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Zweiter Teil.
1915.

 

5. (18.) Januar.

Von Pawluschas Tod wurde ich durch seinen Kameraden, den Freiwilligen Petrow, benachrichtigt. Anscheinend ängstigte sich Pawluscha, seiner Mutter und Saschenka eine Trauerkunde unvermittelt zukommen zu lassen, und hatte schon vor längerer Zeit seinem Kameraden meine Kontoradresse gegeben, damit ich es sei, der seinen nahen Anverwandten die entsetzliche Nachricht überbringe. Niemals werde ich den furchtbaren Augenblick vergessen, als ich das von fremder Hand adressierte Feldpostkuvert öffnete und sofort ein Unglück ahnend, die kurzen Zeilen las. Dies geschah im Kontor und alle bemitleideten mich, aber was half mir ihr Mitleid? … Ich wollte mich sofort nach Hause begeben, gefoltert von dem Gedanken, wie ich es Saschenka und Mütterchen mitteilen solle.

Aber schon auf dem Wege ins Lazarett, wo sich Saschenka befand, kehrte ich um und rannte zwei Stunden lang sinnlos durch die Strassen, trat sogar ins Kaffee Filischow ein. Ich entsinne mich nicht, ob an diesem Tag so viel Schnee gefallen war, aber alles erschien mir ungewöhnlich, fast unnatürlich weiss; fremd und seltsam war es, die Leute und die Trambahnen anzusehen, und als die Glocken der Trams ertönten, ging mir dieser Klang schmerzhaft durchs Gehirn. Alle Menschen schwiegen, nur eine Tramglocke läutete und läutete wie verrückt. Damals konnte ich nicht weinen, der Gedanke an Saschenka und Mütterchen liess meine Tränen versiegen.

Doch wozu dies schildern, es ist doch alles so begreiflich! Nur eines will ich sagen: lieber die Todesstrafe, lieber jegliche Folter erleiden, als einer Mutter als Erster sagen, dass ihr Sohn gefallen ist, tot ist. Käme ich noch einmal in diese Lage, ich würde eher Hand an mich selbst legen, als noch einmal solche Worte aussprechen, in Augen sehen, die noch ahnungslos, voller Fragen und Vertrauen auf mich blicken. Und wie traurig sie auch jetzt sind, wie weh es mir tut, allabendlich die Gespräche über den geliebten Pawluscha anhören zu müssen, ich kann mich nicht erwehren, froh zu sein, dass dies schon alles hinter uns liegt, dass es sich nicht mehr wiederholen kann. Und weiss doch nicht, ob es nicht leichter wäre, selbst zu sterben, als dies Leid mitansehen zu müssen.

Natürlich sind wir nicht nach Finnland gefahren. Saschenka hat ihr Lazarett im Stich gelassen und verbringt, den eigenen Kummer bekämpfend, die ganze Zeit mit Inna Ivanowna. Und was ist über die alte Frau zu sagen? Sie ist nicht gestorben, aber sie lebt auch nicht mehr. Ich begreife sie nicht. Genau zwei Stunden weint sie für sich in irgend einem Winkel, dann geht sie mit Saschenka die Seelenmesse anhören, irrt ziel- und sinnlos in der Wohnung umher, beginnt mit einem Mal Staub zu wischen, wo nie Staub gelegen, bringt mir wie immer den Kaffee ohne Zucker. Gestern war sie plötzlich verschwunden. Eine halbe Stunde lang suchten wir sie vergebens; was sie sich dachte, wissen wir nicht, aber es scheint, dass sie sich ins Waterklosett eingeschlossen hatte und die Tür nicht mehr zu öffnen vermochte. Wir riefen sie, schrien nach ihr – aber sie gab keine Antwort; erst als wir fast die Tür einrannten, erhob sie ihre Stimme. Aber wie immer wir ihr auch durch die Tür erklärten, wie sie dieselbe zu öffnen habe, gelang ihr dies doch nicht. Man musste ins Kontor gehen und den Schlosser herbeirufen. Saschenka machte ihr Vorwürfe: »Du hättest doch rufen sollen, Mama, wir haben uns nach Dir heiser geschrien!« –

Die alte Frau schwieg, dann begann sie zu weinen. Noch jetzt schämt sie sich, wenn Lidoischka oder das Kindermädchen sie dorthin begleiten und man kann sie doch nicht allein lassen.

Und das nennt man – Feiertage, Weihnachten! Es ist schrecklich! Die Tage sind doch noch erträglicher, nachts aber liege ich mit verhaltenem Atem lauschend, wer früher in seinem Bett zu weinen beginne, – Saschenka oder Mütterchen. Es kommt vor, dass es bis zur Morgendämmerung still bleibt, vielleicht schlafen sie, – ich beeile mich selbst einzuschlummern – und höre plötzlich, dass das Bett vom Schluchzen erschüttert wird … Es fängt wieder an!

Zum letzten Mal haben wir Pawluscha am 4. (17.) August gesehen, noch in der Sommerfrische, als Mütterchen bei uns zu Besuch war. Das Regiment, das im Innern Finnlands gestanden, zog aus, um seine. Stellung einzunehmen und Pawluscha eilte zwischen zwei Zügen, auf eine halbe Stunde zu uns. Es war bereits Nacht, wir waren erstaunt, verwirrt, wie verloren. Er trug seine schwere Felduniform, Stiefel und Sack, war braun gebrannt, verstaubt, schier unkenntlich in dieser kriegerischen Ausrüstung mit dem ungeschnittenen Haar. Sie hatten irgendwo im Walde Bäume gefällt, den Boden aufgegraben und er glich mehr einem Bauern als einem Soldaten. Er flüstert uns zu: »Wünscht mir Glück zum Feldzug, wir gehen nach Warschau, aber verheimlicht es Mütterchen einstweilen noch.«

Natürlich sprach man nur von gleichgültigen Dingen, bemühte sich, ihm gut zu essen zu geben, hungrig war er, wie ein echter Soldat. Wir sassen alle auf der Terrasse.

Ich betrachtete sein Gewehr, es war schlank wie ein junges Mädchen, die Nummer desselben habe ich vergessen, obwohl er sie mir sagte; wie soll ich auch die Nummer noch wissen, wenn ich mich nicht mehr an seinen Gesichtsausdruck erinnern kann, nur noch weiss, dass er ganz eigenartig war. Ich tat damals auch nicht, an was ich all' die Zeit über dachte: führte ihn nicht durch das ganze Haus, damit er sich davon verabschiede. Wie hätte man auch sagen können:

»Nimm von allen Abschied, Pawluscha … Es kann sein, dass Du dies alles nie mehr sehen wirst!«

Er dachte wohl das Gleiche, wenn er sich auch nicht entschliessen konnte, es auszusprechen; so sassen wir abseits auf der einen Terrasse, gingen nicht einmal in die Zimmer hinein. Dann begleiteten wir ihn alle zu der unweit unseres Hauses gelegenen Station; küssten ihn herzlich und sahen, wie er rasch in den Lastwaggon kletterte, in dessen Dunkel einzelne Soldatengestalten, lachend und scherzend, sichtbar wurden – seine neuen Kameraden. Der lange Zug setzte sich sehr bald in Bewegung, an allen Türen standen Soldaten und schrien »Hurrah« – dann trat eine grosse Stille ein; alles war vorbei. Warum entsinne ich mich noch so gut des roten Lichtes am letzten Waggon? Gerade dieses? Weiter erinnere ich mich noch, wie still es im Hause war, als wir heimkehrten.

Und jetzt ist er tot und wo sie ihn verscharrt haben, wissen wir nicht; ich kann es nicht fassen, ich kann es nicht! Ich begreife die Ereignisse, begreife den Krieg nicht. Ich fühle nur, dass er all die Unsern erwürgt, dass es vor ihm für Klein und Gross keine Rettung gibt. Alle Gedanken empören sich dagegen, ich lebe in der eigenen Seele wie in einem fremden Hause, an keinem Fleckchen derselben kann ich mich selbst wiederfinden. Wie war ich früher? ich entsinne mich dessen nicht mehr.

Irgend etwas hat mich mit seinen ungeheueren Tatzen erfasst und modelliert nun aus mir eine seltsam fremde Figur … woher Kraft zum Widerstand nehmen?

 

17. (30.) Januar.

Heute haben wir einen schönen Schrecken gehabt! Plötzlich war Mütterchen aus der Wohnung verschwunden, sie ging am Morgen aus und war am Abend noch nicht zurückgekehrt. Ich war im Bureau, Saschenka zum ersten Mal wieder im Lazarett, und das dumme Kindermädchen konnte uns nichts erklären, hatte nicht einmal bemerkt, wie Inna Ivanowna das Haus verliess, hatte es keinem von uns mitgeteilt. Es war ganz natürlich, dass wir befürchteten, Mütterchen sei bei ihrer Zerstreutheit und Achtlosigkeit unter die Trambahn oder ein Automobil geraten. Ich rief Saschenka, wir verloren beide den Kopf, ich stürzte ans Telephon, bei allen Bekannten und sogar bei den Polizeistationen Erkundigungen einziehend, und plötzlich … erschien Mütterchen. Sie war ausgegangen, ohne jemand ein Wort zu sagen, und hatte am äussersten Ende des Wassili Ostrow eine alte befreundete Dame besucht. Bei dieser hatte sie dann bis zum Abend gesessen! Wie hätte einem dies einfallen sollen?

Natürlich machte Saschenka ihr heftige Vorwürfe, Mütterchen fühlte sich beleidigt und begann zu weinen: wir mussten sie noch beruhigen. Sie wird von nun ab bewacht werden müssen.

