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Dritter Teil.

 

5. (18.) August.

In den letzten Tagen war ich zu erregt und gegen mich selbst allzu ungerecht gewesen. Die Erregung trübt das Urteil, wo es nötig wäre, die Dinge klar und ruhig ins Auge zu fassen. Besonders haben mich die Enthüllungen erschüttert, die unsere ciceronischen Dumaabgeordneten wie Peitschenschläge auf die Anwesenden herabsausen liessen. Es ist eine müssige Frage, ob ich etwas zu tun unterlassen habe, wenn selbst unsere Duma-Ciceros nichts sahen. Für sie wäre die fürsorgliche Umsicht auf jeden Fall mehr Pflicht gewesen.

Natürlich bin ich kraftlos (ich bestreite es nicht), aber hängt denn meine Kraft von mir selbst ab? So wie ich bin, so bin ich, und wäre ich als Simson oder Joffre zur Welt gekommen, so wäre ich eben ein Joffre. Unverständig wäre es, wenn mir irgend ein Dummkopf, in der Meinung, dass ich ein Mathematiker, eine Integralrechnung zur Lösung vorlegte, noch unverständiger ist es, von mir zu fordern, dass gerade ich die Aufgabe des Weltkrieges und der russischen Zustände lösen solle. Nicht ich wollte und begann diesen Krieg, nicht ich verursachte diesen ganzen Wirrwarr und es ist lächerlich, das Ganze auf meine Schultern zu laden. Sie haben einen Berg vor Dir aufgebaut, Dir nicht einmal eine Schaufel in die Hand gegeben und verlangen nun, dass er in einer halben Stunde abgetragen werde. Nein, – wären Sie nicht geneigt, ihn selbst abzutragen?

Im Kontor hat sich, Gott sei Dank, alles beruhigt und geht seinen alten Gang. Die Kinder sind zu meiner unsäglichen Freude gesund. Inna Ivanowna war am Magen erkrankt, doch geht es ihr schon besser; schliesslich ist sie doch ein starkes, zähes altes Weiblein und wird uns noch alle überleben. Aber ihre Krankheit verursachte uns ungeheueren Schrecken.

Ich habe mir vorgenommen, Geld zurückzulegen und dafür im Winter das Kinderzimmer und mein Kabinett neu tapezieren zu lassen. Ganz unerträglich ist mir die Tapete in meinem Kabinett geworden, wenn ich sie nur ansehe, fallen mir sofort die weissen Juninächte ein, in denen ich ausgezogen auf dem Fensterbrett sass, oder barfuss im Zimmer umherging und mir wie ein Wahnsinniger vorkam. In jenen Stunden betrachtete ich jede Blume der Tapete, lernte jeden Strich, jeden Flecken auswendig. Ich war erst im Zweifel, ob in diesem bösen Zeiten das Herrichten der Wohnung empfehlenswert, gewann dann aber die Ueberzeugung, dass es sich gerade jetzt lohne. Man darf sich den äusseren Umständen nicht in dem Masse unterwerfen, dass das persönliche Leben in ein Chaos und gleichsam in einen Schweinestall verwandelt werde. Der Krieg mag Krieg sein, aber mein Haus bleibt doch mein Haus, meine Kinder bleiben meine Kinder.

Gestern Abend musste ich unwillkürlich lachen, als ich zusah, wie Jenitschka schlafen gelegt wurde. Er hat zugenommen, sieht frischer aus, und ein Schlaukopf ist er! Er ist ein sehr lieber Junge! Das Kindermädchen hat ihn nach ihrem Gutdünken allerlei Gebete gelehrt, alle natürlich für Papa, Mama und die Soldaten – der unerwartete Schluss des Gebet es aber war:

»Herr, sei mir Sünder gnädig!«

Und nachdem er diese furchtbaren Worte ausgesprochen, stand der Sünder plötzlich halbnackt auf dem Kopf und wälzte sich dann voller Vergnügen im Bette. Wie gut wäre es, wenn alle solche Sünder waren!

Saschenka hat meinen Brief an Nikolai Jewgenitsch, in dem ich seine Dankbarkeit zurückweise, gutgeheissen. Er schweigt und hat mir nicht geantwortet.

 

7. (20.) August.

Jetzt, wo in der Wohnung aufgeräumt wird, zeigt es ich, wie schmutzig und vernachlässigt alles ist. Die Motten haben sich in den Tuchvorhängen, den Lehnstühlen und in den Diwan meines Kabinettes wahre Nester gebaut. Ich beschloss, um eine kleine Abwechslung zu haben, mein Kabinett in das frühere Speisezimmer zu verlegen. Man kann nicht sagen, dass es dort schöner wäre, aber es ist gemütlicher, ausserdem ist es angenehm, dass das eine Fenster eine andere Aussicht hat. Zu meinem früheren Fenster kann ich gar nicht mehr hinaussehen, wenn ich nur das gegenüberliegende Haus mit seinen zahllosen Fenstern und glatten Mauern erblicke, packt mich wieder das alte quälende Gefühl, es schwindelt mir vor den Augen, ich bekomme Herzklopfen; genau, als wäre ich schon einmal kopfüber von diesen widerlichen, glatten Mauern hinabgestürzt. Ich schleppe zusammen mit dem Hausmeister die Möbel von einem Zimmer ins andere und denke darüber nach, wie klug doch der Mensch geschaffen worden ist: die Vögel fliegen für den Winter nach dem Süden, der Mensch aber verspürt eine grössere Zuneigung und Liebe zu seinem Heim, bereitet sorgfältig alles vor, um Regen und Schneestürmen besser trotzen zu können. Dies gewinnt in meinen Augen sogar eine gewisse Grösse und Bedeutung, und nur das Bild meiner Lidotschka, die mir im vorigen Jahre beim Umzug half, ruft einen heftigen, hoffnungslosen Schmerz in meiner Seele wach. Sie wird nie mehr da sein!

Ja, und noch vieles Andere wird nie mehr sein, in das innerste Herz meines Nestes ist die Verwüstung eingedrungen. Ich habe den Gedanken an das Neutapezieren der Zimmer aufgegeben, es hat sich plötzlich eine solche Teuerung bemerkbar gemacht, dass dem minderbemittelten Menschen die Sorge um Brot und Beheizung die Haare zu Berge stehen macht … übrigens will ich mein Tagebuch nicht mit diesen prosaischen Einzelheiten unseres Daseins ausfüllen.

Ach Krieg, Krieg, was bist Du doch für ein Ungeheuer!

 

8. (21.) August.

Kowno, unsere Festung, von der die militärischen Autoritäten behaupten, dass sie uneinnehmbar sei, ist in den Händen der Deutschen; sie haben sie geöffnet wie eine Nuss und sogleich verschlungen.

 

12. (25.) August.

Ossowitz ist gefallen.

 

15. (28.) August.

Die Festung Brest ist gefallen.

Wie gut, dass ich dieses Tagebuch habe, in dem ich, ohne den Ritter sonder Furcht und Tadel spielen zu müssen, dem unerträglichen Angstgefühl, das mich erfasst hat, Ausdruck verleihen kann. Vor den Leuten muss man dies natürlich verbergen, muss ein tapferes Gesicht zur Schau tragen … denn was geschähe, wenn, alle in Petrograd von ihrer Furcht sprächen und bebten, wie ich jeden Augenblick zu beben bereit bin? Und diese Furcht ist keine Einbildung, kein leeres Geschwätz, mit dem man die Anderen ängstigt, derweil man selbst dabei ein gewisses Vergnügen empfindet. Man möchte fliehen, sich verstecken … aber wohin, womit, woher das Geld dazu nehmen?! Du stehst wie ein Baum am Waldesrand, der von einem blätterraubenden Sturmwind überfallen, bis ins Mark, bis zu seinen tiefsten Wurzeln erschüttert wird. Ich habe noch die eine Hoffnung, dass unser Kontor evakuiert wird, es wird in diesen Tagen dort so geheimnisvoll geflüstert, Bücher werden hin und hergetragen … wäre es doch so!

Was eigentlich das Unheimliche, Furchtbare für die Kinder und mich ist, kann ich mir nicht recht vorstellen, begreife ich gar nicht mehr. Sogar das Wort »Krieg« hat für mich seinen Sinn verloren, »Krieg« – das ist nur mehr etwas Lebloses, ein leerer Schall, an den wir uns schon längst gewöhnt haben, nun aber nähert sich uns etwas Lebendes, Ungeheueres, alles Erschütterndes. » Sie kommen!« Dies sind die schrecklichen Worte, mit denen sich keine anderen vergleichen lassen. Sie kommen, sie kommen!

Jetzt beginne ich schon den weissen Nächten, die mich nach Lidotschkas Tode so sehr gepeinigt haben, nachzutrauern. Das Licht ist doch gleichsam ein Schutz, aber was soll man in den dunklen Herbstnächten tun, die schon an und für sich, auch ohne die Deutschen gar unheimlich sind? In der gestrigen Nacht, da mir die Erregung den Schlaf raubte, sah ich im Geiste ein phantastisches Bild der Deutschen, wie sie, lauter fremde deutsche Gesichter, untereinander in einer mir unbekannten Sprache redend, mit ihren Kanonen und anderen Mordwaffen heranzogen. Ich erblickte sie, genau wie im Traum, um die Wagen herumlaufend, die Pferde anschreiend, sich auf den Brücken drängend, schwer über die krachenden Bretter dahinstampfend, … fast glaubte ich ihre Stimmen zu vernehmen, so klar stand das Bild vor meinen Augen.

Und diese ungeheuere Zahl, diese Millionen unheimlich dahinmarschierender Menschen, mit ihren unerbittlichen Gesichtern, den Messern in der Hand, bereit uns die Gurgel durchzuschneiden, kommen geradeaus auf uns, auf Petrograd, auf den Potstamskoi-Platz, auf mich zu. Sie nahen auf Chausseen und Landstrassen, in Automobilen, fahren in halbzertrümmerten Eisenbahnwaggons, fliegen in Aeroplanen voraus und werfen Bomben, springen von einem Hügel zum anderen, verstecken sich hinter Erdhaufen, halten Ausblick, laufen einen Schritt vor, sind mir wieder um eine Werst näher gerückt, fletschen die Zähne, schleppen die Kanonen, stellen sie ein, und in der Ferne das Morgengrauen erblickend, laden sie dieselben rasch – und kommen, kommen, kommen! Und so bange wird mir, als lebte ich in irgend einem verborgenen Dörfchen, einem einsamen Haus im Walde, und Räuber und Mörder drängen dasselbe vor, um uns alle zu ermorden.

Schliesslich wurde mir das Ganze so greifbar, dass ich im Bette liegend gespannt lauschte, den Kopf bei jedem nächtlichen Geräusch vom Kopfkissen hob. Es schien mir, als näherten sich Schritte, als ginge jemand suchend umher. Unerträglich! Ja, jetzt sehe ich, dass ich ein Feigling bin; aber was soll ich tun, um mich nicht zu fürchten? Ich weiss es nicht, ich weiss es nicht. Es ist schrecklich.

Und ich wollte noch das Zimmer tapezieren lassen, ich Narr!

 

15. (29.) August.

