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Mischa

Lederjoppe. Ledermütze mit einem Kniff über dem Schirm. An den Schläfen – dunkelblonde, krause Haarbüschel. Scharf und verwegen der Blick der grauen Augen.

Mischa heißt er. Siebzehn Jahre alt.

Von klein auf ist er ein Waisenkind. Verwandte hat er nicht.

Ein guter Mensch hatte ihn zu sich genommen, der Schuster Kusmitsch. Doch Mischa behagte es da nicht. Er lief davon.

Und Kusmitsch war doch gut zu ihm gewesen – kränkte ihn nicht, überhäufte ihn nicht mit Arbeit.

Wie ein Vater war er zu ihm. Aber, wie gesagt, dem Jungen behagte es nicht – er lief davon.

Heimlich. Ohne Geld. Bei strömendem Regen.

Und von da ab lebte er auf der Straße.

Anderen heimatlosen Jungen schloß er sich an, trieb mit ihnen »Straßenhandel«. Sie sammelten Flaschen, Lumpen, verschiedenes Gerümpel. Auch vor Diebstahl scheuten sie sich zuweilen nicht. Es passierte so allerhand.

So verstrichen unbemerkt, spielend vier Jahre Straßenleben. Mischa war nun zwölf Jahre alt.

*

Revolution.

Das war eine fröhliche Zeit für Mischa!

Ein Tönen – ein Wogen ...

Ja – fröhlich, fröhlich war's.

Er hatte sich mit allen verbrüdert – alle waren sie nun gleich. Es war, als hätten die Menschen begriffen, daß das wahre Leben nicht in der Enge der Häuser und Wohnungen gelebt werden soll, sondern in den Straßen, auf den Plätzen ...

Fröhliche Tage – herrliche Tage ...

Gefängnisse wurden gestürmt, Gefangene befreit.

Mischa hatte sie weinen sehen, diese Befreiten.

Auch er hatte Kerker gestürmt, Gerichtsgebäude in Brand gesteckt. Er, der Zwölfjährige.

Aber auch noch jüngere waren dabei gewesen.

Bengel, die noch nicht trocken hinter den Ohren waren, schrien:

»Sagt euch lo–o–o–s von der Alten Welt –! ...«

*

1918 – das schreckliche, das herrliche Jahr ...

Schriftsteller haben es beschrieben, Dichter haben es besungen. Gut und schlecht.

Auch Mischa erzählte – gut, packend. Von Herrschaften, die »vor Hunger krepierten«, von Überfällen, Erschießungen.

Auch von sich erzählte er. Wie er auf den Dächern der Eisenbahnwaggons umhergefahren war. Mit dem Maschinisten hatte er sich angefreundet und war mitgefahren. Es war ja gleich, wo man war – ob in der Hauptstadt oder sonstwo.

Er wäre auch nach Amerika gefahren – so wie er ging und stand.

So wie damals, als er dem Schuster Kusmitsch davongelaufen war, achtjährig – in Wind und Wetter.

*

Als die Weißen auf Petersburg marschierten, trat er als Freiwilliger in die Rote Armee ein.

Ja, die Revolution machte ihm viel Arbeit!

Alles mußte er wissen – was in den Zeitungen stand und was auf der Straße vorging. Auch an die Front war er gegangen, um auf dem laufenden zu sein.

Senjka, sein Kamerad, meinte:

»Ich habe Angst, daß sie mich töten.«

Mischa aber sagte:

»Was liegt denn dran? Das kann einem überall passieren.«

Senjka kratzte sich hinter dem Ohr, murmelte ein kräftiges Schimpfwort und – ging an die Front.

Gleich in der ersten Schlacht, bei Gatschina, bekam er einen Bauchschuß und starb. Mischa war und blieb unverletzt.

»Weiß der Teufel,« sagte er – »ihre Geschosse sind ja nichts wert.«

Er wollte unbedingt verwundet werden. Man muß doch alles auskosten.

Mancher hatte da fünf Wunden, und Bauch und Beine waren wohl achtmal genäht. Er aber hatte auch nicht den leichtesten Kratzer.

Auch bei Kronstadt war er als Freiwilliger dabei und blieb wieder unverwundet.

Sein Nebenmann fiel. Ihn aber betäubte das Geschoß nur.

Zwei Tage hatte er Ohrensausen und das Gefühl, als sei sein Kopf ganz leer.

*

Mischa liebte ...

Aus Liebe fing er an zu spekulieren. Aus Liebe kann man ja bekanntlich zum Räuber werden – nicht nur zum Spekulanten.

Man mußte dem Mädelchen, der kleinen Lydia, doch helfen.

Nicht etwa, daß sie darum gebeten hätte.

Und nicht aus Großtuerei half er ihr.

Er hatte sie wirklich lieb und sah, daß sie hungerten, sie und ihre Mutter, daß sie nur von dem jämmerlichen Kartenbrot lebten – von Verteilung zu Verteilung.

