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Erster Teil.
1914.

 

Petersburg, den 15. (28.) August.

Offen und ehrlich gestanden, als wäre ich hier im Beichtstuhl, ist es mir bis heute noch nicht klar geworden, weshalb ich damals so furchtbar erschrocken bin.

Freilich, Krieg ist Krieg, man freut sich dessen natürlich nicht, klatscht ihm nicht Beifall, aber es ist doch eine einfache und schon dagewesene Sache … Ist denn der japanische Krieg schon so lange her? Und jetzt, da die blutigen Schlachten bereits begonnen haben, empfinde ich diese eigenartige Furcht nicht, lebe wie vorher, versehe meinen Dienst, mache Besuche, ja gehe sogar ins Theater und in den Kinematograph, kann im allgemeinen keinerlei Veränderung in meinem Leben beobachten. Wäre nicht der Bruder meiner Frau, Pawluscha, im Kriege, so könnte man zeitweilig vollkommen alle diese entsetzlichen Begebenheiten vergessen.

Es lässt sich nicht leugnen, dass in der Seele eine starke Unruhe, ein Beben ist … ich weiss nicht recht, wie ich es nennen soll, richtiger vielleicht eine nagende Qual, die sich besonders am Frühmorgen bemerkbar macht. Wie kann man die Zeitungen lesen (ausser auf die »Kopeke« bin ich jetzt noch auf zwei grosse Zeitungen abonniert), wie sich erinnern, was dort geschieht, vor allem dieser unglücklichen Belgier, der Kinderchen, der zerstörten Häuser, der Unseligen, die wie mit einem Mal von allem entblösst, ins eisige, Wasser versenkt, nackt in den Frost hinausgejagt worden sind. Aber auch hier ist keine Furcht, einzig nur das Gefühl menschlichen Bedauerns und Mitleidens für die Unglücklichen.

Aber wie ich damals erschrack, bis zur Lächerlichkeit, das ist nicht nur zum Erzählen, sondern selbst als blosse Erinnerung beschämend. Man bedenke nur, am 20. Juli (2. August) zahlte ich dreissig Rubel für ein schmutziges Lastfuhrwerk, um von Schuwalow aus, der Sommerfrische, die Stadt zu erreichen, und nach etwa fünf Tagen fuhr ich mit meiner ganzen Familie nach der Datsche zurück und lebte dort in aller Seelenruhe bis zum 12. Aug. Beschämend ist es zu denken, was damals mit uns vorging! Meine Frau, ungewaschen, ungekämmt, verstört, wie eine Verrückte aussehend, die Kinder in dem Fuhrwerk durcheinandergerüttelt, und ich, ein Familienvater, nebenher marschierend, mit dem Gefühl, als ob hinter meinem. Rücken der Weltuntergang begönne und es notwendig sei zu fliehen, zu fliehen, ohne sich umzusehen, unaufhörlich zu fliehen … nicht nur bis Petersburg, nein, bis an die unbekannteste Grenze der Erde.

In allen Läden, an denen wir vorbeifuhren, wurde Brot verkauft, so Viel man nur haben wollte, und ich hatte mir irgend eine vermaledeite, trockene Brotrinde in die Tasche gesteckt! Auf alle Fälle! Umsicht und Berechnung, o Gott!

Das Wetter war wundervoll, aber wir glaubten nicht daran, es schien uns, als ströme der Regen wie zur Zeit der Sündflut, als fiele plötzlich Schnee und peitschte Hagel hernieder – im Juli! und würden wir alle, so sehr wir auch die Pferde antrieben, auf halbem Wege umkommen. Ich entsinne mich noch eines beschämenden Umstandes: ich pflückte einige blaue Blümchen vom Wegrand, Glockenblumen, und gab sie meinem Töchterchen Lidotschka, scherzte dabei mit ihr; dies ist ja nichts, ist etwas ganz Natürliches, weil ich meine Kinder, und besonders Lidotschka sehr liebe … aber was dachte ich mir, während ich scherzte? Ich dachte: »Nun, bis jetzt habe ich den Kopf noch nicht verloren, kann mich vollkommen beherrschen, nicht wie die anderen: sogar Blumen pflücke ich, scherze, ermutige Frau und Kinder!«

»Welch gewaltiger Held bin ich!«

Und wie war es erst, als wir gegen Abend unsere Wohnung erreicht hatten; ein Osterfest! Aufrichtiges Entzücken, Seligkeit und Frohlocken! Und als dann die Kerzen brannten (das elektrische Licht war noch von der Zeit unserer Abwesenheit her abgestellt) und die ganze Familie um den Samowar herumsass!

Aber das Erstaunlichste ist, dass ich mich nicht genau erinnern kann, wann diese dumme Angst mich ergriff und wie es kam, dass wir fünf Tage später als seelenruhige Sommerfrischler zurückfuhren, und vor allem, dass wir uns nicht schämten. Ich nehme an, dass der grösste Teil der Waggoninsassen eben solche Helden waren wie wir, aber wie sahen wir einer den andern an? Ich entsinne mich dessen nicht, wie sie blickten, nur dass sie zurückreisten, – alle Helden! Ja, sie erzählten einander noch, wie viel jeder Dummkopf für ein Fuhrwerk verlangt und erhalten habe, all dies ohne die geringste Verlegenheit.

Natürlich hatte mich auch das stumme Entsetzen meiner Frau Alexandra Jewgenewna in hohem Masse beeinflusst, und damit erkläre ich jetzt allen Bekannten unsere damalige »Flucht nach Aegypten«; meinem Gewissen aber genügt diese Erklärung nicht. Wäre ich von Natur aus ein Feigling, ein Weib – dann wäre alles verständlich und mein Gewissen würde mich nicht beunruhigen … Was für Gewissen haben denn eigentlich Feiglinge; nichts ist für sie beschämend! Aber ich bin von Geburt kein Feigling, eher ein mutiger Mensch, kann immer für mich einstehen; und damals hatte mich eine solche Geisterverwirrung überwältigt. Es war, als hätte ein Krampf mein Gehirn erfasst und das reine Licht der Vernunft getrübt. Wenn ich zurückblicke, wie ich da auf der Chaussee marschierend, mutig Blümchen pflückte, ein rechter Dummkopf, Feigling und Schurke; und ich hielt mich allen Ernstes für weise, dass ich ein Fuhrwerk beschafft, die Kinder rettete, in der Tasche eine Brotrinde mittrug … nicht wie irgend einer, aber wie ein vorsorglicher Mensch!

Wozu all dies?

Jetzt erkläre ich es mir so: mir wie allen anderen brachte dieser Tag eine Art übernatürlicher Vision, die aber nur erstaunlich, fremd und aussergewöhnlich war und mit dem Kriege keinerlei Aehnlichkeit hatte, ein Traum in der Wirklichkeit, wie der Beginn des Weltunterganges, das Ende der Erde, die Vernichtung alles Lebenden. Als ob irgendwo der Donner grolle, die Erde auseinander spalte, einen Abgrund aufreissend, vor dem man fliehen und sich retten müsse.

An eines entsinne ich mich noch vollkommen: dass ich die Deutschen selbst mitsamt ihrem Kaiser gar nicht fürchtete, ja ihrer sogar vollkommen vergass; wie hätten auch die Deutschen in einem Tage nach Schuwalow fliegen können – jeder Dummkopf verstand, dass dies unmöglich und schon der blosse Gedanke daran töricht sei.

Ja, und wer sind denn diese Deutschen? Schliesslich sind sie Menschen genau wie wir und fürchten uns wahrscheinlich nicht mehr und nicht weniger als wir sie. Man kann sagen, dass die Sache auf Gegenseitigkeit beruhe … Aber jagten uns hier nicht wilde, vorsündflutliche Tiere auf den Fersen nach, die Erde mit ihren Tatzen zertrampelnd? nein, es gibt keine wilden Tiere! Was ist so ein wildes Tier? Was für ein wildes Tier? Wer fürchtet sie heute? Lächerlich, der Grund lag darin, dass das Gehirn von einem Krampf erfasst ward, der das Licht der Vernunft verdunkelte, das Unterste zu oberst kehrte, mir die Empfindung gab, als ginge ich nicht auf den Füssen, sondern auf den Händen, wie ein Akrobat.

Dann erinnere ich mich noch, wie es mich wunderte, dass auf der Chaussee alles wie sonst und in keiner Weise auffallend war. Es kam mir zum Beispiel ein Mensch entgegen, ich beobachtete, wie er beim Gehen seine Füsse setzte und wunderte mich: sieh' nur, der geht! Oder eine Henne hüpfte über den Weg, oder ein Kater sass im Gebüsch, merkwürdig, ein Kater! Oder ich begrüsste die Verkäuferin in der Bude und sie antwortete mir: »Guten Tag«, und nicht irgendwelch unverständliche Worte, wie »bala – bala«.

Als ich in der Stadt die Strassen sah, staunte ich abermals, als hätte ich zweihunderttausend Rubel gewonnen, der Polizist (ich kannte ihn sogar) stand an der Strassenecke, und wieder erbebte ich vor Verwunderung und Freude, als müsste durch die Worte Wilhelms: »der Krieg ist erklärt« all dies in die Unterwelt gestürzt worden sein, der Kater, die Strassen, der Polizeimann; und selbst die Sprache der Menschen hätte sich in ein tierisches Brüllen oder ein unverständliches Stammeln verwandeln müssen. Welch wüste Dinge sich ein Mensch doch vorstellen kann, wenn er sich fürchtet.

Jetzt verstehe ich meine Furcht gar nicht mehr und kann mich ihrer nur schämen. Sie ist nur mehr wie die Blümchen Lidotschkas, eine Tatsache, die mein Gewissen bedrückt. Mag ich nun ein Feigling sein oder nicht, darüber kann ich nach all diesem nur mehr Vermutungen anstellen, aber von meiner Ehrenhaftigkeit war ich stets überzeugt gewesen. Hier, in diesem Tagebuch, allein mit Gott und meinem Gewissen, kann ich sogar sagen: ich bin nicht nur ein ehrenhafter, sondern sogar ein äusserst ehrenhafter Mensch, stolz auf meine Rechtschaffenheit; und als solchen kennen mich auch die Leute.

Und ich, nach bestem Wissen und Gewissen ein ausserordentlich ehrenhafter Mensch, liess an jenem verfluchten 20. Juli (2. August) in Schuwalow unsere Köchin Anissia zurück, ihrer Bitten und Tränen nicht achtend.