Ich habe mich ein wenig beruhigt und betrachte unsere Lage mit etwas mehr Mut. Die Zeitungen und unsere Strategen im Kontor versichern, dass die Deutschen nicht bis Petrograd kommen werden. Ich glaube ihnen, – glaube es, – was soll man anders tun? Aber in den Strassen ist es so öde und trübselig, nur wenn man ein wenig die Deutschen vergisst, sieht alles noch wie früher aus, die Tramways, die Droschken, die Läden. Nur viel Schmutz und Staub liegt umher und macht einem, wenn ihn ein Windstoss aufwirbelt, ganz blind, und der Pferdekot riecht schlecht. Häuser und Höfe sind voll Schmutz, über der Newa schwebt ein Staubdunst, hüllt die ganze Petrograder Seite in Nebel ein.

Noch immer lese ich mit Erregung die Duma-Berichte, schreibe aber meine Eindrücke aus einem Gefühl der Vorsicht lieber nicht nieder. Nur eines versetzt mich stets wieder in Erstaunen: die Verblendung, mit der ich allem gegenüberstand, allem vertraute, nur die Aussenseite der Dinge sah. Ein guter Staatsbürger bist Du, Ilia Petrowitsch! In einem geordneten Staate liesse man Dich nicht über die Türschwelle, – hier macht das nichts … Du bist ja ein anständiger Mensch! Ein Huhn bist Du, das zu anderen Hühnern auf Besuch geht, und aus voller Kehle über die zerschlagenen Eier gackert.

Dieser Gedanke gefällt mir; – ich bin ein Huhn und mein Jenka ist nichts anderes als ein »Hühnerjunge«. Jetzt erst verstehe ich die ganze Bosheit, die in diesem Schimpfwort enthalten ist. Und auf den Strassen laufen gegenwärtig Hühner und Hühnerjungen herum, sowie Hundesöhne.

Stopp Maschine!

Ilia Petrowitsch Dementjew; Buchhalter und Hühnerspross, ich habe die Ehre.

 

21. August (3. September).

Es ist etwas so Furchtbares geschehen, dass ich seit vier Tagen nicht einmal den Mut hatte, es in mein Tagebuch einzutragen. Eigentlich hätte man es schon längst aus dem Abflauen unserer Geschäfte und den immer schwieriger werdenden Verhältnissen voraussehen können, ich wusste dies ja alles, und nur meine gewöhnliche Verblendung und mein Vertrauen zu den Menschen liess mich auch in dieser Beziehung sorglos bleiben. Unser Kontor ist ruiniert, geschlossen, Ivan Awksentisch ist plötzlich gestorben (wahrscheinlich hat er Selbstmord begangen, aber seine Verwandten verheimlichen dies) und wir Angestellten sind alle entlassen worden. Aus besonderer Grossmut wurde den alten Angestellten, zu denen auch ich gehöre, noch das Monatsgehalt ausgezahlt; wenn man den vollkommenen Krach des Hauses in Betracht zieht, so ist dies wahrhaftig grossmütig.

Und wie werde ich jetzt mich und die Kinder ernähren? Dieser Gedanke ist noch schrecklicher, als der an die Deutschen, von denen es noch nicht gewiss ist, ob sie auch wirklich kommen werden, doch dies ist Tatsache: nach einiger Zeit werde ich nichts mehr haben, um mich und die Kinder zu ernähren.

Vor Saschenka habe ich es bis jetzt noch verheimlicht, ich finde die rechten Worte nicht, um es ihr mitzuteilen. Zuhause wissen sie nichts, jeden Morgen gehe ich zur gewohnten Stunde fort, wandere durch entlegene Strassen, damit ich niemand begegne oder erblicke, in den Tawritschewskischen Garten, und kehre um fünf Uhr zurück, als käme ich aus dem Kontor.

Man muss irgend etwas ausfindig machen, unternehmen.

 

22. August (4. September).

Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich arbeitslos. In meiner Jugend kam es natürlich manchmal vor, dass ich zwei Wochen oder einen Monat ohne Beschäftigung war, aber ich erinnere mich gar nicht mehr, wie ich diese Zeit verbracht habe. Wohl leicht und gedankenlos, wie das in der Jugend schon so zu sein pflegt. Heute aber mit sechsundvierzig Jahren und einer Familie …

Wem nütze ich jetzt? Welches Recht habe ich zu leben? Welche Rechtfertigung habe ich ausser meiner Arbeit? Solange ich arbeitete, den hilflosen Kleinen Blut und Nahrung gab, war ich ein Mensch, ein Mann, der das Recht auf Achtung besass. Aber jetzt, was bin ich jetzt? Ein richtiger Schmarotzer, ein vollkommen verächtliches Nichts, so sehr ein Nichts, dass ich nicht nur die Anderen, sondern auch mein eigenes, armseliges Leben nicht erhalten kann. Jeder beliebige Sperling, der auf der Strasse Mist aufpickt, ist mehr wert und hat mehr Existenzberechtigung als ich. Solange ich arbeitete, existierte ich, schien ich mit meinen Händen das allgemeine Rad drehen zu helfen, aber jetzt … seltsam: eigentlich existiere ich gar nicht mehr. Eine qualvoll unerträgliche Lage, ein Lebendiger unter anderen Lebendigen, der sich im Inneren als Phantom, als wesenlose Erscheinung erkennt. Meine Stimme hat sich verändert, klingt leise und einschmeichelnd, mein Gang ist ein anderer geworden, als schritte ich zu nächtlicher Zeit durch ein Haus, bemüht, keinen Lärm zu machen, und nur der Umstand, dass ich dies alles in mich verschliessen muss, hindert mich daran, selbst Inna Ivanowna darauf aufmerksam zu machen, dass der, der morgens das Haus verlässt und abends wieder heimkehrt, kein lebendiger Mensch sei, nur ein Phantom ist. Und wie ich vor Saschenka Komödie spiele, wie ich unsere seltenen Gespräche unter dem Vorwand der Arbeit abkürze. Arbeit!

Natürlich begreife ich, dass ich an dem Geschehenen keinerlei Schuld trage, nur ein Opfer bin, aber hat das denn irgendwelche Bedeutung? Nur ein Mensch, der nicht die geringste Selbstachtung hat, kann sich mit dem Gedanken trösten und sogar einen gewissen Stolz dabei empfinden, dass er ein Opfer sei; ich sehe hierin keinen Grund zum Stolz. Im Gegenteil, je mehr ich über mich nachdenke, desto verhasster wird mir ein Mensch, der unfähig, beschränkt, von allen Kleinigkeiten, jeglichem äussern Geschehnis abhängig ist. Und bin ich so einer, dass ich jetzt ruhig die Hände in den Schoss lege?

Wo ist das, was ich geschaffen, wo sind die unauslöschlichen Spuren meiner Persönlichkeit, wo der Stempel, den meine Hände aufgedrückt haben? … Anderthalb Stühle, ein Bett, ein Tisch bleiben den Kindern und mir, das ist alles! Aber nein, was sage ich da? Ausserdem haben wir noch Kommoden, Federkissen und vierhundert Rubel in der Sparkasse, überdies ein Los, mit dem man zweitausend Rubel gewinnen kann. Interessant wäre es festzustellen, was ich besitze, was ich mit der Arbeit eines ganzen Lebens erworben habe; sehr interessant und lehrreich.

Eigentlich ist es lächerlich, aber wenn ich bedenke, dass dies alles ist, so kommt es mir doch furchtbar und beschämend vor. Einen Monat können wir noch in dieser Wohnung bleiben, aber wohin dann? Meine Kinderchen, meine armen Kinderchen, ihr habt einen guten Vater!

 

25. August (7. September).

Zu allen Bekannten bin ich gelaufen, an etwa zweihundert Türen habe ich geklopft, von überallher Empfehlungsschreiben gebeten – kein Teufel braucht einen »ehrlichen und gewissenhaften Arbeiter«. Nur der Ratschläge gibt es viele. Ein grosser Patriot rät mir, für den Krieg zu arbeiten und zusammen mit dem reichen Rabuschinsky die »Handwerker zu mobilisieren«, ein anderer, der schon mehr aufs Praktische bedacht ist, meint, ich solle versuchen, am Kriege zu verdienen, Nutzen aus ihm zu saugen, so sorglos wie das unschuldige Kind Milch aus der Mutterbrust saugt; es ist ja wahr, Nikolai Jewgenitsch hat eine Beschäftigung gefunden, die ihn gut ernährt.

Mag sein, dass ich den ersten weisen und patriotischen Rat befolgte, aber wer wird meinen Pelka und Jenka »mobilisieren«? Auf den zweiten kann ich in der ganzen Bekümmernis meines Herzens bloss antworten, dass ich nicht weiss, wo sich die wohltätigen Brüste befinden, an denen ich saugen soll

Dumm bin ich, ungeschickt, versteh mich bloss auf eine einzige, bloss auf meine frühere Arbeit. Mein Gott, mein Gott, mit welchem Neid, welcher Verzweiflung, welch niedriger Begehrlichkeit blicke ich auf die Reichen, auf ihre Häuser mit den Spiegelfenstern, ihre Automobile und Wagen, auf den herausfordernden Luxus ihrer Kleidung, ihre Diamanten, ihr Gold! Ich bin doch ein ehrlicher Mensch; all dies ist leeres Geschwätz, ich bin nur neidisch und unglücklich darüber, dass ich selbst unser Leben nicht so aufzubauen vermag. Wenn alle stehlen, warum muss gerade ich – im Namen irgend eines Ehrbegriffes, über den man nur spotten kann – verhungern!

Leichter wäre es in den Tod zu gehen, als Saschenka mitzuteilen, dass ich meine Arbeit verloren habe und jetzt nichts mehr bedeute. Wie ich mich früher doch anders fühlte, welchen Stolz, welche Wichtigtuerei und Ansprüche ich an den Tag legte: »Ich muss Dich dringend bitten, Dich um mein Essen zu bekümmern; mein Magen ist nicht nur für mich, sondern auch für Euch alle von Wichtigkeit, was soll geschehen, wenn ich erkranke? … »Ich bitte Euch nicht zu lärmen, ich will ausruhen?« »Warum ist der Tee ganz kalt?« »Warum ist mein Rock nicht geputzt, am Aermel sehe ich ein Loch! O, Ihr!«

Ich spare, indem ich weniger esse, das Abendessen habe ich unter dem Vorwand, meinen wertvollen Magen zu schonen, ganz aufgegeben. Hunger verspüre ich keinen. Gestern fiel es mir plötzlich ein, dass ich bei meinen vielen Gängen durch die Stadt die teueren Schuhsohlen rasch abnütze, und so setzte ich mich für fast zwei Stunden im Rumianischen Square auf eine Bank, sass mit emporgezogenen Füssen, um die Schuhe zu schonen. Wie weit wird diese, meine Qual noch gehen? Wird sie kein Ende, keine Grenze finden? Kein Fleckchen ist mehr an mir, in das ihr Stachel nicht schon eingedrungen wäre. Im Gedanken stelle ich mir mein Herz vor, und sehe kein lebendes, von erhabenen Gedanken und Wünschen erfülltes Menschenherz vor mir, sondern etwas, das einer angeschwollenen Blutwurst gleicht. Was habe ich denn verbrochen, um so gefoltert zu werden, Tag und Nacht diese unmenschliche Strafe erdulden zu müssen?

Ist dies nicht eine Verhöhnung des Menschen? Und wie lange will ich sie denn noch ertragen, mich immer mehr erniedrigen, meine Stimme zu einem lakaienhaften Geflüster herabsinken lassen, mich demütig verbeugen? Sollte ich etwa Angst haben?

