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Der Dieb

Wanjka, der Professionsdieb, saß das Ende des Krieges im Gefängnis ab. Zwei Jahre saß er nun schon. Und plötzlich – frei!

Und zwar nicht auf dem üblichen Wege – durch Verordnungen, über Kanzleien, mit feierlicher Überreichung der »Zivilkleidung«, sondern plötzlich, wie im Traum, wie im Märchen.

Nachts war's. Ein dumpfes, immer lauter werdendes Tönen erfüllte das Gefängnis, gleich einem herannahenden Sturmwind.

In den Gängen entstand ein Rennen, ein Getrampel, die Lichter wurden gelöscht.

Und dazwischenhinein ein unbekanntes, erschreckendes Brausen – Gesang!

Gesang – im Gefängnis!

Wanjka erinnerte sich deutlich dieser Nacht. Er hatte geweint, zum erstenmal im Leben geweint. Und nie würde er jenen Schreienden auf der Schwelle der Einzelzelle vergessen. Ein Soldat war's, kein Gefängniswächter, ein wirklicher Soldat – und er rief:

»Im Namen des aufständischen Volkes – herau–au–aus!«

Und in den Gängen drängte sich die Menge, bewaffnet und unbewaffnet. Wanjkas Hände wurden ergriffen, wurden gedrückt.

Der Lärm und das Tosen war so stark, daß es einem schien, die Mauern müßten bersten.

Ja, Wanjka weinte – erst vor Freude, dann vor Scham.

Er wankte gegen die Wand, entriß seine Hand dem Druck anderer Hände und stammelte:

»Brüder, ich bin ja ein Dieb – ein Dieb ...«

Aber man hörte nicht auf ihn. Man hatte ihn unter den Armen gepackt, schleppte ihn vorwärts, rief:

»Hierher, hierher, Kameraden – hurra!«

Und in den einst so öden Gängen ertönte Musik ...

*

Anfangs lebte man fröhlich dahin. Keine Wächter gab's mehr, keine Aufseher. Auf den Straßen – ununterbrochener Feiertag. Rudelweis trieb man sich umher, knabberte Sonnenblumenkerne. Die Teehäuser waren brechend voll.

Dann aber kam das große Fasten, man hatte nichts zu fressen. Um Brot mußte man sich anstellen. Geradezu lächerlich!

Die Hauptsache aber war: man durfte nicht stehlen. Auf der Stelle wurde man erschlagen.

Wovon aber sollte Wanjka leben, wenn nicht von Diebstahl?

Tagelang irrte er hungernd umher. In den Teehäusern saß er oft bis zur Nacht vor einem Glase Tee, aß verdächtig aussehenden Zwieback. Und zum Überfluß fiel ihm auch noch das Mädel ein, die Lucie.

Vor langer Zeit, noch bevor man ihn zum zweitenmal erwischt und eingesperrt hatte, hatte er sich mit ihr eingelassen. Dann mußte er anderthalb Jahre absitzen und hatte das Mädel verloren.

Nun suchte er sie überall, erkundigte sich nach ihr. Aber sie war wie ins Wasser gefallen.

Es fielen ihm die früheren Begegnungen mit ihr ein, die gemeinsamen Spaziergänge auf dem Kirchhof, die letzte Osternacht. Immer war es lustig gewesen, immer hatte man Unsinn getrieben.

Die Überzeugung setzte sich in ihm fest: finde ich sie nicht wieder, so ist alles verloren.

Doch Lucie war unauffindbar. Statt ihrer begegnete ihm ein alter Kamerad, gleichfalls seines Zeichens Dieb, Slawuschka mit Namen.

Slawuschka erkannte ihn sofort.

»Ah, da bist du ja! Wo treibst du dich denn herum?«

Das war ein riesengroßer Kerl, hatte einen schwarzen Schnurrbart und trug recht altertümlich aussehende Lackstiefel. Leute, die so aussehen, gibt's jetzt gar nicht mehr.