Man verstehe, heute erscheint dies nur komisch und kann höchstens ein Lächeln hervorrufen: was hätten sie dieser dummen Anissia in Schuwalow antun sollen? Und sie haben ihr auch nichts getan, zwei Tage später erschien sie, leibhaftig, in unserer Stadtwohnung, hatte voller Schlauheit die Bahn erreicht und sogar die Salzgurken mitgebracht. Damals aber war das ganz anders gewesen, damals floh ich doch und hätte, falls ich sie mitnahm, sie vor dem Verderben gerettet, und ich liess sie deshalb zurück, weil es im Fuhrwerk keinen Platz mehr gab und es wichtig war, einen Menschen zurückzulassen, der die Sachen einpackt und behütet. Die Sachen vergass ich nicht, Bourgeois!

Eines muss ich mir zum Trost sagen, wie sehr Anissia damals auch weinte und bat, so nahm sie es uns doch gar nicht übel, dass wir sie verliessen, machte auch keinem von uns Vorwürfe darüber. Dummes Weib.

 

15. (29.) August.

Dieses Tagebuch schreibe ich abends und nachts, unter dem Vorwande, im Geschäftsbuch, das ich immer nach Hause mitnehme, zu arbeiten. Meine Frau, Alexandra Jewgenewna, ist in jeder Beziehung ein wundervoller und sogar seltener Mensch, intelligent, gut, empfindsam, aber zwischen uns gibt es jene Verschiedenheit, die sich zwischen allen, sich noch so nahe stehenden Menschen findet und für mich ist es äusserst wichtig und unentbehrlich, dass niemand lese, was ich schreibe, sonst verliere ich die Freiheit im Ausdruck meiner Gedanken. Ich finde, es gibt viele Dinge, von denen es selbst mit nahen und geliebten Menschen zu sprechen beschämend ist, und in meinen jetzigen Gedanken sehe ich sogar die Gefahr irgend einer Versuchung für weniger zurückhaltende Naturen als die meine. Ich werde niemand in seinem Denken stören, will aber auch, dass man mich nicht störe.

Ich beginne mit dem grossen Bekenntnis: Inmitten des allgemeinen Unglücks bin ich ein gewissenlos glücklicher Mensch! Dort der Krieg, Blut und Entsetzen, hier meine Saschenka, die eben im warmen Wasser mein Engelchen Lidotschka und den Schelm Petka gebadet hat und jetzt mit den Kleinen lacht, nachher wird sie irgend etwas für sich tun, Ordnung machen für den morgigen Sonntag oder vielleicht Klavier spielen. Gestern erhielten wir eine Karte von Pawluscha und nun wird Saschenka eine Woche lang heiter und beruhigt sein; natürlich kann man nicht wissen, was geschehen wird, wenn man aber nicht zu weit in die Zukunft blickt, dann ist unser Leben eines der glücklichsten. Das Pianino haben wir für Saschenka gemietet, die sehr die Musik liebt und sich früher aufs Konservatorium vorbereitet hatte; angesichts der schlechten Zeiten wollte Saschenka, um die Ausgaben einzuschränken, das Instrument aufgeben, aber ich bestand darauf, es zu behalten: was sind fünf Rubel im Monat, wenn die Musik dem ganzen Haus eine so angenehme Stimmung verleiht. Und auch Lidotschka beginnt schon spielen zu lernen, sie hat zweifellos Talent, sogar ein erstaunliches für ihre sechseinhalb Jahre.

Ja, ich bin glücklich und die Hauptursache meines Glückes, über die ich zu niemand, ausser diesem Tagebuch, sprechen kann, ist diese: ich bin fünfundvierzig Jahre alt, kann also, was immer dort auch geschehen mag, auf keinen Fall einberufen werden. Natürlich darf man das nicht laut aussprechen. Im Gegenteil, man muss, wie alle anderen, heucheln, sagen, dass man, wäre man jünger, gesünder, unbedingt als Freiwilliger gehen würde und dergleichen mehr; in Wirklichkeit aber bin ich unsäglich glücklich, dass ich ohne das Gesetz zu verletzen nicht in den Krieg gehen und mich der Kugel irgend eines Narren aussetzen muss.

Hier bin ich mehr als aufrichtig. Als sie in der heissen Jahreszeit bei uns im Kontor zu schreien begannen, dass dieser Krieg kein gewöhnlicher sei, dass er unbedingt bis aufs äusserste geführt werden müsse, stritt ich nicht, für wen wäre auch meine unmassgebliche Meinung wichtig gewesen? Entweder hätten sie mich ausgelacht oder mich beschämt, wie sie unlängst den Kontoristen Wassia Paloneg bis zu Tränen beschämten; angesichts der allgemeinen Erregung hätten meine unvorsichtigen Worte nur schädlich wirken, schlecht ausgelegt werden können.

Aber was immer sie im Kontor auch reden, wie immer sie in den Zeitungen über den Krieg schreien und für ihn eintreten mögen, für mich steht fest: es missfällt mir entsetzlich, dass Krieg ist. Es mag wohl sein (ja, und es ist so), dass höhere Geister, Politiker, Journalisten imstande sind, einen Sinn in dieser ungeheuerlichen Balgerei zu sehen, meinem kleinen Geiste aber ist es unverständlich, was daran Erhabenes und Vernünftiges sein soll. Und wenn ich mir vorstelle, dass ich in den Krieg ginge, inmitten eines freien Feldes stünde und die anderen absichtlich mit Waffen und Kugeln wider mich losgingen, um mich zu töten, das Gewehr auf mich anlegten, sich bemühend, mich zu vernichten, so fängt das Ganze an, mir lächerlich zu erscheinen, einen Hauch von übernatürlicher Dummheit zu bekommen.

Und ich betrachte mich vorsätzlich von oben bis unten, was ist an mir so verlockend, dass sie mich aufs Korn nehmen? Und wo sitzt dies Verlockende: in der Stirn, in der Brust, im Bauch? Und wie ich mich auch immer ansehen und belasten mag, ich sehe nur eines; sehe einen Menschen, ich bin ein Mensch und nur einem Narren kann es einfallen, auf mich zu schiessen. Darum nenne ich, ohne mich viel zu genieren, die Kugel eine Narrenkugel. Wenn ich mir dann weiter vorstelle, dass mir gegenüber auf der anderen Seite ein Deutscher sitzt, der ebenfalls seinen Bauch betastet und mich mit meinen Waffen für einen uniformierten Narren hält, ist mir die Sache nicht nur lächerlich, sondern auch widerlich.

Ja, aber wenn der Deutsche nicht seinen Bauch betastet und ganz ernstlich zielt, um zu töten, und begreift, weshalb dies geschehen muss? Wenn es sich erweist, dass ich mit meinem Nichtverstehen der Narr bin, und mehr als ein Narr, ausserdem noch ein Feigling, was ja schliesslich sehr leicht möglich ist? Es kann sein, dass ich ein Narr, ein Feigling bin, aber vielleicht bin ich nicht der einzige in Petersburg, Tausend, Hunderttausende führen vielleicht so ein Tagebuch und freuen sich, dass sie nicht einberufen und getötet werden, und urteilen genau so wie ich.

Genug davon, selbstverständlich kann man keinen Stolz darüber empfinden, dass man für sein Leben fürchtet und seinen Bauch belastet wie ein Krüglein, das Georgskreuz mit dem Band wird man dafür nicht erhalten, aber ich strebe nicht nach dem Georgskreuz und verlange nicht das Grab eines Helden. Mein Leben lang habe ich niemand gestossen und in seinem Vergnügen gestört, nun wünsche ich auch mit vollem Rechte, dass mich niemand störe und niemand niederknalle wie einen Sperling! Ich habe den Krieg nicht gewollt und Wilhelm hat mir auch keinen Boten mit der Frage gesandt, ob ich damit einverstanden sei, mich zu schlagen, er hat einfach erklärt: »Geh los!«

Es versteht sich von selbst, dass ich mein Vaterland Russland liebe und würde es überfallen werden, sei es von einem Narren oder Wahnsinnigen, so müsste ich es verteidigen. Das ist wie gesagt selbstverständlich und ich spreche in der Aufrichtigkeit meines Gewissens, so wahr Gott lebt, dass ich, wenn ich noch militärpflichtig wäre, es mir auch keinen Augenblick überlegte, mich zu fügen, dass ich mich nicht krank stellen, Protektionen ausnützen, mich irgendwo verstecken würde, sondern marschierte, ohne gezwungen werden zu müssen, auf dem Felde stünde, auf meinem Posten wartete, allein oder mit den anderen, bis man mich tötet oder ich töte, wie es dort eben sein muss.

All dies ist selbstverständlich und es handelt sich darum, dass ich zum Glück fünfundvierzig Jahre alt bin und das volle Recht habe, mich nicht vom Fleck zu rühren, denken und urteilen kann, wie ich will, ein Feigling und ein Narr, oder vielleicht kein Narr – sein darf. Das ist mein gutes Recht, mein Schicksal! Anstatt Ilia Petrowitsch Dementjew zu heissen und in Petersburg auf dem Potstamskoi-Platze zu wohnen, hätte ich ebensogut irgend ein Belgier sein können und könnte nun bereits von den deutschen Geschossen ins Verderben gebracht worden sein. Aber ich bin Ilia Petrowitsch, der fünfundvierzig Jahre alt ist, auf dem Potstamskoi-Platz in Petersburg wohnt, wo die wilden Germanen nie hingelangen werden, und ich bin glücklich.

Ja, und was könnte nicht alles sein! Statt an unserem Bankhaus angestellt, das fest wie eine Mauer steht und alle Anstösse des Krieges aushalten wird, könnte ich an irgend einem kleinen Unternehmen beteiligt sein, das jetzt schon erschüttert ist, wie so viele es sind … und mitsamt meiner Lidotschka auf die Strasse geworfen werden. Oder ich könnte ein Pole aus Kalisch sein, oder auch ein Jude, wie ein Aas im Graben liegen, oder an einem Strick hängen; jedem sein Schicksal.

Aber es ist nutzlos, über derlei Dinge hin und her zu raten, und wie sehr ich auch die Belgier und unsere Soldaten bedaure, die fallen oder im Schützengraben liegen müssen, kann ich doch nicht umhin, mich zu freuen, dass ich das bin, was ich bin. Mein Gott, wenn ich statt meiner wundervollen Saschenka irgend eine schreckliche Frau hätte, wie es deren so viele auf der Welt gibt, so wäre auch dies Schicksal und ich kann nicht anders, als mich über mein Glück freuen, nun ich es habe.

Eben spielte Saschenka die bulgarische Nationalhymne und ich lauschte ihr – welch schöne Musik! Welche Seelengrösse, welche Liebe zum Vaterlande und der Freiheit klingt aus ihr heraus. Zuhörend traten mir die Tränen in die Augen, im Gedanken an die, armen Belgier, denen die schöne Musik, die Liebe zum Vaterlande nichts half gegen die Erdrückung durch diese verfluchten Deutschen.