Gestern im Square blickte ich lange auf die verstaubten Wege, auf die Bäume mit welken Blättern, auf die fernen Häuser, diesseits der Neva; – plötzlich ward mir klar, dass ich in kürzester Zeit dies alles verlassen, dorthin kommen könnte, wo meine kleine Lidotschka, mein unendlich geliebtes Kindchen ist. Und dieser Gedanke war so voll leuchtenden Glückes, ein solch himmlisches Licht erhellte dabei meinen armen Kopf, als sei ich für einen Augenblick reicher und freier als die reichsten Menschen der Welt.

Wozu kämpfe ich eigentlich, kämpfe ich gegen die Tücke des Schicksals und schone meine Schuhsohlen, wie ein redlicher Bettler? Die Erlösung und das Glück sind jedem Unglücklichen so nahe, wo ein tiefes und reissendes Wasser fliesst.

 

27. August (9. September).

Nichts.

 

28. August (10. September).

Heute begab ich mich, dem guten Rate eines unserer gewesenen Kontoristen gemäss in ein Café am Newsky, wo sich die »Geschäftsleute« treffen, um nach eventuellen Armeelieferungen Ausschau zu halten. Jeglicher Erfolg hing von meiner Gewandtheit ab, ich hätte sprechen, irgendeine Anekdote erzählen, bekannt werden und mich dann den Leuten ganz einfach aufdrängen müssen

Natürlich fehlte mir alles, die Gewandtheit, die Anekdote. Im Anfang lächelte ich alle an, in der Hoffnung, dadurch ihre Sympathien zu gewinnen, hustete, rief voller Gewandtheit nach Tee und Piroggen, dann aber setzte ich mich rasch und verfiel in ein steinernes Schweigen, als hätte ich meine Stimme verloren. Diese Leute verwirrten mich, machten mich stumpfsinnig mit ihren grossen Worten, blind und fast bewusstlos mit ihren raschen, leichten Bewegungen. Wie sie sich hielten, wie sie dasassen, wie sie auf alle blickten und sofort wieder zu ihren früheren Gesprächen zurückkehrten. Und sieh nur, nach einer Minute wurden sie mit einander bekannt, rauchten, flüsterten, steckten die Köpfe zusammen, beschimpften sich gegenseitig, umarmten sich fast, wie die ältesten Freunde. Ihren oft ziemlich laut geführten Gesprächen konnte man nur schwer folgen, der Sinn derselben aber war ganz klar: was man verkaufe, was man esse, was man stehle, wen man ruiniere und verrate. Das nennen sie »erarbeiten«!

Augenscheinlich ging es gut mit dem »erarbeiten« und doch trugen die meisten von ihnen schmutzige, billige Anzüge und nur bei zweien bemerkte ich echte Diamantringe und diamantene Hemdknöpfe. Dafür aber hatten sie alle Wertpapiere, ein Dicker zeigte deren eine ganze Menge und nicht aus Zeitungspapier, sondern wirkliche richtige Banknoten … es ist leicht möglich, dass ihnen der Schmutz formell nötig ist, dass ihn diese Herren als eine Art Uniform tragen! Entsetzliche Gauner!

Ich will meine Sünden nicht verheimlichen: als ich ins Café ging, war ich, ohne jegliche moralische Hemmung zu allem bereit und hätte mir jemand klar und deutlich gesagt:

»Hören Sie, Ilia Petrowitsch, man muss heute eine Kasse aufbrechen oder Wechsel fälschen, wären Sie gegen eine anständige Vergütung dazu bereit? …«

Ich hätte den Auftrag oder die Bestellung ohne Zögern angenommen, zu mindest glaube ich es. Nachdem ich aber etwa eine Stunde lang schweigend dagesessen und ihre Gesichter und Krawatten, ihre schmutzigen Fingernägel und Diamanten betrachtet hatte, packte mich ein unsäglicher Ekel vor diesen Leuten, ein Ekel, der sich sogar auf ihre Hemden ausdehnte, besonders aber auf sie selbst, ihre Gesichter, ihre ganz schmutzige, gemeine Existenz. Entsetzliche Gauner!

Am meisten fiel mir ein Herr mit einem schwarzen Schnurrbart auf und sein Anblick liess mich sogar eine Zeitlang meiner eigenen hoffnungslosen Lage vergessen. Er war ein noch jüngerer, ausserordentlich gesund und stark aussehender Mann, reich gekleidet und benahm sich inmitten dieser unbedeutenden Leute mit so viel Ruhe und Wichtigkeit, dass man unwillkürlich eine gewisse Scheu vor ihm empfand. Er sprach wenig, hörte mehr zu, lächelte selten und vermied es mit vollkommener Gleichmütigkeit, einem der schmutzigen Subjekte die Hand zu reichen, was übrigens weder das Subjekt noch die anderen zu beachten schienen, genau als ob das so in der Ordnung wäre. Einmal wandte er mir seine schwarzen, gleichgültigen, harten Augen zu und seltsam, – obwohl ich klar empfand, dass er ein grosser Betrüger, vielleicht ein Bösewicht sei, erfasste mich ein sklavisches Verlangen, mich vor ihm zu verneigen und ein liebenswürdiges Gesicht zu machen. Er bemerkte mich wohl kaum oder bewertete mich nur auf einen Groschen, was ja auch mein wirklicher Wert ist, und wandte sich wieder ab. Als er fort ging, rief er niemanden, um seinen Tee zu bezahlen, fünf Leute begleiteten ihn bis zur Tür. Aus dem darauffolgenden Gespräch erfuhr ich, dass dieser Herr auf irgend eine Art und Weise einige Millionen verdient habe. Sie sprachen von drei oder vier Millionen; – und wenn man, dies für eine Uebertreibung haltend, davon die Hälfte abzieht, so bleibt immerhin noch genug – zwei Millionen.

Nachdem ich das Café verlassen hatte, vermochte ich den Rest des Tages diesen Mann nicht mehr aus meinen Gedanken zu verbannen. Was hatte er wohl getan, um diese Millionen zu erwerben? Welche Räubereien, welche Verrätereien begangen? Was mag das für ein Mensch, wie eigenartig muss seine Seele beschaffen sein, dass sie so ruhig bleiben kann, dass ihr weder vor Blut und Krieg, noch vor Gott und Teufel graut. Und es ward mir schwer zu glauben, dass er aus dem gleichen Material geschaffen sei, wie ich. Ich sehe sein Gesicht vor mir, seine Kraft und Gesundheit, seine körperliche und seelische Ruhe – und fühle mich besiegt. Zu Hause während unseres Mittagessens, stellte ich ihn mir absichtlich in unserem Kreise vor neben Inna Ivanowna, die sich kaum getraut, einen Bissen Brot oder ein Löffelchen Suppe zu essen, weil sie darauf kein Recht zu haben glaubt; ich erinnerte mich ihres Pawluschas und jenes schrecklichen Augenblickes, da ich ihr die Nachricht seines Todes überbringen musste – und das Geheimnis der Menschenseele – drückte mich noch tiefer zu Boden.

Ich muss zugeben, keine tugendhafte Erwägung hätte meine hässliche und dumme Hoffnung auf Bereicherung durch Raub so zu zerstören vermocht, wie es der Anblick jenes Mannes getan. Zum grossen Dieb wird man geboren, zum kleinen fehlt mir die Flinkheit, die Gewandtheit, der fröhliche Leichtsinn. Dem einen die Millionen – dem andern das Gewissen – wahrlich eine weise Güterverteilung!

 

29. August (11. September).

Ich habe plötzlich Sehnsucht nach Luxus bekommen. Nicht nur, dass ich mit Appetit zu Abend ass, nein, ich ging noch am Tage zu Elistwewa und mit der Gebärde eines Millionärs, der sich vier Millionen erworben hat, vergeudete ich einen Rubel für ein Pfund Moskauer Wurst, wie sie die Kinder und Inna Ivanowna gerne essen, mögen sie sich daran erfreuen und den mächtigen Ilia Petrowitsch preisen! Ausserdem brachte ich Saschenka zwei Pfund feine Bonbons und zweitausend Zigaretten für die Soldaten mit und nahm, gewissenlos wie ich bin, ihren dankbar zärtlichen Kuss hin, ohne zu erröten. Dort kann ich nicht, also will ich hier stehlen!

Jetzt aber, trotz meines gesättigten Magens, empfinde ich eine Reue, als hätte ich auf der Landstrasse einen Mord begangen. Scheinbar verstärkt das Sattsein das Gewissen und die Reue. Ich bin schläfrig und gähne mit weit offenem Munde wie ein Millionär. Es ist das erste Mal, dass ich, seit das Kontor geschlossen wurde, Schlaf verspüre.

 

30. August (11. September).

Ich war schläfrig, kaum aber lag ich im Bett, so war aller Schlaf gewichen und wieder ging ich bis zum Morgen rauchend umher, im Gedanken nach einer ehrlichen und einträglichen Beschäftigung suchend. Zwei fand ich: Diener in einem Restaurant (Männer sind jetzt gar selten) oder Trambahnkondukteur. Am Tage aber, beim Lichte der Sonne und klaren Kopfes besehen, erkannte ich, dass diese Beschäftigungen mir nicht entsprächen, da ich dazu infolge meiner schwachen Gesundheit und der Ungewohnheit schwerer Arbeiten, die von Dienern gefordert werden, unfähig sei. Aber wohin, wohin?

 

1. (13.) September.

Ich lerne Petrograd vom Standpunkt des Touristen oder Philosophen kennen. Stundenlang betrachte ich die Denkmäler, als hätte ich sie noch nie gesehen und gehe, tief in Gedanken versunken, um sie herum. Besehe mir die Paläste und die neuen Bauten, versuche die Schönheit der Architektur zu geniessen. In jeder Beziehung sehr interessant ist die neue türkische Moschee, die sie in der Nähe der Troizkischen Brücke erbaut haben; man kommt sich dort ganz wie ein freier im fernen Osten gelandeter Reisender vor. Ich frühstücke dort gerne im Square und denke über die verschiedenen Religionen nach. Auch in das nach Alexander dem Dritten benannte Museum ging ich, um mir die Gemälde anzuschauen. Nur den Bekannten weiche ich aus, und sehe ich welche in der Ferne, so laufe ich eiligst in die nächste Nebengasse.

Von den Deutschen weiss ich nur, was die vom Generalstab herausgegebenen, an den Strassenecken angeschlagenen Meldungen verkünden, Zeitungen kaufe ich keine mehr. Aber das Aussehen der Strassen und die Gesichter der Vorübergehenden lassen mich erkennen, das es schlecht mit uns steht und dass die Deutschen immer näher rücken. Ich weiss nicht wie das enden soll, mache mir auch nur wenig Sorgen darüber, für mich wird das Ende noch früher kommen. Ich habe nicht einmal gewusst, dass Grodno am 21. gefallen war.