»Arbeitest du?« fragte Slawuschka. »Damit steht's jetzt schlimm – sie schlagen einen ja einfach tot, die Halunken. Jetzt, Bruder, muß man es anders machen. Einfach so – die Hand an die Kehle! Ja, auf Ehre! Ich will mir eben eine Sache ansehen,« setzte er leiser hinzu – »eine ganz sichere Sache. Willst du halbpart – was?«

»Im Zentrum?« fragte Wanjka.

»An der Fontanka Kleiner Fluß in Petersburg, sowie der ganze Bezirk an dessen Ufern.. Eine Witwe mit ihrer Tochter. Eine ganz sichere Sache.«

Wanjka hörte zu. Ihm wurde ganz fröhlich zumute. Er erkundigte sich mit großer Sachlichkeit, war sofort wieder in seinem Element.

»Eine große Nummer also?«

»Ja – Ehrenwort. Mit Kleinigkeiten, weißt du, geb' ich mich nicht gern ab. Hast du eine Waffe?«

»Nein.«

»Ja, was fällt dir denn ein? Jetzt hat doch jeder Schuft einen Revolver. Na – ich will dir einen besorgen. Morgen also?«

*

Lange klopften sie an der schwarzen, mit Wachstuch beschlagenen Tür.

Endlich ließ sich eine weibliche Stimme vernehmen:

»Wer ist da?«

»Wohnt hier Axinja Sergejewna?«

»Ja – was soll's?«

»Ein Brieflein von Tjurin.«

Die Tür wurde geöffnet. Eine hohe, schlanke Frau mit kurzsichtigen Augen stand auf der Schwelle.

»Ein Brief von Alexander Sergeitsch?« fragte sie, Slawuschka den Brief abnehmend. »Treten Sie ein«, fügte sie hinzu und ließ Slawuschka und Wanjka herein.

Slawuschka stieß Wanjka beiseite und schob sich vor.

»Warte!« sagte er mit sonderbarer, tiefer Stimme.

Die Frau wandte sich um, ächzte leise auf und ließ den Brief fallen: Slawuschka hielt einen Revolver in der Hand.

»Wenn du schreist, schieße ich«, flüsterte er jetzt wieder mit tiefer, fremder Stimme.

Wanjka ließ Slawuschka mit der Frau im Vorraum und machte einige unhörbare Schritte dem Zimmer zu. Sein Revolver hatte sich in der Hosentasche verwickelt. Mit großer Mühe zog er ihn schließlich hervor.

Als er das Zimmer betrat, hörte er leises Singen.

Das ist die Tochter – singt ein Liedchen, dachte Wanjka und ging in der Richtung der Stimme. Der Gesang riß ab. Eine helle Mädchenstimme fragte:

»Wer ist da?«

Ein junges Mädchen in grünem Kleid erschien auf der Schwelle des Nachbarzimmers.

»Wer?«

Als sie Wanjka mit dem Revolver in der Hand sah, machte sie rasch ein paar Schritte nach rückwärts und schrie mit gellender Stimme:

»Ah–ah–ah! Hi–i– i–ilfe!«

Wanjka stürzte hinter ihr her. Er erschrak über ihr Geschrei, hauptsächlich aber – das war ja Lucie!

»Lucie, brüll doch nicht!« rief er mit vor Schreck erstickter Stimme und faßte sie an der Hand.

Aber sie hörte und verstand ihn nicht. Sie riß das Fenster auf und schrie mit schriller Stimme:

»Hilfe! Hilfe! Mörder!«

Wanjka hob die Hand mit dem Revolver. Blitzschnell ging es ihm durch den Kopf: Hast ja noch nie geschossen.

Ein lauter, kurzer Knall. Es gellte ihm in den Ohren. Das Mädchen wankte, fiel auf ihn.

Er stützte sie nicht, sprang zurück.

Dumpf schlug ihr Kopf auf den Boden.

Aufmerksam sah er der Toten ins Gesicht – unfaßlich – das war ja gar nicht Lucie, sondern ein fremdes, unbekanntes Mädchen! ...

