliche Bildung genossen hatte, gefiel sich darin, seine Reden in sauber voneinander geschiedene Abschnitte zu gliedern, die er in betonter Pedanterie mit »Primo«, »Secundo«, »Tertio« bezeichnete, und dann auch oft in »Groß A«, »Groß B« usw. weiter zerfallen ließ. Er hatte ein ausgesprochenes Rednertalent, sprach klar, eindrucksvoll und mit Lebhaftigkeit. Sein Kamerad, ein Kosakenoffizier von athletischem Körperbau zeichnete, indem er ihm zuhörte, Arabesken und unterbrach ihn jeden Augenblick, bald um eine Erklärung zu verlangen, bald um einen Einwand zu erheben, der stets von Leo Borissowitsch in trockendstem Tone mit drei Sätzen abgetan wurde. Dann pflegte Leo seinem vernichteten Gegner voll Geringschätzung denselben kaltstechenden Blick zuzuwerfen, der eine Stunde früher Lydia so peinlich berührt hatte. Der dritte Anwesende blieb mehr ein stummer Zuhörer. Sein Name, in der Sozial-Revolutionären Partei sehr bekannt, war Andreas Spaßki. Er war einige Jahre in Sibirien, dann im Ausland gewesen. Bei Kriegsausbruch, als er die Erlaubnis erhielt nach Petersburg zurückzukehren, hatte er sich als feuriger Patriot bemerkbar gemacht, hatte aufsehenerregende Reden gehalten und Aufsätze veröffentlicht, in denen er die Meinung vertrat, daß kein Russe während des Krieges einen anderen, als den äußeren Feind kennen dürfe, und daß jeder innerpolitische Kampf ein Verbrechen sei. Er wurde dafür von den im Exil lebenden revolutionären Parteiführern mit Schimpf und Spott überschüttet. Dann war er eingerückt gewesen, hatte Kämpfe mitgemacht und wurde später aus Gesundheitsgründen entlassen. Spaßki war ein Mensch, der wenig sprach, der nichts Bestechendes an sich hatte, aber in dem Ausdruck seines mächtigen Schädels las man eine ungewöhnliche Energie und seine lebhaften Augen flößten Vertrauen ein. Er drückte sich in ruhigen Worten aus; man fühlte, daß seine Meinung sich erst nach reiflicher Überlegung gebildet hatte, und daß man ihn nicht leicht umstimmen könne. Semeonow beendete seine Ausführungen mit folgenden klaren Worten:

»Ich resümiere. – Was haben wir vor uns. Ad A. – Eine ehrliche Regierung, die aus den besten Männern Rußlands zusammengesetzt ist, aus unseren Kadetten, braven Leuten, vorzüglichen Theoretikern, begabten Rednern. Von politischer Erfahrung keine Spur, woher sollten die Armen sie auch haben? In den Semstwos lernt man sie gewiß nicht. Aber auch das würde nichts machen. Ich gebe alles zu, auch daß diese Regierung die besten Eigenschaften der Welt besitzt, aber sie ist – wie die Stute Rolands, die auch das beste Pferd der Welt war – tot! – Wo ist ihre Autorität? – Nirgends! Ihr werdet erwidern, daß sie die moralischen Kräfte des Reiches verkörpert . . . In kritischen Zeiten glaube ich aber an keine moralischen Kräfte, nur an die Kraft der Bajonette! Könnt ihr euch Lwow vorstellen, wie er vor dem Winterpalais eine Guillotine errichtet und seine politischen Gegner hinrichtet? Die großen französischen Revolutionäre trafen damit das Richtige. Die Maschine des Dr. Guillotin hat auf der Place de la Concorde nicht gefeiert. Nur so konnte die wilde Kraft der Jakobiner triumphieren und die Trikolore ganz Europa besiegen. – Ad B. – Der Regierung gegenüber stehen die Sowjets, jetzt wohl noch ein Chaos, aber doch erkenne ich schon alle dunklen Kräfte dort, die sich in Rußland jemals regten. In diesen Sowjets findet ihr bei den Sozial-Revolutionären oder bei den Demokraten ebensoviel Talente wie bei den Kadetten. Sicherlich auch hier die gleiche politische Unerfahrenheit, aber ein präziseres Programm, das der großen Masse viel näher liegt als das der Liberalen. Bei gleicher Unerfahrenheit also das bestechendere Programm. Aber was allem den Ausschlag gibt, ist, daß die Sowjets die effektive Gewalt besitzen, da sie die Bajonette der Soldaten beherrschen, die die Revolution gemacht haben. Dagegen gibt es keine Einwände. Ich schließe mich der Macht an. Ich habe mich von meiner Kompagnie als ihr Vertreter in die Sowjets delegieren lassen. Dort allein liegt die Zukunft, dort werde ich arbeiten!«

Die Stimme des Sprechers hatte die letzten zwei Sätze mit besonderer Wucht bekräftigt. Dann wurde es still, auf lange still. Spaßki folgte mit seinen Augen Semeonow, der in großer Erregung im Zimmer auf- und abging, denn wahrlich dieser Entschluß, der den ehemaligen Gardeoffizier zu dem Arbeitersowjet Petersburgs führte, war ein sehr ernster Schritt!

