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Ein Blatt aus dem Lied der Lieder.

Busja – der verkleinerte Name von ›Esther‹ – Liba, ›Libusja-Busja‹ – ist ein Jahr oder zwei Jahre älter als ich. Wir sind beide zusammen noch nicht zwölf Jahre. Gebt euch, bitte, selbst die Mühe, zu berechnen, wie alt ich bin und wie viele Jahre Busja zählt.

Doch ich denke, das ist nicht wichtig. Ich will euch lieber kurz ihre Biographie erzählen.

Mein älterer Bruder Benja lebte auf dem Lande, wo er eine Mühle gepachtet hatte. Er schoß meisterhaft aus der Flinte, ritt geschickt zu Pferde und schwamm wie ein Fisch. Einmal im Sommer badete er im Fluß und ertrank. Das Sprichwort: ›Alle guten Schwimmer ertrinken‹ bewahrheitete sich an ihm. Als Erbschaft hinterließ er uns die Mühle, zwei Pferde, eine junge Witwe und ein Kind. Die Mühle verpachteten wir weiter, die Pferde verkauften wir, die Witwe verheiratete sich und reiste weit fort, aber das Kind brachte sie zu uns.

Dieses Kind war Busja.

*

Weshalb meine Eltern Busja so sehr lieben und sie verwöhnen, ist leicht zu begreifen: Sie fanden in ihr einen Trost in ihrem großen Unglück.

Aber ich? Warum bleibt mir, wenn ich aus der Schule komme und Busja nicht antreffe, das Essen im Halse stecken? Busja braucht nur zu erscheinen, und es wird hell in allen Winkeln und Ecken. Weshalb lasse ich die Augen nieder, wenn Busja mit mir spricht? Weshalb weine ich, wenn Busja mich auslacht? Und wenn Busja ...

*

Mit Ungeduld erwartete ich das liebe prächtige Osterfest. Dann würde ich frei sein. Ich würde mit Busja spielen, auf der Straße umherrennen, den Berg hinauf zum Flüßchen gehen. Dort würde ich ihr zeigen, wie man ›Enten‹ auf das Wasser läßt. Wenn ich ihr davon erzähle, glaubt sie mir nicht. Sie lacht. Sie sagt mir zwar nichts; sie lacht nur. Ich liebe nicht, wenn man mich auslacht. Busja glaubt nicht, daß ich auf den höchsten Berg klettern kann, wenn ich nur Lust habe. Busja glaubt nicht, daß ich reiten kann, wenn ich nur erst ein Pferd hätte. Busja glaubt nicht, daß ich schießen kann, – wenn ich nur womit zu schießen hätte.

Aber nun kommt das Osterfest, das liebe Osterfest, da wir auf der Straße spielen und im Freien spazieren gehen können, ohne Aufsicht der Eltern, – da werde ich ihr solche Kunststücke zeigen, daß sie vor Staunen frohlocken wird.

*

Das liebe, gute Osterfest ist gekommen.

Man putzte uns beide aus, zog uns ›königliche‹ Feiertagskleider an. Alles, was wir anhaben, glänzt, rauscht, knarrt. Ich sehe Busja an und gedenke des ›Liedes der Lieder‹, das ich erst kurz vor Ostern in der Schule gelernt habe. Ich rufe mir Zeile für Zeile ins Gedächtnis:

»Oh meine Schöne, du meine Tiefgeliebte, schön bist du! Deine Augen sind wie Taubenaugen zwischen deinen Zöpfen. Dein Haar ist wie die Ziegenherden, die beschoren sind auf dem Berg Gilead. Deine Zähne sind wie die Schafherde mit beschnittener Wolle, die aus der Schwemme kommen. Deine Lippen sind wie eine rosinfarbne Schnur.«

Sagt mir, weshalb gedenke ich des ›Liedes der Lieder‹? Weshalb sehe ich in Gedanken Busja, wenn ich das ›Lied der Lieder‹ lerne?