Im Nebenzimmer, durch das er soeben gekommen war, ertönte der gedämpfte Schrei einer Frau, und gleich darauf fielen zwei Schüsse.

Dann Slawuschkas Stimme – flüsternd, ängstlich, fremd:

»Fort, Wanjka, fort! Man ist uns auf den Fersen!«

Wanjka rannte aus dem Zimmer, stieß mit Slawuschka zusammen. Der zitterte am ganzen Körper, sogar der Schnurrbart zitterte.

»Fort – fort!«

Slawuschka lief auf den Zehenspitzen ins Vorzimmer. Wanjka hinter ihm her. Er hörte, wie eine Tür zuschlug. Im dunklen Korridor fand er nicht sofort den Ausgang. Irgendwo hörte er dumpfen Lärm. Plötzlich fiel ihm Slawuschkas ängstliches Flüstern ein, der Herzschlag setzte einen Augenblick aus.

Vorsichtig öffnete er die Tür zur Treppe.

Unten Lärm, Stimmengewirr. Man konnte einzelne Worte unterscheiden:

»Geh! Führ' uns! Wo warst du! In welcher Wohnung?« schrie eine unbekannte, böse Stimme.

Dann Slawuschkas Gemurmel – nur die Stimme deutlich erkennbar.

Der ist erledigt, dachte Wanjka.

Er ging rasch in die Wohnung zurück, ließ die Tür ins Schloß fallen. Dann ging er von einer Leiche zur anderen. Das Mädchen sah er nicht an. Nur nahm er plötzlich die Mütze vom Kopf und warf sie aufs Fensterbrett.

Von unten, aus dem Hof, hörte man immer lauter das dumpfe Stimmengewirr. Dann, ganz deutlich, eine einzelne Stimme:

»Ja, in Nummer 17 – dort ist noch einer.«

Wanjka ging rasch vom Fenster weg.

Vom Hof oder von der Treppe her abgerissene Laute, eine flehende Stimme:

»Rechtgläubige Christen! U–u–u! Ah–ah–ah! Rechtgläu...«

Hier riß die Stimme ab, und Wanjka verstand: es war Slawuschka, der geschrien hatte.

Er nahm seinen Revolver aus der Tasche, legte ihn auf den Boden hinter die Tür. Er hatte die schwache Hoffnung: vielleicht, wenn du keine Waffe hast, schlagen sie dich nicht tot.

Man schlug heftig gegen die Tür. Nicht mit den Fäusten, sondern mit einem schweren Gegenstand. Die Tür krachte.

Wenn sie die Tür einschlagen, wird's schlimmer, dachte Wanjka.

Er ging zur Tür – zog den Riegel zurück.

In die plötzlich weitaufgerissene Tür stürzten, Wanjka zurückdrängend, eine Menge Menschen.

Man schrie. Man packte ihn.

»Ich ergebe mich! Nehmt mich!« rief Wanjka. »Schlagt mich nicht, Brüder – ich habe mich ja ergeben!«

»Nicht schlagen? Wa–a–a–as? Nicht schlagen? Ihr aber schlagt die Menschen tot? Wa–a–a–as?«

Die Stimmen betäubten ihn. Dann – ein schwerer Schlag auf den Hinterkopf. Es dröhnte ihm in den Ohren. Einen Augenblick schien es ihm, als hätte sich das Stimmengewirr entfernt. Als man ihn auf den Hof brachte, der mit Menschen angefüllt war, sah Wanjka Slawuschkas leblosen Körper, mit dem Gesicht nach unten, im Schmutz liegen. Gräßlich hob sich der völlig entkleidete Leichnam von der durchweichten Frühlingserde ab.

Im Hoftor drängten sich eine Menge Menschen. Es war kaum durchzukommen. Wieder ein Schwall von Schimpfworten, ein Schlag gegen die Schläfe.

»Schlag mich nicht!« sagte Wanjka halblaut.

Vom Hoftor führten sie ihn geradeswegs zum Flußdamm.