Sein Herz zog sich zusammen, wenn er daran dachte.

Und in den Eisenbahnzügen, beim Warenaustausch, handelte er wie ein Zigeuner.

Die geriebensten Bauern setzte er in Erstaunen.

»Du bist ja – bist ja der geborene Spekulant«, meinten sie kopfschüttelnd.

»Der wird es weit bringen,« setzte einer hinzu – »dieser Sowjet-Großkaufmann.«

Wohl schimpften sie, tauschten aber lieber mit ihm als mit anderen. Es war so etwas wie Bewunderung, was sie empfanden. Der Bauer liebt Geschäftstüchtigkeit.

Doch die kleine Lydia war plötzlich verschwunden.

Nicht etwa, daß sie gestorben war – nein: sie war einfach weggezogen. Wohin – konnte Mischa nicht ermitteln.

Als er von der Front zurückkam, war sie eben nicht mehr da.

*

Mischa aber verlangt es nach Liebe. Er sehnt sich danach, ist schwach, unschlüssig, verloren ohne sie.

Der sonst verwegene Blick seiner grauen Augen ist unruhig, verstört. Seine Augen scheinen beständig zu suchen. Zuweilen saugt sich der Blick fest, um dann enttäuscht wieder zurückzuweichen.

Deshalb arbeitet Mischa nirgends, treibt nur Straßenhandel.

Denn hier, auf der Straße, hofft er sie eher wiederzufinden, die kleine Lydia, die er als Fünfzehnjähriger schon geliebt hat.

Hier, an den Ecken, stehen ja auch seine Kameraden. Auch sie handeln, gleich ihm, mit allem, was sich gerade trifft: mit Zigaretten, mit Blumen, mit »echter französischer Schokolade«. Manche mit Obst.

Alle fast noch Kinder, Tropfen eines aufgewühlten Meeres, die auf dem Pflaster glitzern – ehe sie verdunsten.

Mischas Blicke suchen – suchen unentwegt ...

Und eines Tages – plötzlich:

»Mischa – welch eine Begegnung!«

Siebzehn Jahre alt war Mischa damals.

*

»Komm mit mir,« sagte er einfach – »für dich will ich stehlen und plündern.«

»Ach«, sagte sie leichthin. Und dann, indem ihr Blick seine bloßen Füße streifte und ihr Mund sich spöttisch verzog: »Sag einmal – Stiefel hast du wohl nicht?«

Stiefel waren, in der Tat, nicht vorhanden.

Er blickte beschämt auf seine großen, kräftigen, sonnengebräunten Füße.

Doch was galten nun Stiefel – sie hatte geheiratet, war für ihn verloren.

Und doch gab er's nicht auf. In einem besonders qualvollen Augenblick, als er vor Liebessehnsucht fast verschmachtete, kam ihm der Gedanke: Wie wär's mit einem – Überfall? ...

Nicht aus Großtuerei, nicht aus hingebendem Mitleid, wie damals, vor Jahren, nicht aus Konkurrenz zu dem Mann des kleinen Mädchens – nein, einfach aus Liebe war ihm dieser Gedanke gekommen, aus Liebe, die er nötig hatte wie die Luft.

Denn aus Liebe kann man zum Räuber werden ...

Er arbeitete einen Plan aus, hatte eine Sache im Auge: die Geschäftsinhaberin Solowejtschikowa.

In der Kneipe machte er die Bekanntschaft zweier Spezialisten dieses Faches, Staßjkas und Kotiks.

Übrigens kannte er sie schon von früher her: sie hatten ihm immer Zigaretten abgekauft.

*

Einige Tage, nachdem man die Solowejtschikowa ermordet und beraubt aufgefunden hatte (den Räubern waren 200 Goldstücke und kostbarer Schmuck in die Hände gefallen), traf Mischa die kleine Lydia mit ihrem Mann im Café.

Ohne Zögern und ohne Scheu vor dem Mann trat er an ihren Tisch.

Weshalb sollte er sich auch genieren? Hatte nicht er sie einst vor dem Hungertod geschützt?

Auch sah er ja jetzt sehr anständig aus: er trug einen guten Anzug, eine englische Mütze und ganz neue Stiefel. Wahrhaftig – er war nicht schlechter gekleidet als Lydias Mann.

Die Kleine lächelte:

»Bist du aber fein geworden.«

Und zu ihrem Mann gewendet:

»Das ist ein alter Bekannter, Mischa Archipow.«

Der Mann verbeugte sich höflich.

Mischa setzte sich an Lydias Tischchen und schwieg.

Ihm war traurig und unbehaglich zumute.

Im Saal ist es lärmend. Besoffene Stimmen. Eine Geige schluchzt. Ein Sänger erhebt seine Stimme.

Man klatscht, man brüllt. An allen Tischchen wird gesungen.