*

Ein seltener Tag vor dem Osterfest. Es ist hell und warm.

»Wollen wir gehen? Ja?« fragte mich Busja.

Ich bin ganz Feuer. Die Mutter gab uns eine Menge Nüsse mit. Wir stopften alle Taschen mit Nüssen voll. Die Mutter hat uns das Versprechen abgenommen, daß wir sie vor dem Abend nicht knacken werden. Mit Nüssen spielen, – das ist etwas anderes.

Wir machten uns auf den Weg. Die Nüsse klapperten. Wie schön ist es auf der Straße, wie herrlich und lustig! Die Sonne am Himmel ist schon weit fort. Sie blickt jenseits der Stadt hinunter. Ringsumher weite, freie, helle Ferne. Auf dem Hügel, hinter der Synagoge, schießt stellenweise zartgrünes, frisches Gras empor. Pfeifend und zwitschernd zieht über unseren Köpfen ein langes Band kleiner Schwalben vorüber. Wieder gedenke ich des ›Liedes der Lieder‹:

»Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube läßt sich hören in unserem Lande.« Es ist einem so leicht auf dem Herzen! Mir scheint, daß ich Flügel habe. Im nächsten Augenblick werde ich mich emporheben und davonfliegen.

In der Stadt herrscht ein sonderbares Treiben. Es dröhnt und tönt und brodelt. Es ist der Tag vor Ostern. Seltene Tage vor dem Osterfest. Es ist hell und warm. Die ganze Welt gewinnt in meinen Augen ein anderes Aussehen. Unser Hof ist wie ein Schloß. Unser Haus – wie ein Palast. Ich bin der Prinz, Busja – die Prinzessin. Die Klötze, die vor dem Hause aufgehäuft liegen, sind die Zedern und Buchsbäume, von denen im ›Lied der Lieder‹ die Rede ist. Die Katze, die vor der Tür liegt und sich in der Sonne wärmt, ist eins der ›Feldrehe‹ aus dem ›Lied der Lieder‹. Der Berg hinter der Synagoge ist der Libanon. Die Frauen und Mädchen, die auf dem Hofe stehen, waschen, plätten und zum Osterfeste alles sauber machen, sind die Töchter Jerusalems. Alles, alles aus dem ›Lied der Lieder‹.

Ich gehe, die Hände in den Taschen, und schüttele die Nüsse. Busja geht mit leisen Schritten neben mir. Es zieht mich empor. Ich möchte mich in die Höhe schwingen, fliegen, als Adler durch die Lüfte ziehen. Ich renne, Busja rennt mir nach. Ich springe über die aufgehäuften Klötze, von Klotz zu Klotz. Busja springt hinter mir her. Ich – hinauf, sie – hinauf; ich – hinunter, sie – hinunter. Wer wird eher müde? ... Ich hab's geraten!

»Ist es nicht Zeit aufzuhören?« fragt mich Busja.

Ich antworte ihr mit den Worten des ›Liedes der Lieder‹.

»Ringsumher atmet der Tag Kühle, und der Schatten weicht.«

Ha – ha – ha –! Du bist müde, und ich nicht!

*

Ich bin froh, ich bin glücklich, daß Busja nicht weiß, was ich weiß. Aber zugleich tut sie mir auch leid. Das Herz preßt sich mir vor Schmerz zusammen. Es scheint mir, daß die betrübt ist. Bei Busja ist es immer so: Sie ist munter und ausgelassen, aber plötzlich kriecht sie in einen Winkel und weint leise. Soviel meine Mutter sie auch tröstet, soviel mein Vater sie küssen mag, – es hilft nichts. Busja muß sich ausweinen. Wen beweint sie wohl? Den Vater, der so früh gestorben ist? Oder die Mutter, die sich verheiratet hat, fortgereist ist und sie vergaß? Ach, ihre Mutter, ihre Mutter! Wenn man in Busjas Gegenwart ihre Mutter erwähnt, wird sie wie verwandelt. Sie hat von ihrer Mutter eine schlechte Meinung. Busja sagt nichts Schlechtes über ihre Mutter, aber ich bin überzeugt, daß Busja sie nicht liebt. Ich kann nicht ertragen, daß Busja sich sehnt. Ich setze mich neben sie auf die Klötze und bemühe mich, ihre Traurigkeit zu verscheuchen.