So als Gespenst zwischen den Lebenden umherzugehen, bringt einen auf seltsam phantastische Gedanken, man sieht das ganze Leben von einer anderen Seite, als Abseitsstehender, ich möchte fast sagen von oben aus der Vogelperspektive. Ich philosophiere und mache mir ein Bild von Menschen und Staat. Die lärmenden Lastautomobile, die schwerbeladenen Pferde, das ganze fieberhaft nutzlose Treiben betrachtend, fange ich plötzlich an zu verstehen, weshalb der Krieg kommen musste. Der Krieg musste kommen, weil jeder Mensch mehr haben wollte als die anderen. Früher hiess ich dies Verlangen gut. – Mit einer grossen Neugierde, die den wirklich Lebenden unverständlich sein muss, betrachte ich die Stadt wie sie, aus was für Material sie erbaut ist, weshalb sie Plätze, Strassen und Nebengässchen hat. Ich verstehe die Bedeutung der Trambahnen. Es gefällt mir, dass die Häuser in Wohnungen abgeteilt sind, dass Portiers die Türen hüten. Die Ufer aus Granit gefallen mir, ich sah, wie die neue Ochtenskische Brücke aufgezogen wurde, um die Dampfschiffe durchzulassen und auch dies gefiel mir; unendlich gefällt mir auch das Menschengetriebe am Bahnhof, wohin ich alle Tage gehe.

Zu gleicher Zeit aber habe ich als Philosoph und abseits stehender Mensch nicht das Geringste dagegen einzuwenden, dass all' dies in die Luft gesprengt werde, die Brücken, die Ufer, die Gebäude; es wäre höchst interessant. Man kann sich ungefähr ein Bild davon machen, wie alles brennt und zusammenbricht und wie die Stadt nachher, wenn alles zerstört ist, aussehen würde. Sehr niedrig wird es sein.

 

Heute sah ich zwei unserer Aeroplane fliegen, einer derselben hielt sich ganz nahe am Rande einer ungeheuren Wolke; ich wäre nicht ungern mit ihnen geflogen. Ueberhaupt fühle ich mich als »Lord« und, Scherz beiseite, ich empfinde für Augenblicke ein recht angenehmes Gefühl. Es tut mir nicht leid um das Geld und ich mache allen wie ein Lord Geschenke, bereite allen Ueberraschungen; habe den Kindern wieder etwas zum Vorschmack gekauft, Saschenka kandierte Früchte mitgebracht, die ich ihr mit einer schönen Verbeugung überreichte.

Lord! …


 

3. (16.) September, Donnerstag.

In der Stadt summt es, wie in einem Bienenstock, die Menschen laut sprechend auf der Strasse beisammen: die Staatsduma ist aufgelöst – und sie war unsere einzige Hoffnung. Es ist seltsam, was sich die Petrograder alles erlauben, sie schreien aus voller Kehle Dinge durch die Strassen, die sie früher nicht einmal flüsternd im Schlafzimmer auszusprechen gewagt hätten. Es herrscht völliger Wirrwarr. Wenn ich auf der Strasse gehend all dies erregte und sinnlose Getöse höre, denke ich mir. Helden! … übrigens was geht es mich an?

Ich begab mich zusammen mit anderen Müssiggängern zum Taurischen Palast, es lohnte sich wirklich nicht. Mit einer kleinen Anzahl Neugieriger sah ich mir das Portal und die heraustretenden Abgeordneten an … es war nichts zu sehen, es sind Leute wie alle anderen. Sie benahmen sich, als wäre es angenehm und erfreulich, dass gerade ihnen die historische Rolle zufiele, in jenem Augenblick auseinandergehen zu müssen, da das »Vaterland in Gefahr« ist. Ihre Schritte klangen bedeutungsvoll, sie sassen bequem in ihren Equipagen und sahen alle in so hohem Masse Professoren ähnlich, dass man das Lachen nur schwer verbeissen konnte.

Als ich aber darüber lächelte und einen kleinen Scherz machte, nannte mich ein junger Mensch einen vom »schwarzen Hundert«. Warum tat ich es auch? Ich beschloss nunmehr die Versuchung zu meiden, um nicht am Ende noch totgeschlagen zu werden, stand dann noch lange auf der Ochtenskischen Brücke und warf schliesslich sechs Kopeken hinaus, um mit dem Dampfer bis zum Wassili-Ostrow zu fahren.

Es zieht mich jetzt immer zum Wasser hin. Das Sprühen der Wellen und die kühle Brise, die einem ins Gesicht weht, wenn man dort sitzt, haben etwas Beruhigendes … aber auch etwas hoffnungslos Trauriges und Quälendes.

 

4. (17.) September.

Ich habe jetzt erfahren, was die Leere ist. Es ist dies etwas Schreckliches und Ungewöhnliches. Ueberall ist sie, von mir ausgehend bis zum Monde, den ich am Abend vom Englischen Quai aus betrachtete. Besonders furchtbar und ungewöhnlich ist es, dass sie alle Häuser und Wohnungen, Mauern und Decken überflutet. In jedem Haus, in jedem Zimmer herrscht die Leere. Hat sie aber einmal alle Mauern überschwemmt, so wird, dies deucht mich, im Verlaufe eines Monats auch von den Sternen nichts übrig bleiben.

Besonders grässlich war es gestern um das Morgengrauen. Ich war in der Nacht eingeschlummert und hatte einen bösen Traum gehabt, dann kam Lidotschka im Traum zu mir, und ich erwachte. Ich konnte, von Unruhe erfasst, nicht mehr einschlafen, ging in mein neues Kabinett hinüber und setzte mich aufs Fensterbrett. Es begann bereits zu dämmern, aber ein leiser Regen machte alles grau und eintönig, man sah keinen Anfang und kein Ende. Und da empfand ich zitternd die grosse Leere, die im Zimmer herrschte und aus dem Zimmer hinaus in die Unendlichkeit flutete. Alles ist Leere, und der einzige Unterschied, dass jene Leere, die in den Zimmern haust, sich ein wenig erwärmen lässt, damit der Mensch nicht vor Kälte sterbe. Und das, was hier auf dem Fensterbrett sitzt, dachte ich weiter, ist ein Mensch, um den herum sich die Leere breitet. Die erwärmte Leere wird Wohnung genannt; bald werde ich keine Wohnung mehr haben.

Und dann bemerkte ich, das ich wieder nur halb bekleidet da sass, wie einst, und noch mehr als damals einem Wahnsinnigen glich. Und so langbeinig, so graubärtig! Ilia Petrowitsch, Du bist erledigt, Ilia Petrowitsch.

Als ich mich heute zur Ruhe begeben wollte, war es bereits ein Uhr nachts, doch blickte der Mond durchs Fenster und ich beschloss spazieren zu gehen und mir den Mond anzusehen. Es ist unangenehm, dass der Portier und der Hausmeister, jedesmal wenn ich des Nachts ein- und ausgehe, darum wissen; zu der Wohnung habe ich meinen eigenen Schlüssel. Wenn mir etwas zustossen sollte, brauchte dies niemand aufzufallen. Jenitschka ist ein süsser Junge.

 

6. (19.) September.

Welch' entsetzliche Vision hatte ich, eine Vision, die Wirklichkeit war. Zufällig befand ich mich am Finnländischen Bahnhof, als einige unserer Invaliden aus Deutschland eintrafen … Geheilte, Zurückgekehrte, also nichts Furchtbares: was ist da weiter dabei? …

Ein blinder, ganz in seine eigenen nichtigen Angelegenheiten vertiefter Tor, hatte ich nicht begriffen, warum sich eine solche Menge auf dem Bahnhof drängte, dachte es sei etwas Heiteres, Festliches. Sah nur die Blumen, die Fahnen und Kreuze, wie bei einem Empfang der Jugend; als ich aber erfuhr, um was es sich handle, ward mir kalt und ich wartete mit Schaudern auf das Eintreffen des Zuges. Ich konnte mir nicht vorstellen, welches Entsetzen meiner harre.

Und als sie dann kamen, ohne Arme, ohne Beine, als die Blinden und Krüppel vorbeigeführt wurden, die Musik spielte und man ihnen militärische Ehren erwies, glaubte ich, das Herz müsse mir brechen und begann inmitten all dieser Menschen zu weinen. Ich schloss die Augen und lauschte: man hörte keine einzige Stimme, nur das Schlürfen der Schritte, das Klopfen der Holzbeine auf der Plattform, – und die Musik spielte … es ist schwer zu verstehen, was vorging. Ich öffnete die Augen, glaubte ihnen nicht trauen zu dürfen, in grellfarbige Hemden gekleidet, rot und blau, standen die Invaliden da, wie die Bräutigame aus dem Dorfe, – aber ohne Augen, ohne Beine … sind dies die Bräutigame unseres heutigen Mütterchens Russland? Was bin dann ich, der Zuschauer?

Dann setzten sie sich nieder und assen; auch ein Bild! Assen das heimische Brot des eigenen Bodens und weinten; unsäglich wehevoll war es, die erschöpften Gesichter zu sehen, die so wohlbekannt erschienen, als wäre jedes das eines Freundes oder Bekannten gewesen. Man richtete an sie Reden, begrüsste sie … ich aber schaute auf den mir am nächsten sitzenden blatternnarbigen, erblindeten Soldaten, sah wie seine Backenknochen bebten, er nicht imstande war, den Löffel zum Munde zu führen, und da erfasste mich das Gefühl, als müsste sich die Erde zu meinen Füssen öffnen und mich verschlingen, wie etwas Unreines. Und dann kam ein hübscher junger Offizier und sah seinen einarmigen Bruder, der kaum dem Knabenalter entwachsen; und wie sie einander anlächelten, unentwegt lächelten, da konnte ich mich nicht länger beherrschen, schob mich durch das Gedränge, ich weiss nicht mehr recht, wie es mir gelang durchzukommen, ging in eine Ecke des Bahnhofs, wo niemand war, und verneigte mich dreimal bis zur Erde.

Bräutigame, Ihr meine geliebten in Euren roten Hemden! Schwer lasten die hochzeitlichen Kränze auf Euren Häuptern, rotglühend brennen sich die Verlobungsringe in Euer Fleisch, diese Ringe, die Euch auf ewig mit der heimatlichen Erde verbinden. Bittet für mich Verzweifelten.


 

7. (20.) September.

Saschenka, meine Freundin! Aus dem kurzen Brieflein, das ich für Dich auf dem Tisch zurücklasse, kannst Du ersehen, dass Du die Ursache meines Todes in diesem Tagebuch finden wirst. Lies es mit Aufmerksamkeit und Güte und Du wirst meinen Entschluss, der mich veranlasst, aus dem Leben zu scheiden, verstehen und vielleicht sogar gutheissen. Denn ich bin bloss ein niemand nützlicher Mensch und habe so viel gelitten. Ich weiss, dass Du mich liebst, und will diesen heiligen Glauben an Deine Liebe zu unserer Lidotschka mitnehmen in ihre traurige Einsamkeit, die zu teilen ich mich heute mit freudiger Ruhe anschicke.

Jawohl, Saschenka, mit freudiger Ruhe. Glaube nicht, mein Täubchen, zerreisse Dir nicht das Herz mit dem Gedanken, dass ich in Angst und Leiden sterbe, dass es mir weh tut, mir schwer fällt … nein, mit Freuden werfe ich die meine Kräfte übersteigende Last des Lebens von mir. Ich bin ein Schwächling, Saschenka! Schon seit drei Wochen verheimliche ich Dir, dass ich meine Beschäftigung verloren habe und dass uns allen Hunger und Elend droht, ich schämte mich, Dir meine Schwäche und Nichtigkeit einzugestehen. Natürlich hätte jeder andere, fähigere Mensch einen Ausweg aus dieser Lage, eine neue Arbeit gefunden, ich aber kann es nicht, und da ich es nicht kann, wozu bin ich denn gut? Der Gegenstand gesellschaftlicher Wohltätigkeit will ich nicht sein und habe auch kein Recht darauf: gestern sah ich am Bahnhof unsere Invaliden und weinte über ihr bitteres Unglück; diesen muss man helfen, nicht mir.

