Alexis / Hitzig
Der neue Pitaval - Band 9
Alexis / Hitzig

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Der Sohn des Bettlers

1655

Der Notar Lancelot Le Moine beim Chatelet-Gericht zu Paris, ein begüterter Mann, hatte aus eigener Praxis erlernt, daß lange Vormundschaften das Vermögen reicher Mündel nicht vermehren. Er hatte deshalb in seinem Testament verordnet, daß seine Gattin Jeanne, geborene Vacherot, die alleinige Vormünderin seiner Kinder für den Fall seines Todes vor deren Volljährigkeit werden solle. Er verlange durchaus keinen andern Vormund, weil er sonst gewiß sei, daß seine armen Kinder um das Ihrige kommen würden.

Er starb 1649, und das Chatelet vollzog seinen Willen, die Witwe ward Vormünderin der drei minorennen Söhne, Pierre, Jacques und Louis.

Der mittlere dieser Knaben, Jacques, welcher die Hauptperson dieses Rechtsfalles geworden, den Pitaval uns berichtet, oder dessen Existenz wenigstens dazu Anlaß gegeben, war 1644 im September geboren und am 11. des Monats in der Normandie, im Kirchspiel von Bois-Hieraulme in der dortigen Kirche St. Sulpice getauft worden.

Der selige Notar mußte noch während seiner Lebzeiten recht wohl für seine Erben gesorgt haben, denn er hatte viele kleine Güter, die in den Provinzen zerstreut lagen. Die meisten fanden sich in der Nähe von Vernon, wohin die Witwe im September 1654, diesmal nur mit ihrem jüngsten Sohne Louis, eine Reise unternahm. Die andern beiden, Pierre, damals 14 Jahre, und Jacques, 10 Jahre alt, blieben in Paris zurück unter der Aufsicht einer Magd und ihrer Großmutter.

Die Aufsicht war entweder nicht gut oder, was wahrscheinlicher, die Knaben schlecht erzogene Wildfänge. Beide, Pierre und Jacques, entliefen eines Tages aus dem Hause mit noch zwei andern Bürgersöhnen und kehrten nicht wieder.

Dem Anschein nach war die Angst und Bekümmerniß der Mutter, als sie davon erfuhr, sehr groß, und sie sagte wenigstens vor den Leuten, daß sie sich alle mögliche Mühe gebe, ihren Kindern nachzuforschen. Die beiden andern Knaben wurden zwar nach einiger Zeit ihrem Vater, dem Bürger Coutard, wieder zurückgebracht, die beiden Le Moine's aber nicht; man erfährt nicht, ob jene über diese gar keine Auskunft geben können, welche zu einer Entdeckung oder Nachforschung von Nutzen gewesen wäre.

Madame Le Moine begegnete dagegen eines Tages einem in der Gegend wohlbekannten Bettler, der ein Kind bei sich hatte. Die Züge desselben fielen der Witwe auf. Es konnte ihr Pierre sein; er war von der Größe, dem Alter, er glich ihm auf den ersten Blick. Aber bei näherer Betrachtung sagte Madame Le Moine, sie müsse sich doch geirrt haben; es sei nicht ihr Pierre. Aber sie trug dem Bettler auf, da er doch weit umher streife, möge er auf zwei Knaben Acht haben, die so und so aussähen, und wenn er ihnen begegne, sie ihrer Mutter zurückführen oder ihr Nachricht von ihrem Aufenthaltsorte geben.

Mehren fiel es indeß auf, wenigstens nachher, daß die so bekümmerte Mutter die Nachforschungen nach ihren beiden verlorenen Söhnen nur unter der Hand betrieb, und daß sie erst volle acht Monate, im Jahre 1655, nach deren Verschwinden der Obrigkeit davon Anzeige machte, und da erst darauf antrug, daß gerichtliche Nachforschungen nach den Verlorenen angestellt würden. Nachdem so viel Zeit versäumt worden, fielen diese begreiflicherweise unglücklich aus. So viel Personen auch vernommen wurden, keiner wußte etwas anzugeben, was nur auf eine Spur leitete.

Im Juli 1655 war die betrübte Frau, an deren wahrer Betrübniß übrigens schon einige zweifeln mochten, abermals in Vernon. Am 25. dieses Monats hörte sie in der dortigen Pfarrkirche die Messe, als derselbe Bettler sich mit demselben Kinde in der Kirche zeigte. Mehre Kirchgänger sahen, wie Madame Le Moine ihm winkte, wie sie einige heimliche Worte mit ihm redete und dann ihm etwas in die Hand drückte.

Einigen Frauen fiel dies sehr auf. Der Knabe sah ja ganz aus wie der entlaufene oder verlorene Jacques Le Moine. Eine flüsterte es der anderen zu, die Andacht in der Kirche war, wenigstens für den weiblichen Theil der Besuchenden, verloren. Noch ehe der Gottesdienst zu Ende war, traten einige Wohlmeinende an die Witwe heran und sagten ihr geradezu ins Gesicht: das sei ihr Sohn. Die reiche Notarsfrau erwiderte mit einer merkwürdigen Ruhe: ihr Sohn hätte eine kürzere Nase gehabt.

So kaltblütig ihren Sohn zu verleugnen! Mit Blitzesschnelle hatte alle die Ueberzeugung durchdrungen: er ist es, der Verlorene, der anscheinend von der Mutter mit solchem Eifer Gesuchte, nach dem sie aber im Ernst erst nach acht Monaten suchen lassen. Sie hatte ihn dem Bettler verkauft, der Anblick des Bettlers hatte sie erschreckt, sie hatte ihn gerufen, ihm seine Unverschämtheit heimlich vorgehalten, ihn mit Geld befriedigt und wieder fortgeschickt!

Von den Frauen war die Kunde auf die Männer übergegangen. Als der Gesang schwieg, die Glocken verhallt waren, war jeder unterrichtet, von der Wahrheit durchdrungen. Alles stürzte nach dem Ausgang, wo der Bettler noch sichtbar war. Fünf oder sechs Leute ergriffen ihn und sagten ihm geradezu ins Gesicht: das Kind sei ein gestohlenes, es sei der Sohn des verstorbenen Le Moine. Man hatte ihm den Knaben schon fortgerissen, man drohte und schimpfte, als ein Bettelweib hinzukam und die allgemeine Aufregung noch vergrößerte, indem sie laut erklärte: sie kenne den Mann, sie sei vordem einmal mit ihm nach Paris gegangen. Da, als sie an die und die Straße gekommen, habe sein Kind nicht weiter gewollt, und als der Bettler es zornig angeschnauzt, ihm zitternd zugeflüstert: »In der Straße wohnt ja meine Mutter Vacherot!«

Der Lärm ward immer größer. Man drängte den Bettler, sich zu erklären, ob er behaupte, der wirkliche Vater des Kindes zu sein. Er antwortete: »Wer es ernährt, der ist sein Vater. Ich habe das Kind aus einem Hospital, wo seine Mutter gestorben ist, zu mir genommen, und hab' ihm versprochen, daß ich's niemals verlassen will.«

Man ließ den Bettler damals noch mit sammt dem Kinde gehen, obwol diese ausweichende Antwort das Mistrauen und den Argwohn eigentlich nur noch mehr steigerte. Aber inzwischen verbreitete, sich die Nachricht von dem Vorfall durch die ganze kleine Stadt. Eine solche unnatürliche, eine solche Rabenmutter lebte in ihrer Mitte! Zwei Kinder wollte sie verloren haben und gab vor, um sie zu trauern, während sie dieselben einem Bettler verkauft, um damit außer Landes zu gehen. Daher ihr Schreck, als sie ihn und das eine Kind wiedersah, daher hatte sie ihn zu sich herangewinkt, sie, die stolze Frau, den elenden Vagabunden, und in der Kirche, und ihn aufs Neue mit Geld bestochen zum Schweigen und zum Entfliehen. Man trug zusammen, man combinirte. O, sie war von je an eine schlechte Frau gewesen, und hartherzig und geizig; darum ihrer eigenen Kinder sich entschlagen, sie in Kummer, Elend und Verworfenheit ausstoßen; und eine Frau ohne alles Herz, denn als sie das Kind wiedersah, keine Regung mütterlicher Theilnahme, Eiskälte und schlaue Berechnung ihr ganzes Wesen! Die Natur empörte sich dagegen, wer ein menschlich Herz in Vernon hatte, mußte gegen sie Partei nehmen und das Seinige thun, daß eine solche Rabenmutter gestraft werde.

Der Bettler hatte die unerhörte Frechheit, nach jenem Auftritte in der Kirche nicht zu entfliehen. Er zeigte sich, und mit dem Knaben, am Nachmittage wieder am Thore vor Boissi. Aufs Neue umringte ihn hier ein Volkshaufe. Man betrachtete den armen Knaben, der anscheinend so harmlos, unbefangen neben ihm stand, aber jeder, der einst die Le Moine'schen Kinder gesehen, wollte den zweiten Knaben in ihm erkennen.

Da erschien auch der königliche Procurator des Ortes unter dem Haufen. Er legte dem Bettler und dem Knaben Fragen vor, deren Beantwortung seinen Verdacht nicht entfernte. Der Bettler versprach und verwirrte sich. Bald wollte er von Perigord, bald von Bapeaume gebürtig sein. Das Kind spielte etwas entfernt von seinem angeblichen Vater. Während dieser durch andere Neugierige beschäftigt wurde, zog der Procurator den Knaben bei Seite. Die Antworten desselben bestätigten nur immer mehr seinen Verdacht. Befragt, ob er unter den Dörfern, die er besucht, auch Bois-Hieraulme kenne? entgegnete das Kind: o ja, da sei er oft gewesen und hätte dort Bekanntschaften. Es war das Dorf, in welchem Jacques Le Moine geboren war.

Der Procurator brauchte eine List, um der Sache auf den Grund zu kommen. Der Knabe hatte einige Münzen, wahrscheinlich das nur eben erst gesammelte Almosen, in der Hand. Der Procurator ließ durch einen der Umstehenden dieses Geld dem Bettler überbringen, mit der Meldung: der kleine Le Moine wolle ihn verlassen und zu seinen Verwandten nach Bois-Hieraulme gehen. Kaum hatte das der Bettler gehört, so drängte er sich durch das Volk und wollte fortlaufen.

Dies war ein deutliches Zeichen seiner Schuld, er ward aufgehalten, und der Procurator ließ ihn vor die Gerichtsobrigkeit bringen. Der erste Beamte, der Lieutenant-Général war gerade abwesend, sein Stellvertreter, der Particulier-Lieutenant, der, beiläufig bemerkt, mit dem verstorbenen Lancelot Le Moine leiblich Geschwisterkind war, vernahm auch auf der Stelle diesen verdächtigen Vagabunden, von dessen Schuldbarkeit damals in ganz Vernon schon jedermann überzeugt war.

Der Bettler hieß Jean Monrousseau. Er leugnete Stein und Bein, daß er das Kind gestohlen habe, daß es das Kind eines anderen sei, vielmehr wäre es sein eheleibliches, und er war auch nicht verlegen, eine ziemlich zusammenhängende Geschichtserzählung seines Lebens zu liefern und dieselbe durch einzelne Zeugnisse zu unterstützen.

