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Der Mantel

Man hatte Kaljasin den Mantel geraubt. Einfach weggenommen – abends auf der Straße.

Er hatte es der Polizei gemeldet. Doch die Zeit verging, und die Missetäter waren nicht zu ermitteln.

Ja, und wie hätte man sie auch ermitteln sollen? Ihre Hände und Füße hatten sie ja nicht dagelassen. Versuch es mal, sie zu finden. Petersburg ist doch kein Dorf.

Anfangs war Kaljasin einfach bestürzt. Aber nach zwei Tagen, als der erste Schreck vergangen war, bemächtigte sich seiner ein neues Gefühl: die Erkenntnis der Unmöglichkeit seiner Lage.

So geht's doch nicht!

Ohne Mantel kann man doch nicht sein.

Es ist ja Herbst, die Kälte steht vor der Tür, und er – in Hemdsärmeln.

Ganz abgesehen davon, daß es unschicklich, ja unanständig ist – es ist November, und es regnet, und die Menschen stellen ihre Rockkragen auf. er aber – im Hemd, in einem ganz hellen Hemd noch dazu. »Ein Mai-Kavalier«, so nannte ihn der kleine Zigarettenverkäufer auf dem Newskij-Prospekt.

Und nicht genug, daß er es sagte, er rief es ihm ganz ungeniert nach.

»Mai-Kavalier« – es ging Kaljasin tagelang nicht aus dem Kopf.

Die Situation war wirklich trostlos. Woher sollte er einen Mantel nehmen? Geld hatte er nicht – und nichts, was zu Geld zu machen gewesen wäre.

Und keine Arbeit. Er lebte so dahin – von zufälligen Arbeiten, meist Abschriften.

Doch dieser dürftige und seltene Verdienst gestattete ihm ja kaum, sich sattzuessen, geschweige denn, sich ein Kleidungsstück zu kaufen. Und nirgends eine Hilfe. Kein Freund, kein Verwandter, der ihm unter die Arme gegriffen hätte.

Indessen ist es vollends Herbst geworden. Bald gibt es Schnee. Dann kommt der Frost.

Aber nicht allein die Kälte ist es, die ihn schreckt – an die kann man sich vielleicht gewöhnen. Es gibt ja Naturmenschen, die das ganze Jahr barfuß umherlaufen. Man sagt zwar, das sei Schwindel – sie reiben sich die Füße mit Fett oder mit Spiritus ein – immerhin, gewöhnen könnte man sich vielleicht doch daran.

Die Hauptsache aber ist: in der ganzen Stadt, in der ganzen nordischen Hauptstadt, ist er der einzige, der in Hemdsärmeln umherläuft.

Er ist der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – alle sehen ihm nach.

Das ist ja ein Ding der Unmöglichkeit.

Dann schon lieber nackt.

Es gibt ja Sportsleute oder Apostel der Körperkultur – allerlei Originale und Halbnarren.

Im vorigen Jahr zum Beispiel war Kaljasin oft auf der Straße einem Knaben begegnet. Nichts hatte der Bursch an als ein Sporthöschen. Ein kaum Zwanzigjähriger war's – gesund, muskulös, sonnengebräunt. Wie ein Afrikaner, wie ein Indianer sah er aus.

Solch einen sieht man sogar mit Vergnügen an. Er ist ein Held, der die Natur bezwingt, Kälte und Unwetter bekämpft. Man könnte ihn beneiden.

Aber wenn da einer in Hemdsärmeln umherläuft, wenn er zittert und bebt und mit eingeknickten Knien vor Frost trippelt, wenn er eine blaurote Nase hat und das Hemd ihm am Rücken festgefroren ist – ja, das ist dann freilich eine ganz andere Geschichte.

Der ist jedem ein Dorn im Auge.

Mißtrauischen und bösen Menschen aber kommt beim Anblick solch eines »Gigerls« der Gedanke: »Sicher ein Säufer, ein Taugenichts. Der ist imstande, einen mir nichts, dir nichts zu berauben, umzubringen – ich würde dir nicht raten, in einer finsteren Gasse mit ihm zusammenzutreffen – splitternackt zieht er dich aus. Was liegt ihm denn daran, diesem ausgemachten Lumpen, diesem Vagabunden, diesem verwegenen Gauner – was liegt ihm denn daran? Einen zu berauben – das ist ja sein Beruf. Er denkt ja an nichts anderes ...«

So, schien es ihm, dachten sie alle, alle, denen er begegnete und die ihm feindselig und etwas furchtsam nachsahen.