 

20. Januar (2. Februar).

Die Deutschen begannen Dampfer zu versenken. Was kann man anders tun, als über ein solch wahnsinniges, jede Grenze des menschlichen Verstandes überschreitendes Vorgehen die Achseln zu zucken? Sind nicht diese Unterseeboote schon an sich selbst etwas unendlich Böses, das naturgemäss alles sinnlos überfallen und vernichten muss? Werden die Menschen von Dunkelheit und Hitze dort unten nicht vergiftet, nicht zu Wahnsinnigen, die jedes menschliche Empfinden verlieren? Unser Kontor entrüstet sich, ich aber zucke nur zweifelnd die Achseln und fühle, dass ich eben so dumm aussehen muss wie diese Deutschen, die Schiffe versenken. Was ist da zu sagen?

 

14. (27.) Februar.

Ich war erkältet und habe die ganze Woche mit einer heftigen Influenza daheim gesessen. Ungeachtet der Krankheit hätte die Zeit eine Erholung für mich sein können, wären nicht die Zeitungen gewesen, die ich aus Mangel an Beschäftigung las, wie ein Trunkener, die Ereignisse dieser furchtbaren Zeit betrachtend. Was sie schreiben, was sie tun … es ist unsagbar. Besonders empörte mich ein sehr geehrter Herr, der durch ein seltsames Missverständnis zu den Koryphäen unserer Literatur gerechnet wird. Meinem Gewissen nach kann ich seine gemeinen Artikel nur niederträchtig und verbrecherisch nennen, wenn sie auch unser ganzes dummes Kontor in Entzücken versetzen. Gottlose Artikel! In funkelnden, farbenprächtigen Ausdrücken will dieser Herr, der die Sprache beherrscht wie ein Advokat, uns davon überzeugen, dass der Krieg der Menschheit ein aussergewöhnliches Glück bringen wird, natürlich erst in ferner Zukunft. Von der gegenwärtigen Menschheit fordert er, dass sie in aller Ergebenheit für das Glück der kommenden zugrunde gehe. Der heutige Krieg ist für ihn wie eine Krankheit, die die einzelnen Zellen im Organismus abtötet und dadurch den ganzen Körper erneuert, mögen die einzelnen Zellen sich damit trösten! Aber wer sind diese Zellen? Anscheinend ich, Inna Ivanowna, unser armer gefallener Pawluscha und alle die Millionen Getöteten, Zerfleischten, in deren Blut und Tränen diese unselige Erde bald ertrinken wird.

Nicht schlecht, diese Ansicht!

Das Endresultat ist, dass wir, die Zellen, nicht nur nicht protestieren, uns nicht empören und keinen Schmerz empfinden, sondern überdies von grossem Entzücken beseelt sein und frohlocken sollen, weil wir uns nützlich erweisen dürfen. Wenn wir nun aber nicht frohlocken wollen? Das macht auch nichts, das ist unsere Sache. Der Krieg nimmt was er braucht, fünf oder zehn Millionen Menschen, dann werden die Gesundung und das Glück kommen. Um das zu erreichen, ist aber, den Worten des Herrn Schriftstellers zufolge nötig, dass die Zurückgebliebenen, Erschöpften Frondienste tun, aussergewöhnliche Dinge vollbringen, einander lieben, noch bei lebendigem Leibe zu Engeln werden. Gelänge es mir diesen Evangelisten zu packen, ich würde ihm einen warmen Empfang bereiten, schliesslich gibt es ja noch Ruten auf der Welt und wir haben uns noch nicht in Engel verwandelt! Ausserdem wäre es für Engel unpassend, sich wie Zellen zu zersetzen.

Also heute bin ich nicht mehr Ilia Petrowitsch Dementjew, sondern eine Zelle, der es nicht einmal zukommt, ein Urteil zu haben, weil sie dadurch der allgemeinen Sache schaden könnte. Nein, sehr geehrter Herr, ich bin keine Zelle, ich bin Ilia Petrowitsch Dementjew, der war ich früher, der bleibe ich auch! Und wie sehr Sie mich auch zum fröhlichen Sterben auffordern, ich werde nicht in den Tod wie zum Tanze gehen, und wenn es Ihnen gelingen sollte, mich in den Tod oder das gelbe Haus zu treiben, so werde ich mit einem Fluch und im unversöhnlichen Hass gegen die Mörder sterben! Nein, ich bin keine Zelle und ein Engel nach Eurem Rezept will ich auch nicht werden, lieber bleibe ich der sündige Ilia Petrowitsch, der seine Sünden vor Gott zu verantworten hat und nicht vor Dir, Du unbedeutendes, kleines Schreiberlein!

Und will auch nicht für die kommende Menschheit zugrunde gehen, verspüre nicht das geringste Verlangen danach! Wenn der Mensch von gestern für mich leiden musste, ich für den von morgen leiden muss, der wiederum für den von übermorgen wird leiden müssen, wo ist dann das Ende, wo der Sinn dieser Sinnlosigkeit? – Nein, genug dieses Betruges! Ich will selbst leben, die Güter des Lebens gemessen, nicht die Erde für irgend einen zukünftigen Gentleman düngen, damit er seine Hände weiss, ungehärtet von Arbeit erhalten kann … ich hasse ihn mitsamt seiner ganzen Glückseligkeit. Ich habe keinen Bedarf für diesen Herrn!

Zellen! Du sollst es wissen, Pawluscha, in Deinem verlassenen Grabe, auf irgend einem öden preussischen Feld, dass Du nichts anderes warst als eine Zelle, und Sie, Inna Ivanowna, haben Sie die Güte sich zu beruhigen, Ihre bleichgeweinten Wangen rot zu schminken, das war nicht Ihr Sohn, der gestorben ist, den sie Ihnen genommen haben, nur eine Zelle ging zugrunde und liegt dort auf dem Weg. Wage es nicht einmal, mich so zu nennen, unwissender Schriftsteller, und wenn ich sterbe, des Verstandes beraubt, zugrunde gehe, dann tanze nicht vor Freude auf meinem Grabe, frevle nicht, – beweine mich. Jeden sollst Du beweinen, weil er nicht mehr wiederkehrt. Denke nicht daran, dass Du ein stolzer Schriftsteller und ich nur der kleine, allen unbekannte Ilia Petrowitsch bin, – mit allen Deinen Tränen sollst Du mich beweinen, mit aller Kraft Deines Mitleids mich bedauern, mit Blumen mein vorzeitiges Grab schmücken!

Welche Torheit liegt in dieser ihrer Arithmetik, Menschen nach Millionen zu zählen, wie Körnchen in einem Scheffel. Sie belügen sich ja nur selbst, diese Toren mit ihrer Millionenrechnung. So kann man Körner und Gurken zählen, aber nicht Menschen, das ist keine Berechnung, das ist ein teuflischer Betrug. Jeder, der die Menschen nicht bei ihrem Namen nennt, der sie als Ziffer betrachtet, ist ein Diener des Teufels und ein Betrüger: er belügt sich selbst und andere, – sowie man anfängt die Menschen nur mehr zu zählen, geht jegliches Mitleid, jegliche Urteilskraft verloren. So schrieb zum Beispiel eine Zeitung anlässlich eines Zusammenstosses mit dem Feind: »Unsere Verluste waren unbedeutend, zwei Tote und fünf Verwundete.«

Es wäre interessant zu wissen, für wen dies »unbedeutend« Geltung hat? Für den, der getötet wurde? Interessant, ob er selbst vor Freude darüber strahlt, und ob er, wenn er aus seinem Grabe auferstünde, diesen Verlust für »unbedeutend« erklären oder etwa ein wenig anders darüber denken würde? Könnte er sich an alles erinnern, vom Anfang an, an die Tage seiner Kindheit, die Familie, die geliebte Frau, wie er auszog und sich, von den verschiedensten Gedanken und Gefühlen erfasst, fürchtete, und wie das Ende all dieses Tod und Entsetzen war … Uns aber wird, bewiesen, dass die »Verluste unbedeutend« sind! Dies sollst Du bedenken, gottloser Schriftsteller! Geh zum Teufel, dem Du dienst, mit Deiner weisen Arithmetik und lüge uns nichts von der allgemeinen Glückseligkeit vor, von der Du, wie ich sehe, gar nichts verstehst.

Wie mich doch dieser Mann empört, der Teufel möge ihn holen!

Die Kinder sind gesund, Lidotschka hat zwei Milchzähnchen verloren, dadurch sieht ihr Gesichtchen noch lieber und zärtlicher aus. Es ist angenehm, ein gelehrtes Töchterchen zu haben; als ich krank war, las sie mir Märchen vor.

 

26. Februar (11. März).

Die Hebamme Fimotschka hat die interessante Beobachtung gemacht, dass vor dem Kriege rote Blumen, rote Damenkleider, Schleifen und Hüte die grosse Mode waren. Soweit ich mich entsinnen kann, ist dies richtig und unwillkürlich geht einem der Gedanke durch den Kopf, ob dies nicht eine schreckliche Ahnung, ein Vorgefühl der bevorstehenden, blutigen Greuel war. Wenn dem aber wirklich so ist, wie blind waren dann jene, die die roten Blumen fröhlich fanden; in welchem Dunkel tappt doch der Mensch umher! Woher kommt es, dass man heute nirgends mehr rote Blumen sieht, hat sie der Wind verweht, oder der Regen gebleicht? In welchem Dunkel tappt doch der Mensch umher, nicht einmal in der Wahl seiner Kleidung scheint er frei zu sein!

Ich bin müde, das Tagebuch zieht mich nicht mehr an, es gibt viel Arbeit. Dieser verfluchte Krieg; verschlingt das Geld wie die Schweine Apfelsinen, man kann nicht genug an die Zukunft denken. Und seltsam ist mir zumute, nicht dass ich mich an das Seelenmorden gewöhnt, mich endlich in alles hineingefunden hätte, aber ich sehe voller Ruhe auf die bedeutungsvollsten Dinge, lese: tausend Tote, zweitausend Tote … und rauche dabei gleichmütig meine Zigarette an. Ich lese die Zeitungen nicht mehr wie in der ersten Zeit, da ich selbst lief, sie zu kaufen und in Regen und Unwetter lesend an einer Strassenecke stand. Wozu soll man sie lesen?