Nach einigen Minuten brach Spaßki das Schweigen durch drei inhaltsschwere Worte, die das Zimmer wie eine schwere greifbare Masse füllten.

»Und der Krieg?« – Er fügte nichts hinzu. Semeonow blieb mit einem Ruck stehen. Er war erbleicht. Er zögerte einen Augenblick und erwiderte dann, zu einem Entschluß gelangt:

»Der Krieg ist aus. Dieses Land will nichts mehr von ihm wissen. Die Revolution hat ganz neue und wichtigere Fragen gebracht. Erst müssen diese entschieden sein, dann kann ein neuer Krieg beginnen, aber nach unserem Willen, zu unserer Zeit. Die Zukunft gehört denen, die voraussehen.«

Es klang wie eine Herausforderung aus den letzten Worten, als ob er seiner eigenen Ansicht nicht ganz sicher, durch eine kühne Bekräftigung sich selbst zu überzeugen suchte.

Von neuem entstand ein langes Schweigen, noch quälender als das vorige. Der Kosakenoffizier empfand dessen Peinlichkeit sogar bis zur Unerträglichkeit. Er erhob sich und ging ans Fenster. Die Nacht war schon hereingebrochen. Auf dem Platz sah man beim Schein der Straßenlampen eine Gruppe Soldaten vor der Garage stehen. Einer der Panzerwagen manövrierte, um in die Garage einzufahren. Der Offizier wandte sich wieder zurück. Im Zimmer wurden nur noch wenige nichtssagende Worte gewechselt, dann verabschiedeten sich Spaßki und der Kosakenoffizier.

Auf der Straße frug der Kosak, bevor sie auseinandergingen: »Und Sie, Andreas Ivanowitsch, was wollen Sie tun?«

»Ich bleibe noch zehn Tage in Petersburg. Und dann? – Ja, kann ich's denn leugnen? Ich habe mein ganzes Leben lang die Revolution ersehnt und heute, da sie ausgebrochen ist, erschrecke ich, denn sie kommt mitten im Krieg, und diese doppelte Bürde wird Rußland nicht ertragen. Nach meiner Meinung muß vor allem mit dem äußeren Feind abgerechnet werden. Ich reise zur Armee. Wir werden Millionen Deserteure haben. Wie soll man die Soldaten an der Front zurückhalten? Wie ihnen begreiflich machen, daß sie ohne für Rußland zu kämpfen, auch die Revolution nicht verteidigen können? Vielleicht ist es unmöglich. Jedenfalls muß ich's versuchen.«

 

Es gab Stunden, in denen Lydia es als ein Glück betrachtete, daß die Revolution zu einer Zeit ausgebrochen war, als sie, ein heranwachsendes Mädchen, die tägliche Entwicklung dieses geschichtlichen Dramas schon zu verfolgen vermochte. »Ich hätte in einer ruhigen, gleichgültigen Epoche aufwachsen können,« meinte sie dann, »in der sich nichts ereignet, wie Mama, die nur an ihr Vergnügen und ihre Toiletten zu denken hatte. Wie langweilig wäre das gewesen!« Und das junge Mädchen war gewissermaßen stolz, daß sie die Revolution miterlebte und daß man sie später, als würdige Matrone bestürmen würde, ihre Erinnerungen aus der »großen Zeit« zu erzählen. Niemand fiel es ein, ihren Vater oder ihre Mutter nach Jugenderinnerungen zu fragen!

Wenn sie aber versuchte, sich von dieser später wohl berühmten Revolution ein klares Bild zu machen, mußte sie sich gestehen, daß ihr dies nicht gelang. Sie verschlang wohl die Zeitungen, doch fand sie darin nichts als Jammern und Klagen. Man hätte meinen können, daß alle sieben Plagen Ägyptens auf einmal über das unselige Rußland hereingebrochen wären. Auf jeder Seite fand sich dieselbe Redensart: »Rußland ist am Rande des Abgrundes.« Was bedeutete das? Der Satz war ungemein schwer zu verstehen. Oft grübelte sie ganze Abende noch in ihrem Bett nach dessen Sinn. »Man kann sich vorstellen,« sprach sie vor sich hin, »daß ein Mensch, ein Haus, ja sogar ein kleines Dorf, die am Rande eines Abgrundes stehen, eines Tages in die Tiefe rutschen. Aber ein ungeheures Reich, wie das russische, Land und Boden, die Tausende von Quadratmeilen bedecken, auf denen hundertfünfzig Millionen Einwohner leben – wie soll man sich einen Abgrund vorstellen, der alles das verschlingen könnte? Was auch immer kommen mag – die Erde muß doch da bleiben und hundertfünfzig Millionen Menschen können nicht verschwinden. Nein, ich begreife es nicht, vielleicht deshalb, weil ich doch nur ein kleines Mädchen bin, noch zu jung, um aus den Vorfällen des Tages alle die verworrenen, weitreichenden Folgerungen zu ziehen, die andere Menschen so leicht erkennen.«