Er sei der Sohn eines Steinschneiders aus Limousin, hätte in seiner Jugend das Vieh gehütet und sei darauf unter die Soldaten gegangen. In der Garnison zu Bapeaume lernte er Jeanne Blond kennen, die Witwe eines Schuhmachers, und ward endlich mit ihr zu Arras, nachdem man ihnen anderwärts wegen mangelnden Todtenscheines des ersten Mannes Schwierigkeiten gemacht, durch den Pfarrer Hocquet zu St. Nicolas daselbst am 27. Mai 1642 getraut. Später gebar ihm die Frau zu Mondidier, wo sie sich niedergelassen, Zwillinge; beide starben aber schon wenige Monate nach der Geburt, und die Aeltern wandten sich nach Neufville unfern von Mondidier, wo sie sich von Tagelöhnerarbeit in Feld und Garten ernährten.

Im Jahre 1646 kam sein Weib eben wieder mit Zwillingen nieder. Der Knabe Louis sei nun das Kind, welches man hier mit Gewalt zum Sohne der Madame de Moine machen wolle. Beide Kinder machten seiner Frau so vollauf zu schaffen, daß sie ihrerseits nicht mehr für Geld arbeiten konnte. Da er mit seinem Verdienst nicht die ganze Familie ernähren können, hätten sie sich entschlossen, als Bettler ihr Brot zu verdienen. Mit Zeugnissen ihrer Armuth und Ehrlichkeit hätten sie darauf Neufville verlassen und wären bettelnd umhergezogen. Zuerst geschah es im Sprengel von Neufville; von da wandten sie sich nach dem Gebiet von Limousin. Dort starb das Mädchen. Da nun auch der Knabe inzwischen sieben Jahre alt geworden und keine Wartung mehr bedurfte, entschlossen sie sich, nach Neufville zurückzukehren und wieder zu arbeiten. Aber bei der Durchreise durch Tours starb die Frau am 10. Juni 1654 im dortigen Hospital. Der Bettler kehrte nun nur mit seinem Sohne nach Neufville zurück und ergriff hier wieder das Bettlergeschäft, weil die Verhältnisse daselbst sich inzwischen geändert und in Folge des Friedens, der viele entlassene Soldaten zu Tagelöhnern gemacht, keine Arbeit mehr für ihn zu finden gewesen. Auf eine kurze Zeit ging er nach Paris, von dort, um bei der Ernte Arbeit zu suchen, nach Vernon, wo ihm denn das begegnete, was alle wissen und woran er nicht Schuld sei.

Monrousseau belegte alle diese Aussagen mit verschiedenen Papieren, als: einem Attest des Pfarrers und sieben der angesehensten Einwohner von Neufville, des Inhaltes: daß Jean Monrousseau und sein Eheweib, Jeanne Blond, sich der Kriegsunruhen halber nach Neufville begeben, dort die Frau mit Zwillingen niedergekommen sei, daß beide in die äußerste Armuth gerathen, was sie genöthigt, zur bischöflichen Gewalt und Gnade ihre Zuflucht zn nehmen und um die Erlaubniß zu bitten, im Sprengel von Beauvais (an dessen Bischof das Attest adressirt war vom 1. April 1647) Almosen zu sammeln. – Ein zweites Attest vom 4. April desselben Jahres, ausgestellt vom Pfarrer und dem königlichen Richter von Neufville, bezeugte, daß beide genannte Eheleute durch einen Trauschein des Pfarrer Hocquet zu Arras vom 31. Mai 1643 sich als daselbst getraut hinlänglich legitimirt hätten. Zwar sei in besagtem Trauschein Monrousseau nicht Jean, wie er heiße, sondern Philipp genannt, was aber auf einem Irrthum beruhen möge, den aufzuklären er selbst keinen Anlaß gefunden, sintemalen der besagte Trauschein in lateinischer Sprache abgefaßt sei. Uebrigens hätten Mann und Frau sich drei Jahre in Neufville aufgehalten und daselbst wahrscheinlich als ehrliche Leute gelebt, da niemand gegen sie Klage geführt. Nachdem sie ihre Zwillinge, einen Knaben und ein Mädchen, taufen lassen, hätten sie in allen Ehren ihren Abzug genommen. – Ein drittes Attest war der Todtenschein der am 10. Juni 1654 zu Tours im Hospital gestorbenen Frau.

Die Papiere schienen dem Particulier-Lieutenant in Richtigkeit; aber auf die vielen, ihm vorgelegten Fragen gab der Bettler nicht so klare Antworten, als jemand, der von der Richtigkeit seiner Angabe überzeugt ist und nichts zu besorgen hat. Der Beamte schien vielmehr von seiner Schuld vollkommen überzeugt, denn er ließ ihn nach dem Verhör sofort in Gefängniß setzen und – schließen. Zugleich verordnete er, daß der Knabe, der, angebliche Louis Monrousseau, einstweilen ins Hospital zur Verwahrung gebracht werden solle.

Alles dies geschah am 25. Juli 1655, aber der stellvertretende Beamte verfügte nur mündlich und ließ auch weder den Namen des Gefangenen, noch die Ursache seiner Verhaftung in das Gefangenregister eintragen.

Es findet sich nun unter den Acten des Gerichts von Vernon eine vom 27. Juli 1655 datirte Schrift, eingereicht von dem Procurator Jean de Moine zu Vernon, worin derselbe, als Verwandter des verstorbenen Lancelot de Moine und des entführten Kindes ausführt: daß Jeanne Vacherot, Witwe seines verstorbenen Vetters Lancelot, als eine unnatürliche, pflichtvergessene Mutter erscheine. Denn, nachdem zwei ihrer Kinder ihr angeblich fortgelaufen wären, habe sie sich keine Mühe gegeben, sie wieder aufzusuchen. Nachdem einer der Knaben ihr von ungefähr wieder zu Gesicht gekommen, habe sie ihn nicht für ihr Kind anerkennen wollen, obgleich bei allen, welche den entlaufenenen kleinen Jacques gekannt und besagten Bettlerknaben zu Gesicht bekommen, gar kein Zweifel sei, daß sie beide eine und dieselbe Person wären. Er trug deshalb darauf an, daß zum Beweise dafür Zeugen abgehört würden; verwahrte sich aber zugleich, daß er alles dieses nur aus allgemeiner Menschen- und Verwandtenpflicht angezeigt habe, nicht aber als Ankläger gelten, nach weniger, bei einen schlimmen Ausfall, für die Kosten einstehen wolle.

Hiernach mußte die Sache fiscalisch aufgenommen werden und der erwähnte Procurator, welcher den Bettler am Thore von Boissi inmitten des zusammengelaufenen Menschenhaufens bereits inquirirt hatte, stellte nun in seinem Namen den Antrag durch Abhörung der Zeugen über die angegebenen Umstände. Späterhin wurde bemerklich gemacht, daß dieser Procurator in seinem Requisitionsschreiben vorgab, als habe er erst durch die Eingabe des Le Moine von dem ganzen Vorgange Kenntniß erhalten, während er doch bei dem Vorfall am Thore nicht allein zugegen, sondern sehr thätig dabei handelnd gewesen.

Inzwischen war die eigentliche Gerichtsobrigkeit, der Lieutenant-Général, zurückgekehrt, und gab auf das fiscalische Ansuchen Befehl zur Vernehmung der Zeugen, aber auch zugleich zu der nochmaligen des Bettlers und – der Witwe Vacherot.

Der Bettler verwickelte sich sogleich in Widersprüche. Warum war er im Trauscheine Philipp genannt worden? – Er habe, als er von Bapeaume nach Arras gegangen, den Namen Philipp angenommen. Weshalb? – Er wußte keinen Grund. Endlich entsann er sich, er habe einer Frau den Auftrag gegeben, den Trauschein ihm zu lösen, und die möchte sich geirrt haben. –

Befragt: wie viel Kinder er gehabt, sagte er mit Bestimmtheit nur zwei, die genannten Zwillinge, von denen das Mädchen in Issudel, im Limousinischen, gestorben. Aber er mußte sich später entsinnen und einräumen, wie es schon in seiner früheren Angabe bemerkt ist, daß seine Frau zwei mal mit Zwillingen niedergekommen, er also im Ganzen vier Kinder gehabt habe.

Hierüber gerieth er in neue Widersprüche. War der überlebende Knabe aus der ersten Niederkunft seiner Frau zu Mondidier oder aus der zweiten zu Neufville? – Aus der ersten, war seine Antwort. – Aber beide Zwillinge der mondidierschen Geburt sollten nach seiner ersten Angabe bald nachher daselbst gestorben sein. Ueberdies hatte er den Knaben aus der ersten Niederkunft früher Jean genannt, das Mädchen Renate; den lebenden Knaben aber nannte er Louis. – Nun erklärte er wieder, der lebende sei von der zweiten Niederkunft und heiße wirklich Louis. Aber inzwischen hatte er bei einem andern Verhör gesagt, der Knabe aus der zweiten Niederkunft sei schon sechs Monate nach der Geburt gestorben. Daran erinnert, fiel er wieder in die andere Behauptung zurück: ja, dem sei auch so, und das Kind, das man ihm streitig machen wolle, wäre aus den ersten Wochen seiner Frau. Auf diese gehäuften Wiedersprüche aufmerksam gemacht, wußte er endlich nicht aus und ein.

Ebenso widersprach er sich in Bezug seiner Bekanntschaft mit der Witwe Vacherot. Bald hatte er sie nur ein einziges mal in Paris auf dem Greveplatze gesehen, bald zwei mal auf dem Greveplatze und im Hospital; dann räumte er ein, es sei dreimal geschehen, und seine Erinnerung ging sehr weit zurück.

So widersprechende, so schwankende Behauptungen konnten nur als Beweis eines bösen Gewissens gelten, als Versuche, die Wahrheit zu trüben und den Richter auf falsche Schlüsse zu bringen.

Der Richter befahl hierauf, die Witwe Le Moine in sein Haus zu führen, zur Confrontation mit dem Bettler. Auch dies geschah in willkürlicher Art, durch mündlichen Befehl und ohne Beachtung der gesetzlichen Formalitäten. Sie ward von den Gerichtsdienern aus ihrem Hause abgeholt und zu Fuß öffentlich durch die Stadt geführt. Der Pöbel lief nach und überhäufte die Rabenmutter mit Schmähungen und Schimpfreden. Man brachte sie zwar in eine besondere Stube, aber es wurden zugleich Wachen vor die Thür gestellt, als habe man es mit einer gefährlichen, der Flucht verdächtigen Missethäterin zu thun.