Und was bin ich Dir, meine arme Schöne, mein goldenes Herz? Ich bin nicht mehr jung an Jahren, mein Aeusseres ist nicht anziehend, Du kannst mich nur aus Deiner unendlichen Güte heraus lieben; bin ich nicht mehr, wird Dir alles leichter und freier sein auf dieser Welt, in der ich stets nur störte. War ich denn ein Mann? Habe ich Dich denn mit starker Hand den schweren Weg des Lebens geführt, mit dem Lichte meiner Vernunft das Dunkel erhellt? Nein, kleine Freundin, ich war schlecht, armselig, egoistisch. Habe ich Dich nicht mit den dummen Ansprüchen meines Magens gequält … wie beschämend ist es, sich dessen auch nur zu erinnern, Saschenka! Habe ich Dich nicht in Deinen aufopfernden Bemühungen im Lazarett gehindert, Dich ins Haus zurückgezwungen, stolz behauptet, dass ich mich nicht um die Kinder kümmern könnte; ohne Einsicht dafür, dass Du Dich um die Verwundeten kümmern lerntest, die es schwerer haben als die Kinder? Ich schäme mich des Gedankens, mit was für einem Gesicht, mit welchen Grimassen ich Dir begegnete, wenn Du heimkamst, oder ich selbst ins Lazarett ging, um dort zu nörgeln. Ich bitte Dich nur um Eines, vergiss es, denke nie daran, was ich Dir nach Lidotschkas Tode gesagt habe. Wenn Du Dich meiner hässlichen und grausamen Vorwürfe erinnerst, werde ich selbst im Grabe keine Ruhe finden. Vergiss und verzeihe.

Und noch eins, Du weisst es selbst, wirst es nie vergessen, verheimliche es meinen Kindern, wenn sie älter werden – damit sie sich ihres Vaters nicht schämen. Saschenka … Russland hat mich verflucht. Gestern vernahm ich den Fluch, als sie vor meinen Augen standen, die unglücklichen, blinden, zu Krüppel geschossenen Invaliden, unsere, Deine und meine Beschützer; und da brach mir vor unsagbarem Weh das Herz. Als ich die nutzlosen Tränen weinte, die ich nicht gekannt hätte, würde mich nicht der Zufall auf den Bahnhof geführt haben, hörte ich Russlands verdammende Stimme: Sei verflucht, Du mein schlechter Sohn! Das ist keine Einbildung, Saschenka, kein Phantasieren: ich habe die Stimme gehört.

Du kannst sagen, dass dies Wahnsinn ist und es schmerzt mich bitter, sagtest Du es; nein, meine Freundin, wahnsinnig war ich früher, ehe ich diese Stimme gehört und mir an die Brust geschlagen; als ich wie der Pharisäer meine eigene Makellosigkeit lobte und die Anderen verurteilte. Wäre ich ein Deutscher, so würde mich Deutschland verfluchen, weil auch dort blinde Invaliden, ohne Arme, ohne Beine, die Verteidiger der anderen sind. Urteile selbst, Saschenka, was habe ich in diesen für das Land so schweren Jahren für Russland getan? Ich habe nur nicht gestohlen, aber genügt denn das? Und wusste doch, wie alle anderen, dass das Vaterland in Gefahr, wiederholte selbst beharrlich diese furchtbaren Worte, wie ein gelehrter Papagei; aber was tat ich? Nichts! Es ist entsetzlich zu denken, welch unerbittliche Verurteilung in diesem kurzen Worte liegt.

Ohne zu beben, mit eigener Hand, vollziehe ich mein Todesurteil, wie man Spione und Verräter hinrichtet, für die auf Erden kein Platz. Russland hat mich mit seiner Mutterstimme verflucht und ich kann nicht, wage einfach nicht weiter zu leben. Ich schäme mich, Dir in die Augen zu sehen; Saschenka. Es wird ja, wo ich früher existierte, nicht einmal ein leerer Platz zurückbleiben, so nutzlos war ich allen, niemand wird bemerken, dass ich nicht mehr da bin. Nur ein Zweifel, eine Angst peinigen mich, wird sich meine Lidotschka nicht von mir abwenden, wenn ich sie im Chor der himmlischen Geister suchen werde? Nein, – dort begreifen sie alles besser als hier, und werden mir mein fruchtlos unfreiwilliges, grausames Leiden anrechnen, mit dem ich meine Nichtigkeit bezahlt habe. Dort gibt es keine Starken und keine Schwachen, dort sind alle gleich und ich werde unter dem Mantel des Heilandes eine Zufluchtsstätte finden. Meine irdische Schuld habe ich getilgt, dort gilt eine andere Buchführung.

Sei glücklich, Du meine Geliebte, Gute, Einzige. Gott möge Dir alle Liebe vergelten, die Du mir geschenkt hast, all Deine Zärtlichkeit, Deine Nachsicht, jede Berührung Deiner lieben, geliebten Hände. Du musst nicht um mich weinen. Lass nur drei Seelenmessen lesen: für Lidotschka, für Pawluscha für die im Kriege Gefallenen und mich. Suche meinen Körper nicht, er wird irgendwo im fernen Meere ruhen. Lebe wohl, lebe wohl.


 

9. (22.) September.

Es haben sich so wunderbare, so göttliche Dinge ereignet, dass ich sie, um nicht verwirrt zu werden, der Reihe nach erzählen muss.

Es war am dritten Tage. Ich hatte beschlossen mich zu töten, wollte aber noch den ganzen Tag mit den Kindern verbringen, ging mit ihnen im Alexandrowsky-Park spazieren, kaufte ihnen Konfekt, um sie zu erfreuen, und brachte Inna Ivanowna etwas Gutes zum Mittagessen mit. Uebrigens hatte ich auch ihrem Sohn Nikolai Jewgenitsch geschrieben, den Brief glücklicherweise aber nicht abgeschickt. Am Abend, als die Kinder für mich gebetet hatten und schlafen gegangen waren, brachte ich alle meine kleinen Geldangelegenheiten in Ordnung, (wie gut, dass ich keine Schulden habe!), schrieb Briefe an die Polizei und an Saschenka, und ging gegen ein Uhr nachts zur Troizkischen Brücke, von der ich mich, die späte Stunde, da sich keine Leute mehr dort befänden, ausnützend, in die Newa stürzen wollte. Um weniger leiden zu müssen und bestimmt unterzugehen, hatte ich zwei Bleigewichte von der Kuckucksuhr der Kinder, die schon seit langem verdorben ist und nicht mehr geht, abgenommen und in die Tasche gesteckt. Auf dem Wege wollte ich noch einige Steine sammeln. Ich kann ganz aufrichtig sagen, dass ich keine Angst und auch kein besonderes Bedauern empfand; nur als ich Saschenka schrieb, hatte ich ein wenig geweint, doch waren das sozusagen »konventionelle« Tränen gewesen.

Besonders beschäftigte mich der Gedanke, wie meine Teueren ohne mich auskommen würden, und es schien mir, als müsse dies sehr gut gehen. Vaterlose Kinder haben allüberall ein Anrecht auf Hilfe, auch setzte ich einige Hoffnung auf Nikolai Jewgenitsch, an den ich mich persönlich nicht hätte wenden können. Kurz, alles schien in Ordnung; den halben Weg dachte ich bloss darüber nach, bis ich, in der Moskauer Strasse angelangt, vor mir schwarz und öde die Newa sah. Die Nacht war düster und bewölkt, die Peter-Paulsfestung von dieser Seite aus kaum zu sehen, nur, wohl von dem Tor der Festung her, leuchtete schwach eine Laterne. In diesem Dunkel sah der breite Fluss wie das Meer aus. Ueber dem Wasser hingen die hellen, unbeweglichen Lichter der nahen Troizkischen Brücke, tiefe Stille, kein Mensch war zu erblicken. »Dort werde ich es tun,« dachte ich, die kalten Bleigewichte in meiner Tasche zusammenpressend. Feuchtigkeit und der Geruch des Wassers schlagen mir ins Gesicht. Lautlos klettere ich auf das Granitgeländer und laufe weiter vor. Wozu mich beeilen? Ich bleibe stehen und sehe mich um.

Und hier, in diesem Augenblick, ereignete sich etwas so Besonderes mit mir, dass es mir unendlich schwer fällt, es zu schildern. Ich bin im allgemeinen kein dummer, aber auch kein kluger Mensch, vieles sehe ich nicht, vieles weiss ich nicht, mehr noch verstehe ich nicht … und werde ich nie verstehen trotz aller Mühen und Anstrengungen; und nie, so weit ich mich dessen entsinne, hatte ich wirklich grosse Gedanken. Hier aber vollzog sich eine Wandlung in mir, so unglaublich, wie in einem Märchen. Es war, als sähe ich plötzlich mit tausend Augen, hörte mit tausend Ohren, der Kopf war so erfüllt von grossen Gedanken, dass ich nicht imstande war, mich zu bewegen; sitzen konnte ich, auch stehen, aber gehen, das war unmöglich. Und jedes Wort im Gehirne schien zu verstummen, selbst die Benennungen der Gegenstände waren wie vergessen, es waren nur Gedanken da, grosse, unerbittliche, so gross, dass sie den ganzen Erdball zu umspannen schienen. Nein, ich kann es nicht richtig ausdrücken.

Das erste, was ich begriff, war, dass ich ein Mensch sei, einer jener, die man meint, wenn man die Worte: »Leute«, »Menschheit«, »Mensch« ausspricht. Ich bin ein Mensch, ich, der ich hier, Gewichte in der Tasche mit einem Ueberrock bekleidet, in der erbarmungslosen, in Nacht gehüllten Stadt am reissenden Wasser stehe. Und wo sind die anderen Menschen? dachte ich weiter – und sah vor mir alle Menschen der ganzen Welt. Ist denn ein Unterschied zwischen Lebenden und Toten? Wohin gehen die Toten, woher kommen die Lebenden? Und wieder dachte ich weit, weit, sah sie alle, die Toten, die Lebenden, die Zukünftigen, eine ungeheure Zahl, vorbeitreibend gleich einer Vision, in den mondhellen Wolken schwebend, im Regen, im Wehen des Windes, in den Sonnenstrahlen, dem Fliessen des Flusses. Und ich wusste – jetzt weiss ich mir keine Erklärung dafür, – dass ich unsterblich sei, unsterblich bis zur Lächerlichkeit: Petersburg konnte tausendmal untergehen, ich würde immer leben.

Also geschah mit mir auf der Troizkischen Brücke, an jenem Fleck, von dem ich mir vorgenommen hatte, ins Wasser zu springen; und plötzlich erschien mir der Selbstmord als etwas so Törichtes, dass ich ruhig an meiner Statt die beiden Gewichte ins Wasser warf, das Wasser spritzte nicht einmal auf, als sie hineinfielen. Und wieder dachte ich lange nach, das vorbeifliessende, von den Laternen beleuchtete Wasser betrachtend. Dann sah ich zum dunklen, endlosen Himmel auf und wieder keimten in mir Gedanken auf … wohl kann ich mich derer nicht mehr entsinnen, doch war alles so klar, so gross, genau als wäre ich ein wahrhaft Weiser, der alles sieht und alles versteht. Hinter mir erscholl auf der Brücke der Lärm von Automobilen, und ich wandte mich, ohne den Grund zu wissen, um, wartete lange auf das Herankommen anderer Automobile und freute mich, als ich an der Biegung zwei elektrische Lampen aufleuchten sah und das Schrillen der Hupe vernahm.