Saschenka ist, wie früher, immer im Lazarett, ich sehe sie nur wenig; natürlich geht bei uns wieder alles drunter und drüber. Man gewöhnt sich auch daran, es muss wohl so sein, ich bemerke kaum mehr, was wir essen. Mütterchen könnte ebensogut nicht im Hause sein, man empfindet ihre Anwesenheit gar nicht, sie ist still wie eine Maus. Das einzig fröhliche Element ist Lidotschka, ich beschäftige mich viel mit ihr, lese mit ihr zusammen Märchen. Sie ist ein schönes kleines Ding, eine wahrhafte Gabe Gottes, wenn ich im Dunkel heimkomme, ist sie wie ein freundliches Lämpchen, meine liebe Kleine.

Schliesslich will ich noch ein Geheimnis offenbaren, für das mich ernste Menschen wohl nicht loben werden, aber, bei Gott, ich brauche ihr Lob nicht. Neulich war Fimotschka in Saschenkas Abwesenheit bei uns, und als sie sah, wie sehr mich die Langeweile plagte, lehrte sie mich Patiencen legen. Es ist ja eine dumme und fruchtlose Beschäftigung, aber bei schlechter Stimmung, wenn der Kopf weder zum Lesen noch zum Sprechen taugt, hilft es über die Zeit hinweg, und erleichtert das Vergessen. Ich versuchte es Inna Ivanowna zu lehren, aber sie verstand es gar nicht, es war ihr sogar widerlich und sie sah darin einen Versuch, sie zwangsweise von ihrem Kummer abzulenken. Uebrigens habe ich im Kalender darüber einen guten Ausspruch gelesen: »Wer in der Jugend nicht Kartenspielen lernt, bereitet sich ein trübes Alter vor.«

Aber man muss nicht nur Kartenspielen lernen.

Ich bin so müde.

 

5. (19.) März.

Ich habe einen Brief von Andrei Wassilewilsch erhalten. Er drückt seine innigste Teilnahme zum Tode Pawluschas aus, den er sehr liebte. Andrei Wassilewitsch entschuldigt sich, dass er nur kurz schreibt, aber er sei sehr beschäftigt und ganz erschöpft; als Antwort auf einige meiner Fragen und Ansichten gibt er mir den unerwarteten Rat, von den Deutschen zu lernen! Dies ist der Inhalt seines erstaunlichen Briefes:

»Ich liebe die Deutschen nicht, aber von ihnen zu lernen, ist für keinen ein Zeitverlust, und wird insbesondere für Sie von Nutzen sein. Es muss jedermanns Beifall finden, wie die Deutschen ihr Staatsleben aufgebaut haben, welch weise Fähigkeit der Selbsteinschränkung ihnen eigen ist: sich dessen bewusst, dass eine unregelmässig gebaute Mauer zusammenbricht, modelt sich der Deutsche freiwillig wie einen Ziegelstein um, schleift alle Ecken und Vorsprünge, die den Aufbau hindern könnten, ab. Und diese Ziegelsteine geben schon durch ihre Form allein einen festen Halt, kommt nun noch Zement dazu, so bekommst Du eine wirklich feste Mauer, nicht einen durchlöcherten Zaun, wie bei uns. Zweifeln Sie nicht daran, sondern lernen Sie von ihnen, Ilia Petrowitsch.«

Ich lausche: zuerst war man eine Zelle, nun soll man sich in einen Ziegelstein verwandeln. Dass man ein Mensch ist, wird einem aufs Entschiedenste zu vergessen geraten, und Ilia Petrowitsch wird zu einer Nummer, Ziegelstein Nummer so und so, erhoben.

Angenommen, dass ich zu einem Ziegelstein werde, aber wer soll der Architekt sein? Und muss ich auch dann ruhig liegen bleiben, wenn es dem Herrn Architekten plötzlich einfallen sollte, statt Kirchen oder Palästen ein öffentliches Haus zu erbauen? Nein, Andrei Wassilewitsch, ich bin keine Zelle, kein Ziegelstein, so wie ich von Anbeginn Ilia Petrowitsch war, so werde ich es bleiben, bis an mein Ende. Der Zellen und Ziegelsteine gibt es viele, die alle einander gleichen, ich aber bin einzig und allein in meiner Art, nie war ein anderer Ilia Petrowitsch auf der Welt, und wird auch nie sein. Und solange mir noch die Kraft bleibt, werde ich ich bleiben, mich nicht selbst aufgeben, nicht dem Kriege unterwerfen, mich selbst unter Eurer donnernden Trommelbegleitung den Raben zum Frasse hinwerfen.

Ich bedaure es sehr, die Taktlosigkeit begangen zu haben, mich mit meinen Fragen an einen Menschen zu wenden, der sich nur mit kriegerischen Dingen befasst und gar nicht anders kann, als uns, die Helden des Hinterlandes zu verachten.

 

10. (23.) März.

Hurrah! Wir haben Premysl eingenommen, ganz Petrograd ist eitel Jauchzen und Frohlocken. Welch glücklicher, welch schöner Tag!

Als wir durchs Telephon von der Redaktion diese Nachricht ins Kontor erhielten, überwältigte mich eine solche Freude, dass ich mich rasch anzog und auf die Strasse eilte … Noch nie hatte ich unser Petrograd so schön und so fröhlich gesehen. Der Schnee fiel in grossen Flocken, die Vorübergehenden waren ganz verschneit, aber aus der weissen Hülle sahen rosige, heitere Gesichter, leuchtende, glänzende Augen heraus. Ja, – sogar die Petrograder waren rosig geworden! Rasch sammelte die Menge sich an, Hymnen wurden gesungen, man zog zu einer Demonstration vor das Schloss, leider konnte ich daran nicht teilnehmen, da ich ins Kontor zurück musste.

Doch welche Freude herrschte! Und erst heute wurde mir klar, wie schwer die vorhergegangenen Tage und Monate zu ertragen gewesen waren; wie sehr wir uns an die Hoffnungslosigkeit, die undurchdringliche Düsterheit des Lebens gewöhnt hatten und bereits anfingen, dies als etwas natürliches zu empfinden. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, auf den gestrigen Tag, der doch noch so nahe liegt, zurückzublicken und auf die anderen endlosen Tage und Nächte, die jeden Sinn verloren hatten, Tage, an denen man nicht lebte, Nächte, in denen man sich nicht ausruhte. Aber wie schlecht auch immer das Heute ist, Gott gebe, dass das Morgen nicht noch ärger werde. Zum ersten Mal während dieses Krieges (ich weiss dies nicht zu erklären) begriff ich, was das Wort »Sieg« bedeute. Ja, es ist kein leeres Wort, es durchdringt den ganzen Menschen bis ins Innerste, erhebt ihn zu ungeahnten Höhen. »Sieg« … ein so schlichtes Wort, wie oft habe ich es gehört, selbst ausgesprochen, jetzt erst sehe ich, welchen Schatz es in sich birgt. »Sieg!« Durch das ganze Haus möchte ich es schreien: »Sieg, Sieg!«

Es ist selbstverständlich, dass ich aus der Erregung nicht herauskomme. Und seltsam, es ist eine freudige Erregung und doch füllen sich die Augen die ganze Zeit mit brennenden Tränen, wenn ich mich darauf besinne, dass wir Russen sind, dass es auf der Erde ein Land gibt, das Russland heisst. Ganz plötzlich ist mir das alles klar geworden …

Sehe ich Soldaten auf der Strasse, so bin ich auch schon bereit, aus Zärtlichkeit über ihre grauen Mäntel zu weinen, ich lächle ihnen zu, mache ein törichtes Gesicht, benehme mich überhaupt wie der Dümmste der Dummen. Besonders erschüttert mich das Wort: »Russland«, rein als hörte ich es zum ersten Mal, und hätte früher gelebt ohne zu ahnen, dass ich in Russland lebe und ein Russe bin. Seltsam, und trotz der Tränen ist es ein Gefühl freudigster Erregung.

Aus irgend einem unbekannten Grunde steht ein Roggenfeld vor meinem Blick: ich schliesse die Augen und sehe ganz deutlich, wie im Kinematograph, die Aehren im Winde wogen und wogen … irgendwo singt eine Lerche. Ich liebe dieses Vögelchen, weil es nicht auf dem Felde, nicht in den Dörfern singt, die anderen müssen bequem auf einem Zweiglein sitzen, sich vorbereiten, dann erst singen sie zusammen mit ihren Genossen, sie aber steigt allein in den Himmel, fliegt und singt. Aber ich fange ja an poetisch zu werden, plötzlich, ohne jeden Anlass, spreche ich von der Lerche! Es ist ja ganz gleich, ich möchte nur reden.

Noch etwas Sonderbares ist zu vermerken: seit Pawluschas Todesnachricht sprach ich heute mit Sascha zum ersten Mal viel von ihm, als müsse auch ihn diese Siegesbotschaft berühren und er, unsichtbar zu uns zurückkehrend seinen gewohnten Platz an unserem Herde wieder einnehmen. Natürlich weinte Saschenka ein wenig, aber es waren schon nicht mehr die verzweifelten, heissen Tränen, das schreckliche Schluchzen, das früher nachts ihr Lager erbeben machte. Wir beschlossen, morgen zusammen in die Kirche zu gehen und eine Seelenmesse anzuhören. Ich liebe sonst diese Zeremonien nicht, diesmal aber erscheint es mir richtig und sogar angenehm.