Bei ihrem Verhör leugnete sie nicht ab, daß sie den Bettler kenne, aber sie wollte ihn früher nur ein mal, und zwar an den Stufen des Hospitals zu Paris gesehen haben, wo ihr die Züge seines Kleinen aufgefallen wären. Dies stimmte wenig mit den Aussagen des Bettlers. Ueberhaupt verfuhr man auch in diesem Verhör tumultuarisch und versäumte von Gerichtswegen die nöthige Vorsicht, den Knaben zuvor abzuschließen, damit er von allen Einflüsterungen beider Theile fern gehalten, seine eigenen, wahrhaften Erinnerungen aussage, die, wenigstens als Instruction dienlich, die weiteren Fragen an die Hand gegeben hätten. In der Hitze der Entrüstung wollte man sogleich auf die Entdeckung losgehen, und hoffte, daß die Stimme der Natur das Ihrige thun werde.

Deshalb ward plötzlich der Knabe in das Zimmer gelassen. Sobald er die Witwe sah, rannte er auf sie zu und nannte sie seine liebe Mama! Aber Jeanne Vacherot machte keine Bewegung und verzog keine Miene. Sie erklärte, sie wisse nicht, was man von ihr wolle; der Knabe sei nicht ihr Sohn und ginge sie nichts an.

Die Nachricht davon vergrößerte im Publicum nur noch die ungünstige Meinung, ja die Erbitterung gegen die Witwe, die vielleicht schon vordem durch ein unvorsichtiges Benehmen den Neid oder die Mißgunst in der kleinen Stadt auf sich gezogen hatte. Das Gericht wagte zwar nicht, nach diesen vorangegangenen Ermittelungen sie festzusetzen, aber eben so wenig vor dem aufgebrachten Volke, sie auf der Stelle freizulassen. Dies geschah erst heimlich in der Nacht, und Jeanne Vacherot benutzte noch dieselbe Nacht, um in größter Stille aus Vernon nach Paris zu entfliehen. Kaum war aber am Morgen in der Stadt ihre Flucht bekannt, als das Volk in äußerster Wuth nach dem Hause zog, welches sie bewohnte, die Fenster ihrer Wohnung einwarf und sich Excessen überließ, denen die Obrigkeit kaum zu steuern vermochte.

Und das gerichtliche Verfahren, welches sofort begann, lieferte solche Resultate, daß man nicht anders glauben konnte, als daß das Volk zu Vernon einen guten Grund zu seiner Wuth habe. Einundzwanzig Zeugen wurden vernommen, von denen folgende Aussagen die wichtigsten waren.

Die eigene Dienstmagd der Witwe zu Vernon erklärte: nach ihrer besten Ueberzeugung sei das Kind des Bettlers der Sohn ihrer Frau. Sie mußte den Knaben kennen; sie hatte ihn drei Jahre gewartet.

Ein anderes Dienstmädchen, zwar nicht in Diensten der Le Moine, aber im selben Hause, in welchem diese sieben oder acht Jahre gewohnt, betheuerte: der Knabe den man ihr vorstelle, sei wirklich der junge Le Moine, den sie so oft gesehen. Das seien seine Haare, seine Augen, sein Gesicht, seine Stimme. An dem Tage, wo der Lärm mit dem Bettler entstand, hatte man, das Kind in das Haus, wo sie diente, gebracht, um zu versuchen, ob es sich da zurechtfinde. Sie fragte ihn: Wie heißt du. Kleiner? Er antwortete: Jacques! und fügte hinzu, daß sie Marie heiße. Sie führte ihn ins obere Stockwerk hinauf und fragte ihn, ob er wol noch das Bett zu finden wisse, worin er sonst geschlafen? Und ohne Anstand lief er in eine Kammer, worin zwei Betten standen, und zeigte auf das Bett, in welchem er wirklich geschlafen. Da hatte jemand von den vielen, die mit ins Haus gestürmt waren, zufällig bemerkt, der arme Knabe habe noch einen Bruder, der Loiset (Louis) heiße. Der Knabe, der es gehört, unterbrach den Redenden und sagte: »Mein Bruder heißt Loiot.« - So wurde wirklich der jüngste der drei Brüder in seiner Kindheit genannt.

Drei Bürger von Vernon versicherten: sie wollten darauf sterben, der Betteljunge sei der kleine Le Moine. Sie und ihre Kinder, mit denen er so oft gespielt, hätten ihn auf den ersten Blick erkannt. Man ließ die Kinder der Bürger kommen, und - der Knabe wußte jedes derselben bei seinem rechten Namen zu nennen.

Die Witwe des Advocaten Le Maitre war Tages vorher im Hospital gewesen, wo der Knabe untergebracht worden. Kaum hatte er sie zu Gesicht bekommen, so rief er: »Ei da ist ja Madame Le Maitre.« Sie traute der Sache doch nicht recht und stellte ihm Fragen nach diesem und jenem, die er aber alle richtig beantwortete. So wußte er, daß sie neben Madame Lecoq, der jetzigen Wirthin der Madame Le Moine, wohne, daß er oft zu ihr hinuntergekommen und sich von ihr ein Buch geholt, wenn er zu Herrn Plessis in die Schule gehen wollen.

Ein Schneider aus der Stadt erkannte ihn ebenfalls. Er hatte dem Sohne der Witwe ehedem ein Jäckchen machen müssen. Der Knabe erinnerte sich dessen auch sehr wohl; ja er wußte noch, daß an dem Jäckchen Aermel mit Bändern gewesen. Auch auf andere Fragen des Schneiders hatte er richtig geantwortet.

Jene Madame Lecoq, die jetzige Wirthin der Witwe und überdem ihre Verwandte, hatte der Knabe, sobald er sie zu Gesicht bekommen, Madame Lecoq genannt und sie gefragt, was ihr kleiner Sohn Jacques mache. Dabei erinnerte er sie daran, daß Jacques einmal in eine Lohgrube gefallen war und er hatte ihm herausgeholfen.

Ein Wundarzt in Vernon hatte den Sohn der Witwe einst von einer Wunde auf der Stirn geheilt. Im Bettlerknaben erkannte er das damals von ihm geheilte Kind wieder; auch bemerkte er auf dessen Stirn noch die Narbe jener Wunde.

Am bedeutendsten war die Aussage eines gewissen Robert Laurier, eines Bekannten der Familie Le Moine. Er war mit Claude Le Moine, dem Bruder des verstorbenen Lancelot Le Moine, ins Hospital gegangen. Da hatte der Betteljunge den Claude sogleich als seinen Oheim erkannt und auch ihn beim Namen genannt und gesagt, er wisse wohl, daß er ein Nachbar der Madame Lecoq sei. Ja er hatte sich darin erinnert, daß Robert ihn eines Tages züchtigen wollen, weil er auf dessen.# Hofe gespielt, und daß seine Tochter gewöhnlich nur La Roussel genannt werde. Alle diese und noch mehre Anführungen hatten Robert Laurier so davon überzeugt, daß der Bettelknabe der kleine Le Moine sei, daß er sich erbot, des armen Wesens sich anzunehmen und es aufzuziehen, wenn dessen Mutter in ihrer Weigerung verharre, es anzuerkennen.

Auch zwei nahe Verwandtinnen der Witwe erklärten: der kleine Bettler trage alle Züge des entlaufenen Jacques, bis auf die Sommerflecken, welche ein allgemeines, ja erbliches Kennzeichen der Familie wären.

Der Richter wollte sich nun selbst über diese von den Zeugen gemachten Aussagen versichern. Er ging mit dem Kinde und in Begleitung des Actuars aus. Sie kamen an das Haus der Witwe Lecoq. Das Kind zeigte gleich darauf, ging hinein, redete die Wirthin als Madame Lecoq an, zeigte die Kammer, wo seine Mutter geschlafen, - wo sein Bette gestanden, den Stall, in welchem Robert Laurier's Pferd stehe; ja es wußte unter mehren Lohgruben die anzugeben, in welche der kleine Sohn der Lecoq gefallen war und wo es ihm herausgeholfen.

Der Richter ließ ihm nun einen ganzen Haufen Kinder seines Alters vorführen, aber er suchte sogleich den kleinen Jacques Lecoq, seinen Spielkameraden, heraus und nannte ihn bei Namen. Noch mehr, im Hofe zeigte er auf einen Ort und sagte, da hätte ehedem ein kleiner, künstlicher Fels gestanden, aus dem Wasser gesprungen wäre. Die Hausbewohner schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, denn dem war so gewesen.

In dem Dorfe Bois-Hieraulme war Jacques Le Moine geboren und getauft. Der Bettelknabe hatte oft versichert, er wisse da wohl Bescheid und kenne da viele Leuten Auch das mußte durch den Augenschein geprüft werden. Der Richter mit dem Actuar fuhren nach dem Dorfe und nahmen den Knaben mit. Das Kind wußte nicht nur alle Wege, sondern es wußte auch die Stellen anzugeben, wo ehedem Brücken gewesen waren und von denen man jetzt nichts mehr sehen konnte. Es gab den Namen eines Klosters an, welches es unterwegs sah. Es wußte den Weg in das Schloß zu Bois-Hieraulme, wo die Pächterin und viele Kinder es sogleich erkannten. Auch das Gut seiner Mutter fand es ohne Schwierigkeit, ging hinein, und der Pächter fand gleich in ihm einen alten Bekannten. Es ging in das Pfarrhaus, kannte den Pfarrer, und dieser versicherte ebenfalls, daß es ohnstreitig der Sohn des verstorbenen Lancelot Le Moine sei. Fünf Einwohner und alle Weiber und Mädchen des Dorfes gaben die nämliche Versicherung. Man wollte es auf die Probe stellen und sagte, der gegenwärtige Priester wäre der Vicar und nicht der Pfarrer, allein es blieb dabei, daß er der Pfarrer sei. Der Edelmann von Bois-Hieraulme und sein Bruder hielten das Kind ebenfalls für echt; der erste fragte es, ob sein gegenwärtiger Bruder nicht an einem Theil seines Leibes einen Schaden gehabt hätte. Zuerst antwortete es nein, faßte sich aber doch sogleich und sagte, ja an einem Finger der linken Hand, und dieses war die Wahrheit.

Und der Bettler Monrousseau hatte doch behauptet, daß weder er noch sein Sohn jemals in dem Dorfe gewesen seien! Man verhörte ihn noch einmal, man stellte ihm seine Widersprüche vor; aber weder vernünftige Vorstellungen noch Drohungen vermochten ihn zu einem Bekenntniß zu bringen. Der Knabe wäre sein Sohn und er habe niemals ein fremdes Kind gestohlen, am wenigsten das der Witwe Le Moine, das er nie mit Augen gesehen; dabei verharrte er.

Das Gericht von Vernon erließ ein Arret des Inhaltes: daß die Witwe Le Moine zum Verhör zu citiren sei (also nach unserer Sprache, daß eine Untersuchung gegen dieselbe zu eröffnen), daß der Bettler Monrousseau nach wie vor in fester Haft zu halten und geschlossen werden solle; ferner daß die Verwandten des verlaufenen Knaben, Jacques Le Moine zu conveniren und ihnen aufzugeben sei, demselben einen Vormund zu bestellen, und endlich, daß zum Unterhalt des in das Hospital gebrachten angeblichen Bettelknaben und muthmaßlichen Jacques Le Moine 100 Livres auszusetzen seien, welche aus den Gütern des verstorbenen Lancelot Le Moine zu beschaffen wären. Um deshalb sollten alle diese Güter mit gerichtlichem Beschlag belegt werden.