Und plötzlich kam eine grosse Demütigung über mich. Ich kann die Empfindung, die mich zusammen mit einem leisen Erschauern vor der Kälte des Wassers erfasste, nicht anders denn Demütigung nennen … ich weiss nicht, wie es kam, aber von den Höhen der Weisheit und des Verstehens, auf denen ich mich noch eben befand, stürzte ich, fast ohne es zu bemerken, in ein Beben, ein Gefühl der eigenen Nichtigkeit und Furcht hinab; einer solchen Furcht, dass mir die Finger in den Taschen erstarrten und sich krümmten wie Vogelkrallen. »Ich fürchte mich,« dachte ich eine grausame Angst vor dem Tode empfindend, zu dem ich schon bereit gewesen, und ganz vergessend, dass ich ja schon früher die Gewichte ins Wasser geschleudert, den Gedanken an einen Selbstmord aufgegeben hatte, also eigentlich unmöglich mehr Furcht verspüren konnte. Jetzt will es mir scheinen, dass ich mich nicht mehr fürchtete, wie ich es gewöhnlich tue, dass meine Not nicht grösser war, denn sonst; damals aber kam mir meine Angst ungeheuer vor. Wo waren meine Weisheit, meine grossen Gedanken hingeschwunden? Ich stand auf der Brücke, wagte nicht einmal einen Blick auf den Fluss zu werfen, und zitterte, zitterte so, dass meine Zähne aufeinander schlugen. Und zu gleicher Zeit machte ich in meiner Verzweiflung (einen Art Versuch, mass mit meinem Körper die Höhe des Geländers: »Gleich wirst Du Dich hinabstürzen,« dachte ich verzweifelt und fühlte schon, wie sich meine Fusszehen in den Stein einkrallten und keinen Halt fanden. »Gleich wirst Du stürzen, gleich! …«

Und nun, diesen gewaltigen Schrecken empfindend, sah ich plötzlich in der Erinnerung ganz klar, gleichsam vom Sonnenlicht beleuchtete, wie wir damals zu Beginn des Krieges in einem Gefährt aus Schuwalow flohen, sah meine Lidotschka und die Blümchen, die ich am Wegrand für sie pflückte und entsann mich meiner zu jener Zeit so unerklärlichen Angst … Dies also war es, was ich damals so gefürchtet hatte. Dies also ahnte und wusste meine Seele voraus! Darum die Blümchen und unsere Hast, das angstvolle Umsichblicken, der Wunsch weiter zu kommen, irgendwo auf der Welt eine Zuflucht zu finden …

Die Seele wusste, was ihrer harrte, und zitterte im schwachen Menschenleibe.

»Mein Gott, das ist alles der Krieg,« dachte ich und mit einem Mal sah ich ihn in seiner ganzen Entsetzlichkeit, seiner ganzen verwüstenden Kraft. Ich vergass, dass ich in Petersburg sei, dass ich auf der Brücke stehe, vergass meine ganze Umgebung, sah nur den Krieg, den ganzen Krieg. Nein, es ist unmöglich dies wiederzugeben, dieses neue Grauen, diese Tränen, die mir unbemerkt aus den Augen flossen, und so fliessen sie, – fliessen sie, – fliessen noch immer.

Zum Glück wandte mir ein Vorübergehender seine Aufmerksamkeit zu, er war schon vorbei, kehrte aber wieder um und sagte irgendetwas zu mir. Ganz nahe, wie in einem Spiegel, sah ich ein fremdes und mir daher unheimliches Gesicht, unheimliche Augen, wich vor ihm zurück, rief irgendetwas und eilig, fast laufend, ging ich über die Brücke, zu Saschenka zurück.

Ich weiss nicht mehr, wo ich in einen Wagen stieg, wie viel ich bezahlte, nicht einmal mehr, wie ich ins Lazarett kam, weiss nur, wie ich dort vor Saschenka auf die Knie fiel und von Tränen unterbrochen, am ganzen Körper zitternd, ihr meine Beichte vorbrachte … Und ich sage und bezeuge es vor Gott und allen Menschen: meine Saschenka ist eine Heilige, sie gehört nicht mir, sie gehört Gott! Sie steht hoch über allen Menschen, ihre Heiligkeit ist so gross, dass ich nicht wage ihre Hand zu berühren, mein ganzes Leben muss ein ihr hingegebenes Gebet sein, mein ganzes Leben müsste ich auf den Knien vor ihr liegen, Du, meine Makellose, Herz aller Herzen, Seele aller Seelen, Saschenka, Du mein Heil!

Ich Schurke, ich erwartete Vorwürfe! Und was hörte ich, als ich unter Schluchzen und Tränen ihre heiligen Worte vernahm?

»Das tut nichts, Du brauchst keine Arbeit. Man hat mir hier ein Gehalt angeboten, ich wollte es nicht, werde es jetzt aber annehmen. Und wir werden davon leben und die Kinder ernähren. Du wirst bei mir sein, wir werden zusammen tun, was wir können. Jetzt aber bist Du wie ein Schwerverwundeter und ich führe Dich heim. Du wirst sehen, wie die Kinder schlafen, wirst unsere Mutter umarmen. Deine Seele soll sich beruhigen und ausruhen. Mein Armer, Du mein Aermster, Ilenka, Täubchen!«

Sie nennt mich noch Ilenka! Und dann begann sie selbst zu weinen und meine grauen Haare zu küssen. Ich murmelte:

»Küss' sie nicht, sie sind voller Schmutz, ich war seit einem Monat nicht mehr im Bad. Küss' sie nicht!«

Doch kümmerte sie sich nicht darum, denn sie ist eine solche Frau. Es ist dies aber eine peinliche Erinnerung, der ich nicht gerne Worte verleihe; auch entsinne ich mich nicht genau, ob meine Haare wirklich so schmutzig waren, wie es mir vorkam. Ich war vom Weinen ganz schwach geworden, alles drehte sich vor meinen Augen, so dass ich mich an der Wand oder am Tisch festhalten musste, um nicht zu fallen. Nach einigen Minuten ging Saschenka hinaus, um ihren Pflichten nachzukommen, und ich sah mich im Zimmer um, wo all' dies vor sich gegangen war, wischte mir das Gesicht ab, versuchte mich zu beruhigen. Als ich aber auf der Wand das weisse Gewand mit dem roten Kreuz erblickte, das mir von heute ab heilig ist, wie meine Saschenka selbst, begannen meine Tränen von Neuem zu fliessen. So brachte mich Saschenka nach Hause, ich wandte mich ab, während der Portier die Tür aufschloss. Ich versuchte zu sprechen, es kam aber natürlich bloss wirres Zeug heraus, und Saschenka unterbrach mich mit zärtlichen Worten:

»Du musst nicht, sprich heute nicht, beruhige Dich. Morgen werden wir reden.« Es erwies sich, dass sie für ein paar Tage Urlaub genommen hatte.

Ich erinnere mich bloss undeutlich, was zu Hause geschah. Alles schien sehr hell und ich ging in den Zimmern umher wie ein Geburtstagskind und lächelte dumm und beglückt. Küsste die schlafenden Kinder der Reihe nach, küsste Inna Ivanowna, die von Saschenka aufgeweckt worden war, und weinte mit ihr. Dann wurde der Samowar gebracht, ich trank heissen Tee und meine Tränen fielen in die Untertasse, unbegründete Tränen, die mir ohne Unterlass kamen, ich dachte wie heiss der Tee sei und weinte vor Rührung und Glück.

Saschenka machte mir ein Bett im Kabinett zurecht, sie fand, dass ich dort mehr Ruhe haben würde, gab mir ein reines Hemd und brachte alles in Ordnung. Und als ich nun so rein und weiss, im reinen, weissen Bette lag, die Hände auf der Decke gefaltet, und sie das grüne Lämpchen auf den Tisch neben mich stellte, sich hinsetzte, ein Buch nahm, um mir daraus vorzulesen, da hatte ich wirklich die Empfindung, als wäre ich schwer verwundet gewesen und begänne jetzt zu genesen. Und so wohltuend war die Schwäche, die mich fast hinderte die Augenlider zu heben, um im Lichtkreis des Lämpchens die Decke, die Lampe, Saschenkas Kinn das ich gerade noch erblicken konnte, zu sehen.

Sie las Gogol, und wenn ich auch nur Bruchstücke hörte, so war es doch interessant und angenehm, wie wenn man in einem guten Traum andere Leute, Wege, Felder sieht. Ich vernahm die Worte: »Selifak«, »Petruschka«, »Kalesche«, und sah dies alles schon vor mir, zu gleicher Zeit aber auch das Bild der dunkel dahinfliessenden Newa, der Automobile und des Vorübergehenden, der mich bei der Hand packte, dann kam wieder die Kalesche mit ihren Schellen und ein langer, langer Weg … so schlummerte ich ein. Für einen Augenblick erwachte ich wieder, am ganzen Körper zitternd, sah den Lampenschein, hörte Saschenkas Stimme – und verfiel dann in einen tiefen Schlaf.

Als ich am Morgen erwachte, sah ich Saschenka am Tisch sitzen und in Tränen aufgelöst mein törichtes Tagebuch lesen. So blass war sie, so lieb nach der durchwachten Nacht, die sie um meinetwillen schlaflos zugebracht hatte. Meine Saschenka, Saschenka, Du meine Heilige!

 

12. (25.) September.

Wir haben die Wohnung aufgegeben, und bei Finotschka, Saschenkas Freundin, zwei Zimmer gemietet, die früher von einem Flüchtling bewohnt wurden. Den Flüchtling haben wir gewissenlos vertrieben, wir sind selbst Flüchtlinge. O diese Finotschka – mit ihrem ewigen Lachen! Ach, mein Gott, wie angenehm sind doch diese kleinen Stübchen, diese harmlos lachende Finotschka meiner Empfindsamkeit.

Mir ist zumute, als sei ich in einen Palast gekommen, reich und frei, wie ein Zar! Finotschka hat einen Kanarienvogel, ich sitze wie ein Narr halbe Stunden lang vor seinem Bauer und sehe seinem Treiben zu.

Von der Hauptsache später, jetzt vermag ich darüber nicht zu sprechen. Die Deutschen setzen ihre Angriffe fort.

 

13. (26.) September.