Schliesslich noch ein weiterer erfreulicher Umstand, ich teilte Saschenka in den mildesten Ausdrücken meine Unzufriedenheit über ihren steten Aufenthalt im Lazarett, ihr Vernachlässigen der Familie mit; zu meinen Erstaunen wurde Saschenka nicht nur nicht böse und brauste nicht auf, wie man es bei ihrem Charakter hätte erwarten können, sondern versprach von nun ab den Kindern mehr Zeit zu widmen, klagte sogar über Müdigkeit. Sie ist wirklich müde, jetzt erst merke ich, wie blass und mager sie ist. Viele, schwere Sorgen erfüllen mein Herz. Sie ist aber dadurch nur noch schöner geworden, meine Saschenka, und heute begriff ich, dass dies so für ihren Dienst nötig sei: wenn ein Krieger stirbt, nimmt er in der Gestalt der über ihn geneigten, schönen Schwester von aller Schönheit Abschied, von aller Liebe, trägt dies letzte Bild mit sich, als unsterblichen Traum. Und wer weiss, wie vielen Kriegern, die schon den Tod herannahen fühlten, ein Blick dieser schönen, verweinten Augen Absolution und Verzeihung verhiess.

Heute zum ersten Mal bedaure ich nicht, dass Saschenka bei ihren Verwundeten ist und ich allein bin. Ich bin von einem einzigen Gedanken erfüllt, denke nur an den Sieg … Welches Glück! Es ist kaum zu zählen, wie oft ich dies Wort in Romanen, Geschichtsbüchern und in der letzten Zeit in den Zeitungen gelesen habe, und jetzt, zum ersten Mal erhalte ich urplötzlich ein Bild von diesem Fabelwesen, dem die Menschen seit der Erschaffung der Welt nachjagen. O, dieser Sieg! Alle haben ihn gewollt, alle wollen ihn, und nun ist er unser! Wieder möchte ich auf die Strasse laufen und durch die ganze Stadt trompeten:

»Steht und hört, Sieg, Sieg!«


 

11. (24.) März.

Lidotschka ist erkrankt. Was soll das werden, mein Gott.

 

14. (27.) März.

Sie ist gestorben.

 

10. (23.) Juni.

Drei Monate lang habe ich mein Tagebuch nicht angerührt, hatte schon ganz seine Existenz vergessen. Heute fiel es mir wieder ein, und nun sitze ich bereits eine halbe Stunde davor, ohne zu schreiben und starre auf die Zeile, auf der nur drei Worte stehen: sie ist gestorben. Nur drei Worte, auf gewöhnlichem, weissem, glattem Papier. Mein Gott, wie nichtig ist doch der Mensch.

Und ich entsinne mich, wie ich damals diese Worte schrieb. Was wäre, wenn statt dieses glatten, weissen Papieres, auf dem nur ein schwaches Gekritzel von Menschenhand hingeworfen, zu sehen ist – ein Spiegel da stünde? Ein Spiegel, der für ewige Zeiten das Antlitz des Schreibers in seiner ganzen Verzweiflung, seiner unerträglichen Seelenqual festhielte? Was wäre hier zu sehen?

Mein Tagebuch, mein Freund! Auf Deinen Blättern steht Lidotschkas Name, ein Teilchen ihrer selbst, und Du bist mein einziger Freund und Kamerad.

 

11. (24.) Juni.

Lidotschka ist am 14. März entschlummert, vier Tage nach der Einnahme von Premysl; _ sie erkrankte am zweiten Tag nach dem all, gemeinen Frohlocken über die Siegesnachricht. Die ganze schreckliche Krankheit währte dreimal vierundzwanzig Stunden. Eine schwere Blinddarmentzündung, die zu spät erkannt wurde, da alle Aerzte in den Lazaretten beschäftigt waren und keiner sich freimachen konnte. Endlich kam irgendeiner von der Strasse herein, untersuchte sie, beruhigte uns und sagte, dass man noch warten müsse, Gefahr sei einstweilen keine vorhanden. Das Kind lag im Sterben, und er sagte, man müsse warten – und wir warteten. Er kam nochmals und behauptete mit einem dummen Gesicht, dass wir uns umsonst Sorge machten und ihn von wichtigeren Dingen abhielten. Verzweiflung im Herzen warteten wir, voll Angst und Sorge – war es wirklich nichts Ernsthaftes? Wir lächelten einander zu, uns gegenseitig ermutigend und betrogen uns selbst, Toren, die wir waren! lächelnd. Endlich kam der Chirurg aus dem Sapinischen Lazarett (es war peinlich gewesen, ihn zu rufen) und erklärte, dass es eine Blinddarmentzündung und – schon zu spät sei.

Wie konnte ich nur glauben, wie konnte ich nur warten!

Da lag meine Lidotschka, mein Kindchen, im Fieber, litt, stöhnte, starb – und wir warteten. Torheit, Wahnsinn! Ich sah ihr in die vertrauenden schwarzen Augen, küsste vorsichtig ihre vom Fieber gesprungenen Lippen, strich ihr die verwirrten Härchen glatt, wusch ihr vom Schweisse feuchtes Gesichtchen mit Eau de Cologne und glaubte, damit alles getan zu haben, fühlte mich sogar beruhigt. Und wie sie litt, was für Schmerzen sie hatte. So klein und solche Schmerzen!

Am dritten Tag freilich war ich wie verrückt, schrie um jeden Preis nach einem Arzt, jammerte, weinte, schlug in Gegenwart einer Dame, die ich zu erweichen hoffte, den Kopf an die Türschwelle … ich weiss gar nicht mehr, wo, in wessen Sprechzimmer sich dies zutrug.

Und was half es?

Mittags war ich irgendwo verschwunden, alle suchten nach mir, der Chirurg war schon zweimal bei uns gewesen, hatte bereits erklärt, dass es zu spät sei, zu spät für eine Operation, es lohne sich nicht, das Kind noch zu quälen. – Dann habe ich sie selbst in den Sarg gelegt, ihn auf den Tisch gestellt.

Und heute lebe ich noch, lebe wie wenn nichts geschehen wäre, gehe ins Bureau, plaudere mit Bekannten, lese über den Krieg. Wir werden überall geschlagen, überall zurückgedrängt, haben Polen und Galizien aufgeben müssen, werden das Spiel bald verloren haben. Der Gendarm Miasojedow hat Russland um dreissig Silberlinge verkauft. Das ist alles unwichtig. Ich hasse alle, die um mich sind.

Aber ich schweige, schweige.

 

16. (29.) Juni.

Wie soll ich meinen Schmerz aussprechen, meinen Schmerz, meinen grossen Schmerz. Es gibt keine Worte, keine Worte, keine Ausdrücke, kein Erfassen. Welche Qual! Ich brauche nur in den Spiegel zu sehen, um in meinem vergrämten Gesicht zu lesen, was geschehen ist. Ich schaue und schluchze und kann's nicht begreifen, dort im Spiegel ein grauhaariger Tor, hier ein grauhaariger Tor; ich bin ergraut in dieser Zeit.

 

17. (30.) Juni.

Stirbt irgend eine hohe Persönlichkeit, so wehen schwarze Fahnen über die ganze Erde, alle Städte sind düster und allen ist klar, was geschehen ist. Wäre ich ein wirklicher Mensch mit einer starken Stimme und hätte ich die Gabe der schönen Rede, ich forderte die ganze Welt auf, meine Lidotschka zu beweinen. Aber ich bin nichts … ich kann nur blöken wie eine Kuh; ja und selbst eine Kuh vermag sich besser auszudrücken, sie blökt die ganze Nacht und lässt niemand schlafen. Was bin ich? Ich geize mit mir selbst, winsle vor der Herrschaftstür … auf den ersten Ruf des Herrn wartend.

Wie bin ich doch verächtlich! Eine Zelle.

Und doch, erlauben Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit auf einen denkwürdigen Tag zu lenken, einen Tag, zu dessen Angedenken ich ein bronzenes Monument errichten möchte, zur Erinnerung für die Nachkommen. Und dies ist der Tag, an dem ich, eine Woche nach Lidotschkas Tode, als ehrlicher Arbeiter wieder in meinem verfluchten Kontor erschien. Was soll ich darüber sagen? Es sind lauter gute Leute bei uns, sie merkten sogar, dass ich grau geworden: »Ach, wie Sie abgemagert sind!« Und alle sprachen ihre Teilnahme zu unserem Verlust aus, aber nicht in zu starken Worten, sondern in, den allhergebrachten Höflichkeitsformeln: »Ich höre, dass Ihr Töchterchen gestorben ist, wie traurig.«

Ja, sehr traurig. Es ist nichts, ich arbeite, schreibe, lese. Teilnehmende Freunde bemerken auf meinem Aermel einen Trauerflor: »Was ist das? Hat man Ihnen schon wieder jemand im Kriege getötet?«

»Nein, warum immer nur im Krieg? Ich trage ihn für meine verstorbene Tochter Lydia.«

»Ah!« …

Und dann sind sie wie verwandelt; Pan Swoliansky verficht in seinen Gesprächen in der artigsten, diplomatischsten Form die Ansicht, dass man selbst (selbst!) um die Gefallenen keine Trauer anlegen sollte, um nicht ungünstig die allgemeine Stimmung zu beeinflussen. Ein Mensch kleidet sich zum Beispiel sorgfältig zum Spaziergang an, Halstuch und Lackstifletten, da läuft ihm irgend eine düstere Gestalt, ein grauhaariger Mensch in Trauer über den Weg: es wirkt peinlich – die ganze Stimmung ist verdorben. Natürlich wagte Herr Swoliansky nicht, dies Beispiel anzuführen, aber aus seinen Worten ging klar und deutlich hervor, dass wenn man schon für die Gefallenen, die einzig und allein wirklich Verstorbene sind, keine Trauer anlegen soll, um wie viel weniger noch für irgend ein kleines sechsjähriges Mädchen, das eines natürlichen Todes starb. Es gibt doch genug sechsjährige kleine Mädchen auf der Welt.