Der Arrestschlag fand wirklich statt, die citirten Verwandten der Le Moine'schen Familie erschienen aber nicht.

Die Witwe erschien auch nicht auf die ihr zugefertigte Vorladung, sondern appellirte gegen das gesammte Verfahren der Gerichte von Vernon an das Parlament von Paris. Sie erwirkte auch von demselben unterm 21. August 1655 ein Arret des Parlaments, worin dem Gerichte zu Vernon untersagt wurde, ferner irgend etwas in der Sache vorzunehmen, sondern ihm befohlen ward, die Acten an das Parlament einzusenden.

Schon am 30. desselben Monats war dieser Parlamentsbefehl dem Lieutenant-Général, dem königlichen Procurator und dem Actuarius zu Vernon insinuirt worden. Aber das Gericht erklärte: es wolle dem Befehle nicht gehorchen, denn das Parlament zu Paris habe ihm nichts zu befehlen, weil das Gericht von Vernon unter das Parlament von Rouen gehöre, und es fuhr ungestört in seinem Eifer fort, mit welchem es diese Untersuchung eingeleitet hatte.

Diese tritt damit in ein neues Stadium, in einen Kampf der verschiedenen Gerichte über ihre Competenz, eine für uns unnatürliche Erscheinung, zumal wo es um das Wohl und Weh eines Menschenlebens sich handelt, und dieses über die Eifersucht der Gerichte fast in den Hintergrund geschoben wird, aber eine Erscheinung, der wir hier nicht zum ersten male begegnen, und die wir aus dem Falle des Herrn de la PivardiereSiehe Neuer Pitaval, Theil IV. bereits in den grellen Schattirungen kennen gelernt haben, welche den aufgelösten Feudalstaat noch im Rechtswesen abspiegeln.

Das Gericht von Vernon also, unbekümmert um den Parlamentsbefehl, sequestrirte die Le Moine'schen Güter und verfuhr vielleicht mit mehr Strenge als nöthig gegen die Pächter, um die 100 Francs Alimentengelder einzuziehen. Das pariser Parlament seinerseits betrachtete dies Verfahren als eine Kränkung seiner Rechte, und, unbekümmert einstweilen um den Bettelknaben und seine vermeinte Mutter, erließ es an die Gerichtspersonen von Vernon eine Ladung, unverweilt in Person vor ihm zu erscheinen und Rede und Antwort zu stehen wegen der gegen sie angebrachten Beschwerde.

Das Gericht von Vernon hörte und antwortete nicht. Es ließ vielmehr seinen Procurator darauf antragen, daß alle Pächter der Le Moine'schen Güter vorgefordert würden, um zu Protokoll zu erklären, was sie noch an rückständigen Pachtgeldern zu bezahlen hätten. Die Pächter mußten erscheinen, und das Verbot ward ihnen insinuirt: der Madame Le Moine, ihrer Verpachterin, nichts auszuzahlen. Der selige Lancelot Le Moine sah sich in seiner klugen Voraussicht betrogen. Statt eines Vormundes seiner Kinder, von dem er schon eine Verschleppung seines Vermögens fürchtete, hatten sich die Gerichte seines Vermögens bemächtigt, und statt einer Tutel war eine Administration eingetreten.

Das Parlament von Paris tobte und wüthete, aber auch ein Parlament hatte über keine Executionstruppen zu verfügen, es konnte nur drohen. Es ließ sich herab, durch directe Erlasse an die Pächter die vom Gerichte von Vernon ergangenen Verbote und Verkümmerungen aufzuheben. Zum Hohne ihm ließ der Procurator in Vernon die Pächter, weil sie, gestützt auf den Parlamentserlaß, nicht gutwillig die Alimentengelder zahlen wollten, auspfänden und ihre Möbeln und Pferde öffentlich verkaufen.

Kurz, der ganze Proceß wegen Kinderverschleppung und Kinderraub war in ein Proceßverfahren zwischen zwei Gerichten, ein Ober- und ein Untergericht, übergegangen, von denen jenes sich als Appellationsinstanz oder Oberaufsichtsbehörde geltend machen wollte, dieses jene Eigenschaft ihm abstritt und behauptete, es gehöre unter ein anderes Obergericht, ein anderes Parlament. Was in jedem andern Staate längst regulirt gewesen, oder von der höchsten Behörde im Fall eines solchen Streites sofort regulirt worden wäre, ward hier als eine Privatangelegenheit betrachtet, um die kein dritter sich zu bekümmern habe. Der große Richelieu hatte auf anderen Gebieten für ein einiges Frankreich zu kämpfen; über diese großen Sorgen ließ er den kleinen Kampf der Gerichtsbehörden unter sich gewähren, er störte ihn in seinem Wirken noch nicht.

Aber begreiflicher Weise gewann die Witwe Le Moine durch diesen Streit ihrerseits nichts, im Gegentheil verschlimmerte sich ihre Lage, denn ihre Einkünfte wurden eingezogen, und, wenn sie sich unschuldig fühlte, verschleppte sich der Proceß, der ihre Rechtfertigung und Unschuld ans Licht stellen sollte. Vor den Gerichten von Vernon galt sie für schuldig, vor dem pariser Parlamente war sie der Hoffnung, schon aus Geist des Widerspruches für unschuldig erklärt zu werden; ihr also mußte vor allem daran liegen, daß diese letztere Behörde die Sache in die Hände bekomme. Sie daher war es, die sich an das Conseil des Königs, die höchste Behörde, wandte, um der eigentlichen Proceßsache ihren Lauf zu verschaffen.

Das Conseil erließ auch im Februar 1656 ein Arrêt, durch welches den Gerichten von Vernon befohlen ward, die Acten einzuschicken, den Bettler und das Kind in ein dortiges Gefängniß abzuliefern und alle Executionsvollstreckungen gegen die Witwe Le Moine und deren Pächter sofort aufzuheben.

Einem solchen Befehl mußte gehorcht werden. Dem Requêtenmeister De la Moignon ward in diesem außerordentlichen Verfahren die Untersuchung übertragen. Er vernahm den Bettler Monrousseau, die Witwe Le Moine und das Kind.

Beide Erstgenannte blieben bei ihren früheren Aussagen vor den Gerichten von Vernon. Der Bettler wollte der Vater des Kindes sein, die Notarswitwe von dem Knaben nichts wissen. Dagegen ergab die Vernehmung des Kindes in Paris ein ganz anderes Resultat als in Vernon.

Die Witwe ward mit ihm confrontirt. Man fragte es: Ist das deine Mutter? Er verneinte es. - Aber würdest du nicht gern ihr Sohn sein wollen, da würde es dir doch besser gehen als bei dem Bettler? - Der Knabe erwiderte: er würde die Dame gern als Mama annehmen, aber seine leibliche Mama wäre es doch nicht. Dann erklärte er deutlich, auf die Frage: wer er sei? daß er Louis Monrousseau heiße, etwa acht Jahre alt sei, nicht lesen, nicht schreiben könne; sein Vater heiße Jean, seine Mutter hätten sie Jeanne Blond genannt und die sei im Hospital zu Tours vor zwei Jahren gestorben. Dann erzählte er, wie er mit seinem Vater auf dessen Bettlerzügen umhergestreift wäre. Er habe immer betteln müssen, um sein Brot zu haben, das wisse er sehr gut.

Man fragte ihn, ob er nicht den Monrousseau verlassen wolle, dann brauche er nicht mehr zu betteln. Er erwiderte: Monrousseau wäre nun einmal sein Vater, er wolle ihn nicht verleugnen und lieber mit ihm als Bettler herumziehen, als ohne ihn im Ueberfluß leben.

Man weiß aus vielen Criminalprocessen, was auf die Aussage von Kindern zu geben ist. Sie sind der Widerhall dessen, was ihnen eingeblasen worden, vorher oder vor Gericht. Nur beispielsweise sei an die Aussagen der Kinder im Proceß Fualdes erinnert. Wenn der Knabe vor den Gerichten zu Vernon etwas ganz Anderes ausgesagt als vor dem Commissar des Conseils zu Paris, so hob eine Aussage die andere auf, ohne dadurch der Wahrheit einen Schritt breit zu gewinnen. Wenn das Kind dort gesagt, was man von ihm hören wollte, so schmecken auch seine pariser Angaben ganz nach dem, was der Inquisitionsbeamte ihm in den Mund gelegt hatte.

Indessen verfügte das Conseil darauf, durch ein Arrêt vom 2. Juni 1656, daß die ganze Sache vor dem Parlament von Paris fortgesetzt werde. Es scheint, daß das Parlament von Rouen allerdings das eigentlich befugte Obergericht der Gerichte von Vernon gewesen, daß also letztere in ihrer Weigerung, sich ohne Weiteres dem pariser Parlamentsbefehle zu fügen, im Rechte gewesen, wie denn auch das Arrêt um deswillen gegen sie keine Rüge ausspricht. Aber in diesem Falle ward dem pariser Parlament der Vorzug ertheilt, weil einestheils die Ehe, aus welcher Jacques Le Moine entsprungen, zu Paris geschlossen war, anderntheils aber die Witwe nach dem Verschwinden des Kindes vor einem pariser Gericht, dem Chatelet, die erste Anzeige davon gemacht hatte.

Der Proceß sollte nun seinen ordentlichen Fortgang nehmen, verwickelt noch durch eine Gegenklage der Witwe gegen die Gerichte von Vernon, als plötzlich ein ganz unerwartetes Ereigniß ihn zu unterbrechen und zu beendigen schien.

Wir wissen, daß nicht allein ihr Sohn Jacques, sondern auch ihr älterer Sohn Pierre der Witwe vor nun zwei Jahren entlaufen war. Dieser Pierre Le Moine kehrte unerwartet zur Mutter zurück. Ueber die Identität des Wiedererschienenen mit dem Entlaufenen war kein Zweifel; es war der wirkliche Pierre Le Moine, jetzt ein 16jähriger Knabe, der volle Auskunft über sich selbst geben konnte, warum er fortgelaufen; welche Entschuldigung er angegeben, wird uns nicht erzählt; genug, er kehrte als reuiger Sohn nach vieler Noth und bittern Erfahrungen zurück. Er und sein Bruder Jacques hatten bald erkannt, daß die Freiheit, die sie gesucht, auch ihre bittere Seiten habe. Sie hatten als Bettler durch das Land streichen müssen. Im Kirchspiel St. Wast, in der Normandie, hatte ein Edelmann, Montaud, den Betteljungen angemerkt, daß sie nicht Kinder schlechter Aeltern sein möchten und ihrer sich erbarmend, sie zwölf Tage bei sich aufgenommen. Hier war sein Bruder Jacques, sagte Pierre aus, krank geworden und gestorben. Man hatte ihn auf dem dortigen Kirchhofe beerdigt. Pierre, voll Unruhe und Angst, daß ihn der Edelmann seiner Mutter ausliefern werde, und er dort nicht allein wegen seines eigenen Weglaufens, sondern auch wegen des Todes seines Bruders werde büßen müssen, war auch aus St. Wast fortgelaufen. Nun erst war es ihm schlimm ergangen, er war in solches Elend, in solchen Jammer und Mangel gerathen, daß er es endlich nicht mehr aushalten konnte und zum Entschluß kam, nach Paris zu seiner Mutter zurückzukehren.