Nein! Was immer auch unsere Kontorpolitiker beweisen können, nie werde ich zugeben, dass der Krieg etwas Schönes ist. Welche Torheit! Die Leute nehmen an, glauben, sind überzeugt davon, dass es vorteilhaft und schön wäre, Berlin einzunehmen, und dass die Gerechtigkeit triumphiere. Welche Gerechtigkeit? Gegen wen? Und wenn unter den gefallenen Belgiern genau so ein Ilia Petrowitsch ist wie ich – und warum sollte keiner sein – wie viel nützt ihm diese Gerechtigkeit?

Saschenka sagt, es sei schon spät und ruft mich zum Schlafengehen; und soll ich mich nun nicht freuen, dass ich nach der ehrlichen Arbeit des Tages schlafen gehen kann?


 

Petrograd, 19. August (1. September).
Donnerstag.

Ein historischer Tag, Petersburg ist in Petrograd umgetauft worden. So bin ich von nun ab ein Petrograder.

Es ist sehr schön, nur mühsam, sich daran zu erinnern. Unser Kontor ist aufs höchste erfreut, mir aber tut es in der Seele leid um das alte Petersburg, ja sogar um Sankt-Petersburg. Bei diesem Petrograd fühlst du dich so, als hättest du einen neuen Gehrock an, den ganzen Tag kommt es dir vor, als wärest du auf einem Empfang beim Vorgesetzten; er ist sehr schön, der neue Gehrock, aber es tut dir doch leid um deinen alten Rock, auf dem jeder Fleck dir von wohltuender Gemütlichkeit spricht.

 

22. August (3. September).

Wir fahren fort zu siegen. Die Preussen sind mit unserer Armee zusammengestossen und es geht das Gerücht, dass wir spätestens morgen Königsberg einnehmen werden. Und heute meldet der Generalstab, dass wir Lemberg besetzt haben, dass die Oesterreicher völlig geschlagen sind.

Ich will offen bekennen, wie friedliebend ich auch bin, so begrüsse ich diese Nachrichten immerhin mit Freude, gratuliere mir und anderen dazu; wenn man schon Krieg führt, so ist es besser, der Sieger als der Besiegte zu sein. Wie verheerend ist doch dieser Krieg, wie rasch jagen seine feuerspeienden Schritte dahin! Es erinnert mich an eine grosse Feuersbrunst, die ich als Kind auf einem Dorfe gesehen habe; ein einziges Haus hatte zu brennen begonnen, im Verlauf einer Stunde hatten alle Strohdächer Feuer gefangen, das ganze Dorf war nur mehr ein endloses Flammenmeer.

Es ist interessant für den Moralisten, diese Eigenheit der Menschenseele zu beobachten, die eine Feuersbrunst als etwas Schönes empfindet. Je wütender die Flammen um sich greifen, desto mehr ruft dies ein seltsam festliches Gefühl hervor. Kommt es durch das Glockengeläute, das Blitzen der Flammen, den Anblick der aufgeregt durcheinander rennenden Menge? Ich entsinne mich des Eifers, in dem wir in meiner Jugendzeit, die ich am Gymnasium einer Provinzstadt verbrachte, zu jeder Feuersbrunst liefen; in den Werkstätten wurde die Arbeit niedergelegt, keiner dachte ans Umkleiden, an sein ungewaschenes Gesicht; sobald der Ruf »Feuer« erscholl, das Läuten der Glocke ertönte, eilten alle, Männer und Knaben, zur Brandstätte, standen dort, kaum atmend, die Arme ausbreitend, wie ein Feldherr auf seinem Monument. Sogar im Gymnasium wehrten es uns die Lehrer nicht, wenn, beim Geläute der Feuerwehrwagen alles im Stich gelassen, und sie kamen mit uns, den Brand zu besehen.

Natürlich gedachte in diesem Augenblick kaum einer der Unglücklichen, die durch den Brand geschädigt wurden. Ich gebe zu, dass ich heute mit einiger Aufregung, und einem ungeheuren Interesse auf das Bild der europäischen Feuersbrunst blicke, mit Neugierde jedem neuen Tag entgegensehend. Wenn ich selbst auch für den Frieden bin, so muss trotzdem die Ueberzeugung unserer Kontoristen, dass wir, die Zeitgenossen und Beobachter dieses aussergewöhnlichen Krieges, einen gewissen Stolz auf unsere Lage empfinden sollen, nicht ganz grundlos sein. Stolz bin ich nicht, aber es interessiert mich.

Nur Pawluscha ist mir ein Stein am Herzen. Freilich, noch ist alles gut, er marschiert irgendwo siegreich durch Preussen, aber wer kann für den morgigen Tag gutstehen? Und wo befände ich mich jetzt, wären seit meiner Geburt nicht fünfundvierzig, sondern zwanzig oder dreissig Jahre verflossen? Ein abkühlender Gedanke, zu dem man öfters zurückkehren muss, um sich nicht von dem übergrossen Interesse hinreissen zu lassen.


 

7. (20.) September, Sonntag.

Nun sind es schon zwei Wochen und zwei Tage, dass wir keinerlei Nachrichten von Pawluscha erhalten haben. Aus den letzten Mitteilungen konnte man darauf schliessen, dass er irgendwo in Preussen sei, wo die Truppen Samsonows eine so entsetzliche Niederlage erlitten haben. Natürlich wird Saschenka von Sorge gequält, fast jeden Tag kommt ihre Mutter, Inna Ivanowna, zu uns, und der Anblick ihres Grames scheint das ganze Haus in Trauer zu hüllen. Eben kam sie und trinkt nun mit Saschenka Kaffee im Speisezimmer, während ich hier schreibe.

Ausser ihrem jüngsten, Pawluscha, hat Inna Ivanowna noch einen Sohn, bei dem sie für gewöhnlich lebt, aber mag sein, dass sie deshalb jeden Kummer, jede Sorge zu uns bringt, weil Nikolai ein nüchterner trockener Mensch ist, oder es ihr natürlicher deucht, sich in Familienangelegenheiten an die Tochter zu wenden. Es versteht sich ja von selbst, dass ich die harmlose alte Dame von Herzen liebe, aber ich kann es nicht verhehlen, dass mir diese ewigen Besuche auf die Dauer ein wenig langweilig werden. Sie kommt mit Klagen und Tränen, früher galten sie Nikolai, der sehr schlecht mit seiner Frau lebt, nun weint sie um Pawluscha; immer hat sie irgend etwas, das ihr zum Jammern Anlass gibt. Sie bringt eine Disharmonie in unser kleines Glück hinein.

Ich liebe ja Pawluscha selbst und kann nicht ohne Schaudern daran denken, was in diesem Augenblick vielleicht geschehen mag, vielleicht wird er eben im Moment, da ich seinen Namen schreibe, getötet, oder er kann schon längst tot und begraben sein. Gestern Abend liess mich ein quälender Zwiespalt in meiner Seele lange nicht einschlafen; ich konnte mich nicht entschliessen, Pawluschas wie eines Lebenden zu gedenken, und hatte doch kein Recht, mich seiner wie eines Toten zu erinnern. Bald beklagte ich ihn, der in seinem Graben dien Gefahren ausgesetzt ist und dachte an die warmen Sachen, die wir ihm schicken müssen, – bald wollte es mir scheinen, als müsste ich bereits seinen Tod beweinen … Nichts wissen wir, nichts!

Und ich weiss, dass er, wenn auch nicht heute (irgend ein Gefühl sagt mir, dass er noch lebt), doch früher oder später bestimmt fallen wird in diesem unseligen Krieg, der mehr Aehnlichkeit mit einer komplizierten Menschenschinderei als mit dem Triumph der Gerechtigkeit hat. Wenn auch viele in unserem Kontor davon überzeugt sind, dass der Krieg im November beendet sein wird und ich mit ihnen nicht darüber streite, so erscheint mir dieser Optimismus doch ungerechtfertigt; vor Weihnachten kann kein Friede zustande kommen, das bedeutet noch fast vier Monate. Und da jeden Monat Zweihunderttausend gelötet werden, kann man sich vorstellen, wie gering Pawluschas günstige Aussichten sind.

Ich bin ein Mann mit männlicher Geisteskraft, ich kann mir das Unentrinnbare vorstellen, kann den Schlag, wenn er unsere Familie trifft, standhaft hinnehmen, aber was soll aus unserem Heim, was aus Saschenka, was aus dem Mütterchen werden, das selbst daran sterben könnte?

Gestern, in der schlaflosen Nacht, überdachte ich, wie man es dem Mütterchen mitteilen müsste, wenn es sich ereignen sollte. Und wer wird es ihr sagen? Schon der blosse Gedanke daran verursachte mir Herzklopfen. Das erste ausgesprochene Wort würde mit einem Mal die ganze Welt vor den Augen eines Menschen verwandeln, vor einer Minute war alles, war die ganze Welt noch so, nach dieser Minute ist alles, ist die ganze Welt anders. Und den ersten Ausbruch dieses Schmerzes auf sich zu nehmen, wird um so schrecklicher sein, als man vorher nicht weiss, welche Folgen dieser Schmerz haben wird … Tränen, Schreie, wie man sie noch nie gehört, vielleicht den Tod!

Eben, im Speisezimmer sah ich auf ein Stückchen Zwieback, das Mütterchen zum Munde führte und überlegte, was wohl mit diesem Zwieback geschähe, wenn es plötzlich hiesse: »Pawluscha ist gefallen!« Und ich stellte mir ganz deutlich vor, wie der halbe unglückselige Zwieback auf die Erde fiele, sah sogar den bestimmten Fleck am Fussboden, wo er liegen und wie ihn nachher Anissia, nichts wissend, aufheben und essen würde.

Dies Petrograder Herbstwetter übt einen schlechten Einfluss auf uns alle aus, die Kinder sind launisch, sogar meine gute Lidotschka verändert ihr engelhaftes Wesen und prügelt sich mit Petia; was ist sie doch für ein bezauberndes kleines Geschöpf!

 

Dasselbe Datum, am Abend.

Eben komme ich heim, spazierte drei volle Stunden an den Ufern und auf dem Newsky. Mein Gott, wie schön ist doch diese, unsere nördliche Hauptstadt, wie reich, wie mächtig! Viele lieben unser Petrograd nicht, sogar im Kontor kann man oft den dummen Streit hören: Petrograd oder Moskau. Natürlich schweige ich dazu nach meiner Gewohnheit; lohnt es sich, Leute überzeugen zu wollen, die teils blind sind, teils nicht sehen wollen? Besonders widerlich ist in dieser Beziehung unser Pole, den wir im Kontor haben, er hat ein halbes Jahr in Paris zugebracht, um zu studieren, hat dort aber bloss eine einzige verächtliche Grimasse zu schneiden erlernt. »Du Dummkopf, Du! Du solltest nur eine solche Stadt erbauen müssen!«, denke ich mir oft.