*

Erst kam ihm das Gefühl der Verzweiflung, des Unterdrücktseins, dann – der Unzufriedenheit, ja gar der Feindseligkeit gegen die Menschen.

Gegen alle, die auf der Straße einen warmen, einen richtigen Anzug anhatten.

Haß war es gegen die menschliche Gefühllosigkeit – wie sagt doch jener Schriftsteller: »Ein Mensch gilt dem anderen soviel wie ein Klotz.«

Wie sollte einen da die Wut nicht packen?

Wie ist es denn möglich, daß in einer freien Republik, in einem Lande, in dem sozusagen alle für einen einstehen und einer für alle einsteht, daß in der Hauptstadt dieses Landes, nicht etwa in irgendeinem entlegenen Winkel der Erde, wo Menschen und Wölfe einander ins Auge blicken, daß mitten in Petersburg ein Mensch ohne Kleidung umherläuft – denn ein Hemd, nicht wahr? ist doch keine Kleidung, ein Hemd, im Spätherbst! Und das nicht etwa durch eigene Schuld, sondern – beraubt, einfach entkleidet. Und wenn es wenigstens ein dunkles Hemd wäre, ein dunkles, hochgeschlossenes – aber nein, ein helles ist's mit offenem Kragen und bunter Krawatte, und über der Hose wird's durch einen Gummigürtel zusammengehalten, einen Gummigürtel mit einem Täschchen für die Uhr! ...

So etwas trägt man doch nur auf dem Lande, wenn man baden geht, aber nicht in der Stadt, und gar um diese Jahreszeit, wenn der Schnee förmlich in der Luft hängt.

So dachte Kaljasin, indem er auf der Suche nach irgendeinem Verdienst durch die Straßen lief, verfolgt von den mißtrauischen und feindseligen Blicken der ihm Begegnenden. Immer mehr steigerte sich in ihm das Gefühl der Bitterkeit über die Herzlosigkeit der Menschen, steigerte sich derart, daß es ihm zuweilen vorkam, als könne er seine Wut nicht mehr meistern, als müsse er sich auf den ersten besten stürzen, ihn am Kragen erwischen, sich in seinen Mantel festkrallen, ihn wie ein Paket herausschütteln – ebenso wie ihn damals die Räuber förmlich herausgeschüttelt hatten ...

*

Kälter und trüber werden die Tage. Am Morgen ist es in Kaljasins Zimmer so kalt, daß ihm der Hauch vor dem Munde steht. Bald werden die ersten Morgenfröste kommen, dann der erste Schnee, der erste Frost. Rasch stellt sich in Petersburg der Winter ein.

Kaljasin ist ganz verzweifelt. Das beste wäre wohl – eine Schlinge um den Hals.

Da fragt ihn eines Morgens seine Wirtin Sofja Semjonowna, Witwe und von Beruf Spekulantin:

»Ja, wollen Sie denn immer so – in Hemdsärmeln umhergehen?«

Das Blut steigt Kaljasin jäh zu Kopf. Er weiß nicht recht, was er antworten soll, und murmelt verwirrt:

»Ich weiß gar nicht – überhaupt –«

Worauf die Wirtin streng und belehrend sagte:

»Arbeit sollen Sie sich suchen. Sie wollen ein Mann sein und können nicht einmal Arbeit finden? Ohne Arbeit werden Sie nie zu einem Anzug kommen.« Und sie sieht ihm von oben herab streng und hoheitsvoll gerade in die Augen. Kaljasin reicht ihr knapp bis zur Schulter, dieser dicken Person, der Spekulantin Sofja Semjonowna.

Und zum zehntenmal erkundigt sie sich ganz unverfroren und ohne alle Umstände nach allen Einzelheiten des Überfalls – wie man ihn ausgezogen und wie man ihn beraubt hatte.

Und mit einer ihm selbst ganz unbegreiflichen Befangenheit erzählt er verworren die Geschichte des Überfalls, die in ihrer Verwickeltheit einen unglaubwürdigen Anstrich bekommt. Und Sofja Semjonowna glaubt ihm tatsächlich nicht. Aber, was noch merkwürdiger ist: er selbst glaubt es auch nicht. Es fällt einem auch wirklich schwer, an diese so zaghaft vorgebrachte, verworrene Angelegenheit zu glauben.