Im allgemeinen gaben sie mir in der zartesten Art zu verstehen, dass mein Verhalten ein äusserst unkorrektes sei, fast so, als ob ich mich in dieser allgemein erregten Zeit dem Trunke ergeben hätte; das Gleiche deuten mir die Bekannten, denen ich am Newsky begegne, an: »Ach so, das kleine Mädchen! …«

Bestreite ich es denn? Nicht im geringsten; im Gegenteil, ich unterwerfe mich der öffentlichen Meinung, habe den Trauerflor vom Aermel abgenommen und in meiner Westentasche versteckt, um niemand peinlich zu berühren und in seiner glänzenden Stimmung zu stören. Ich wage keinen zu beunruhigen, habe als Staatsbürger nicht das geringste Recht dazu. Staatsbürger oder – Schuft … was bin ich eigentlich? Weiss es gar nicht mehr.

Aber ich schweige, schweige.

 

20. Juni (3. Juli).

Es regnet, ich gehe mit aufgespanntem Schirm durch die Strassen und überlege, was das wichtigste sei. Das Allerwichtigste ist, dass man sie verscharrt. Zu töten ist eine Kleinigkeit, ein Zufall, die Hauptsache ist, dass man sie verscharrt. Sind sie verscharrt, so ist nichts mehr zu sehen – und alles ist gut. Nein, stellen Sie sich nur vor, was das heisst: vier oder fünf Millionen getötete und sofort verscharrte Menschen … und wenn man sie nicht verscharren würde! Welcher Gestank! Wie viel Skelette in zerfetzten Uniformen!

Welche Qual, keiner vermag sie zu schildern, möge man was immer auch sagen gleich einem Narren. Wie langbeinig man doch wird; indes ich gehe, fühle ich selbst, wie lang meine Beine sind. Ob ich wohl den Verstand verliere?

 

Das gleiche Datum, nachts.

Mag sein, dass ich ein Verbrecher bin, ein Schurke, ein Bösewicht, was ihr wollt, aber Gott helfe mir, es tut mir nicht leid um eure Gefallenen, ich habe nichts mit ihnen zu tun. Ich habe das Morden nicht angestiftet, tötet, zerreisst einander in Stücke, bitte, ganz wie ihr wollt.

Wie sind unsere Zimmer doch so leer, nur von einem unsichtbaren Grauen bewohnt. Voriges Jahr waren wir um diese Zeit in der Sommerfrische und ahnten nicht, was kommen würde. Lidotschka lebte.

Ich blicke auf meinen Petja, meinen kleinen Jenia, die mir noch geblieben sind und denke: wäre es nicht am besten, einen Strick zu nehmen, uns zusammenzubinden und von der Troizkischen Brücke ins Wasser zu stürzen?! Weiss Gott, sie leben ohne Grund, sind keinem nötig. Zellen sind sie, kleine, schmutzige, wertlose Zellen. Wer wird sie beweinen? Petja schlug sich heute fast an einer Tischecke das Köpfchen ein, er kam zu mir, damit ich ihm die Beule küsse und ihn bedaure, aber ich konnte ihn nicht bedauern. Unglückselige Kinder, eure Mutter betreut im Lazarett die Verwundeten, erfüllt dort ihre Pflicht, euer Vater jagt wie vom Teufel besessen durch die Strassen, um Ruhe zu finden, und ihr sitzt mit eurem dummen Kindermädchen und mit der halbverrückten Inna Ivanowna … arme Geschöpfchen!

Ich vermag nicht zu weinen, das ist meine grösste Qual. Ich suche vergebens nach Tränen und kann keine finden. Wie seltsam ist doch der Mensch geschaffen, er kann sein Blut ausströmen lassen, sich die Adern mit dem Messer öffnen, nur zu Tränen kann er sich nicht zwingen. Ausserdem kann ich nicht schlafen und fürchte meinen Diwan. Ich schlafe jetzt im Kabinett auf dem Diwan; das heisst ich kaure dort die ganze Nacht im fahlen Licht, das durch die unverhängten Fenster eindringt.

Gestern morgen sass ich von drei bis fünf Uhr rauchend auf dem Fensterbrett und sah auf die tote Stadt hinaus. Es war taghell, aber keine lebende Seele zeigte sich. Unserem Hause liegt ein anderes genau gegenüber, an den zahlreichen Fenstern oben und unten Totenstille, kein einziges Lebenszeichen. Ich war halb ausgezogen, sass im Hemd und Unterhosen auf dem Fensterbrett, dann ging ich in diesem Aufzug im Zimmer hin und her und kam mir wie ein Wahnsinniger vor.

Am Tage ist das Kabinett wie jedes andere Kabinett und ich bin ein Mensch wie jeder andere Mensch. Wenn mich aber jemand in der Nacht sähe? Barfuss und in Unterhosen. Doch wozu schreibe ich dies?


 

23. Juni (6. Juli).

Wie völlig ich mich verändere, es ist zum Staunen. Niemand tut mir leid, niemand liebe ich, nicht einmal die Kinder; einzig und allein der nackte Hass lebt in mir. Ich gehe durch die Strassen, sehe mir die Leute und Häuser an und denke im Stillen mit einem Lächeln: würdet ihr doch über die ganze Erde verstreut! Heute streckte mir ein Bettler die Hand hin und ich warf ihm einen solchen Blick zu, dass ihm die Worte versagten und er hastig die Hand zurückzog. Wie muss ich ihn doch angesehen haben! Und ich kann nicht weinen, entsinne mich gar nicht mehr dessen, wie man es macht. Was Tränen! Ich bin so ausgetrocknet, dass ich nicht einmal mehr schwitze, beim heissesten Wetter nicht. Eine höchst eigentümliche Erscheinung, man müsste einen Arzt befragen.

Heute wandte Sascha mir ihre Aufmerksamkeit zu, weinte, dass ich so anders geworden sei. Wie bin ich denn? Sie wundert sich, dass ich keine Zeitungen lese, was sollte ich aus den Zeitungen Neues erfahren? Ueber Miasojedow? Dass sie morden, sengen, Schiffe versenken, das weiss ich längst, auch ohne Zeitungen. Ich will einfach nicht lesen. Sie fragt mich:

»Und was macht Dein Magen?«

»Von was für einem Magen sprichst Du? Habe ich denn einen Magen? Ach, ja richtig, danke gut. Und Deine Verwundeten?«

»Sie sind auch Deine.«

»Nein, mein sind sie nicht, ich habe nichts mit ihnen zu tun.«

»Warum bist Du so böse, Ilenka?« fragte sie weinend.

»Wieso, meine gute Saschenka?«

Sie wurde ärgerlich und ging ins Lazarett, vergass auch nicht, wie es sich für eine wahrhaft liebende Gattin geziemt, die Tür hinter sich zuzuschlagen. Mir ist es entschieden ganz gleich, aber auf die Kinder dürften solche Vorfälle nicht sonderlich erzieherisch wirken, auf dies müsste man bedacht sein.

Ueberhaupt ist es ganz komisch zu bedenken, dass ich eine Frau habe, so selten sehen wir uns und sprechen miteinander.

Sascha ist noch im Lazarett. Am Samstag, als so viele Verwundete gebracht wurden, dass man sie sogar auf den Fussboden betten musste, kam Sascha nicht nach Hause, um die Kinder zu baden Dies geschah nicht zum ersten Mal. Gewöhnlich badet sie dann das Kindermädchen, diesmal aber hatte ich aus irgend einem Grunde Lust, Jenia selbst zu baden. Wie er mager ist, man kann ihm alle Rippen zählen, und diese kleinen, kleinen Knochen! Während ich das magere Körperchen und die dünnen Härchen abtrocknete, fragte ich mich selbst: Warum weine ich denn nicht?

Im Gegenteil, durch meine Ungeschicklichkeit tat ich ihm weh, kratzte ihn, und als er zu weinen begann, empfand ich keinerlei Mitleid, wurde ärgerlich und übergab ihn dem Kindermädchen. Was ist denn mit mir vorgegangen? Wenn früher ein Mensch in meiner Lage war, so erzählen die Alten, ging er in die Kirche, betete sich gesund und wurde wieder wie früher – aber wer kann mich gesund beten? Albernheiten!

Russland tut mir nicht leid, möge es vernichtet werden, ich selbst tue mir auch nicht leid. Und stürbe Sascha heute, mich deucht, ich würde nicht einmal mit der Wimper zucken. Es heisst, es greife eine Art Cholera um sich, – und wenn schon! Möge die Cholera kommen. Möge die Pest kommen. Mögen Meer- und Erdbeben alles verwüsten, was gehts mich an?

 

26. Juni (9. Juli).

Unser Kontor hat eine Sensation: der Pole Swoliansky ist als Freiwilliger in den Krieg gezogen, um gewissermassen mit eigener Hand sein Warschau zu verteidigen. Zuerst glaubten wir, dass es nur seine gewöhnliche Phrasenmacherei sei, aber es erwies sich als vollkommen ernst … wer hätte dies von dem Schwätzer erwartet? Ein Blitz aus heiterem Himmel, wie man zu sagen pflegt. Natürlich feierten ihn die Kollegen durch ein feuchtfröhliches Abschiedsfest, an dem ich aber, unter dem Vorwand mich unwohl zu fühlen, nicht teilnahm. Mögen sie ohne mich »patriotisieren«, ich fürchte ihre scheelen Blicke und ihren Spott nicht.

In einem Zwiegespräch erklärte mir mein Swoliansky in den erhabensten Ausdrücken, dass ihn, ginge er jetzt nicht auf andere schiessen, sein Gewissen für alle Zeiten foltern würde. »Gewissen!« Ich nehme an, dass ihm das Herz wirklich weh tut um sein Polen, man darf ihn nicht zu streng beurteilen, aber vom Gewissen hätte er lieber schweigen sollen.