Als ich heute auf den Newsky trat, begriff ich, wie es wäre, wenn plötzlich die elektrischen Lampen ausgingen und das graue Dämmerlicht sich in tiefe Nacht verwandelte. Es ist doch erstaunlich, dass die Lampen stets, wie immer das Wetter auch ist, mag es nun frieren, regnen oder schneien, den Eindruck eines guten Wetters vortäuschen. Mit wahrhaftem Genuss begab ich mich unter die Menge, die mir heute grösser und lebhafter erschien denn sonst, und liess mich von ihr gegen den Admiralitätspalast treiben, ohne meines Weges zu achten, als flögen wir alle durch die Luft. Die ganze Zeit ergötzte ich mich an den vielen Lichtern, die grün, weiss und rötlich durch das Dunkel schimmerten. Dröhnend eilten die Tramways vorbei, man konnte ihre rasch aufeinander folgenden grünen und roten Lichter nicht zählen, zahlreiche Automobile mit leuchtenden Augen flogen über die Brücke, gegen den schwarzen Himmel hoben sich Transparente ab, die Menschenmenge flutete durcheinander, summte, fuhr in Droschken vorüber (wohl Leute, die einer Einladung Folge leisteten), Traber rasten vorbei … ich vermag den grossartigen Anblick gar nicht zu schildern.

Dieses Ufer, die hohen unerbittlich aussehenden Paläste, das schwarze Wasser des Flusses, das bloss hier und dort durch die Lichter der spärlichen Dampfer erhellt wurde, die kaum zu unterscheidende Peter-Paulsfestung, darin die Grabmäler unserer Zaren, das traurige Glockenspiel, das die Zeit verkündet … Auf den runden Granitsteinen schweigende Pärchen: so wie einst Saschenka und ich dort sassen, und ich meine Hand, unter dem Vorwand zu frieren, in ihren warmen Muff schob. Lange betrachtete ich den Bau der Schlossbrücke, und bedachte, in wie hohem Masse sie doch unsere wundervolle Hauptstadt verschönere.

Auf dem Heimweg, inmitten dieser zahllosen, von allen Seiten drängenden Menge, dachte ich darüber nach, wie weit dieser entsetzliche Krieg doch von uns entfernt und wie schwach er mit all seinem Grimm gegen das Leben und die Schöpfungen der Menschen sei. Wie unverändert, gleichgeblieben war dies alles. Die Tramways, die Droschken, auf den Steinen die Pärchen, der ganze Gang unseres Lebens … und meine damalige, anfängliche Angst schien mir lächerlicher denn je; was haben wir zu fürchten?

In Berlin, so sagt man, sei bereits die Hälfte der städtischen Beleuchtungskörper ausser Tätigkeit gesetzt worden und die Deutschen begännen schon zu hungern. Zweifellos sind sie selbst schuld an diesem mörderischen Krieg und ich als Russe sollte mich über ihr Elend freuen, aber … ich sage abermals, was ich mich nie entschliessen könnte im Kontor auszusprechen, wenn ihr Berlin ein wenig unserem Petrograd ähnelt, so ist mir darum leid. Wenn es kalt ist in der Stadt und dunkel, und wie kalt und dunkel muss es sein, werden diese Unglücklichen jetzt denken: wozu haben wir diesen verdammten Krieg begonnen, wenn das Resultat für uns nur Kälte, Dunkel und Schande ist? Nein, wie sehr ich mich auch bemühe, ich verstehe nicht und werde es nie verstehen, was die Menschen treibt, einander zu töten, welchen Nutzen es hat, welchen Sinn!

Es ist Zeit, schlafen zu gehen, eines aber schrieb ich noch nicht nieder und plaudere da von müssigen Dingen, es ist eine Karte von Pawluscha gekommen, er lebt, ist gesund. Sie kam eben im Augenblick, als Mütterchen sich anschickte, nach Hause zu gehen und bereits im Vorzimmer ihre Pelze umnahm.

Natürlich war die Freude gross, und ich teilte das Glück mit ihnen.

Und doch wie zerbrechlich ist unser menschliches Glück!

 

12. (25.) September.

Mag sein, dass es bloss mich so deucht … aber es liegt etwas wie eine grosse Täuschung in der Luft. Auf der einen Seite verflucht man den Krieg mit seinem Blutvergiessen, seiner Grausamkeit, auf der anderen reiben wir uns aus irgend einem seltsamen Wohlbehagen die Hände. Sind es unsere Siege in Galizien und die kriegerischen Ereignisse an und für sich … irgend eine Wandlung vollzieht sich in den Gehirnen; jedenfalls fliegen freudige Gerüchte durch die Zeitungen und durch unser Kontor; übertrieben freudige Gerüchte.

Natürlich sind die Belgier Helden und ihr König Albert ist eine bedeutende Persönlichkeit; seiner Krone würdig; aber schliesslich werden diese Helden doch hingeschlachtet, ja hingeschlachtet, und warum man darüber besonders frohlocken soll, verstehe ich nicht, wenn ich dies auch nicht ausspreche.

Ich habe mich ja auch nicht ferngehalten, habe selbst ein Porträt König Alberts gekauft, angesteckt von der allgemeinen Begeisterung. Aber trotzdem kann ich den Krieg nicht gutheissen. Sehe ich in den Zeitungen die riesengrossen, gleichsam zähnefletschenden Artikelüberschriften: »Jaroslaw brennt!« oder »Sandomir steht in Flammen!« so empfinde ich jedesmal in meinem Kopf irgend ein quälendes Gefühl; ähnlich einem scharfen Stoss, oder als ob mir ein Fremdkörper ins Gehirn gedrungen wäre. Es verlangt eine gewisse Phantasie, um sich das Bild vorstellen zu können: »Jaroslaw brennt«, »Sandomir steht in Flammen«. Wieder segne ich ein gütiges Geschick, demzufolge unser Petrograd so weit von all dem Entsetzen und all den Stürmen liegt.

 

Den 14. (27.) September.

Nach ernstlicher Ueberlegung habe ich beschlossen, dieses Tagebuch Andrei Wassilewitsch zum Lesen zu geben, falls er nicht getötet wird und aus dem Kriege zurückkehrt. Nie war er mit mir einer Meinung, möge er dann urteilen, ob ich recht habe oder nicht. Besonders peinlich wird es für mich sein, wenn er das liest, was ich über meine fünfundvierzig Jahre und mein Glück geschrieben habe: wenn man derlei Dinge nur so im Geheimen schreibt, sehen sie sehr nach einer Gemeinheit aus. Ich bin aber kein gemeiner Mensch und es ist etwas ganz anderes, mit jedem über die eigene Meinung zu schwätzen, oder sie zu verbergen. Ich verberge nichts, mein Leben liegt offen vor aller Augen.

Petia war einer Angina erkrankt, man musste den Arzt rufen. Unser Kasimir Wiatscheslawowitsch ist im Krieg, die andern sind erschöpft durch die unaufhörliche Pflege in den Lazaretten und wollten nicht kommen. Soll ich mich nun etwa darüber freuen und darin einen erhabenen Sinn sehen, dass ein krankes Kind ohne Hilfe gelassen wird?! Nein, ich habe und werde in diesem Punkt stets meine eigene Meinung haben.

 

17. (30.) September.

All diese Tage sind mit Entsetzen erfüllt. Man liest in den Zeitungen von der Belagerung Antwerpens durch die Deutschen: Tausend schwere Geschütze donnern gegen die Mauern, alles wird zertrümmert, geht in Flammen auf. Die Bevölkerung ist geflohen, durch die verödeten Strassen marschiert nur mehr Militär. »Ueber Antwerpen steht der ganze Himmel in Flammen«, schreibt die Zeitung, und es ist einfach unmöglich, sich vorzustellen, was das heisst: »der ganze Himmel steht in Flammen.« Und auf diesem flammenden Himmel fliegen Zeppeline und werfen Bomben hinab. Was für Menschen, nein, besser Teufel in Menschengestalt müssen es sein, die über dieser Hölle, den zerstörten, brennenden Dächern schweben und noch neues Feuer, neue Vernichtung hinunterschleudern können!

Die ganze Nacht, nachdem ich die Zeitung gelesen, flog ich im Traum über der brennenden Stadt und zu meiner Schande muss ich bekennen, dass ich ausser Furcht und Widerwillen auch noch einen unglaublichen Neid auf diese furcht- und erbarmungslosen Flieger empfand. Was sind sie, stammen sie aus einem anderen Geschlecht? Wie kommt es, dass ihre Hand nicht zittert, ihr Herz nicht beklommen wird? Was mögen sie für Augen haben, wie mögen sie sehen, wenn sie bei Nacht, aus den Zeppelins gebeugt, die von den Flammen erleuchtete, rauchende Stadt erblicken, zielen, erwägen?

Ich vermag es mir nicht vorzustellen, lese es wie man ein Märchen liest und kann im Grunde meiner Seele nicht glauben, dass es wahr sei. Und wenn es wahr ist, wozu bin ich auf der Welt, ich, der von einem müden, degenerierten Herdengeschlecht abstamme. Selbst als ich im Traume flog, suchte ich, wie in der Wirklichkeit, wo ich mich verbergen könnte, wenn etwas geschähe, sah sehnsüchtig auf die immer kleiner werdenden Stadttore hinab.

Ich erinnere mich, wie, noch lange vor dem Kriege, unser lenkbarer Ballon die Newa überflog und wie wir alle im Kontor ans Fenster stürzten, den in der Sonne Erglänzenden, durch die Luft Schwebenden bewunderten, der in dieser schwindelerregenden Höhe anhielt, und dann verschwand. Es ward uns schwindlig vor den Augen, besonders einem subalternen Beamten, dem eine bauchige Schnapsflasche zur Tasche herauslugte. Er sah hinauf, blinzelte mit den Augen, überlegte und sagte laut:

»Dort braucht man Leute, die nicht trinken!«

Und lief weg. Damals lachten wir alle, aber wenn ich mir heute den »flammenden Himmel über Antwerpen« vorstelle, frage ich mich: was braucht man da für Menschen, betrunkene oder nüchterne? Nein, ich vermag diese neuen Gestalten nicht zu begreifen, die, über den Wolken schwebend, Bomben herunterwerfen. Sie erscheinen mir wie das Zerrbild eines blutigen Despoten, der alle und alles verachtet und zu vernichten wünscht. Es gab ihrer schon einige auf dieser Welt, dieser Erbarmungslosen, die mit demselben Gleichmut Menschenköpfe und Eier zerschmetterten. Und wenn diese den noch übrig gebliebenen müden Herdentieren einer degenerierten Rasse vorgezogen werden sollen, – gut, schlachtet uns, wenn ihr wollt, – hier ist meine Kehle.