Nur mit Mühe kann ich mich in Saschenkas Schilderung wiedererkennen, aber ich glaube ihr, meiner Gerechten, wie dem Evangelium. Ein furchtbares Bild! Und ganz begreiflich ist es, dass ich ihr so fremd geworden war: bemerkte ich doch in der Anmassung meines persönlichen Grames ihre Tränen nicht, antwortete auf ihre liebkosenden Worte mit dem bösen Knurren eines Hofhundes, dem man die Knochen weggenommen hat. Und mein Schrecken, als ich meine Arbeit verloren, der törichte Stolz, der mir das Recht zu leben absprach … welch' unglaubliche Dummheit! Alle anderen können arbeitslos werden und um Mildtätigkeit bitten müssen, nur ich allein, dies Ausnahmgeschöpf, dieser vornehme Ilia Petrowitsch Demetjew, kann es nicht. Alle Menschen dürfen ihre Kinder verlieren, nur ich allein nicht, ich muss mich dagegen auflehnen, irgendjemand angreifen, mir selbst pharisäerisch an die Brust schlagen. Alle können schmerzliche Verluste erleiden, durch Feuersbrünste geschädigt, von Unglück aller Art heimgesucht werden, nur ich muss auf dieser Welt heilig und unantastbar auf einem Sockel stehen! Alle kämpfen, nehmen Qual und Sünde auf sich, nur ich allein sitze wie ein ausgedienter Lehrer, schreibe zur Nachtzeit Korrekturen, ergehe mich in Vorträgen, die niemand anhört, teile Zensuren für das Betragen aus: Zwei minus, stelle Dich in die Ecke Deutschland! Und Ihr Dummköpfe alle, stellt Euch in die Ecke, solange ich, der Weise, hier auf dem Katheder stehe und mich brüste. Aber woher kann Saschenka dies alles verstanden haben? Meine Saschenka!

Sie sagt nirgendsher, es sei dies alles so klar gewesen; mag sein. Aber woher kam damals meine Verblendung? Wahrscheinlich von dort, wo all' die müssigen Fragen herkommen. Mir ist ja jetzt alles klar, aber aus reine Gewohnheit frage ich weiter, setze Fragezeichen hin … zu dumm!

Ich kann die Seelenerleichterung, die ich nun empfinde, mit nichts vergleichen. Und die Hauptsache, ich fühle keinerlei Angst mehr was immer auch geschehen möge. Für mich ist nichts mehr furchtbar. Die Deutschen, – nun gut, die Deutschen, muss man fliehen – flieht man, muss man sterben – so stirbt man eben. Noch nie habe ich Petka und Jenka so geliebt, aber nicht einmal der Gedanke ihres Todes vermag mich mehr zu erschrecken … ich würde bitterlich um sie weinen, doch den eigenen Tod nicht mehr herbeirufen, mich nicht einmal nach ihm sehnen. Ueberhaupt der Tod – diese formelle Idiotie, wer liebt, lebt ewig, sagt Saschenka.

Gestern hat mich Finotschka den ganzen Abend »Alterchen« genannt, »mein Alterchen, mein Alterchen!« Saschenka begann sich ein wenig zu beleidigen und verlieh diesem Gefühl durch eine Bemerkung Ausdruck, ich aber war gar nicht gekränkt, sie scherzte ja doch nur. Trotzdem ging ich zum Spiegel, um mich zu betrachten … weiss Gott, sie hat recht. Nicht dass ich wirklich alt aussähe, scheine bloss älter als sechsundvierzig Jahre, es liegt irgendetwas in den Augen, im Lächeln, ja, und auch in den Tränen, die mir so häufig kommen. Ich werde nicht mehr lange leben, das ist eine Tatsache – und in diesem Gedanken ist eine aussergewöhnliche Kraft. Finotschka meint, das viele Herumlaufen in der Stadt hätte mich gestählt; möge sie nur lachen.

Wir freuen uns alle über die neue Wohnung, nur der Umzug war nicht angenehm; es ist schwer zu verstehen, was mit Inna Ivanowna vorgegangen ist, was sie so sehr betrübt haben mag. Mit einem Mal ist sie zusammengebrochen und liegt nun schon, das Gesicht zur Wand gekehrt, den zweiten Tag, zitternd vor Schwäche wie eine Sterbende. Als wir der Ahnungslosen damals ohne jegliche Vorbereitung mitteilten, dass ich meine Stelle verloren habe, war es erschreckend zu sehen, wie sie sich aufregte, erbleichte, zu beben begann. Als die Möbel schon alle fortgebracht waren, weigerte sie sich ihr Zimmer zu verlassen, weinte, als wir sie an der Hand fortführten. Sie muss irgend eine besondere Vorstellung gehabt haben. Gestern Abend verlangte sie nach Saschenka und flüsterte ihr zu: »Rufe Pawluscha zu mir;« natürlich erwiderte Saschenka, dass sie ihn sofort rufen würde. Zum Glück wiederholte die arme alte Frau ihre schreckliche Bitte nicht mehr. – Eben sah ich nach, sie schlafen alle, sie, Saschenka und die Kinder; solange Saschenka hier ist, schläft das Kindermädchen in Finotschkas Gastzimmer.

Es ist uns gelungen, die überflüssigen Möbel, die uns nur zur Last waren, vorteilhaft zu verkaufen. Saschenka bleibt noch einen Tag daheim, dann kehrt sie in ihr Lazarett zurück; sie wird auch für mich irgendeine erträgliche Beschäftigung suchen. Wo sind die Worte, die auszudrücken vermögen, wie sehr ich sie verehre! Sie zieht mich aus der Grube, in die zu verkriechen mir beliebte.


Finotschka trat eben aus dem Gastzimmer, um mich zu suchen. Eine volle Stunde sass sie bei mir und erzählte mir voll Entsetzen von der Invasion der Deutschen. An ihrer Blässe, ihren unzusammenhängenden Worten erkannte ich noch deutlicher als aus den Zeitungen, mit welcher Angst unsere Hauptstadt und unser ganzes Volk dem Einfall des Feindes entgegensieht. Nicht um unserer Verdienste, unseres Reichtums und unserer Kraft willen – erbarme Dich unser o Herr, aber um unsere Armseligkeit, unseres Elends willen, die Du so liebtest, als Du auf Erden wandeltest.

Ich kann nicht einschlafen, es treibt mich irgendetwas zu tun. Es ist schrecklich, mit müssigen Händen dazusitzen, ich würde gerne den Fussboden fegen, – aber er ist schon gefegt. Nein, morgen schicke ich Saschenka ins Lazarett zurück, es hat keinen Sinn, es hinauszuschieben.

Wäre meine Brust etwas breiter, ich hielte sie ohne Zaudern den deutschen Geschossen hin, als Mauer für die Anderen.

 

15. (26.) September.

Ich habe schon zwei Angebote, das eine als Buchhalter bei dem Komitee zur Unterstützung der Flüchtlinge, mit einem kleinen Gehalt, das andere – an der Front, als Pfleger in der Etappe. Ich ziehe natürlich das letztere vor, werde auch das erste annehmen, wenn es sein muss.

Inna Ivanowna geht es schlecht, immer wieder ruft sie nach Pawluscha.

 

18. September (1. Oktober).

Ich sammle für die Verwundeten.

 

20. September (3. Oktober).

Nie hätte ich mir vorstellen können, dass sich in den Tränen ein so unsagbares Glück verbergen könnte! Und es ist so seltsam, früher verursachte mir das Weinen Kopfweh, ich empfand einen bitteren Geschmack im Munde und ein heftiger Schmerz zerriss mir die Brust, jetzt aber weine ich leicht, schmerzlos, als ob es mir Freude machte. Besonders fiel mir dies auf meinem zweitägigen Rundgang mit der Sammelbüchse durch Petrograd auf, als jede Gabe, jeder Beweis der Teilnahme für die Verwundeten mich unsäglich bewegten. Und wie viel gute Menschen, wie viel goldene Herzen zogen an meinen glücklichen Augen vorbei.

Meine langen Beine und den Umstand ausnützend, dass man mir als Genossen einen kleinen, aber flinken und unermüdlichen Gymnasiasten mitgegeben hatte, gelangte ich auf meinen Wanderungen bis Ochza und hier unter den armen Leuten, den Arbeitern und Handwerkern, verbrachte ich eine ausnehmend freudige Stunde.

»Wie die geben!« sagte der Gymnasiast Fedia zu mir. »Wie die geben, nimm nur!«

»Ja, Fedia, wie sie geben! Nimm nur!« antwortete ich lächelnd auf seine naiven Worte und fühlte, wie meine Augen feucht wurden. Ich sah, wie der bärtige Arbeiter eifrig seinen Kopeken oder seinen Fünfziger hergab und er war mir so lieb, dass ich mich schämte, ihm in die Augen zu sehen. Ich liebte seine Hände, seinen Bart, alles an ihm, an diesem wertvollen, ehrlichen Menschen, den kein Krieg verderben konnte! Angenehm war es auch, dass sie nicht verlegen wurden, sich nicht entschuldigten, wie dies am Newsky oder Morskoi öfters vorkam. Viele fragten mich:

»Ist das Ihr Söhnchen?«

»Nein, wir sind Bekannte,« antwortete dann Fedia ein wenig beleidigt, er kam sich schon zu erwachsen vor, um irgend jemandes Söhnchen zu sein. Er nahm mir die schwere Sammelbüchse aus der Hand, bis er sie nicht mehr tragen konnte, führte mich, das heisst er kommandierte voller Würde mit mir herum.

Zweimal füllten wir die Büchse an und liessen uns von unserer Arbeit so hinreissen, dass uns schliesslich vor lauter Müdigkeit die Beine nicht mehr tragen wollten, besonders Fedia war ganz erschöpft. Wir waren schon halbtot, als wir durch eine Nebengasse an jene Seite der Neva gelangten, wo sich die kleinen Fabriken mit ihren rauchenden Schloten erheben. Wir setzten uns ans Ufer. Lange genossen wir dort die Stille des schönen Abends, den Anblick der Barken und Dampfer, der breiten Neva, der rosigen Wolken … nie werde ich diesen Abend vergessen. Ein vorbeifahrender Schleppdampfer trieb kleine, leise plätschernde Wellen an das flache Ufer, aus den grossen Holzbaracken krochen vergnügte Kinderchen und spielten ihre abendlichen Spiele, auf dem einen Ufer waren bereits die Laternen angezündet und strahlten ein mildes, blaues Licht aus; in meiner Seele war eine solche Ruhe, eine solche Reinheit, als wäre ich selbst wieder zum Kinde geworden. Ich schwieg und auch Fedia, der zuerst lebhaft über die Deutschen geplaudert hatte, wurde schweigsam und nachdenklich. Dann gingen Soldaten über die Ochtenskische Brücke, durch das Lärmen der Fuhrwerke klangen Bruchstücke ihres Gesanges zu uns herüber.

»Singen die Soldaten?« fragte Fedia aufgeregt. »Wo sind sie.«

»Auf der Brücke … hör' zu!«

Wie schön, wie kunstlos singen die Soldaten mit ihren einfachen, natürlichen Stimmen, man fühlt aus den Klängen das ganze Russland heraus, die heimische Erde, das ganze Volk. Schon war das Lied verklungen, es begann zu dunkeln, das ganze Ufer wurde von den Laternen und den aus den Fenstern schimmernden Lichtern erhellt, und noch immer dachte ich darüber nach, wie unzertrennbar die Soldaten und Russland sind … Russland! Wie im Traum sah ich die herbstlichen Wälder, den herbstlichen Weg, die Lichtlein in den Hütten, den Bauer auf seinem Karren. Sah die Pferdeschnauze, und es war etwas so Liebes an diesem Bild, mit zärtlicher Dankbarkeit gedachte ich des Gaules ewiger Arbeit, anderer Pferde, Dörfer und Städte … Es schien mir, als käme mich Schlaf an. Aber Fedia, welche Trauer! Er war fest eingeschlafen, den Kopf an mich gelehnt. Ich hob seine herabgefallene Mütze auf, aber ich konnte ihn nicht wach bekommen, er lehnte sich immer von neuem schlaftrunken gegen mich. Ich zwang ihn die Augen zu öffnen. Er brummte:

»Bei Gott, ich kann nicht mehr gehen.«

»Ich sollte Dich schelten, aber meine Kräfte reichen nicht aus. Gehen wir bis zum Dampfer und fahren wir dann von dem Suworow Platz mit dem Tram.«

»Ja, gehen wir zum Dampfer,« willigte Fedia ein, er liebt die Dampfer sehr, mein verehrter Genosse.