Die Mutter empfing ihn mit tausend Freuden. Dem wiedergefundenen Sohne wurde alles vergeben, ja er ward der Mutter um so werther, da sie inzwischen auch das dritte ihr gebliebene Kind, Louis, durch den Tod verloren hatte.

Nach unserer Ansicht wäre der Proceß damit zu Ende gewesen; der eine der entlaufenen Söhne war zurückgekehrt, der andere war im Elend gestorben, und Pierre hatte sogar den Todtenschein seines Bruders, ausgestellt vom Pfarrer zu St. Wast und unterzeichnet vom Edelmann des Ortes, mehrern Einwohnern des Kirchspiels und von den Religiösen des Kirchspiels, welche das Begräbniß besorgt hatten, mitgebracht. Aber der eigentliche Proceß ging jetzt erst an. Die Gerichte von Vernon, durch die Person ihres Procurators oder Fiscals, traten als Ankläger auf, indem sie, gestützt auf die vorangehenden Ermittelungen, nach wie vor behaupteten, der Bettelknabe sei der wahre Jacques Le Moine, seine Mutter verleugne ihn aus Geiz und habe, zu ihren Gunsten, das Schauspiel von dem reuig zurückgekehrten ältesten Sohne fingirt. Wenn sie gleich nicht ausdrücklich leugneten, daß der zurückgekehrte Knabe der wirkliche Pierre Le Moine sei, so stellten sie doch in Abrede, daß sein Bruder Jacques gestorben, wie er vorgab; denn durch die von ihm mitgebrachten Zeugnisse sei dies nichts weniger als erwiesen; sie wären in keiner beglaubigten Form, und wahrscheinlich nur geschmiedet, um die auf so feste deutliche Zeugenaussagen begründeten Anklagen in ihrem Fundamente zu entkräften.

Zu dieser Hartnäckigkeit, in ihrer Anklage zu verharren, hatten die Gerichte zu Vernon einen Grund darin, daß die Witwe Le Moine sie selbst wieder mit einer Klage anging. Denn die Witwe behauptete: die ganze erste Anklage sei aus einem persönlichen Haß der genannten Gerichte gegen sie und ihren verstorbenen Mann hervorgegangen, und sie von ihnen fälschlich, gegen besseres Wissen eingeleitet worden, wofür viele Umstände von ihrer Seite angeführt wurden. Namentlich wurden die Gerichtsbeamten von Vernon beschuldigt, daß sie bei dieser Sache ein Falsum geschmiedet. Jene erwähnte Eingabe des Procurators Jean Le Moine, eines angeblichen Verwandten des verstorbenen Lancelot Le Moine, worin derselbe Anzeige von dem Verbrechen macht, aber dagegen protestirt, als förmlicher Ankläger auftreten zu wollen, noch weniger im schlimmen Falle die Kosten zu tragen, sei zwar datirt vom 27. Juli 1655, aber nur auf Anstiften der Richter, welche ohne solche Eingabe schon früher aus freien Stücken und unförmlich eine Untersuchung eingeleitet, abgefaßt worden, und zwar erst nach Eingang des Arrêts des Conseils vom 18. Februar 1656, um ihrem ganzen vorangängigen, eigenmächtigen und tumultuarischen Verfahren ein mehr gerechtfertigtes Ansehen zu geben.

Somit lag dem von der Justizkammer des pariser Parlamentes verhandelten peinlichen Processe eine doppelte Anklage zum Grunde; die Witwe Le Moine wurde, auf Anlaß der vor den Gerichten zu Vernon verhandelten Acten, des Verbrechens, ihren leiblichen Sohn verstoßen, verleugnet oder gar verkauft zu haben, beschuldigt; die Witwe dagegen beschuldigte die Gerichte zu Vernon, daß sie fälschlich und aus Bosheit eine Criminaluntersuchung gegen sie angestellt und veranlaßt. Damit war aber dieser verwickelte Proceß und die darin vorkommenden Parteien und Anträge noch nicht zu Ende. Zuerst appellirte die Witwe gegen des Seitens der vernonschen Gerichte gegen sie erlassene Arrêt und trug auf dessen Umstoßung an. Die ganze Geschichte sei eine Cabale der dortigen Beamten, aus Rache angesponnen, weil der selige Lancelot Le Moine einige unter ihrer Gerichtsbarkeit liegende Grundstücke ihnen nicht verkaufen wollen. Da sie, ohne vorangängige Denunciation, aus freien Stücken die Untersuchung eingeleitet, seien sie ihr, der unrechtmäßig Angeschuldigten, auch für allen ihr daraus erwachsenen Schaden verantwortlich, und sie trug darauf an, dies im Urtheil auszusprechen. Zugleich denuncirte sie gegen zwei der von den Gerichten abgehörten Zeugen, den Schneider und den Wundarzt, welche beide, im Einverständniß mit den Gerichten, den Pöbel gegen sie aufgewiegelt und falsch Zeugniß abgelegt hätten. – Der Bettler Jean Monrousseau trug gegen die Gerichte darauf an, daß ihm sein unrechtmäßig entzogener Sohn zurückgegeben, daß die erlittene Gefängnißqual für ungerecht und beschimpfend erklärt und der Lieutenant-Général und königliche Procurator zu Vernon als ungerechte Richter für schuldig erklärt würden, alle ihm zugefügten Schäden zu ersetzen. Ihrerseits trugen die in Anspruch genommenen Gerichtspersonen in Vernon darauf an, daß die von der Witwe und dem Bettler gegen sie formirten Anträge als unschicklich und widerrechtlich zurückgewiesen und jene allein in die Kosten verurtheilt würden. Endlich trat auch noch der für das Kind bestellte Advocat auf und bat, daß der gefänglich eingezogene Knabe für den leiblichen und ehelichen Sohn des verstorbenen Lancelot Le Moine und der Jeanne Vacherot erklärt, das Verfahren der Gerichte von Vernon bestätigt und der Proceß gegen Monrousseau als Entführer des Kindes fortgesetzt und derselbe bestraft werde.

Wir haben hier also einen verworrenen Knäuel von gegenseitigen Anklagen und Beschuldigungen, und, wie wir es bei den älteren französischen Processen gewohnt sind, Criminalklage mit Civilforderungen vermischt. Aber wir durften, nachdem man uns angedeutet hat, daß die erste Untersuchung zu Vernon eine übereilte ohne Beachtung der gesetzlichen Formen geführte war, erwarten, jetzt die Resultate der gemessenen, ruhigen, ordnungsmäßigen, vor dem Obergericht geführten, Schritt für Schritt uns vorgelegt zu sehen, um im Stande zu sein, unser eigen Urtheil über den merkwürdigen Fall zu bilden. Doch unsere Erwartung wird getäuscht. Pitaval, der diese Gesammtacten durchgeblättert, sagt uns, ganz naiv, er wolle uns nur den letzten Vortrag des Generaladvocaten Bignon, welcher in dieser Sache vor dem Parlament gesprochen, mittheilen, weil dieser allein sämmtliche Zeugenaussagen gekannt, und überdem noch einzelne, besondere Thatsachen, aus denen man über den wahren Stand der Dinge Aufschlüsse erhalten könne, während diese wie jene den übrigen für die Parteien auftretenden Advocaten, insofern sie nicht von ihnen selbst vorgebracht worden, ein Geheimniß geblieben wären! Wir könnten keinen schärfern Gegensatz des altern französischen Gerichtsverfahrens mit dem heutigen aufstellen; vielleicht auch nicht mehr zur Vertheidigung und zum Lobe des letztern anführen, als darauf hinzuweisen, wie es bei dem Geschworenenverfahren vom Augenblick der geschlossenen Voruntersuchung an kein Geheimniß mehr gibt, wie hier kein Theil mit einer Ueberraschung, einem Effectstreich mehr hervortreten kann. Während hier jeder von Anbeginn sein Urtheil sich bilden kann, war es in dem ältern Schriftverfahren das Privilegium der rechtsgelehrten Advocaten. Man verschwieg, überging, brachte vor, was jeder für seine Partei für zweckdienlich hielt; keine Richter, keine Geschworenen, keine Oeffentlichkeit bürgte dafür, daß alles an den Tag kam, was zu ermitteln war. Es hing Schuld und Unschuld des Angeklagten von seiner eigenen oder der Geschicklichkeit seiner Advocaten ab. Der erkennende Richter saß da wie das stumme Bild der blinden Gerechtigkeit, die abwägt, was jeder Theil in die Wagschale that, und nicht die Augen aufreißt, noch den Mund aufthut, wenn ein Theil etwas zu eigenem Nachtheil verschweigt oder vergißt, oder mit böser Absicht bei Seite bringt. Nur auf Antrag der Partei, nur wenn Widersprüche wegen der Beweisführung obwalteten, sprach diese Justiz und verfügte durch ein Arrêt, was zu thun, was nachzuholen sei. Freilich konnte die Kunstfertigkeit, der Verstand, das Gedächtniß, die Gelehrsamkeit des Sachwalters dort glänzen, ja er war weit wirksamer als heute durch seine glücklichsten öffentlichen Reden, denn in seiner Kunst und Geschicklichkeit lag bei diesem Schriftverfahren das Schicksal seiner Clienten; aber wehe diesen, wenn der Advocat nicht einsah, nicht einsehen wollte oder es vergaß. Es war niemand, der diesen Mangel ersetzte, kein Richter, der wie im Inquisitionsproceß die Augen allüberall haben muß, und keine Oeffentlichkeit, kein Publikum, keine Presse, die auch sah, denuncirte, zuflüsterte, laut sprach und richtete.

So erfahren wir denn den wahren Verlauf und Ausgang dieses seltsamen Processes nur durch die Relation des Generaladvocaten, eine Darstellung, die freilich für so lichtvoll und erschöpfend vom Parlament erachtet wurde, daß sie darauf und nach dem buchstäblichen Antrage dieses öffentlichen Anwaltes ihr Urtheil sprach. Wir müssen aber dafür auch den ganzen Ballast seiner juristischen Gelehrsamkeit mit in Kauf nehmen, und erst nachdem er uns durch alle Zweifelsgründe hindurchgeführt, leitet er uns zu den entscheidenden Gründen.

Es fragte sich zuerst, ob überall hier ein Grund vorgelegen, einen Criminalproceß zu eröffnen? Ein Bettler sollte das Kind einer angesehenen Frau gestohlen oder gekauft haben. Aber er selbst sagte: es ist mein Kind, und belegte seine Angabe durch mehrere Dokumente, und die angebliche Mutter sagte: das Kind ist nicht mein Kind, ich kann es daher nicht zurückfordern. Es ließ sich freilich denken, und darauf war die Klage begründet, daß die unnatürliche Mutter sich ihres Kindes mit Wissen entäußert hatte und nichts von demselben mehr wissen wollte. Alsdann hätten vielleicht die nächsten Verwandten des Kindes ein Recht gehabt, für dasselbe einzutreten und seine Rechte zu wahren. Aber auch der Fall fand hier nicht statt. Es war nichts da, was an die Stelle eines Anklägers trat, als das allgemeine Volksgeschrei, die Stimme des Publikums in Vernon, welche laut, ungestüm erklärte: der Betteljunge ist der Sohn der Witwe; der Bettler hat ihn gestohlen, oder von der Mutter erhalten, um ihn bei Seite zu schaffen; er muß wieder in seine Rechte eingesetzt werden. Darauf bemächtigte sich das Gericht zu Vernon der Sache, untersuchte, hörte ab und erkannte.