Und plötzlich wurde es still.

Nur eine helle Kinderstimme rief:

»Petjka! komm schnell her – ein Dieb wird ersäuft!«

Wanjkas Herz krampfte sich zusammen. Er stemmte sich an. Tränen spritzten ihm aus den Augen.

»Brüder! Kameraden!« rief er. Und es fiel ihm ein, wie man ihn beim Ausbruch der Revolution aus dem Gefängnis befreit hatte.

Ob ihm das nun einfiel, weil man ihn jetzt, ebenso wie damals, unter den Armen gepackt hatte, oder weil das gleiche ununterbrochene Stimmengewirr die Luft erfüllte, oder weil es nun zum zweitenmal in seinem Leben geschah, daß er den Menschen beachtenswert erschien, er, Wanjka der Dieb? weiß Gott!

Nun packte man ihn an den Beinen, so daß er den Boden unter den Füßen verlor.

»Rechtgläubige Christen!« schrie er, und es kam ihm vor, als schreie nicht er, sondern Slawuschka.

Plötzlich hörte der Druck gegen Brust und Arme auf. Er atmete freie Luft, und es pfiff ihm um die Ohren.

Im Fallen schlug er auf etwas Schlüpfriges, Krachendes und begriff, daß er in den Fluß gefallen war. Doch erst, als er durch die Schwere seines Körpers die dünne Eisschicht durchbrochen hatte und nun das eiskalte Wasser fühlte, das ihm, wie mit eisernen Klammern, die Brust zusammenpreßte, entrang sich ihm ein wildes Aufheulen. Er griff in die unter seinen Händen berstenden und krachenden Eisschollen, schlug mit den vor Kälte erstarrten Beinen im Wasser umher.

Längs des Kais drängten sich, rechts und links an den Brüstungen, die Menschen.

Und immer lauter wurde das Rufen:

»Ho–ho–ho! O–o–o–oh!«

Wild, freudig:

»Ah–ah–ah! Ho–ho–ho!«

Seine Beine wurden schwer, zogen ihn hinab in die schneidende Kälte. Und in diesem kurzen Augenblick ging es Wanjka blitzschnell durch den Sinn, wie einst in seiner Kindheit die Kinder zum Spaß im Bach mit ihm »Ersäufen« gespielt hatten. Er konnte nicht schwimmen, kreischte, strampelte mit den Beinen. Am Ufer aber heulten die Kameraden vor Entzücken. Als sie ihn dann herausgezogen hatten und er am Ufer im Grase saß, war ihm so freudig zumute, feste Erde unter den Füßen zu spüren.

Auch jetzt sehnte er sich qualvoll nach Erde, nach festem Boden.

Er raffte seine letzten Kräfte zusammen, klammerte sich an eine Eisscholle, schwamm so ein Stück weiter.

Oben aber ertönte von neuem das fröhliche Kinderstimmchen:

»Eh – eh! Ein Dieb wird ersäu–äu–äuft!«

Vor ihm, ganz nah, die hölzernen Pfähle der hohen Brücke für Fußgänger.

Er stieß sich von der Scholle los, die sich gegen seine Brust drückte – und schwamm zu den Pfählen.

Von oben aber, von der Brücke, ließ sich ein Mann am Pfahl herab.

»Kamerad! Rette mich!« rief Wanjka, und unermeßliche Freude erfüllte ihn.

»Rette mich!« weinte er vor Glück.

Der Mann wartete, wie es schien, bis Wanjka näher herankam. Nun – streckte er den Arm aus.

Der Ruf erstarrte auf Wanjkas Lippen – nur die Tränen flossen noch – der Mann hielt einen Revolver in der Hand.

Ein Knall – dicht an Wanjkas Ohr – ein Sternchen, schien es, plumpste hinter ihm ins Wasser. Das Wasser gluckste auf. Noch ein Knall, ein Summen an seinem Ohr, ein Aufschlagen – Glucksen. Ein Knall – ein Summen ...


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