Auch Lydias Mann applaudiert. Er hat große weiße Hände und trägt an drei Fingern Ringe. Auch sein Gesicht ist weiß und breit. Und er lächelt nur mit den Lippen.

Lydia ist betrunken.

Sie lacht ununterbrochen, ohne jede Ursache.

Sie sieht Mischa verschmitzt an und fragt:

»Wie bist du denn plötzlich so reich geworden?«

Und wieder lacht sie übermütig.

Mischa sagt leise, so daß der Mann es nicht hören kann:

»Ein Überfall –«

Lydia glaubt es nicht, lacht so laut, daß die Ohrringe in ihren kleinen, rosigen Ohren beben.

»Du hast wohl die Solowejtschikowa umgebracht – wie?«

Mischa zuckt bei der unerwarteten Frage zusammen und blickt scheu zu Lydias Mann hinüber.

Doch der hört nicht zu. Er ist betrunken, steht auf, geht zum Podium, spricht mit dem Klavierspieler.

Inzwischen neigt sich Mischa zu Lydias Ohr und flüstert rasch:

»Die Solowejtschikowa – ja! Um deinetwillen, Lydia! Wirst du nun mit mir leben, Lydia?«

Sie hat einen gelangweilten, müden, betrunkenen Ausdruck. Sie gähnt sogar. Doch sieht sie ihn an, und Mischa fühlt, wie er bis über die Ohren rot wird.

Lydia wendet den Blick von ihm ab und sagt träge:

»Unsinn, Mischa.«

Der Mann kommt zurück, setzt sich, ohne Mischa anzusehen.

Mischa fühlt sich recht unbehaglich.

Er verläßt Lydias Tisch und geht zu seinen beiden Kameraden, Staßjka und Kotik, die in einer Ecke des Saals sitzen.

»Was ist das für ein Weibchen?« fragt Staßjka.

»Eine Bekannte«, sagt Mischa.

»Mit einem Liebhaber?«

»Nein – verheiratet.«

*

Die Musik spielt etwas Trauriges, Langgedehntes.

Der Geiger wiegt sich hin und her, beugt sich tief herab, als suche er etwas auf dem Boden.

Dann wirft er den Kopf zurück und blickt mit flehenden, schmachtenden Augen zur Decke. Der Bogen und die Geige beben. Und auch der Kopf des Geigers zuckt.

Mischa sitzt da, stützt mit finsterem Blick den Kopf mit der Hand und denkt an die kleine Lydia.

Der Gedanke, daß sie ihm nicht glaubt, quält ihn.

Meinetwegen, tröstet er sich. Doch der Gedanke, sie glaubt mir nicht, läßt ihn nicht los. Sie hält mich für einen Schwätzer – lacht mich aus – erzählt es ihrem Mann –

Eben lacht Lydia in der Tat. Der Mann mit dem breiten, weißen Gesicht lacht auch, indem er nur die Lippen verzieht – und Mischa scheint es, als sehe er zu ihm herüber. Mischa hämmert das Blut in den Schläfen. Er steht auf, schwankt. Fast hätte er das Glas vom Tisch geworfen.

Kotik schreit ihn an:

»Paß doch auf, Tolpatsch!«

Mischa geht durch den Saal. In seinen Ohren klingt zirpend die Geige.

Am Ende des Saals befindet sich die Telephonzelle.

Er verlangt die Auskunft. Läßt sich mit der Kriminalpolizei verbinden. Sagt:

»Schicken Sie sofort eine Abteilung ins Café ›Lusitania‹.«

»Wer ist denn am Apparat?« fragt eine unzufriedene, dumpfe Stimme.

»Das ist ja gleichgültig,« antwortet Mischa – »ich sage Ihnen ja: die Räuber, die die Solowejtschikowa ermordet haben – ja, drei. In der Ecke, rechts von der Musik.«

Jetzt spielt die Geige etwas Lustiges.

Die Töne hüpfen, drehen sich, winden sich spiralförmig, reißen auseinander – vereinigen sich wieder ...

Der Geiger zuckt mit dem Kopf, mit den Ellenbogen, mit den Beinen. Es sieht fast so aus, als wolle er anfangen zu tanzen.

Staßjka erzählt dem laut lachenden Kotik eine unanständige Anekdote.

Mischa aber blickt unverwandt zur Tür.

Die geht fortwährend auf und – die Scheiben glänzen. Menschen kommen herein, gehen hinaus.

*

Und wieder geht die Tür auf, und die Scheiben glänzen. Sie bleibt etwas länger offen als sonst.

Drei Männer kommen herein – einer hat einen Hut auf. die anderen Käppis. Sie gehen raschen, sachlichen Schritts – nicht wie Caféhausbesucher zu gehen pflegen – durch den langen Saal zum Podium. Hinter ihnen – eine Menge Männer mit roten Mützen und glänzenden Knöpfen auf den schwarzen Mänteln.

Im Saal wird es ganz still.

Als sie das Podium erreichen, verstummt die Geige ...


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