Aber alle Gedanken kehren zu Antwerpen zurück. Scheinbar gleicht diese Stadt unserem Petrograd, ist gross und schön, von Wasser durchflossen, das jetzt den Feuerschein widerspiegelt und Blut in seinen Fluten treibt, inmitten des nächtlichen Dunkels. Und der Himmel steht in Flammen! Mein Gott, mein Gott, was geschieht auf dieser Welt!

 

20. September (3. Oktober).

Antwerpen ist gefallen.

 

2. (15.) Oktober.

Feuchtes, warmes Herbstwetter, das hat ja eigentlich nichts zu bedeuten, aber in der letzten Zeit ist man in einer entsetzlichen Stimmung. Nichts erfreut einen, im Herzen empfindet man eine undurchdringliche Dunkelheit, wie bei einer Krankheit. Jeden Morgen im Tram ein widerliches Gedränge; hat sich die Menge trotz des Krieges vergrössert, oder fahren weniger Wagen? Jedesmal steigst du gepufft und beleidigt aus, als kämest du von einer Balgerei Betrunkener. Besonders ekelhaft sind diese ewigen Versammlungen und Wohltätigkeitsfeste mit ihren Fähnchen und Blumen, erwachsene Menschen sollten dergleichen zu Hause abmachen und nicht mit ihren Gefühlen auf die Strasse laufen.

Guter Gott es versteht sich doch von selbst, dass ich mein Scherflein, so weit mir dies, als arbeitendem Menschen, möglich ist, beitrage, aber mich beleidigt dieses Misstrauen gegen mein Pflicht- und Menschlichkeitsgefühl, diese unerträgliche Zudringlichkeit mit der einige, fast alle, mir in die Augen sehen, bis in die Pupillen hinein, und im Geiste meinen Beutel durchsuchen. Wenn du auf die Strasse gehst, so hast du den Eindruck, als schämten sich alle, einer den anderen anzusehen, und wollten so rasch als möglich unsichtbar werden, damit sie niemand bemerke. Ich halte übrigens auch keinen Menschen an, um, zu sehen: trägt er ein Abzeichen oder nicht; nicht wie die Anderen, die mich darob scheel anblicken.

Dies ist nicht mehr ein in den Beutel schauen, ist schon ein in die Seele blicken, was ich entschieden nicht vertragen kann und auch nicht will. Meine Seele ist meine Seele, und ich bin ihr alleiniger Herr, der Staat oder die Gesellschaft mögen, wie es jeweils angenommen, über meinen Körper verfügen – dem Gesetze gemäss – aber keiner, selbst Peter der Grosse nicht, hat das Recht, in meine Seele hineinzukriechen und dort nach seinem Ermessen Ordnung zu schaffen, sei er auch noch so mächtig! Ueberhaupt habe ich die betrübende Tatsache feststellen müssen, dass man in meine Seele eindringen und dort, wie auf dem Newsky, spazieren gehen will.

Zum Beispiel gab es gestern einen heftigen Streit zwischen Sascha und mir. Ich bin immer auf meine Menschlichkeit stolz gewesen, finde, dass sie jeder intelligente Mensch haben muss, und niemals habe ich zwischen den verschiedenen Nationen einen Unterschied gemacht, seien es nun Deutsche, Franzosen oder sogar Juden. Und nun wollen mir seit zwei Monaten die Zeitungen und meine Kollegen im Kontor weismachen, dass ich die Deutschen hassen müsse; und heute sagt mir Sascha in einer äusserst groben Art das Gleiche: »Wenn Du auch jetzt noch die Deutschen liebst, bist Du wirklich ein Schuft!«

»Erlaube,« sage ich, »habe ich denn behauptet, dass ich sie liebe? Ich kann einfach als humaner und kultivierter Mensch keinen hassen, möge er auch wer immer sein.«

Sie lacht.

»Schöne Humanität! Wäre Pawluscha nicht mein Bruder, sondern der Deine, würdest Du anders sprechen. Und ich frage mich nur, wozu Mama hierher kommt, wo man ihren Sohn so glühend liebt.«

Und im weiteren Gespräch warf sie mir die gröbsten Beleidigungen hin: dass ich ein Feigling, ein Verräter und glücklich sei, dass ich meines Alters wegen nicht in den Krieg zu gehen brauche. Und dies nach all unseren Gesprächen über den Krieg, in denen sie ebenso geurteilt hatte wie ich, dies, nachdem sie mir vor einem Tag selbst geraten hat, meines Magens wegen zum Arzt zu gehen … Eine schöne Sache, der Krieg!

Es versteht sich von selbst, dass ich kein weiteres Wort mehr zu ihr sprach, und ich werde, um sie zu strafen, zwei Tage lang schweigen; wiewohl dies offenbar nichts ändern wird.

Ueberhaupt beginnt dieser Krieg stark auf die Nerven zu wirken, und es scheint unmöglich, ihn auch nur für einen Tag aus dem Bewusstsein zu verbannen. Ich habe versucht, keine Zeitungen zu lesen, aber es geht nicht; ausserdem rufen die Zeitungsverkäufer alle Nachrichten aus, und im Kontor sitzen sie unablässig über der Landkarte, es ist geradezu entsetzlich. Hätte ich die Mittel dazu, ich führe irgendwo weit weg, aber der Ort, den ich suche, existiert wohl nicht auf der Welt. Und hier, inmitten des allgemeinen Wahnsinns, gibt es keine Möglichkeit, sich zu bewahren, seine Seele vor der ansteckenden Seuche zu retten. Ich wiederhole, dass ich diesen Krieg nicht wollte, ihn mit seinem ganzen »höheren Sinn« verurteile und verfluche. Warum bin ich trotzdem verpflichtet, jeden Tag den Gott gibt, von ihm zu wissen, über ihn und seine unmenschlichen Greuel zu lesen?

Ich bin kein gefühlloser Taugenichts, sondern, trotz aller Bescheidenheit sei es gesagt, ein anständiger, beherrschter, empfindsamer Mensch und kann nicht gleichgültig bleiben, ja all diese unerträgliche Pein verursacht mir recht schlimme Leiden.

Genügt es nicht, dass sie Tausende, Hunderttausende töten und dieses Morden als etwas Besonderes hinstellen, müssen sie überdies durch Lärm, Gebrüll und Feuer den Tod noch erschreckender für den Menschen machen, ihn zum Wahnsinn treiben, seine ganze Seele durch ihre schwindelhafte Gaukelei und das Unerwartete zerfetzen?

Was nützt es mir, auf dem Potstamskoi-Platze zu wohnen und noch nie gesehen zu haben, wie man eine Kanone abfeuert, – wenn ich dies alles trotzdem durch die Zeitungen, die Illustrationen und die Gespräche kennen lerne?

Und weshalb muss ich leiden, für wen muss dies so sein? Beurteilt mich, wie ihr wollt, aber hätte ich die nötige Kraft – mich zu verzaubern, zu besprechen, zu hypnotisieren, ich täte es ohne Zaudern und blickte kein einziges Mal nach der Seite, wo der Krieg tobt. Wem nützt es, wenn ich, der den Krieg nicht mitmacht, ebenfalls leide, Schlaf, Gesundheit und Arbeitsfähigkeit einbüsse?

Und wie kränkend, wie schmerzlich ist es, dass Sascha dies nicht versteht! Wenn sie überlegen wollte, so müsste sie doch begreifen, dass meine Gesundheit uns allen nötig ist; begänne auch ich die Deutschen und die andern Gegner zu hassen, jeden Augenblick um Pawluscha zu zittern, was würde aus mir werden? Nun ist sie wohl mit dem Gefühl erlittener Kränkung und Ungerechtigkeit eingeschlummert und ich, ich schlafe nicht und quäle mich in meiner unfreiwilligen Einsamkeit! Ach Sascha, Sascha! Glaubst Du, es ist leicht für mich? Man nennt sich einen Menschen und beneidet doch jeden Hund, der im Korridor liegt und nicht weiss, was die Herren Deutschen den Herren Russen antun und umgekehrt.

Und es gibt keinen dunklen Dachboden, keine Rumpelkammer, in der ich mich verstecken könnte, wie ich mich als Kind vor dem Stiefvater versteckt habe. Wie könntest du deinem eigenen Geist entfliehen? Ich kann nur froh sein, dass meine Kindheit vorbei ist, dass ich wenigstens im Schlaf in ein schwarzes, erholungbringendes Vergessen versinke. Aber schon im Augenblick des Erwachens möchte ich vor unerträglicher Erregung die Wände hinaufkriechen, den ganzen Körper von einer nagenden Pein durchschauert. Ja, und kaum beginne ich schläfrig zu werden, so horche ich doch wieder zu Sascha hinüber, die unruhig schläft, sich im Bette wälzt, stöhnt, die Arme bewegt. Schliesslich, sie ist eine Frau und tut mir leid.

Ueberhaupt war heute ein besonders unangenehmer Tag. Im Kontor hielt der Pole Swoliansky eine glühende Rede über das Eingreifen der Türkei in den Krieg und äusserte eine törichte Freude, weil wir die Meerengen und Par-Grad einnehmen würden. Ich sah ihn schweigend an, lächelte ein wenig und dachte: Du Dummkopf, Du! Man muss sich freuen, dass Petrograd noch unser ist, und Du machst Dir schon Sorgen um Par-Grad. Und ich stelle mir vor, dass in Konstantinopel irgend ein Türke sitzt, Ibrahim Bey, ähnlich unserem Ilia Petrowitsch, und sich gar nicht darauf freut, dass morgen sein dicker Bauch unseren Weisen als Zielscheibe dienen soll. Aber versuch einmal, so etwas auszusprechen!

In unserem Haus wird auf Kosten der Mieter ein kleines Lazarett für fünfzehn Betten errichtet, ich habe natürlich auch mein Scherflein beigetragen.

Ach Sascha, Du meine Saschenka!

 

Petrograd, den 16. (29.) Oktober.

Die Türkei hat die Feindseligkeiten, gegen die russische Armee eröffnet.

 

17. (30.) Oktober.