Und so viele aus seinem Kreis sind, wenn man sie darauf betrachtet, ganz Gewissen. Ich passe nicht zu den gewissenhaften Leuten, sie machen mich sogar verlegen, Dummkopf, der ich bin. Sie rauben, üben Verrat, töten Kinder, alles mit vollkommen gutem Gewissen, man kann ihnen nicht widersprechen, der Krieg muss so sein! Aber wer braucht denn diesen Krieg, all' diese Tränen? Und die betrügerischen Kaufleute und Fabrikanten setzen Fett an; und was für Paläste werden sie nachher erbauen, in was für Automobilen sich wiegen lassen, was für Freudenfeste und Trinkgelage feiern! Man müsste sie alle hängen, aber es geht ja nicht – das Gewissen.

Ich hatte bemerkt, dass Inna Ivanowna, Gottes altes Weiblein, immer die Füsse unter ihren Röcken versteckte, beim Sitzen die Beine unterschlug wie eine Gans. Warum wohl? Es erwies sich, dass ihre Schuhe so zerrissen waren, dass die Zehen bei den Löchern herauslugten und so kroch sie herum, die arme Alte. Ich fragte sie: »Schämen Sie sich denn nicht, Mütterchen, warum haben Sie es nicht Sascha oder mir gesagt? Nun?«

Sie weinte und schwieg. Es war kein Wort aus ihr herauszubekommen, offenbar verletzte ich irgend ein Sparsamkeitsgefühl in ihr. Und doch ist es einfach lächerlich zu sparen, zu rechnen, sich um jede Kopeke zu schlagen, wenn Du mit Deinen eigenen Augen siehst, dass diese Kopeke von selbst, wie bei Zauberkünstlern dem Kaufmann in die Tasche fliegt. Zauberkünstler!

Ich kaufte Inna Ivanowna selbst ein Paar Stifletten, brachte sie ihr voll Eifer nach Hause und fühlte mich als Wohltäter. Natürlich fing sie sofort wieder zu weinen an, ich sah zu, wie ihre Tränen flossen und dachte: könnte ich nur eine einzige dieser Tränen weinen!

 

3. (16.) Juli.

Andrei Wassilewitsch, mein in Aussicht genommener Leser, ist im Warschauer Hospital einer schweren Verwundung erlegen. Himmlischer Vater!

So habe ich meinen letzten Leser verloren, habe ihn kein einziges Mal mehr gesehen. Ihm ist wohl. Ich bin allein, bin wie in der Unterwelt, inmitten tanzender Teufel, heulender Verdammter. Wer braucht mich mitsamt meinem Tagebuch, es ist lächerlich, auch nur daran zu denken. Meine Sascha, meine Frau, weiss schon längst, dass ich ein Tagebuch führe und hat mich noch nie aufgefordert, sie hineinsehen zu lassen, hat nicht einmal die geringste Neugierde an den Tag gelegt … dass ich allmählich immer verschlossener werde, mir alles verleidet wird, ist ihr ganz gleichgültig, sie interessiert sich weit mehr dafür, was sie mit ihren Schuhen tun soll, wenn sie krachen.

Und welches geringste Recht habe ich, für mich Aufmerksamkeit und Teilnahme zu beanspruchen, wenn dort stündlich tausende von Menschen zugrunde gehen, die ganz anders, nicht von der Art des Ilia Petrowitsch sind. Und was geschähe, wenn jedes Zellchen, das zum Untergang verurteilt ist, zu schreien und Skandal zu machen begönne, wie ein wirklicher Mensch?

Heute sah ich am Morskoi Flüchtlinge aus Polen … sind das aber Gestalten des Jammers!

 

4. (17.) Juli.

Ich kann so nicht weiter leben, bin nicht geschaffen schlecht zu sein, böse Gefühle zu hegen und finde doch keinen anderen mehr in meiner armen Seele. Mir ist's als wäre mein Körper im Innersten weissglühend, als wäre ich ein entwurzelter Baum. Ich fürchte mich selbst, mein entstelltes Gesicht zu betrachten. Ich renne herum bis zur Uebermüdung, zur völligen Erschöpfung; bis mich die Beine nicht mehr tragen können; mitunter schlafe ich wohl ein, aber Schlag drei fahre ich erschrocken auf, sitze dann bis fünf oder sechs Uhr auf dem Fensterbrett und starre gedankenlos in die schlaflose Petrograder Nacht hinaus. Schauerlich ist die Helle, schauerlich die Nacht. Und ob Regen fällt und die Mauern feuchtet, oder die Sonne auf die Schlote scheint, immer ist der Anblick dieser toten, regungslosen Stadt entsetzlich, als hätte sich die Prophezeiung bereits erfüllt, als wären alle Menschen zugrunde gegangen und es leuchtete ein nutzloser, sinnloser Tag vergebens über all' der Zerstörung.

Das gegenüberliegende Haus hatte eine sehr hohe und glatte Mauer, wollte man hinaufklettern, man fände nirgends einen Halt und ich kann mich des qualvollen Gedankens nicht erwehren, dass ich dort vom Dache, an den Fenstern und Nischen vorbei, auf's Pflaster herabstürze; sehr peinigt mich dies! Um die Mauern nicht sehen zu müssen, gehe ich im Zimmer auf und ab, was gerade keine grosse Freude ist. Halbbekleidet, barfuss, vorsichtig auf dem glatten Parkett ausschreitend, komme ich mir mehr und mehr wie ein Wahnsinniger oder wie ein Mörder vor, der irgend jemand auflauert. Und so hell ist es, so hell.

Ich kann so nicht weiter leben. Dies also bedeutet die gewisse Phrase, die besagt: »Ich bitte niemand zu beschuldigen, ich habe das Leben satt bekommen.« Aber nein, das sind Torheiten, ich bin ganz einfach krank, muss mich pflegen und irgend ein Medikament einnehmen.

Lidotschka, mein Engelchen, verzeih mir, gib mir Tränen, ich möchte um Dich weinen. Ich kann nicht so sein. Bete Du zu Gott für mich, Du bist Ihm nahe. Du siehst Ihm in die Augen, bitte für Deinen Vater. Mein kleines Mädchen, mein liebes, mein Seelchen, mein Engelchen; ich erinnere mich, wie ich Dich vom Bett in den Sarg legte und fest, fest fest …

 

8. (21.) Juli.

Es ist eine böse Sache. Rette Russland, o Herr. Es ist heute am Rande des Verderbens und aus den Tiefen ruft es um Rettung zu Dir!

Beschämend ist es zu erzählen, mit welch dummen Gedanken ich heute in die Kathedrale von Kasan, zum allgemeinen Volksgebet ging; wann der Moment war, in dem ich mit einem Male sah und begriff, dessen entsinne ich mich nicht. Ich erinnere mich, dass ich im Anfang skeptisch lächelte und unter dem Volk andere Intellektuelle gleich mir bemerkte, aus deren Augen ein höherer Verstand und Spott leuchteten, entsinne mich, dass mir das Gedränge und Gestosse widerlich war, dass ich den Platz nicht ohne Richtigkeit mit einem überfüllten Kahn verglich – wann aber kam mir das Verständnis?

Nein, nicht die gewähltesten Worte können den Anblick beschreiben, wenn Hunderttausende von überallher, durch alle Strassen und Gassen zu einem gemeinsamen Ort pilgern, um sich dort im gemeinsamen Gebet an Gott zu wenden. Zuerst fasste man es wie einen Scherz auf, etwas Gewolltes, eine Art Parade, aber als alle die Menschen kamen, liess es sich in dem Gedränge nur noch schwer atmen, und neue kamen und kamen, es begann so ernst zu werden, dass mir kalte Schauer über den Rücken liefen. »Was soll das?« fragst Du Dich fast mit Entsetzen, sie hören nicht, sie antworten nicht, sie kommen, Menschen, Menschen, Menschen. Und schon der Umstand, dass sie Dir ebensowenig Beachtung schenken, wie Du ihnen, wirkt so ernst und feierlich, dass unwillkürlich jede Kritik, jede Frage verstummt und ein Zittern die Seele ergreift. Es bedeutet etwas Grosses, Notwendiges, wenn so viele Menschen sich ruhelos zusammenfinden und gemeinsam Gott anrufen – und ich, mit meinem armseligen Verstande, zweifle und streite gegen sie!

Viele weinten in meiner nächsten Nähe, ganz ohne sich dessen zu schämen, trockneten sogar ihre Tränen nicht ab, als wäre es heute allen erlaubt, vor allen anderen zu weinen. »Wie naiv ist doch das einfache Volk!« gelang es mir noch zu denken, indes ich auf einen starken Mann sah, der bitterlich weinte, er mochte ein Türhüter oder ein Kutscher sein, dann fühlte ich plötzlich, wie sich auch meine ausgetrockneten Augen mit Tränen füllten. Und noch beschämt darüber, noch nicht den Wert dieser Tränen erkennend, hob ich heuchlerisch die Augen empor … und dort, welcher Himmel! »Mein Gott, mein Gott,« dachte ich, »wie weit bist Du, und doch wie nahe.«

Und ein Beben erfasste mich, als hätte mich Feuer vom Himmel berührt. Es war, als erhöben mich unsichtbare Schwingen, hoch, hoch hinauf, bis zu den weissen Wolken und ich sähe von dort das ganze Land, das Russland heisst … und dies Land und kein anderes bedrohte eine solche Not, gegen diese Erde zogen Feinde mit Feuer und Bomben, für dies Land beteten wir, für seine Rettung. Und ich sah wieder zur Erde, sah weinende Menschen, eine ungeheuere Zahl, und ich gehörte zu ihnen, sie vertrieben mich nicht, nahmen mich voller Vertrauen an ihr Herz … wo war ich früher gewesen? Tor! Und plötzlich liebte ich sie alle, liebe sie so, dass ich es mit meinem ganzen Körper empfinde; nein, ich kann nicht mehr, ich werde vor Liebe und Zärtlichkeit gleich schreien müssen. Selbst jetzt, wenn ich mich dessen entsinne, möchte ich schreien.