Nach unsern Rechtsbegriffen wäre das Letztere in der Ordnung gewesen. Die Polizeiobrigkeit und die Gerichte hätten in einem solchen Falle ex officio handeln können, um die Rechte eines um dieselben gekränkten menschlichen Wesens, das selbst nicht im Stande war, dieselben zu vertheidigen, zu wahren. Fu dieser Ansicht bekannte sich auch endlich der Referent, das Gericht zu Vernon habe ein Recht gehabt, sich der Sache anzunehmen, weil anscheinend ein gemeines Verbrechen, ein Kinderraub zum Grunde gelegen; aber er kommt erst zu diesem Resultate, nachdem er aus dem römischen Familienrechte eine Menge dem entgegenstehende Gründe ins Licht gestellt und zurückgewiesen hat, wonach etwa nur andere Kinder des Bettlers Monrousseau, oder dessen Verwandten hätten berechtigt sein sollen, gegen die Einschreitung eines fremden Kindes zur Verkümmerung ihrer Erbrechte zu klagen! Dieser gründlichen Untersuchung, oder juristischen Spielerei, auf Kosten der Betheiligten, sind lange Seiten der meisterhaften Abhandlung gewidmet.

Alsdann stellte der Referent alle Gründe zusammen, welche für die Annahme des Volkes zu Vernon, für die Gerichte dort und gegen die Witwe und den Bettler sprechen.

Es ist ihm ein schwerer gegen die Witwe sprechender Moment, daß sie acht Monate seit dem Verschwinden der Kinder verstreichen lassen, ehe sie der Obrigkeit Anzeige davon gemacht. Auch die Art, wie sie es gethan, verdächtige sie. Sie habe auf Vernehmung der Zeugen gedrungen. Das fordere man nur zur Unterstützung der Anklage gegen einen Verbrecher, und sie habe doch ihren Kindern nicht wegen des Weglaufens einen Proceß machen wollen?

Eine zärtliche, liebevolle Mutter, die den Schmerz über ihres Kindes Verlust noch in seiner ganzen Stärke empfindet, glaubt ihr Kind überall, wohin sie sich wendet, zu erblicken. Sie nimmt jeden Irrthum für Wahrheit und faßt leicht jede Wahrscheinlichkeit, wenn sie nur einige Spuren von Aehnlichkeit mit dem Gegenstande ihres Suchens bemerkt. Hier ist ganz Vernon, wo Lancelot Le Moine und seine Witwe jedermann bekannt ist, wo ihr zweiter Knabe geboren wurde, durch die vollkommenste Aehnlichkeit überzeugt, daß dasjenige Kind, welches der Bettler bei sich hat, einer von den zweien verlaufenen Knaben sei. Nur die Mutter zweifelt, da ihr jedermann versichert, daß sie ihr Kind wiedergefunden habe. Niemand kann den armen Kleinen ohne Rührung ansehen, nur die Mutter affectirt eine Unempfindlichkeit, die schlechterdings erkünstelt und daher um so mehr verdächtig sein muß. Hätte nicht Mutterliebe, Neugierde, oder wenn man lieber will, nur blos der Anstand die Witwe antreiben sollen, das Kind wenigstens zu sich kommen zu lassen, es aufs genaueste zu betrachten und mit dem Bilde, das sie von ihrem Sohn noch im Herzen oder in der Einbildungskraft hatte, zu vergleichen? Hätte sie es nicht sogleich, in Gegenwart aller, über verschiedene häusliche Umstände befragen und somit durch des Kindes Antworten den Pöbel überführen sollen, daß er sich geirrt habe? – Allein sie ist im Gegentheil nicht nur die einzige Person, die bei der Erscheinung des Knaben ganz gleichgültig bleibt, sondern sie macht sich auch heimlich von Vernon weg, und kann man auch diesen Schritt nicht geradezu für die Flucht einer Verbrecherin ansehen, so zeugt er doch wenigstens von einer Person, die in Furcht steht, die von ihr unterdrückten natürlichen Empfindungen möchten bei irgend einer Zusammenkunft mit dem Kinde wider ihren Willen hervorbrechen und eine unfreiwillige Gewissensrührung möchte die Wahrheit an den Tag bringen.

Zwar stehe jemand da, der sich für des Kindes Vater ausgebe. Aber wer ist der Mann? Ein Bettler, ein Landstreicher, der nie an einem Orte eine bestimmte Wohnung gehabt, der nie ein bestimmtes Geschäft getrieben und, weder in Folge von Krankheit, Gebrechlichkeit, noch hohem Alter, sondern nur aus Lust zum Nichtsthun, zur Lüderlichkeit das Bettlerhandwerk ergriffen habe. Ein solcher Müßiggang sei die Schule der Niederträchtigkeit, wo alle natürlichen Regungen erstickt und allerlei Arten von Betrügereien und Bubenstücken ausgeheckt würden. Unter dem Gesindel, zu welchem Monrousseau gehöre, liefen Männer und Weiber zusammen, verheiratheten und trennten sich, wie Zufall und Begierde sie leite. Der Handel mit Kindern sei ihr einträgliches Geschäft. Sie verkauften, um jedes Vortheils willen, ihre eigenen, und kauften, mietheten oder stählen dafür andere, um mit ihnen zu betteln. Ja wie oft käme es vor, daß sie diese armen Geschöpfe noch verstümmelten, um durch solche Opfer der Grausamkeit das Mitleid anzuregen.

Also war der Mann, bei dem man den Knaben antraf, ein solcher, zu dem man sich des Verbrechens eines Kinderraubes wohl versehen konnte. Alles schien folgerecht. Der Knabe, den er für seinen Sohn ausgab, sprechend ähnlich dem weggelaufenen, war ihm, auf der Straße verirrt, vielleicht selbst bettelnd, begegnet. Er hatte ihn mit sich genommen, ihm Brot und bessere Bissen versprochen, als der Kleine sich selbst zu verschaffen gewußt. Er hatte ihn angelernt und einen geschickten Schüler in ihm gefunden. Die Lebensart, die bei aller ihrer Widerwärtigkeit doch für so viele mit dem Hange zur Faullenzerei, zur Unabhängigkeit und zur Liederlichkeit ausgestattete Menschen ihre nicht abzuleugnenden Reize hat, behagte auch dem Kleinen. Er gefiel sich sehr Wohl bei diesem neuen Vater. Widersprach dies etwa dem Begriff, den man von dem kleinen Jacques Le Moine haben durfte? Hatte er nicht so verkehrte Neigungen gezeigt, daß er sein mütterliches Haus aus keinem andern Grunde verlassen, als um sich der Zucht und Aufsicht zu entziehen, und nach Herzenslust in der Welt umherzulaufen?

Daß die Mutter den Knaben auch bei der Zusammenkunft standhaft verleugnet und keine Regungen aufwachender Mutterliebe gezeigt, ist gar kein Beweis dagegen, wenn man annimmt, daß sie so von Hartherzigkeit und Geiz erfüllt gewesen, ihr Kind einmal zu verstoßen. Möglich auch, daß sie über seine bisherige Aufführung so empört worden, daß sie ihn schon früher ganz aus ihrem Mutterherzen gerissen. Sie, wie der Bettler, hatten eine Rolle übernommen, die sie ganz durchspielen mußten, wenn sie nicht entdeckt, wenn sie nicht als Verbrecher zur Strafe gezogen werden wollten.

Zöge man ferner in Erwägung, wie oft der Bettler sich widersprochen, namentlich hinsichts seines Aufenthaltes in Paris, seiner Zusammenkunft mit der Witwe, was mit deren Angabe nicht stimmte, so könnte dies nur den Verdacht nähren, daß sich dort etwas zugetragen, dessen Entdeckung er fürchtete. Aber es stand fest, daß beide sich in Paris besprochen, daß sie sich dann wieder in Vernon getroffen. Dort wollte ihm die Mutter Auftrag gegeben haben, sich nach ihren Kindern umzuthun; als sie ihn in Vernon wiedersah, fiel es ihr nicht ein, sich bei ihm zu erkundigen, sie fertigte ihn nur mit einem Almosen ab. Weshalb das? Was konnten sie mit einander gesprochen habeu?

Dies alles wären nur Vermuthungen und Schlüsse; aber die Zeugenverhöre zu Vernon lieferten Beweise. Zwei Verwandte, zwei Nachbarn, die ehemaligen kleinen Spielgenossen des entlaufenen Jacques, die Dienstmägde, unter denen er aufgewachsen, erkannten ihn auf den ersten Blick und wurden von ihm wiedererkannt. Er erinnerte sie an verschiedene Vorfälle, und alles, was er angab, war richtig. Ein Schneider, der ihm ein Kleidungsstück gemacht, ein Arzt, der ihm eine Wunde geheilt, erkannten ihn wieder, und letzterer fand sogar noch die Narbe derselben auf seiner Stirn.

Wenn auch einige dieser Zeugen durch die Gegenanführungen der Witwe verdächtigt waren, so war doch die Stimme einer ganzen Stadt nicht zu verdächtigen. Die genaueste Aehnlichkeit des Knaben mit dem entlaufenen Jacques, was er vor aller Augen und Ohren that und redete, hatten die Vermuthung zur Ueberzeugung gesteigert. Man konnte sagen, die es glaubten und glauben wollten, hätten ihm Anleitungen und Unterricht gegeben, was er sagen solle. Aber die Probe für die Richtigkeit lieferte der Umgang, den der Knabe an der Seite des Richters machte, wo ihm doch gewiß nicht vorgesprochen wurde, was er aussagen sollte, und hätte man es gewollt, so hätte man es doch nicht gedurft, wo das ganze Volk Zeuge der Auftritte war.

Und was hatte die Stadt Vernon davon, was die Gerichte, denen man Parteilichkeit vorwarf, daß der Bettelknabe der Witwe zum Sohn aufgedrungen wurde? Die Gerichtsbeamten sollten einen alten Haß gegen die Le Moine's haben; er war aber, wird uns versichert, durch nichts erwiesen worden, und präsumirt darf ein solcher Haß nicht werden. Daß aber die Witwe mit der Stadt selbst in gutem Einverständniß bis da gelebt haben mußte, ergibt sich daraus, daß sie, eigentlich in Paris angesiedelt, so lange Zeit des Jahres dort verweilte.