Nachträglich, wie er dann allein ist und auf seinem schmalen Bette liegt, denkt er voll verhaltener Wut an das Gespräch mit der Wirtin.

Er schämt sich und ist verdrießlich darüber, daß er es nicht so erzählen konnte, daß Sofja Semjonowna, dieser dicke Klotz, an ihn geglaubt hätte. Er stellt sich vor, wie er vor ihr stand, wie ein Schulbub mit gesenkten Augen konfuses Zeug redend, und zum Überfluß unaufhörlich an einem Hemdknopf zupfte. Warum war er so befangen, so blöde gewesen? Man hätte, weiß Gott, leicht aus den Gedanken kommen können, nicht er sei beraubt worden, sondern er selbst habe jemand beraubt.

»Jämmerlicher Kerl«, schimpft er innerlich über sich selbst: »Du Hund, dem jeder, dem es Spaß macht, einen Fußtritt versetzen kann –«

Natürlich, auch beraubt hat man ihn nur, weil er sich so gut dazu eignet, so wehrlos ist. Natürlich nur deshalb. Der erste beste wird ja nicht beraubt – die Räuber suchen sich ihr Opfer sorgfältig aus.

Er erinnert sich, daß er damals, als er überfallen worden war, nicht geschrien hatte, nicht gelaufen war – er hatte sich geschämt, nachts schreiend durch die Straßen zu rennen. Nur den Schritt hatte er etwas beschleunigt auf der Suche nach einem Polizisten, und als er einen gefunden hatte, war er nicht sofort auf ihn zugeeilt – nein, er war zwei-, dreimal an ihm vorbeigegangen und hatte ihm dann, wie von ungefähr, unter Entschuldigungen seine Mitteilung gemacht:

»Verzeihen Sie, Genosse – man hat mir soeben – meinen Mantel –«

Er sprach unklar, stockend, verworren und so leise, als berichte er nicht über einen Raubüberfall, sondern über eine alltägliche Begebenheit, oder als erkundige er sich einfach nach einer Straße.

Der Polizist richtete einige Fragen an ihn und sah ihn von der Seite an.

»Pfui Teufel«, sagt Kaljasin jetzt und spuckt aus. Er steckt den Kopf ins Kissen, schließt die Augen und trachtet die unangenehmen Gedanken zu verscheuchen.

*

Es war sehr schwer, Arbeit zu finden.

Möglich ist es auch, daß man nur »solch einem« keine Arbeit geben wollte, »solch einem« in Hemdsärmeln. Wie dem auch sei, immer hieß es: »Eilige Schreibarbeiten sind augenblicklich nicht vorhanden – und auch nicht zu erwarten.«

Aber ohne Arbeit kann man doch nicht existieren. Er verdingte sich also als Taglöhner, als Brückenpflasterer. Da sollten neue Bretter gelegt werden.

Das war eine schwere Arbeit, eine Arbeit, an die er nicht gewöhnt war. Etwas Schwereres als einen Bleistift hatte er früher wohl kaum je in der Hand gehabt.

Er hatte da mit einem jungen Burschen zu arbeiten, der wohl eben aus dem Dorf in die Stadt gekommen war und an solche Arbeit gewöhnt war, einem Kerl, der über Bärenkräfte verfügte. Er hatte Kaljasin in kurzer Zeit überflügelt. Der bekam Ohrensausen, seine Knie zitterten und knickten ein, sein Herz schlug zum Zerreißen, und es flimmerte ihm vor den Augen.

Der Bengel aber feuerte ihn mit groben Zurufen an. Und arbeitete ununterbrochen. Sein gebräuntes Gesicht glänzte, als sei es mit Butter bestrichen, und unter dem Hemd wölbte sich die mächtige Brust.

Kaljasin wurde es immer schwerer, immer trostloser zumute.

Sein Herz zog sich zusammen, und es befiel ihn ein Gefühl der Übelkeit.

*

Ein kalter Tag.

Der erste Morgenfrost.

Auf den Pfützen, gleich einer dünnen Glasscheibe, eine Eiskruste.

Rosige, frische Menschen kommen Kaljasin entgegen. Er aber schleicht an der Mauer entlang. Er hat sich schon daran gewöhnt, an den Mauern entlang zu gehen – wie ein herrenloser Hund. So fällt man weniger auf.