Kann ich das denn mit Worten ausdrücken? Vergebliches Bemühen. Jetzt, nur wenige Stunden später, kann ich mir Russland nicht mehr so genau vorstellen, es sieht wieder wie eine Landkarte für mich aus, damals aber verstand ich, sah ich, fühlte ich. Nein, ich sehe ein, dass sich so etwas nicht erzählen lässt. Rette Russland, o Herr, rette es aus der Tiefe!

Es wäre an der Zeit aufzuhören, aber immer wieder kommen mir die Tränen; mögen sie nur kommen. Nach Hause zurückgekehrt sah ich, wie die so still gewordene Inna Ivanowna eigenhändig Petjas Näschen putzte, ich erinnerte mich ihres Pawluschas und unfähig den Anblick zu ertragen, brach ich in Tränen aus wie ein Kind. Ich kniete vor ihr nieder (trotz der Anwesenheit des Kindermädchens, das übrigens auch zu weinen begann) und küsste ihre hilflosen alten Hände … oh, wie sehr benötige ich der Verzeihung all dieser guten, ehrenhaften Leute, die ich so oft gekränkt habe. Wir haben alle Grund zum Weinen, alle.

Ich höre auf zu schreiben, weil es ja doch unmöglich ist, meine Gedanken klar auszudrücken, mögen sie unausgesprochen bleiben.

 

Nachts, das gleiche Datum.

Ich schlafe wieder einmal nicht, meine Seele ist zu tief erschüttert bis ins Innerste. Es ist kalt, mich fröstelt; immer denke ich an Russland. Was war, nun mich das Volk gelehrt hat, es und Russland zu lieben, meine erste Tat? Ich beeilte mich heimzukommen, um rascher meine eigenen Kinderchen Petja und Jenia liebkosen zu können, als wäre in dieser einen Handlung alles inbegriffen. Uebrigens war dieser Wunsch allein schon nach all der grausamen Kälte und Härte, mit welcher ich sogar ihre Existenz vergessen hatte, für mich märchenhaft. Ich brachte ihnen Beeren und Eis mit, was ich seit langem nicht mehr getan, und nun fürchte ich, dass sie sich den Magen verdorben haben. Jenitschka macht mir Sorge, er ist so mager und seine nachdenklichen Augen erinnern mich an Lidotschka. Und er war ein so fröhliches Kind gewesen … was mag wohl mit ihm vorgegangen sein?

Es wird mir wieder seltsam zumute. Nein, es ist besser in einer solchen Nacht still zu liegen, auch wenn man nicht schlafen kann; schreckliche Gedanken gehen mir durch den Kopf: – die Kinder, Russland.

Saschenka habe ich gar nicht gesehen, sie war tagsüber während meiner Abwesenheit zu Hause und kann jetzt wahrscheinlich nicht abkommen; schade! Ich ginge gerne zu ihr ins Lazarett, aber ich war so lange nicht dort, dass es mir peinlich ist. Ach Saschenka, meine Saschenka! …

Dies also bedeutet »Russland«.

 

16. (29.) Juli.

Wieder bin ich zerquält und verzagt. Mir ist, als wäre ich für eine Weile aufgewacht, ich sah irgend etwas, vergass es, und lebe nun wieder in einem dumpfen, endlosen Traum. Ich lese die Zeitungen, – es ist furchtbar! Und durch die Stadt schwirren noch schrecklichere Gerüchte, im Kontor erzählen sie ganz unwahrscheinliche Dinge, dass Warschau schon gefallen sei und noch vieles andere, von dem es besser ist zu schweigen. Ich habe kein Vertrauen zu unserer Duma, aber es ist doch gut, dass sie einberufen wird. Unheimlich ist es.

 

19. Juli (1. August).

In der Stadt herrscht grosse Niedergeschlagenheit und alle gehen mit traurigen Gesichtern umher. Nur manchmal lacht irgend ein Hooligan laut auf beim Anblick eines aufgeblasenen, gleichgültigen Kaufmann-Diebes oder Lieferanten, der auf dicken Beinen einherstolziert. Diese fetten Schweine!

Mag sein, dass in eben dieser Nacht, da ich diese Zeilen schreibe, die Deutschen in unser Warschau einziehen. Ich schliesse die Augen und sehe deutlich, wie im Kinematograph, ihre spitzen Helme vor mir, Feuersbrünste lodern auf, in den Häusern verbergen sich zu Tode erschrockene Menschen, … aber was nützt das Verstecken! Und ich stelle mir vor, dass dies nicht Petrograd sei, wo ich in nächtlicher Stille schreibend sitze, sondern Warschau; über die Brücke marschieren die Deutschen in die Stadt ein … wie unsagbar schrecklich wäre dies! Und dann plötzlich ein freches, lautes Pochen an der Tür: »Macht auf!«, ein Deutscher tritt ein, sieht sich um, geht durch alle meine Stuben, als wäre er bei sich zu Hause, fragt mich aus, und wenn er mich mit seiner Flinte nicht totschiesst, so hängt das einzig und allein von seiner Gnade ab. Wie könnte ich ihm in die teutonischen, blauen Augen sehen? Wäre es denn möglich, ihm zuzulächeln … freilich nur aus Höflichkeit, aber immerhin zu lächeln? Nein!

Ich fühle, dass ich diese Nacht nicht schlafen werde.

 

26. Juli (8. August).

Die Staatsduma hat ihre Sitzungen begonnen, Gott gebe ihr Kraft. Ich lese diese entsetzlichen Berichte, lese jede Zeile wieder und wieder und kann meinen Augen nicht trauen. Wir haben keine Munition. Sie sagten, dass es Munition geben würde und haben uns betrogen. Wen haben sie betrogen? Man denke nur: keine Munition! Schön, sollte man mit der blossen Hand den Deutschen Widerstand leisten? Mit blosser Hand, man muss sich das nur vorstellen!

Aber erlaubt, meine Herrschaften, soll das Russland sein? Das kann es nicht sein, ich kann das nicht annehmen, mich nicht in den Gedanken hineinfinden. Und wenn dem so ist, welche Bewandtnis hat es mit jenen Betern, die auf dem Kasan'schen Platz weinten, beteten, zu Gott schrieen? Haben die auch betrogen? Sie riefen zum Himmel, ich selbst rief mit, hörte die Rufer, sah ihre heissen Tränen, das Beben ihrer Seelen. Dort war nichts von jener schmählichen Angst, die Verbrecher vor dem allsehenden Auge empfinden. Oder betete jeder nur für sich, auch jene, die betrogen?! Ich begreife nichts mehr, aber eines weiss ich und bin bereit, es auf das Leben meiner Kinder zu beschwören – das ist nicht Russland, so ist es nicht!

Ich kann den Eindruck nicht wiedergeben, den ich zuerst empfand, als ich die Reden unserer Abgeordneten las. Es war, als ob mir ein deutsches Bajonett ins Gehirn führe, alles in Scherben fiele, ich war wie betäubt, wie erblindet, als ob ich den Boden unter den Füssen verloren hätte! Ich kann auch jetzt kaum in menschlicher Sprache reden, vermag bloss sinnlose Worte zu stammeln, die Augen aufzureissen, kann meinen Gedanken keinen richtigen Ausdruck verleihen. Ja, wir stehen alle mit aufgerissenen Augen da, nicht nur ich armer Sünder. Sogar in unserem geschwätzigen Kontor, wo sonst alle Fragen spielend gelöst werden, gehen sie mit weitaufgerissenen Augen umher, lassen fast alle Arbeit liegen und stehen, sitzen in Hemdärmeln, rot wie aus kochendem Wasser gezogene Krebse, lesen die Zeitungen zum zehnten Mal durch und jagen den Laufburschen ununterbrochen nach neuen Ausgaben. Beim Lesen sprechen sie, schlagen mit der Faust auf den Tisch, schreien:

»Nein, habe ich gesagt!«

»Was haben Sie gesagt? Wir haben nicht gehört! …«

»Nein, das haben Sie nicht gehört, ich habe gesagt …«

Ja gesagt! Gesagt haben sie es scheinbar alle. Die ganze Not kommt daher, dass niemand zugehört hat. Alle haben sie gesagt und gewusst, was geschehen wird, haben alles vorausgesagt … diese Kontorpropheten! Und wer hatte Part-Grad eingenommen? Und wer spazierte durch Berlin und kaufte sich eine Krawatte in der Friedrichsstrasse? – Mich deucht, als hätte ich einmal etwas Aehnliches gehört.

Merkwürdig ist noch eines bei unseren Kontoristen, sie schreien, schimpfen, sagen solch entsetzliche Dinge, dass man glaubt, sie würden in der Nacht kein Auge zuschliessen können – einen Augenblick später sind sie voll Heiterkeit, sagen sich gegenseitig Liebenswürdigkeiten, prahlen fast: »Seht, so sind wir! Und wer spielt den ›Satyriker‹, und wer geht munter und vergnügt zu einer gemeinsamen erlesenen Sakuska, in unserem abgelegenen Zimmer, fern den Augen des Vorgesetzten? Danke, wenn nur die Wodka nicht ausgeht!« … ach Du Kontor!

Aber wer mich ebenfalls noch in Erstaunen versetzt, das ist meine Saschenka. Ich empfinde ein unüberwindliches Verlangen, diese neuen und schrecklichen Eindrücke nicht allein ertragen zu müssen, dachte natürlich vor allen anderen Menschen an sie und brachte es sogar fertig, mir vorzustellen, wie wir miteinander ein ernstes, bedeutsames Gespräch führten, vielleicht auch zusammensitzend einfach schwiegen, und sich uns in diesem Schweigen das für uns Wichtigste enthüllen würde. Und es geschah etwas höchst Seltsames.