Die enteilenden Tage brachten eine immer neue Fülle vielfältiger überraschender Ereignisse, die Gespräche wurden trauriger, die Zeitungsberichte klagender und Lydia sah sich immer weniger imstande, das verwirrende Gestrüpp, das die Journale ihren Lesern als Tatsachen vorsetzten, zu durchdringen. Eine tödliche Langeweile blieb als einziges Ergebnis der Zeitungslektüre. Jeden Morgen die gleichen trauervollen Leitartikel, dieselben düsteren Ausblicke, die ständigen Wiederholungen der stets mit anderen Worten aufgewärmten gleichen Tatsachen, die einander oft genug widersprachen – all dies konnte wohl auch den willigsten Geist ermüden. Sie verschloß sich schließlich jeder Erklärung, jedem Kommentar, jeder Prophezeiung. Sie nahm die Revolution als Roman –, ohne den Versuch, über die Entwirrung klar zu werden. Und von diesem Standpunkt aus durchlebte sie ihre Tage.

Mit ihren Freundinnen, mit ihrem Vetter streifte sie durch die Straßen Petersburgs, sah die Bäume in den Gärten Blüten treiben und aus den ehrwürdigen Mauern der kaiserlichen Palais rote Fahnen sprießen. Auf den Straßen waren schon alle früheren Förmlichkeiten verschwunden; die ungeschriebenen Gesetze, die in den modernen Städten Rechte und Pflichten der Spaziergänger regeln, waren mit der alten Regierung versunken. Eine äußere Brüderlichkeit beherrschte alle, welches auch immer die Gefühle sein mochten, die im Inneren diese aus den verschiedensten sozialen Schichten stammenden Menschen in Wahrheit empfanden. Nichts Unterhaltenderes gab es für Lydia, als den Newski entlang zu schlendern, von Gruppe zu Gruppe zu gehen, den Stegreifrednern zu lauschen und mit Soldaten und Passanten zu plaudern. Besonders die Soldaten waren für Lydia der Gegenstand stets erneuten Staunens. Sie bewahrten die gleiche Gemütlichkeit, die gleiche Einfältigkeit, die ursprüngliche Gutmütigkeit und Offenherzigkeit, die Lydia auch früher immer bei allen Begegnungen mit Bauern und Arbeitern bemerkt hatte. Sich selbst überlassen war eine große Anzahl von ihnen in ihre entfernten Dörfer zurückgekehrt, aber viele andere zogen es vor, das ungebundene Leben in der Hauptstadt mit Muße zu genießen. Sie machten endlose Fahrten in der Straßenbahn, deren kostenlose Benutzung ihnen die Regierung, um die Helden der Märztage zu ehren, eingeräumt hatte. Um ihre freien Stunden nutzbringend zu verwenden, hatten sich auch viele als Straßenverkäufer etabliert. In diesem neuen Beruf zeigten sie eine unerschöpfliche Erfindungsgabe. An den Straßenecken oder in Haustoren boten sie den Vorübergehenden Zigaretten, Mehl, Zucker, Grieß an – zweifellos aus den Depots ihrer Regimenter stammend und Gummischuhe, Selchwaren, Bonbons und Geflügel, die von noch dunklerer Herkunft waren.

Lydia kaufte einem von ihnen ein Paar kleine Ballschuhe um siebzig Rubel ab und erzählte abends beim Tanze: »Die Revolution hat mir einen ausgezeichneten und sehr billigen Schuster verschafft: Vasily, Soldat vom Preobraschenskischen Regiment. Er hat an der Ecke der Morskaja seinen Stand.«

Sie lachte ihren Vetter Paul aus, dem das Straßenleben nicht das gleiche Vergnügen machte.

»Aber das ist doch keine Belustigung, Lydia!« meinte er öfters und sein kindliches Gesicht legte sich in ernste Falten, die seine unehrerbietige Kusine hell auflachen machten. Eine Weile bemühte er sich wohl seinen Ernst zu bewahren, aber da er jung und verliebt war, dauerte es nicht lange und er lachte herzlich mit.

 


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