Er friert an den Ohren, an den Fingerspitzen – am Rücken.

Er hat das Gefühl, als habe man ihm eine Eisenschiene zwischen die Schulterblätter gelegt.

Und er beschließt: heute ist der letzte Tag, an dem er ohne Mantel umherläuft.

Er wird einen stehlen, wird jemand berauben, ebenso wie man ihn beraubt hat – aber zu einem Mantel wird er kommen: Warum auch nicht? Wenn die Menschen so unmenschlich sind – wozu dann die Umstände? Nimm dem ersten besten den Mantel ab, und – abgemacht.

Sind denn das Menschen? Woran denken sie? Wonach streben sie?

Da – an den Ecken stehen sie und handeln mit Devisen, oder – mit jungen Hunden, für die sie Milliarden verlangen und bekommen.

In Kaljasins Herzen kocht es vor Zorn. Ihm ist sogar heiß – heiß im bloßen Hemd. Rasch trabt er längs der Mauer dahin. Wie in einem Kessel kocht das Blut in seinem Herzen, in seinen Adern – er fühlt keine Kälte, merkt auch nicht, wie schnell er läuft.

Er fühlt auch keine Müdigkeit, sein Hirn ist gedankenleer, nur vom Bewußtsein erfüllt: heute abend, wenn es dunkelt, wird er in jener Gasse, die er für seinen Plan auserkoren hat, sein Opfer erwarten.

Wahllos. Der erste wird's sein, der einen Mantel trägt.

Hin und wieder befühlt er das Messer in seiner Tasche. Den ganzen Abend vorher hat er es am Schleifstein gewetzt. Seine Wirtin war ins Kino gegangen, er war also allein und unbeobachtet gewesen und – hatte das Messer geschliffen.

Nun läuft er straßauf, straßab, beschreibt große, dann kleinere Kreise um jenes Gäßlein – den Ort der Abrechnung mit dem »Götzen Mensch«.

Rasch bricht die graue Novemberdämmerung herein, gräbt finstere Löcher in Ecken und Winkel, läßt die Gesichter der Menschen fahl erscheinen – nun kann man ihre Kaljasin so wohlbekannten Blicke nicht mehr unterscheiden.

Jetzt verlangsamt er den raschen Schritt, zieht engere Kreise um die auserkorene Gasse, die Stätte der Abrechnung.

Nun steht er in der Gasse, an einen Zaun gelehnt, das Messer im Gürtel, und späht scharf in das abendliche Halbdunkel.

Er schrickt zusammen.

In der Ferne, in der Mitte des Dammes, geht ein Mensch.

Er kommt hierher, denkt Kaljasin.

Und er wartet. Aber nicht wie einer, der etwas Unheimliches, etwas Außergewöhnliches vorhat, nicht wie ein Räuber, der im nächtlichen Wald sein Opfer erwartet, um es bestialisch zu überfallen. Aus steinerner Unbeweglichkeit heraus wirkt ein raubgieriger Überfall jäher – er ist schon an und für sich eine vollendete Tat. Nicht so aber wartete Kaljasin, sondern einfach, als wolle er sich nach einer Straße erkundigen oder den Vorübergehenden um Feuer bitten.

»Teufel noch einmal«, flucht er innerlich, wie damals, als er sich geniert hatte, dem Polizisten den Raubüberfall anzuzeigen – »Pfui Teufel!«

Ganz nahe schon ist jetzt die hohe schwarze Gestalt. Gemessen und laut tönen die Schritte auf dem mit einer leichten Eisschicht überzogenen Pflaster.

Gleich wird er da sein, der Unbekannte.

Kaljasin macht einen Schritt nach vorn, den Griff des Messers fest umfassend – noch einen Schritt –

»Halt!« will er dieser dunklen Gestalt zurufen, die ihm da furchtlos entgegenkommt – fast ist er schon mit ihr zusammengestoßen – schon kann er den hellen Fleck des Gesichts deutlich unterscheiden – da tritt er plötzlich ungeschickt zur Seite, in eine gefrorene Pfütze, das Eis kracht unter seinen Füßen, und er murmelt:

»Verzeihung –«

Und der langschössigen Gestalt, die unschlüssig und zaghaft stehengeblieben war, ausweichend, geht er eilig davon.

In seinen Ohren aber klingen unerträglich die allmählich verhallenden Schritte des Vorübergehenden, dessen Mantel ...


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