Wie es kam, kann ich mir noch nicht erklären, aber ich mischte mich gestern unter die Manifestanten, die die Kriegserklärung der Türkei zusammengerottet hatte. Flaggen und Bilder wurden herumgetragen, drei Stunden lang bewegte ich mich mit ihnen durch alle Strassen, sang, schrie Hurrah, zeichnete mich überhaupt aus. Held, der ich bin! Ich fürchte nur, dass dieser Held sich erkältet hat, heute schmerzen mich Hals und Nacken, es war kalt ohne Mütze. Zu Hause traf ich eine ganze Versammlung an: Nikolai Jewgenewitsch mit seiner Frau und dem Advokaten Kindjakow, von welchem sie unzertrennlich sind, Saschenkas Freundin, die Hebamme Fimotschka und noch einige, lauter verheiratete Leute.

Zur allgemeinen Freude brachte ich vier Flaschen Wein, den mir Pan Swoliansky noch im August überlassen hatte, und wir gerieten in glänzende Stimmung; natürlich nicht durch den Wein, sondern die Ereignisse hatten alle ungewöhnlich erregt. Wir stritten, schrien durcheinander, lachten über die Türken, später sangen wir, auf dem Klavier von Kindjakow begleitet, Hymnen. Ich kam erst gegen drei Uhr zur Ruhe, da ich noch Fimotschka nach Hause begleiten musste. Es ist gut, dass ich mich heute tagsüber ein wenig niederlegen kann; ich wäre sonst ganz erschöpft.

Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich an einer Volksdemonstration teilgenommen, man muss auch das kennen. Ich empfand ein eigentümliches und sonderbares Gefühl, das ewig in meinem Gedächtnis haften wird. Und wie lächerlich auch immer dies erfahrenen Menschen vorkommen wird, das Interessanteste für mich war, dass wir nicht auf dem Bürgersteig, sondern auf dem Fahrweg gingen, wo doch sonst keiner geht, und dass nicht nur die Droschken, sondern sogar die Trambahnen und Automobile uns den Weg frei liessen. Das Ganze, die Flaggen, unser lautes und selbstbewusstes Singen, der Umstand, dass wir Polizei und Militär übertrumpften, verliehen uns grosse Wichtigkeit und erweckten den Eindruck, als ob wir ebenfalls Kämpfer, eine im Innern des Landes verbliebene Armee wären. Unter den Manifestanten befanden sich auch Soldaten und einer derselben, ein alter ausgedienter Admiral, versuchte uns beizubringen, im Schritt zu gehen; manchmal gelang ihm dies, und dann ertönten unsere Lieder noch kühner und wir fühlten uns den in den Kampf ziehenden Truppen noch ähnlicher. Und wie sangen wir schön! Welch unerschütterliche Zuversicht auf den Sieg, unsere Unbesiegbarkeit und Kraft empfanden wir!

Aber dadurch, dass wir auf diese ungewohnte Weise auf dem Fahrweg umherzogen und die Stadt sich mir von einer ganz anderen Seite zeigte, bekam für mich, wie am ersten Tage der Kriegserklärung, alles eine andere Einstellung, und zusammen mit einem grossen Entzücken empfand ich aufs neue die aussergewöhnliche, mit nichts vergleichbare Furcht. Die ferne Türkei und der Krieg selbst kamen mir dermassen nahe, dass ich sie buchstäblich mit der Hand hätte greifen können, und durch diese Annäherung wurde alles Sein so unhaltbar, so hoffnungslos, dass man jeden Augenblick darauf vorbereitet war, es in die Unterwelt versinken zu sehen. Und wieder waren es nicht die Türken, die mir furchtbar erschienen, wir verachteten sie aufs tiefste, bedauerten sogar ihre Dummheit; aber etwas anderes, das ich nicht recht erklären kann, flösste mir Angst ein. Vielleicht das Gefühl der Unhaltbarkeit. Heute morgen, zu meiner Arbeit gehend, bemerkte ich, wie auf Brettern ein Bäumchen irgendwoher transportiert wurde; es sollte wohl eingepflanzt werden. Die mit Erde bedeckten Wurzeln staken in einem kleinen Korb; das Bäumchen schwankte hin und her und war wahrscheinlich neugierig, wohin man es bringe, empfand gleich uns das Gefühl der Unhaltbarkeit. Wieder in die Erde gepflanzt, wird seine Lage eine natürliche sein, es wird sich stärken und wachsen, aber so zwischen diesen zwei Erden muss es sich sehr fremd fühlen.

Ich vermag nicht mit Bestimmtheit und Ueberzeugung zu sagen, weshalb ich so laut »Hurrah« schrie – aus Entzücken oder, – aus Angst! Ich schrie gewissenhaft, aus voller Kehle, aber bei mir selbst dachte ich: »Mein Gott, mein Gott, wo ist das Ende?« Ich betrachtete die Häuser, die Leute, schaute zum Himmel hinauf, von dem ein frostiger Regen niederzurieseln begann, alles war so grau, so düster … und es war unmöglich zu begreifen, was in der Welt geschah. Diesen Himmel und diese Häuser kannte ich noch aus meiner Kindheit; aber was war nun mit ihnen vorgefallen? Schliesslich kam ich so weit, dass ich mir selbst fremd und unbekannt erschien, zum Spiegel ging, um zu sehen, wie ich den Mund aufmache und schreie, was ich für Züge habe.

Heute empfinde ich weder Entzücken noch Furcht, ich reisse den Mund weder zum Singen noch zum Schreien auf, aber in meiner Seele schmerzt eine zehrende Qual, eine fast krankhafte Melancholie. Mein Gott, wem nützt all dies? Natürlich, als Russe, der sein Vaterland liebt, kann ich nicht umhin, mich darüber zu freuen, dass die Meerengen und Part-Grad unser sein werden, aber hier, im Grunde meines Herzens, vermag ich mich eines gewissen Zweifels nicht zu erwehren: wir haben doch auch ohne Par-Grad gelebt und uns nicht zu beklagen gehabt. Dass sie aber meinen Türken Ibrahim Bey umbringen werden, darüber besteht kein Zweifel und ist es mir von ganzem Herzen um ihn leid.

Warum deucht es mir, dass dieser dicke Türke mir ähnelt, der ich selbst gar nicht dick bin, und weshalb kränkt es mich, dass man ihn, der niemanden beunruhigt, beunruhigen wird? Jetzt freilich wird er voller Wut sein, das türkische Volk ist sehr grausam, aber schliesslich kann man auch den zahmsten Hund, wenn man ihn reizt, so zur Raserei bringen, dass er auf den eigenen Herrn losfährt. Nein, was immer sie in unserem Kontor auch singen mögen, es missfällt mir immer mehr und mehr, dass Krieg ist.

Heute beging ich eine Dummheit und versuchte meiner Lidotschka zu erklären, was der Krieg sei und was die Türken seien, ich zeigte es ihr sogar auf der Landkarte. Natürlich verstand sie nichts davon. Was sie am meisten interessierte, war das viele Wasser; dann aber rief sie mich von der Zeitung weg und verlangte, ich solle zusehen, wie gut sie springen könne. Spring, Kind Gottes, spring nur und freue Dich, dass Du kein belgisches oder polnisches kleines Mädchen bist, das in den Flammen zugrunde gehen muss oder durch eine Bombe aus den Wolken getötet wird.

Es ist schmählich zu bedenken, dass man solche Kinder tötet.

 

20. Oktober (2. November).

In der Stadt geht das schreckliche Gerücht um, dass die Deutschen Warschau eingenommen haben, im Kontor sind alle ganz verzagt, und es tut einem ordentlich weh, Pan Swoliansky anzusehen.

Auch zu Hause gibt es grosse Unannehmlichkeiten. Erstens ist Mütterchen Inna Ivanowna ganz zu uns gezogen; bei Nikolai Jewgenewitsch gab es einen grossen Skandal wegen seiner Frau und des Advokaten Kindiakow, er lässt sich von ihr scheiden. Durch Saschenka erfuhr ich, dass Nikolai mit dem Revolver auf Kindiakow schoss, ihn aber zum Glück nicht traf, und die Sache sich vertuschen lässt. Es ist noch gut, dass Mütterchen jenen Abend bei uns zubrachte und sich zum Uebernachten bereden liess, so dass sie von der ganzen skandalösen Geschichte nichts sah. Ich begreife nicht, wie man sich in dieser Zeit mit Liebeshändeln und Eifersucht befassen kann, wo ja ohnehin schon in der Seele kein Fleckchen zu finden ist, das nicht wund wäre. Und dass ein intelligenter Mensch über einen anderen herfallen kann! … Empörend, schändlich! Nikolai Jewgenewitsch ist in den Kaukasus gereist, seine Frau und Kindiakow zittern vor ihm; sie will nun Schauspielerin werden oder so etwas ähnliches.

Dazu seit drei Wochen keine Nachrichten von Pawluscha, man kann sich vorstellen, was für eine Stimmung in unserem Hause herrscht. Mir erscheint diese Frist (angesichts der Langsamkeit und der Unregelmässigkeit der Feldpost) nicht sehr lang, aber Inna Ivanowna kann oder will dies nicht einsehen und macht in ihrer Niedergeschlagenheit einen schrecklichen Eindruck. Ausserdem geniert sie sich, fast könnte ich sagen, sie fürchtet sich vor mir, glaubt in ihrer wunderlichen Greiseneitelkeit kein Recht zu haben, bei uns zu wohnen, und wenn ich aus ganzem Herzen versuche, sie über Pawluschas Schicksal zu beruhigen, ihr die Unregelmässigkeit der Feldpost zu erklären, beeilt sie sich mir beizupflichten, und sieht mich dabei so erschrocken an, als wollte ich ihr m verblümten Worten klar machen, dass sie unser Haus verlassen solle. Einmal konnte ich mich doch nicht enthalten, ihr zu sagen:

»Schämen Sie sich denn nicht, Mütterchen? In was für eine Lage versetzen Sie mich? Ich will Ihnen doch nur Gutes erweisen und Sie sehen mich an, als wäre ich ein Deutscher aus Berlin.«

Dadurch habe ich sie noch mehr erschreckt … es ist zu dumm. Wenn ich nicht da bin, weint sie stundenlang, so wird mir erzählt, in meiner Gegenwart lächelt sie, scherzt sogar, wenn man auch an der verwirrten Art, in der sie Worte und Begriffe verwechselt, merkt, wie ihr zumute ist. Eben brachte sie mir zum Beispiel selbst ein Glas Kaffee und vergass den Zucker. Es ist so quälend, Dienste von einer alten Frau anzunehmen die sich nur schwer auf ihren müden Füssen fortbewegt.

Am quälendsten aber ist, mich bis in die tiefste Seele hinein peinigend, meine gute Saschenka, mit der ich einfach gar nichts mehr anzufangen weiss. Dies ist ein Thema, über das ich nur hier, in meinem Tagebuch sprechen kann. Wie ich schon schrieb, ist in unserem Hause auf Kosten der Mieter ein Lazarett errichtet worden … ich bedaure ja nicht die Auslagen, die es auch mir verursacht hat, aber seitdem der erste Zug Verwundeter eingetroffen ist, zieht es Sascha mit ihrem ganzen weichen Frauenherzen zum Lazarett hin. Tag und Nacht ist sie dort, man betrachtet sie als barmherzige Schwester, richtiger als Krankenpflegerin, obwohl sie nie einen Pflegerinnenkurs besucht hat. Es scheint dort keine Schwester zu geben.