Endlich so könne die Rückkunft des Pierre Le Moine und was er über seinen Bruder angeführt und beigebracht, diese starken Beweise nicht umstoßen. Pierre war ein leichtsinniger, unordentlicher Bursche, das Factum seines Entlaufens, seines langen Umhertreibens beweist es, auch wenn man nicht aus seinem früheren Leben dafür Beweise gehabt. Er hatte seinen jüngeren Bruder verführt. Wenn er ohne ihn nach Hause kam, so stand ihm eine schwere Rechenschaft bevor. Irgendwie mußte er diese geben. Wenn er den ihm entlaufenen Bruder für todt ausgab, war die Sache mit einem male abgethan.

Die Zeugnisse, welche er mitbrachte, waren von gar keiner Bedeutung. Erstlich waren sie von Privatpersonen ausgestellt, ohne alle gerichtliche Beglaubigung; dann aber, was besagten sie? Daß zwei Kinder in ein Dorf St. Wast gekommen; daß sie gebettelt, daß der Edelmann, ein Herr von Montaud, durch ihr äußerliches gutes Ansehen bewogen, sie zu sich genommen, daß sie sich Le Moine genannt, und daß der jüngste, den der andere Jacques genannt, dort gestorben sei. Keine der unterschriebenen Personen, vorausgesetzt, daß deren Unterschrift in Richtigkeit war, kannte den Jacques Le Moine. Es wäre also damit höchstens nur bewiesen worden, daß in dem Dorfe ein Kind gestorben, welchem der andere Knabe, dem es darum zu thun war, glauben zu machen, ein Bruder von ihm sei gestorben, diesen Namen gegeben hatte; anderer Unrichtigkeit, z.B. des später von anderer Hand beigeschriebenen Datums, nicht zu gedenken.

Dies die Gründe gegen die Angeschuldigte und zu Gunsten der vermutheten Eigenschaft des betreffenden Knaben. Ihnen wurden vom Referenten folgende Gegengründe entgegengesetzt.


War die Frau, der man eine solche unnatürliche That beimißt, eine Person, zu der man sich der That versehen konnte, ihr eigenes Kind zu verleugnen?

Gegen ihren Lebenswandel waren keine Aussetzungen gemacht; er konnte als tadellos gelten. Es war nur ein Zeuge, der sie des Geizes beschuldigte. Kann der Geiz allein als Motiv gelten zur unnatürlichsten Handlung, die eine Mutter begehen könnte?

Ihr verstorbener Gatte hatte ihr das höchste Vertrauen bezeigt, indem er sie zur alleinigen Vormünderin seiner drei Söhne bestellte. Sie war Witwe geblieben, wodurch, nach des Referenten Ansicht, sie ihren Kindern den Beweis der höchsten, aufopfernden Liebe gegeben! Ein unverdächtiger Zeuge hatte an ihr jederzeit viele Liebe und Vorsorge für ihre Kinder bemerkt.

Allerdings hatte sie etwas spät erst gerichtliche Nachforschungen nach ihren Kindern anstellen lassen; aber es war erwiesen, daß sie weder Mühe noch Kosten gespart, auch schon vorher durch Privatnachforschungen ihren Aufenthalt zu erfahren. Die Meinung des Volkes in Vernon, welches in dem Bettelknaben den entlaufenen Sohn wiedererkennen wollte, hatte auch keinen Funken neuer Hoffnung in ihr erweckt, aber nur darum, weil sie selbst schon früher in Paris dieser Hoffnung Raum gegeben, untersucht und sie wieder aufgeben müssen. Eine Mutter kennt besser ihr Kind als der Zusammenlauf einer ganzen Stadt.

Wäre der Charakter des Bettlers nicht verdächtig gewesen, so hätte ihr standhafter Widerspruch allein die Anklage zurückweisen müssen. Aber Monrousseau's unsichere, sich selbst widersprechende Aussagen, die Vermuthung, welche auf Leuten seines Gelichters einmal ruhte, daß sie vom Kinderstehlen ein Gewerbe machten, gaben dem Gericht, welches von der Volksstimme getragen wurde, Waffen in die Hand. Und doch konnte er sich und sein Besitzrecht auf das Kind durch Documente ausweisen, die, zwar nicht vollständig gegliedert, doch, bei ihrer sonstigen Unverwerflichkeit, die Vermuthung wieder zu seinen Gunsten leiten müssen. Wenigstens war er im Besitzstande und konnte fordern, darin geschützt zu werben, bis das bessere Recht eines andern das Eigenthum desselben nachgewiesen sei. Und niemand forderte es, niemand machte Ansprüche auf das Eigenthum des Kindes, die angebliche Mutter widersetzte sich aufs standhafteste der Annahme, und (das erfahren wir hier erst!) die ganze Familie unterstützte diese Weigerung.

Alle Verwandte der Familie Le Moine, die zu Paris wohnten, wo deren eigentliches Domicil war und wo die Kinder eigentlich erzogen waren, erklärten, vor dem Conseil vernommen, der Knabe habe wohl Aehnlichkeit mit dem verschwundenen Jacques, aber er sei es nicht.

Nichts also sprach für die Anschuldigung als der Volksmund, der allgemeine Glaube in dem Städtchen Vernon, gestützt auf den Umstand, daß der kleine Jacques wirklich vor einem Jahre fortgelaufen war, daß der Bettelknabe ihm ähnlich sah, und daß das Kind sich mehrer Oertlichkeiten, Personen uud anderer Vorfälle erinnerte.

Darauf gründete das Gericht seine eigenmächtige Intervention. Sie erscheint zum wenigsten übereilt, wenn auf Grund dergleichen Anzeigen, Meinungen, eigentlich auf den Wahn, der sich einer Bevölkerung bemeistert, von Seiten eines Gerichtes solche Schritte und Eingriffe in das Privatrecht erfolgen, als hierin geschehen. Es mußte den Besitzstand achten, der noch dazu so gerechtfertigt erschien, und wenn es doch dem Verdacht Raum gab, ohne jene Gewaltsamkeit, ohne das Aufsehen, ohne die Autorität, welche es der Volksmeinung durch sein Einschreiten gab, auf behutsamere Weise seine Instruction einziehen.

Demnach schienen jene Schritte durch die Aussagen der Zeugen gerechtfertigt. Aber die Mehrzahl derselben waren Frauen. Die Liebe zum Wunderbaren, zum Interessanten spielte mit. Sie glaubten und wollten glauben, und im Feuereifer für diesen Glauben sahen sie, gewiß im guten Glauben, was sie sehen wollten. Eine Witwe, der Notarsfrau verwandt, und bei der sie in der Regel während ihres Aufenthaltes in Vernon gewohnt, die doch das Kind am besten kennen mußte, sagte nur: sie fände einige Ähnlichkeit an dem ihr vorgeführten Knaben und dem jungen Jacques Le Moine. In den Aussagen anderer Zeuginnen fanden sich ähnliche Widersprüche. Die Aussage des Wundarztes wurde verdächtig, weil er von der Wundencur als vor zwei Jahren erfolgt, sprach, während andere Zeugen feststellten, daß die Verwundung und Cur schon vor vier Jahren stattgefunden. Narben von Löchern mögen sich am Kopfe mehr als eines Kindes finden.

Der Schneider hatte nur gesagt, er glaube, der ihm vorgestellte Knabe sei der kleine Le Moine, für den er einst eine Jacke gemacht. Dagegen war Robert Laurier so von seiner Identität überzeugt, daß er ihn in sein Haus nehmen und, des verlassenen Kindes sich erbarmend, ihn erziehen wollen. Anlaß war, daß der Knabe im Hospital ihn sofort, als er dort aus Neugier einsprach, bei Namen genannt und an mehres erinnert hatte. Aber bei der Confrontation beider durch den Richter hatte der Knabe Laurier's Namen nicht nennen können. Ja, ein anderer Zenge sagte über jenes erste Zusammentreffen aus, daß der Knabe auch damals Laurier's Namen nicht genannt. Laurier war also entweder ein falscher Zeuge aus guter oder schlimmer Absicht, oder er bildete sich etwas ein und ging mit derselben gläubigen Voreingenommenheit wie die andern an die Sache. Andere Zeugenaussagen reducirten sich auf ein Hörensagen. Einer hatte gehört, daß ein Bettelweib gesagt, sie habe gehört, daß der Knabe bei seinem Eintritt in Vernon gesagt: hier dürften sie nicht hinein, weil Mama da wohne, und daß Monrousseau darauf geantwortet, was sie denn machen wollten, sie hätten ja kein Brot. – Wenn Monrousseau den Knaben, gleichviel ob mit oder ohne Willen der Mutter, entführt, würde er ihn schwerlich an den kleinen Ort gebracht haben, wo so viele oder alle ihn kannten.

Ueberdies war das Verfahren bei allen diesen Zeugenaufnahmen so angethan, wie es nicht sein soll, wie es aber in der Praxis und bei einem eiligen Proceßverfahren nur zu oft geschehen ist. Ein jeder Zeuge, so viele deren waren, wurde über alle bei der Sache vorgekommenen und schon angeführten Umstände, in jedesmaliger Gegenwart des Betteljungen, befragt und abgehört. Auf diese Art war jede Zeugenaussage für ihn ein genauer Unterricht, was er in Absicht auf Oerter, Personen und Begebenheiten zu sagen habe, wenn er den kleinen Le Moine vorstellen wollte. Wenn also der Schneider von der Jacke redete, wenn eine gewisse Collette Bonami erzählt, daß sie dem kleinen Jacques einmal die Ruthe gegeben, weil er ihr einen Strang Zwirn verwirrt hatte, wenn Laurier von seinem Pferdestall und ein anderer von einer Lohgrube sprach, so wiederholte das Kind alles dieses nachher wie ein Echo, ohne etwas von diesen Umständen zu wissen. Es wurde überdies durch Zeugen erwiesen, daß man den Knaben den ersten Tag seiner Ankunft zu Vernon nicht ins Hospital gebracht, daß er vielmehr bei der Witwe Crette geschlafen und ihm dort die Magd, die so ganz zuversichtlich behauptete, daß er Jacques Le Moine sei, und von diesem Vorurtheil am meisten eingenommen schien, nicht von der Seite gewichen war. Diese Person hatte also Zeit und Gelegenheit genug, das Kind von allem zu unterrichten und ihm alles beizubringen, was er äußern sollte.

In Paris zerfiel und zerging dieser ganze Zauber wie Nebelgebilde von der Mittagssonne. Hier blies man ihm nichts ein, und es bedurfte nicht einmal der Confrontation mit den dortigen Bekannten und Verwandten der Familie, die ihn aufs Genaueste kennen mußten, denn sofort erklärte er selbst: Monrousseau sei sein Vater, und die Dame, die ihm vorgestellt wurde, wäre nicht seine Mutter. Der entwichene Knabe Jacques konnte lesen und schreiben, ja er hatte schon etwas lateinisch gelernt. Der Bettelknabe konnte weder schreiben noch lesen, und es war kein Grund zu vermuthen, daß er sich nur verstelle.