Ich frage sie mit weitaufgerissenen Augen: »Nun, hast Du gelesen?«

»Was?«

»Wieso was? Die Berichte über die Sitzungen.«

»Was für Berichte? Ach ja, die habe ich gelesen. Ich lese so etwas nie, habe es nur durchgesehen. Gott weiss, was drin stand.«

Eifrig, die Gleichgültigkeit, die in ihrem gekünstelten Ausruf lag, noch nicht erkennend, stürzte ich mich in eine Erklärung, sprach lange und beharrlich, bis ich plötzlich an ihrem nachdenklichen Gesicht, den ausdruckslosen Augen und einem fremden Zug um den Mund bemerkte, dass sie mir nicht einmal zuhöre und mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt sei. Dies kränkte, ja empörte mich sogar … nicht persönlich natürlich, aber in Beziehung auf die für Russland so wichtigen Dinge, die ich besprach.

»Dir fehlt vollkommen jedes staatsbürgerliche Empfinden, Sascha,« sagte ich kalt und von oben herab. Sie errötete und es schmerzte, diese Röte auf ihrem blassen, erschöpften Gesicht zu sehen.

»Sei nicht böse, Ilenka, Täubchen. Es ist wahr, ich bin ein wenig in Gedanken versunken gewesen und habe nicht alles gehört. Das ist doch auch gar nicht so wichtig.«

Ich wurde wieder ärgerlich, schrie sie sogar an:

»Was soll das heissen, nicht wichtig! Ueberlege doch, was Du sprichst! Nur Verräter, die sich über den Untergang Russlands freuen, können sagen, dies sei nicht wichtig. Wir haben doch keine Munition. Stell Dir doch vor, die bewaffneten Deutschen können unsere opferwilligen, gutmütigen Soldaten spielend schlagen … tut Dir das nicht leid?«

Augenscheinlich ergriffen sie diese Worte, sie sah mich gross an und sagte leise und erschrocken: »Ja, es ist schrecklich, aber wie kommt es?«

»Darüber denken alle nach, wie es kommt, und Du sagst es sei unwichtig. Es ist furchtbar wichtig, Saschenka, so wichtig, dass man darüber den Verstand verlieren könnte.«

Dann aber wurde sie zu einem Soldaten gerufen, dem man die Hände amputiert hatte, und der sich weigerte, zu essen, wenn nicht Saschenka ihn fütterte; sie vergass mit einem Male alles, lächelte mir gleichgültig und entschuldigend zu, küsste mich flüchtig, flüsterte mir ins Ohr: »Sei nicht böse, mein Täubchen, ich kann nicht« … und lief weg.

Was kann sie nicht?

 

29. Juli (11. August).

Eine Ueberraschung, plötzlich ist unser lieber Ingenieur und Schwager in Moskau aufgetaucht und nicht nur dies, er schrieb mir sogar einen liebenswürdigen Brief und sandte Geld mit. Er entsinnt sich mit einem Mal, dass Mütterchen Inna Ivanowna nun schon seit fast einem Jahr bei uns lebt, und schlägt mir vor, die Hälfte ihrer Verpflegung zu bezahlen. Aber kein Wort über Sascha, den Bruder Pawluscha und meine Lidotschka. Ich kochte vor Wut über diesen Liebesbrief, habe auch Saschenka kein Wort davon gesagt, um sie nicht aufzuregen. Eine solche Frechheit! Schon aus im Kontor zirkulierenden Gerüchten hatte ich erfahren, dass er irgendwelche Armeelieferungen übernommen und sich dadurch fast eine Million erworben habe … man nennt das »erarbeiten«! Und jetzt bietet mir dieser schmutzige, herzlose Mensch, der an Russlands Verderben Mitschuld trägt, einen seiner dreissig Silberlinge an. Nein, Nikolai Jewgenitsch, lieber will ich verhungern, wenn es sein muss, als auch nur eine Kopeke von Ihnen annehmen. Es klebt Blut an Ihrem Gelde, abscheulich ist es, befleckt, man könnte seine Hände nicht mehr rein waschen, hätte man es einmal berührt. Und Inna Ivanowna, unserer Mutter ziemt es nicht, von Ihrem Blutgelde zu leben, ihr, die in diesem Kriege einen Sohn, den lieben, teuern, ehrenhaften Pawluscha verloren hat. Mein Gott! Warum vernichtest Du uns Armselige, Kleine in Deinem Zorne! Strafe die Reichen und Mächtigen, die Räuber, die Verräter, die Lügner und Schurken! Wie lange werden sie uns noch verhöhnen, ihre goldenen Zähne zeigen, in Automobilen vorbeisausend uns frech und offen ins Gesicht lachen?

Man könnte sich aus Hilflosigkeit und Verzweiflung den Kopf an der Wand einrennen, wenn man sieht, wie unantastbar sie in ihrer Schamlosigkeit sind. Sage es ihnen – und sie werden spotten! Beschäme sie – und sie werden belustigt sein! Flehe sie an – und sie werden lachen! Sie haben Russland beraubt und verkauft – und schlafen ruhig, wie auf den weichsten Daunenkissen.

Es ist furchtbar zu bedenken, dass sie keine Strafe treffen wird. Es sollte nicht so sein, dass auf der Welt die Schurken triumphieren, das ist nicht gut, daran geht alle Achtung vor dem Guten verloren; es gibt keine Gerechtigkeit mehr, das ganze Leben verliert seinen Sinn. Dagegen sollte man Krieg führen, gegen diese verbrecherischen Gauner, und nicht kritiklos einer über den andern herfallen, nur weil der eine ein Deutscher, der andere ein Franzose ist. Ich bin ein sanftmütiger Mensch, aber in einem solchen Kriege ergriffe auch ich die Waffen, – auf Ehrenwort! Ohne Mitleid, ohne Zaudern schösse ich auf sie, direkt in die Stirne.

Wie kann man nur dies ertragen? Dieser Brief hat mich aufs höchste erregt, meine ganze Seele mit wilden Gedanken erfüllt. Dafür starb meine Lidotschka, die Unschuldigste der Unschuldigen, diese Blume, Herr, aus Deinem Garten. Mein Kindchen, mein liebes, unendlich geliebtes, unendlich teueres, warst Du denn eine geraubte, mit Schmutz befleckte Million, dass Du meinen Beitlerhänden entrissen wurdest?

Welche Qual, o welche Qual … und wenn man bedenkt, wie viele Menschenherzen heute von der gleichen Qual erfasst sind, wie viel Flüche ausgestossen werden … und was weiter? noch Martern, und was dann? Empörung … und was weiter? Nichts! Atme, seufze, armselige Blattlaus, weiter ist dir nichts geblieben, seufze, einmal wirst du dann ruhen dürfen. Sie seufzen nicht nur, diese Dementiews, fluchten, stöhnten. Sie murrten, sie forderten, dachten, man würde sie hören, ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen, sie in Gold einrahmen … Aber wer versteht sie? Sie atmen, das ist alles!

 

30. Juli (12. August).

Ich folge den Reden, die in der Staatsduma gehalten werden und steige jeden Tag höher auf den Berg, von wo aus man einen Ueberblick gewinnt. Aber was für einen Ueberblick! Und die Deutschen dringen nach der Einnahme Warschaus immer weiter vor; die Festungen Kowno und Grodna haben sich nicht ergeben, halten sie vor ihren Mauern auf, das ist wenigstens etwas. Merkwürdig ist, dass ich schier physisch die Nähe der Deutschen empfinde, an jeder Strassenecke erwarte ich, dass ein Deutscher hervorspringt. Und ich sehe ganz deutlich sein deutsches Gesicht, seinen spitzen Helm, höre seine dreisten, herausfordernden Worte. – Verschone uns o Herr!

Ja die Perspektiven, die Perspektiven, die Haare stehen einem zu Berge über diese Perspektiven. Aber warum bin ich so geartet … so unbedeutend, armselig? Ich bin doch ein anständiger Mensch, warum habe ich früher nichts gewusst, nichts verstanden, habe alles mit einem idiotischen Vertrauen betrachtet, wie ein verzauberter Esel, wenn man sich so ausdrücken darf. Warum bin ich ein so nichtig Geschöpf? »Das Vaterland ist in Gefahr«, welch unsäglich schreckliche Worte, das Vaterland ist in Gefahr. Und wozu bin ich da, wie zum Teufel nütze ich dem Vaterlande. Irgend ein beliebiges Pferd ist dem Vaterland in dieser furchtbaren Zeit nützlicher als ich, mit meiner ganzen widerlichen Anständigkeit, – es ist ekelhaft, ekelhaft.

Jetzt hört man schon auf allen Seiten, sogar in unserem ungläubigen Kontor die Worte: »Herr, errette Russland!« Wenn aber Gott sich Russland nicht zuneigen und es nicht erretten will? Wenn er ihm zuruft: »Wenn Du so dumm und räuberisch und gemein bist, gehe zugrunde mit Deinen Miasojedows!«

Was geschähe, wenn jetzt dieses ganze Land, das man Russland nennt, zugrunde ginge? Schrecklich! Mit allen Kräften der Seele kämpfe ich gegen diesen Gedanken, will ihn nicht aufkommen lassen … aber im Herzen ist ein Entsetzen, eine Kälte, eine nagende Pein. Doch was kann ich tun?! Hier brauchte man einen Simson, brauchte man Helden und wie weit bin ich mit meinem ganzen Heldenmut davon entfernt. Ich stehe wie ein nackter, armer Sünder beim letzten Gericht, erbebend in Angst und Schauern und kann kein Wort zu meiner Rechtfertigung finden … beim letzten Gericht gibt es kein Lügen, kein Advokat kann Dich verteidigen, Deine irdische Schlauheit und List sind hier zu Ende, zu Ende!

Dies empfand beim Betrachten des Weltkrieges Ilia Petrowitsch Dementiew, Petersburger Buchhalter und Rechnungsführer.


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