Es ist ganz unmöglich, etwas gegen solch eine Gute, solch eine wahrhaft christliche Barmherzigkeit einzuwenden; alle Bekannten loben Saschenka, die Soldaten lieben sie, und sie selbst findet Befriedigung in ihrer Tätigkeit. Was kann ich anders als schweigen und zustimmen. Denn spräche ich, wie immer ich auch ein Recht dazu hätte, man glaubte mir nicht, verurteilte, kränkte mich mit schweren Verdächtigungen, stellte mich als einen Egoisten, als einen dünkelhaften Beamten hin. Ein Mensch, der seiner Frau verbietet, sich im Lazarett abzuplagen! Ja, aber was soll das bedeuten, wenn es der Gesellschaft behagt, dass eine Frau sich nicht mehr um ihre Familie kümmert, sondern Wunden heilt, Schäden bessert, die diese Gesellschaft selbst verschuldet hat.

Ausserdem, in aller Strenge meines Gewissens sprechend, kann ich nicht anders als bemerken, dass der Grund, der Saschenka ins Lazarett treibt, ein unmoralischer, böser und zu verurteilender ist. Es ist unmöglich, sich ganz der Barmherzigkeit hinzugeben und dabei die einem am nächsten stehenden Leute zu vernachlässigen; unmöglich, die einen zu bedauern und die anderen, nicht minder Hilflosen und Unschuldigen zu vergessen.

Sogar hier ist es mir peinlich darüber zu sprechen, aber mein Magen ist nicht recht in Ordnung, und um für die Familie arbeiten zu können, muss ich, obwohl ich kein Kranker im eigentlichen Sinne des Wortes bin, normale, gut gekochte Nahrung bekommen; unsere Anissia aber, sich selbst überlassen, gibt mir so schlecht zu essen, dass ich bereits zweimal eine Art Cholera und starke Herzbeklemmungen hatte. Freilich, was bedeutet die Magenverstimmung irgend eines Ilia Petrowitsch gegen den ungeheueren, entsetzlichen Krieg, gegen die Leiden und Qualen der Verwundeten, der Beraubten, der Verwaisten? … Man sollte sich schämen, überhaupt darüber zu sprechen; sogar der Arzt vernachlässigt jetzt derlei Krankheiten. Wenn man aber bedenkt, dass Ilia Petrowitsch ein Mensch ist wie alle anderen, dass er sein Leben lang ehrlich gearbeitet hat, nicht nur für sich selbst, auch für andere und auch jetzt noch fortfährt, die Familie und die kleinen Kinder zu erhalten, so wage ich zu behaupten, dass man auch seinem schwachen Magen Aufmerksamkeit schenken und Hilfe bringen muss.

Angenommen, dass ich selbst es mir mit meinem verachteten Magen einrichten kann, eben ein wenig hungre und dergleichen, – aber die Kinder? Es sind ihrer drei, Lidotschka, die Aelteste, ist noch nicht ganz sieben Jahre alt (ich habe spät geheiratet) und unser Kindermädchen ist ein geschwätziges, ungebildetes, unvernünftiges Geschöpf, das imstande ist, mit den besten Absichten die Kinder durch falsche Ernährung zu vergiften oder einer Erkältung auszusetzen, wie es sich unlängst mit Petia ereignete. Er hatte nasse Füsse bekommen und lag darauf drei Tage lang mit Fieber zu Bett, auch dem Jüngsten, Jenia, geht es nicht gut, er will nicht essen und ist ganz blass geworden; aber was kann ich, der ich nichts von Kindern verstehe, mit ihnen machen? Als ich Sascha von den Kindern und deren wirklich kläglichen Lage sprach, antwortete sie kurz: »Sag es dem Mütterchen, sie wird schon alles in Ordnung bringen.« Dem Mütterchen! Dieser Inna Ivanowna, die vom Winde hin- und hergeweht wird wie ein Flaumfederchen, die im Schlafen und Wachen nur ihren Pawluscha im Schützengraben sieht. Ich bestreite ja nicht, dass es eine Zeit gab, da Mütterchen im Hause arbeitete, aber wo ist die hin? … Und ist es ausserdem nicht gewissenlos, der schwachen alten Frau eine Last aufzubürden, die ihre Kräfte übersteigt. Es ist qualvoll, ihren greisenhaften, fruchtlosen Bemühungen zuzusehen. Neulich wollten die Kinder mit ihr spielen, oder fing sie selbst mit ihnen zu scherzen an; das Ende war, dass die Kleinen sie in aller Unschuld, wie junge Katzen spielend, auf den Fussboden warfen und fast erwürgten. Als ich sie aus dieser Lage befreite, weinte sie und ich sah voll Aerger auf ihre zerzausten, ungepflegten Quälgeister und schüttelte den Kopf.

All dies ist nicht gut, gar nicht gut. Saschenka handelt nicht recht, nicht nach ihrem Gewissen, nicht nach der Wahrheit. Nicht wir wollten den Krieg und haben ihn angestiftet und er hat kein Recht, dieser verfluchte Krieg, zu kommen wie ein Dieb in der Nacht, unser Heim zu zerstören und öde zu machen. Genügend gross sind die Leiden und Opfer, die wir mit Ergebenheit für ihn ertragen, wir, die wir schuldlos sind und es ist sinnlos, sich noch unter seine Füsse zu werfen, wie sich die Inder unter den Karren ihres bösen Gottes Juggernaut werfen. Ich erkenne keine bösen Götter, anerkenne den Krieg nicht, und je mehr man mich von dem »hohen Sinn« desselben überzeugen will, desto weniger Sinn finde ich in meiner Umgebung, sogar in meinem eigenen Heim. Oder hat es etwa einen Sinn, dass mein goldiges Kindchen, meine sanfte Lidotschka schon auf ihrem Kindergesichtchen Spuren der Trauer zeigt, es schmerzt mich der Anblick, wie ihre kleinen, schwachen, ungewaschenen Händchen in der Wirtschaft zugreifen, wie sie Gläser reinigt, Jenia zu waschen versucht und braucht doch selbst noch Pflege und Wartung.

Nicht gut ist es, nicht gut! Dabei wird das Leben mit jeder Stunde teurer, an Theater und Spazierfahrten ist nicht mehr zu denken, sogar mit den Tramfahrten muss man sparen, meist zu Fuss gehen; jetzt ist es schon kein Vorwand mehr, dass ich noch stets Arbeit nach Hause mitnehme und froh bin, eine solche zu bekommen. Das Klavier haben wir zurückgegeben. Verfluchter Krieg, der eben erst begonnen hat, von dem wir hier nur einen Vorgeschmack haben, und was erst dort geschieht, was die Menschen dort machen, kann man sich nicht ohne Entsetzen vorstellen.

Ich will gar nicht von den ungebildeten Klassen sprechen, aber von den Professoren, den Lehrern, Advokaten und anderen hochgebildeten Leuten, die sich bis auf den Tod bekämpfen, wie wilde Tiere übereinander herfallen, alles Menschliche zurückgelassen und verloren haben. Welchen Wert wird nach all dem die Wissenschaft und selbst die Religion haben? Früher blickte man zu so einem Professor auf und dachte: »Da ist ein Mensch, der nie Verrat üben wird, der feststeht wie eine Steinmauer, der nicht tötet, nicht stiehlt, keinen kränkt, weil er für alles Verständnis hat.« Heute aber sind diese Leute ebenso entsetzlich wie alle anderen, man kann sich nicht auf sie verlassen, die ganze Seele zittert wie ein, Hammelschwanz, wie dies eine alte russische Redensart besagt.

Ich protestiere aufs energischste gegen die Behauptung, dass wir alle an diesem Kriege mitschuldig seien, ich wie alle andern. Ihrer Meinung nach hätte ich mein Lebtag nicht essen und trinken dürfen, nur in den Strassen herumlaufen: »Nieder mit dem Krieg« schrein und den Soldaten die Waffen wegreissen müssen; es wäre nur interessant zu wissen, wer mir, ausser den Polizeileuten, zugehört hätte. Und wo sässe ich jetzt: im Gefängnis oder im Narrenhaus? Nein, ich leugne jede Schuld meinerseits, ich leide vergebens und ohne Sinn und Zweck.

Eine kleine Neuigkeit, Andrei Wassiljewitsch, mein zukünftiger Leser, erhielt mit einem Mal zwei Georgskreuze. Saschenka ist aus Freundschaft für Andrei Wassiljewitsch äusserst stolz über diese Auszeichnungen und ich wagte nur zu fragen: »Sind Sie selbst sehr zufrieden, Andrei Wassiljewitsch?«

 

2. (15.) November.

Ich muss mir erlauben, ganz aufrichtig zu sprechen.

Seit einiger Zeit sind nie Zigaretten da, so viel ich auch kaufen mag, nun raucht ausser mir niemand im Hause, folglich muss sie Sascha ins Lazarett zu den Verwundeten bringen. Ich kann sie doch nicht in meinem Tisch vor ihr verschliessen wie vor einem Dieb! Heute versuchte ich ihr einen Wink zu geben und erhielt die Antwort:

»Du brauchst selbst nicht zu rauchen, ich werde sie den Verwundeten bringen.«

Und sie sah mich dabei so seltsam an, nicht, Liebe, nein Hass, wie gegen einen Feind, blickte aus ihren lieben Augen. Es wurde mir so traurig und kalt, als sässe ich in einem wirklichen Schützengraben unter strömendem Regen und von drüben zielten die verdammten Deutschen auf mich. Natürlich werde ich morgen zweitausend Zigaretten kaufen und auf den verschiedenen Tischen liegen lassen, sie soll nicht glauben, dass ich geizig sei …, aber wie kann sie nicht begreifen, dass es sich hier wahrlich nicht um Geiz handelt? O, Saschenka, Saschenka!

 

6. (19.) November.

Ich gehe oft ins Lazarett, das jetzt von der Stadt übernommen ist und zwei Stockwerke umfasst. Mit fruchtlosem Herzleid sieht man all die Verwundeten, ohne Arme, ohne Beine, erblindet. Ein entsetzlicher Anblick, so dass man noch ein paar Stunden nachher die Zähne zusammenbeissen muss, besonders wenn »Frische«, wie die Schwester sie nennt, angekommen sind. Und nicht hinzugehen, sie nicht anzusehen, wird als Gemeinheit aufgefasst und schadet dir in der öffentlichen Meinung.