Endlich existirte der Knabe Jacques nicht mehr, welcher der Bettelknabe durchaus sein sollte. Der Bruder des ersteren, freilich ein unzuverlässiger Knabe, versicherte es; er hatte den Bruder sterben sehen, er hatte schriftliche Bescheinigungen mitgebracht. Sein Interesse, den Bruder todt zu lügen, erscheint nicht stichhaltig. Wenn es aus Furcht vor der Mutter geschah, so war diese noch mehr gerechtfertigt, wenn der von ihm verführte kleinere Bruder in Folge seiner Schuld gestorben, als wenn er ihm entlaufen war, und der Mutter doch noch die Hoffnung blieb, ihn wiederzufinden. Aus diesen Zweifeln hätte man, nach unsern Begriffen, auf leichte Weise durch Requisition der Behörden im Dorfe St. Wast in der Normandie zur Gewißheit kommen können; darauf hatte man sich aber von Seiten der Gerichte nicht eingelassen, weil keine der Parteien darauf angetragen zu haben scheint. Man begnügte sich lieber, zu deduciren, daß die Zeugnisse, auch wie sie waren, für echt gelten könnten.


Somit waren des Knaben Ansprüche auf eine vornehmere Geburt, nach des Generaladvocaten Ansicht, zurückgewiesen, der Bettler und die Witwe wären von der Anklage der Verleugnung und der fälschlichen Anmaßung freizusprechen gewesen. Aber alsdann lastete die Schuld der falschen Anklage eines ungerechtfertigten Criminalprocesses auf denen, welche sie eingeleitet, und es fragte sich, ob die Gegenklage der Witwe begründet war?

Lag ein Irrthum, lag ein Betrug vor?

Die Gegenklage war namentlich gegen den Lieutenant-Général Montaud und den königlichen Procurator zu Vernon gerichtet. Sie sollten die Urheber der Volksauftritte gewesen sein, und aus einem alten heimlichen Hasse gegen die Familie Le Moine und ihres eigenen Vortheils willen das ganze gerichtliche Verfahren eingeleitet haben.

Die Unregelmäßigkeiten, das übereilte Verfahren beider Gerichtspersonen ist außer Frage. Der Procurator hatte sich unter dem Pöbel am Thore befunden und nicht wenig dazu beigetragen, den Wahn desselben zu bestärken, und doch gab er in seiner gerichtlichen Eingabe an, als wäre er eben erst von der ganzen Sache durch die schriftliche Denunciation des Procurator Jean Le Moine, die aber apokryphisch blieb und nicht zu den Parlamentsacten kam, unterrichtet worden. Er hatte den Bettler ins Gefängniß werfen lassen, ohne eine Registratur darüber aufzunehmen, ihm die Füße zusammenschließen lassen, um ihm durch diese Torturart ein Bekenntniß abzunöthigen. Man behielt die Witwe Le Moine zu gleichem Zwecke im Arrest und achtete das Parlamentsarrêt nicht, welches alles weitere Verfahren untersagte. In allen Acten und Registraturen ward der Bettelknabe Jacques Le Moine genannt, sodaß es bei den Gerichten von Anfang an für entschieden galt, daß er der entlaufene Sohn der Witwe sei, und unter dieser Annahme wurden ihm die Alimentengelder ausgesetzt und durch Arrestschlag und Execution beigetrieben.

Der Procurator vertheidigte sich damit, daß er sich unter den Pöbelhaufen begeben, nicht um ihn aufzureizen, sondern ihn zu besänftigen, daß er ferner bei den Indicien und seinem guten Glauben nicht nöthig gehabt, auf die Denunciation zu warten, sondern des Rechtes und der Verpflichtung gewesen, sofort ex oficio einzuschreiten.

Der Lieutenant-Général vertheidigte sich damit, daß er beim ersten Verlauf der Sache gar nicht in Vernon gewesen, daß der Bettler auf Anlaß seines Particulier-Lieutenant verhaftet worden, und er nur die Sache in aller Ordnung fortgesetzt habe, nachdem jener, sein Substitut, sich darin zu handeln für incompetent erklärt, weil er ein Verwandter des verstorbenen Notar Le Moine sei. Uebrigens seien alle Verhandlungen im Beirath sämmtlicher Gerichtsbeisitzer gehalten worden, und das Arrêt des pariser Parlaments habe zurückgewiesen werden müssen, weil Vernon in Criminalsachen wirklich unter das Parlament von Rouen gehöre. Nachdem so viele Zeugen die Kindschaft des Knaben zu dem verstorbenen Notar Le Moine und dessen Witwe wahrscheinlich gemacht, sei es gesetzlich in der Ordnung gewesen, aus deren Vermögen die Alimente zu fordern und festzusetzen. Den Bettler habe man allerdings schließen lassen, aber nach den einstimmigen Conclusionen des Gerichts, wegen des dringenden Verdachtes, wobei nur der Formfehler zugegeben ward, daß sein Name nicht sogleich in die Register eingetragen worden, wohingegen die Witwe bei ihrer zeitweiligen Festhaltung mit aller Schonung behandelt sei. Von einem Haß gegen den verstorbenen Le Moine könne seinerseits nicht die Rede sein, da er ihn nie gekannt und erst nach seinem Tode nach Vernon gekommen sei.

Der Generaladvocat hielt hiernach die Gerichte, wenngleich nicht frei von großen Versehen, die zur Genüge in diesem Proceß angedeutet sind, doch nicht für so schuldig, daß sie darum in persönlichen Anspruch genommen werden könnten.

Also lag kein Betrug, nur ein Irrthum vor. Aber wie war derselbe entstanden?

»Man kann annehmen«, sagt der Generaladvocat Bignon, »daß jedes Wort des Kindes ihm von andern entweder aus Bosheit oder Unverstand eingeblasen worden. Der Pöbel hatte kaum auf dem Gesicht des Bettelknaben ähnliche Züge mit dem kleinen Jacques Le Moine bemerkt, als er es auch sogleich für eine gewisse Wahrheit annahm, daß es dieser sein müsse. Bei dem Auflauf, der hierüber entstand, nannte man diejenige mit Namen, die seine Mutter sein sollte, man sagte, daß dieses das nämliche Kind sei, das zu Bois-Hieraulme geboren und erzogen worden. Der kleine Betteljunge war groß genug dazu, daß er den Unterschied zwischen der elenden Lebensart eines Bettlers und zwischen dem Zustande eines Kindes aus gutem Hause, das ein sorgloses und bequemes Leben führt, einsehen konnte; er wollte also diese Gelegenheit benutzen und von allem, was er gehört, Gebrauch machen. Erst sechs Tage nachher, als man ihn dem Bettler weggenommen, wurde er in Vernon herumgeführt, daß er die Häuser und Oerter, wo er ehedem gewesen, erkennen und angeben solle, und erst nach vierundzwanzig Tagen von da an machte der Richter mit ihm die Reise nach Bois-Hieraulme. Unter dieser Zeit trieb die Neugierde unzählige Leute ins Hospital, ihn zu sehen und mit ihm zu reden, und man kann wol glauben, daß keiner ein anderes Wort mit ihm werde gesprochen haben, als von seiner Mutter, seinen Verwandten, seinen ehemaligen Nachbarn und Bekannten und von allen Häusern und Gegenden zu Vernon. Hat man ihm also nicht auf diese Art nach und nach, fragweise, die ganze Lebensgeschichte des Kindes, das man in ihm finden wollte, beigebracht, oder war es zu verwundern, wenn er aus diesen unschicklichen und unvorsichtigen Verhören, die jeder, der ins Hospital kam, mit ihm anstellte, Stoff genug zu den Antworten erhielt, die er nachher vor Gericht gab? Möglich auch, daß eine oder die andere gegen die Witwe Le Moine nicht zum Besten gesinnte Person, das Kind von alle dem, was es antworten solle, mit Vorsatz unterrichtet hat, und vielleicht ist auch einer oder der andere von den Richtern dabei mit verwickelt gewesen. Allein ohne daß man nöthig hat, jemand insbesondere zu beschuldigen, kann man für ausgemacht annehmen, daß ganz Vernon das Seine dazu beigetragen, den Knaben seine Rolle spielen zu lehren, denn jedermann, Hohe und Geringe, waren nun einmal von dem Vorurtheil eingenommen, daß er ein Kind des verstorbenen Le Moine sei, jedermann verfolgte also dieses Vorurtheil mit Hitze und machte es zu seiner eigenen Sache, diese Entdeckung sollte wahr befunden werden. Daher kam es auch, daß, so oft jemand den Knaben sprach, er ihm auch sogleich sein Mitleid, seinen Diensteifer bezeugte, alles, was er von Jacques Le Moine wußte, erzählte, ihn fragte, ob er ihn nicht an dem und dem Ort, bei der und der Gelegenheit gesehen habe, und auf diese Art wurde der Knabe überflüssig von allem, was er sagen und wie er sich zu betragen hatte, unterrichtet. Nur die genaue Aehnlichkeit des Bettelkindes mit dem kleinen Jacques hatte diesen allgemeinen Irrthum veranlaßt. Man weiß, mit welcher Leichtigkeit der Pöbel ein Vorurtheil auffängt, mit welcher Dummheit er die abgeschmacktesten Erdichtungen glaubt, und mit welcher Hitze er dann seine einmal angenommenen Meinungen verfolgt. Aus diesem Gesichtspunkt muß man diese Geschichte betrachten. Daß auch die Gerichte sich durch die Vorurtheile des Pöbels blenden ließen und nicht allen nöthigen Fleiß anwendeten, die Sache gehörig zu untersuchen, war nur menschliche Schwachheit; Rachsucht kann man ihnen doch nicht Schuld geben.

Aber eine Schwachheit, der wir nur zu oft in den älteren französischen Criminalprocessen begegnen. Ohne diese Mangelhaftigkeit, ohne diese Unbehülflichkeit der richterlichen Macht und des richterlichen Willens wären die vielen Processe über die bestrittene Identität von Personen, wie im Proceß Martin Guerre, dem Herrn de la Pivardiere, dem Sohn des Herrn von Caille, dem Ziegelbrenner u.s.w., denen sich dieser vom Sohne des Bettlers von Vernon anreiht, nicht vorgekommen, oder schneller, leichter und befriedigender geschlossen worden. Es sind Processe einer Vorzeit, die vorüber ist, Processe, die in dieser Gestalt heute bei einem geregelten Gerichtswesen, bei der Macht der Oeffentlichkeit und der Presse kaum mehr vorkommen können.

Das Parlament erkannte 1659 nach Bignon's Antrage. Die Klage gegen die Gerichtspersonen von Vernon wurde wegen Mangel zureichender Beweise zurückgewiesen; das peinliche Verfahren gegen den Bettler und die Witwe für nichtig erklärt, Monrousseau der Haft entlassen, sein Name im Gefängnißregister des Parlaments ausgestrichen »und völlig unleserlich gemacht«, seinem Sohne Louis auferlegt, ihn ferner als Vater zu erkennen und gehorsam zu sein; das Gesuch der Parteien um Schaden- und Unkostenersatz aber zurückgewiesen.

Außerdem verordnete das Parlament, daß der Knabe, der so viel Aufsehen gemacht, obgleich er dem Vater zugesprochen war, ins Hospital wieder zurückgeführt und dort mit den andern Kindern erzogen werde.


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