So haben wir zwei Tage zusammen gearbeitet. Gestern regnete es leider und unsere Sammlung litt darunter, aber das Gefühl der Freude blieb, denn der Mensch leuchtet noch heller im herbstlichen Schmutz und Unwetter.

Ich dürfte meine Ernennung an die Front erhalten.

 

24. September (7. Oktober).

Wir haben Inna Ivanowna begraben. Schon seit langem lebte sie nur mehr dem Schein nach und nun ist sie zu ihrem Pawluscha gegangen. Ich weiss nicht, ob sie einander dort begegnen werden, aber sie sind nun beide dort an jenem Ort, den wir nicht kennen, wo meine Lidotschka ist, wohin auch ich unterwegs bin.

Und wie viele doch sterben! Als ob im Walde eine Lichtung ausgerodet würde, jeden Tag verschwindet ein bekannter Baum.

Hartnäckig kehrt ein bitteres Gerücht immer wieder, auch die Zeitungen schreiben, dass die Deutschen immer näher kämen. Seit dem Frühjahr sind sie unaufhaltsam, Schritt für Schritt, in Russland eingedrungen, stehen nun vor Riga und der Düna; und gleichsam wie durch einen baufälligen Zaun sehen uns ihre drohenden Augen an und der Tag ihres Einzuges liegt im Dunkel des Unbekannten.

Voll Traurigkeit und unerträglichem Mitleid betrachte ich die Menschen. Wie hart ist doch ihr Los auf dieser Erde, wie schwer ist's mit der eigenen, rätselhaften Seele leben zu müssen! Was verlangt diese dunkle Seele, wohin zieht sie durch Blut und Tränen?

Den ganzen Tag hört man Geschichten über die Flüchtlinge aus Polen und Wolhynien, über ihre aussergewöhnlichen Fluchten auf allen Wegen. Sie werden, und das scheint den anderen eine Beruhigung zu sein, in Bücher eingetragen, gezählt, und man spricht jetzt von ihnen wie von einer Rasse, die schon lange bestanden hat und niemand recht gefallen will. Ich verstehe diese Beruhigung nicht, es schmerzt die Vorstellung, wie sie die Strassen dahin flohen und noch fliehen, das Knarren der überlasteten Fuhrwerke, das Weinen und Husten der frierenden Kinder, das Brüllen der hungrigen Haustiere. Und wie sie fremd, von einem Orte zum andern ziehen, hinter sich blickend, gleich Lots Weib, in Flammen und Rauch die brennenden Dörfer und Städte sehend. Die Pferde reichen nicht, und viele spannen, wie erzählt wird, Kühe, ja selbst starke Hunde vor die Wagen oder ziehen sie selbst, wie in den alten Zeiten, als die Menschen zum ersten Mal vertrieben worden waren … und seit jener Zeit werden sie immer wieder und wieder vertrieben. Es ist schwer, sich ein Bild davon zu machen, was auf diesen Strassen geschieht, wo eine solche Menge drängt, dass es eher dem Newsky an einem Feiertage gleichen muss, als einer öden, herbstlich kotigen Chaussee. Wird uns diese unbekannte Macht noch lange vor sich herjagen?

Und heute noch eine traurige Nachricht: die Bulgaren haben die Serben überfallen … konnten wir dem nicht entgehen, dass Brüder Brüder zerfleischen? Die ganze Seele erbebt einem, wenn man bedenkt, dass dies Volk vernichtet, dass diese arme Wiese von jenen Schnittern abgemäht wird, deren Nahen, Kommen auch uns schreckt. Und was macht es ihnen aus, auch diese zu morden, haben doch die Türken, wie die Zeitungen melden, 800,000 Armenier hingemetzelt. Was ist da zu sagen? Sie tun mir alle leid und jeden Augenblick wird das bekümmerte Herz von neuem Unglück heimgesucht. Und ich weiss nicht, soll ich Gott bitten, er möge die verräterischen Bulgaren strafen oder soll ich mich hier vor einem unbegreiflichen Geheimnis der Menschenseele beugen.

Gestern aber war ich nahe daran, inmitten der Tränen und des Mitleids in Flüche auszubrechen, konnte mich nur mit Mühe in der folgenden schlaflosen Nacht besänftigen. Mir war eine Zeitung in die Hand geraten, in der von den unglückseligen Armeniern die Rede war. Ich gebe die Worte eines Augenzeugen genau wieder, so wie sie dort standen, schwarz auf weiss.

»Das furchtbarste Bild bot sich dem Augenzeugen in Bitlis dar. Noch ehe er Bitlis erreicht hatte, sah er im Walde eine Gruppe erst kürzlich hingeschlachteter Männer und darunter drei Frauen – völlig nackt, an den Beinen aufgehängt. Bei einer derselben stand ein etwa einjähriges Kind und reckte die Arme nach der Mutter aus, diese, noch lebend, das Gesicht mit Blut überströmt, streckte dem Kind die Hände entgegen, doch konnten sie sich gegenseitig nicht erreichen.«

Kann man denn einschlafen, ein solches Bild vor Augen? Natürlich konnte ich es nicht, die ganze Nacht über stockte mir der Atem, tobte das Blut in meinem Kopfe, als wäre ich selbst bei den Beinen aufgehängt und hinaufgezogen. Einen Augenblick glaubte ich zu ersticken. Aber seltsam, als ich dann weinen konnte, schwemmten die Tränen meinen Zorn, die Flüche und noch ein anderes Gefühl ganz fort. Nur Eines blieb. Ich spreche nicht von den »kürzlich hingeschlachteten Männern« … schon die Art und Weise von Menschen wie von Schafen zu sprechen, verrät das Schablonenhafte dieses Anblicks, die Gewöhnung an denselben. Wie viele gibt es dieser kürzlich »Hingeschlachteten« auf unserer heutigen Schlachtbank, aber die Frau und das Kindchen, die Frau und ihr Kindchen …

Sie lebte noch, den Kopf nach unten, konnte so noch eine halbe, eine ganze Stunde am Leben bleiben; wie musste das Blut durch ihr Gehirn jagen, welch schreckliche blutrote Lichter mussten vor ihren brennenden Augen tanzen! Wie atmete sie? Wie konnte ihr Herz noch schlagen? Und inmitten dieses roten, glühenden Todes erkannte sie noch die Gestalt ihres hilfsbedürftigen Knäbleins, sah nur dieses mit ihrem gequälten Blick, mit übermenschlicher Kraft streckte sie nach ihm die blaugelaufenen Hände aus, wandte ihm das blaurote Gesicht zu. Ein anderer wäre vor diesem entstellten Gesicht erschrocken, aber das einjährige, unschuldige Kind streckte die Hände nach ihm aus, erkannte in ihm seine Mutter. »Doch konnten sie sich gegenseitig nicht erreichen.« Entweder war die Entfernung zu gross, oder das dumme Knäblein verstand es nicht, die Hand hinauf zu reichen. Und was war ihr von Nöten? Nicht Leben und nicht Rettung, auf die sie nicht mehr rechnen konnte, nur eines, nur auf einen Augenblick das Kinderhändchen zu halten, dessen Berührung ihrem Herzen Gewaltiges gewesen wäre. »Doch konnten sie sich gegenseitig nicht erreichen.«

Und die ganze Nacht versuchte ich wie in einem schweren, bösen Traum, selbst dem Ersticken nahe, diese zwei hoffnunglos ausgestreckten Hände zu vereinigen. Jetzt werden sie gleich zusammenkommen, gleich einander berühren, etwas Ewiges, Starkes, ein unveränderliches Leben bilden … nein, es geht nicht, irgend etwas, eine unüberwindliche Kraft reisst mich zurück. Schmerzenden Kopfes besann ich mich eine Minute (schade, dass ich das Rauchen aufgegeben habe, es verlangte mich sehr danach), und dann begann ich von neuem mit dieser entsetzlichen Arbeit, die keinen Anfang und kein Ende hatte. Von neuem suchte ich die Hände zu vereinigen, wieder waren sie einander ganz nahe, und wieder riss eine unsichtbare Gewalt sie auseinander. Das Blut schoss mir zu Kopfe, ich glaubte vor Verzweiflung zu ersticken. Schliesslich schien mir etwas Ungeheuerliches zu drohen: die Hände, die ich vereinigen wollte, streckten sich nach mir aus, um mich zu erwürgen, die Finger umkrallten meine Kehle, es waren nicht mehr vier Hände, unzählige waren es, unzählige …

Finotschka hatte mein lautes Stöhnen vernommen und kam erschrocken herbeigelaufen; als sie erfuhr, was mir fehle, gab sie mir Baldrian zu trinken, aber schon der Anblick eines lebenden Menschen beruhigte mich. Kaum aber war sie aus dem Zimmer gegangen, so begann das ganze von neuem, wenn auch nicht in der gleichen furchtbaren Art. Sie wollten mich nicht mehr erwürgen, aber ich konnte die Hände, wie früher, nicht vereinigen und hielt über diesen Gegenstand eine leidenschaftliche Rede in unserem Kontor, selbst ein paar unendlich lange Arme ausstreckend …

Gegen Morgen schlief ich traumlos ein.

Heute quälen mich furchtbare Gedanken und eine unbezähmbare Aufregung. Ich sehe auf jedes Paar Hände, das irgendwie beschäftigt ist oder müssig aus dem Aermel heraushängt, und träume davon, sie zu vereinigen. Ich denke an Inna Ivanowna und die anderen Mütter; wie sie, die ihren Sohn beweinen, nicht verstehen können, dass auch er den Sohn einer anderen Mutter erschossen und umgekehrt, und dass sie alle weinen. Nein, sie verstehen es wahrscheinlich, denn es ist ja so einfach, doch hier scheint das Schwergewicht in etwas anderem zu liegen. Wer streckt und wem streckt er die Hand zur Vereinigung hin? Und wer hindert dies, hindert dies ewig und immer? »Doch konnten sie sich gegenseitig nicht erreichen!« – sagt der Augenzeuge.

Mein Zorn ist erloschen, weh und traurig ist mir und wieder fliessen mir still die Tränen. Wen soll man verfluchen, wen verdammen, da wir doch alle so unglücklich sind. Ich sehe das allgemeine Leid, sehe die ausgestreckten Hände und weiss, dass ein grosses Licht alles erhellen wird, wenn sie einander berühren, die Mutter Erde und ihre Söhne – ich aber werde es nicht mehr sehen. Und wozu habe ich gedient? Als »Zelle« habe ich gelebt, als »Zelle« werde ich sterben und habe nur die eine Bitte an mein Schicksal, dass mein Tod und das Leid, das ich in Demut ergeben auf mich nehme, nicht umsonst sei.

Aber ich kann in dieser völligen Hoffnungslosigkeit keine Ruhe finden und so strecke ich irgend jemandem die Hand hin: Komm, gib mir die Deine. Ich habe Dich so lieb, Lieber, Du mein Lieber …

Und ich weine, weine, weine.

14. Januar 1916.

 


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