Einer der Verwundeten, ein älterer Mann aus dem Westen des Reiches, hat mich durch seine Erzählung tief erschüttert. Nach seinen Worten hatte er sich, als er einberufen wurde, fest vorgenommen, keinen Menschen zu töten und als er sich während eines Bajonettangriffes auf die deutschen Gräben stürzte, warf er, um gegen jede Versuchung gefeit zu sein, seine Waffen weg. So weit sehr schön. Als sie aber jenen verhängnisvollen Weg zurückweichen mussten, überwältigte ihn eine derartige Wut und Raserei, dass er – buchstäblich – seine Zähne in die Kehle eines Deutschen einschlug und ihm die Gurgel durchbiss. Grauenhaft! Noch schrecklicher aber ist, dass er jetzt, wenn ihn nachts die Fieberphantasien packen, wütend die Zähne in das Kopfkissen gräbt, im Wahn, dies sei der Deutsche; und er beisst und weint, beisst und weint.

Mein Gott, ist mit mir nicht auch etwas ähnliches vorgegangen? Als ich neulich in der Nacht über den Krieg und die Deutschen, die ihn angefangen haben, nachdachte, geriet ich in eine solche Verfassung, dass ich wahrhaftig einen Menschen hätte anfallen und beissen können. Saschenka verbrachte die Nacht im Lazarett und mir begann vor mir selbst zu grauen, vor Saschas leerem Bett, vor Mütterchen Ivanowna, die mehr einer Toten als einer Lebenden gleicht, vor all der Oede und Zerstörung; ich ertrug es nicht länger, kleidete mich an, dankbar, dass das Lazarett im selben Hause ist und ging zu Saschenka.

Wie sehr sich auch Sascha über mein nächtliches Erscheinen verwundern mochte, bat sie mich nur, ruhig zu sein, brachte mir sogar ein Glas Tee und lächelte mich an. Ringsum war tiefe Stille, das Lämpchen flackerte und man vernahm bloss, wie eine schwache Stimme: »Schwester, Schwester!« rief. Dann überkam der Fieberwahn jenen Verwundeten, der den Deutschen totgebissen hatte; er murmelte irgend etwas; sein ganzer Kopf war mit Verbänden umhüllt, die Finger fassten die Bettdecke, pressten sie zusammen – »er erwürgt den Feind« – flüsterte Saschenka. Sie gab ihm zu trinken, nach einiger Zeit beruhigte er sich, faltete die Hände wie ein Kind und schlief ein.

Ich blieb bis zum Morgengrauen dort und zu Hause angelangt, konnte ich lange nicht einschlafen, weinte vor Mitleid. Wenn man dieses verbundenen Kopfes gedachte, dieser bleichen Hände … wie hart ist dies alles.

Ist es denn möglich, dass Saschenka recht hat und ich aus Geiz nicht von meinen Zigaretten geben will? Mein Gott, welche Gemeinheit! Und heute Nacht, als ich auf den Verwundeten sah, wäre ich doch auf den Knien vor ihm gelegen, wenn er von mir Zigaretten gebeten, wenn dieses arme gequälte Geschöpf zu rauchen verlangt hätte! Der Mensch hat ein kurzes Gedächtnis.

 

4. (17.) Dezember.

Von Pawluscha kamen mit einem Mal vier Briefe an, er lebt, ist gesund. Ist wieder in Preussen. Natürlich sind Mütterchen, Sascha und ich voll Freude und Entzücken, aber ich rnuss doch weiter denken, wozu wäre ich sonst ein überlegender Mensch. In der Zeit, seit sein letzter Brief abging, kann Pawluscha doch schon hundert Mal verwundet oder getötet worden sein, wir wollen das nur nicht zugeben, freuen uns so über die Briefe, als wäre dieses weiche Papier mit den schwachen Bleistiftzügen Pawluscha selbst.

Unter anderem schreibt er:

»Was soll ich Dir noch sagen, liebe Saschenka? Alles ist hier ausserordentlich interessant. In der schneeigen Dämmerung blickst Du auf eine grosse Masse sich bewegender Menschen und denkst … Schnee … Felder … Deutschland … das grosse Erlebnis, der grosse Krieg, da sind sie, vor Dir und Du bist mitten darin. Ein Offizier kommt vom Posten im schweren Pelz, mit Filzstiefeln, die Kapuze auf dem Kopf, ganz mit Schnee bedeckt, der langsam schmelzend von ihm herabrieselt. Du siehst zu, wie er sich auskleidet, mit Tee erwärmt und denkst: das ist er, der grosse Krieg, das ist sie, die grosse russische Armee! Und im geringsten, allerunbedeutendsten Detail unseres Feldzuges fühlst Du die Grösse des Geschehens. Man muss zugeben, dass allüberall an unserer Front die Operationen ein langsameres Tempo einzuschlagen scheinen. Der Schnee, die Kälte erschweren alles, besonders wirken sie auf die Menschen. Vermummt und eingehüllt gegen die Kälte, kann man sich nur mühsam und langsam bewegen. Und die schwere, die ganz schwere Zeit beginnt erst. So sitze ich zum Beispiel hier mit dem Offizier, trinke Tee aus einem Glas, das sogar eine Untertasse hat, plötzlich läutet das Telephon und … alles ist mit einem Schlag verändert, wie im Traum. Die Batterie muss Werste weit zur Seite oder nach vorne geführt werden, man muss sich in die erstarrte, eisige Erde eingraben, für die Nacht eine kalte Erdhütte aufbauen, – o, wie kalt ist es jetzt in den Schützengräben! – und dort in der Feuchtigkeit mit hungrigem Magen zu schlafen versuchen. Und das ist keine Erfindung, keine Phantasie, sondern ein fast täglich sich ereignender Wechsel der Dekoration. Nichts ist sicher, nicht für eine Stunde! Uebrigens, weisst Du, Saschenka, wie von Blut bedeckter Schnee aussieht? Genau wie eine Wassermelone … seltsam!«

Im anderen Brief schreibt er, wie er auf Posten in der Nacht sich mit feuchtem Stroh bedeckte, um sich warm zu halten, wie ihn dann am Morgen der Frost überraschte und er sich mit seinem Stroh von der Erde losreissen musste. Armer Pawluscha, und wir lesen den Brief und freuen uns.

 

18. (31.) Dezember.

Das ist ein Schneegestöber heute! Schneeberge bedecken alle Gesimse, haben die Mauern fahl bemalt, die Häuser sehen aus weissen Augen wie erfrorene Fische, es erweckt den Eindruck, als stünden diese Häuser gar nicht in einer Stadt, sondern in geschlossener Reihe auf einem öden, verschneiten Feld. Ich ging an der Isaakskirche vorbei, deren Stufen und Säulen im Schnee vergraben sind, und diese Granitsäulen muteten so kalt an, dass man es möglichst unterliess, sie anzusehen. Ganz vermummte Leutchen eilen auf den Strassen hin und her, gegen den Wind, mit dem Wind, die Mehrzahl jedoch sitzt zu Hause. Und plötzlich kam mir der Gedanke, wie es wäre, wenn ich überhaupt kein Heim hätte und für immer und immer auf der Strasse bleiben müsste. Man könnte den Verstand verlieren. Und wie mag es jetzt dort sein?

Ich schreibe jetzt nie in meinem Tagebuch. Ich bin so überhäuft mit wichtiger Arbeit, dass ich nicht Zeit habe aufzuatmen. Mein Befinden lässt zu wünschen übrig, eine Müdigkeit und Schläfrigkeit plagt mich, das Herz ist mir bleischwer, ich kann mich im Bett kaum unter zwei schweren Decken erwärmen. Es ist noch gut, dass die Wohnung warm ist.

Nun steht bereits Weihnachten vor der Türe und wo ist das Ende des Krieges? An Stelle der sonst auf den Plätzen verkauften Weihnachtsbäume, marschieren und exerzieren Soldaten, wo immer man hingehen mag, überall sieht man welche. Sie scheinen ganz lustig zu sein und aus irgend einem Grunde zieht es mich zu ihnen hin. Auf dem Schlossplatz sah ich unlängst ein seltsames Schauspiel, das mir auf den ersten Blick recht lächerlich vorkam. Es exerzierten dort etwa fünfundzwanzig Mann und als ich sie aus der Ferne betrachtete, schien es mir, als stünden sie alle im hellen Sonnenlicht. Aber die Sonne schien nicht, was war das Seltsames? Ich trat näher und musste unwillkürlich über meinen Irrtum lachen, sie waren alle, bis auf den letzten Mann, rothaarig, mit roten Bärten und dieses viele Rot wirkte wirklich genau wie Sonnenstrahlen. Als ich sie aber genauer betrachtete, verstummte mein Lachen, die Bärte waren rot, aber die Gesichter alt und blass, wie abgestorben, mit leidvollen Augen, sie sahen aus wie die verkörperte Traurigkeit; es mussten Familienväter aus den Westgouvernementen sein. Später erfuhr ich, dass alle Rothaarigen einem bestimmten Regiment oder der Garde einverleibt werden.

Ich habe mehr Geld erarbeitet, um über die Feiertage Saschenka dem Lazarett zu entführen und mit ihr und den Kindern für drei Tage irgendwohin nach Finnland zu fahren. Man muss sich von den Zeitungen erholen, ich bin müde. Und es ist so dunkel in den Zimmern, wir beginnen alle fast zu erblinden und die gelben Gesichter kann man kaum mehr ansehen. Müde bin ich, müde.

 

Montag, den 22. Dezember (4. Januar).

Pawluscha ist gefallen. Mein Gott!

 

Nachts.

Pawluscha, Du mein Pawluschenka! Mein unersetzlicher kleiner Junge, mein geliebtes Bruderchen! Wir waren uns fremd, zu wenig zärtlich war ich Dir, ich habe ja nicht gewusst, dass Du sterben wirst, ich bekenne mich schuldig und weine jetzt darüber bittere Tränen. Wo sind nun Deine sanften Augen, Dein unentschlossenes Lächeln, Dein Schnurrbärtchen, über das wir alle immer lachten? Getötet, ich kann es nicht fassen, was das heisst. Getötet!

Du mein Täubchen, mein Freund! Mein Verteidiger! Nun liegst Du unter der Erde und hörst mich nicht. Du schriebst, dass Dich friere … könnte ich Dich in meine Arme nehmen, Dich fest an mich drücken, Deinen ganzen Körper erwärmen, Dir all meine Wärme geben. Du mein kleiner Junge, mein einziger! Und Du wirst nicht wissen, wie dieser Krieg, der Dich so interessierte, endigt …

Pawluscha! Pawluschenka.



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