*

Ich halte die Hände in den Taschen, schüttelte die Nüsse und sage zu ihr:

»Rate, was ich tun kann, wenn ich will?«

»Was kannst du tun?«

»Wenn ich will, werden alle deine Nüsse zu mir kommen.«

»Wirst du sie gewinnen?«

»Nein, wir werden nicht einmal anfangen zu spielen.«

»Wie denn, willst du sie mir mit Gewalt fortnehmen?«

»Nein, sie werden von selbst zu mir kommen.«

Sie erhebt ihre wunderschönen Augen zu mir, die schönen, blauen Augen aus dem ›Lied der Lieder‹. Ich sage zu ihr:

»Du glaubst, ich scherze? Du Dummchen, ich kenne einen solchen Spruch ... Ich sage ein Wort ...«

Sie macht noch größere Augen. Ich fühle mich plötzlich als ein großer Held und erkläre ihr mit Stolz:

»Wir Knaben können alles machen. Ich habe einen Schulkameraden, – man nennt ihn den krummen Schajka, – der weiß alles. Es gibt keine Sache in der Welt, von der Schajka nicht wüßte. Er kennt sogar die Kabbala. Weißt du denn, was ›Kabbala‹ bedeutet?

Nein, wieso soll sie es wissen? Ich freue mich sehr, daß ich ihr erklären kann, was ›Kabbala‹ bedeutet.

»Die ›Kabbala‹, Dummchen, ist ein Ding, das nützlich sein kann. Mit Hilfe der Kabbala kann ich bewirken, daß ich dich sehe, und du mich nicht siehst. Mit Hilfe der Kabbala kann ich Gold aus einem Stein, Wein aus einer Mauer hervorbringen. Mit Hilfe der Kabbala kann ich veranlassen, daß wir beide in diesem Augenblick in die Höhe fliegen, bis in die Wolken, sogar noch höher als die Wolken! ...«

*

Mit Busja mittelst der Kabbala bis zu den Wolken emporzufliegen und über die Wolken hinaus, weit, weit über das Meer zu fliegen, – war einer meiner heißesten Wünsche! Dort, jenseits des Ozeans, beginnt das Land der Zwerge, deren Nachkommen die Helden aus der Zeit des Königs David sind. Diese Zwerge sind prächtige Menschen, sie nähren sich von Süßigkeiten und Mandelmilch, spielen den ganzen Tag auf der Laute und führen Reigentänze auf. Sie beleidigen niemanden und sind sehr gastfreundlich. Wenn unsereiner einmal dorthin kommt, geben sie ihm zu essen und zu trinken, schenken ihm die schönsten Kleider und eine Menge goldenen und silbernen Geschmeides. Zum Abschied stopfen sie ihm die Taschen mit einer Menge Brillanten und Diamanten voll. Dort wälzen sich die Brillanten auf den Straßen, wie bei uns der Schmutz.

»Gibt es wirklich so viel?« fragte mich Busja, als ich ihr von den Zwergen erzählte.

»Glaubst du es nicht?«

»Und du glaubst es?«

»Warum sollte ich es nicht glauben?«

»Wo hast du davon gehört?«

»Wie heißt – wo? In der Schule.«

»Ach so, in der Schule? ...«

Die Sonne sinkt immer tiefer und tiefer und umsäumt den Himmel mit einem rot-goldenen Band. Das Gold spiegelt sich in Busjas Augen, sie baden in Gold.

*

Ich möchte leidenschaftlich gern, daß Busja an Schajkas Methode und an den Kunststücken Gefallen fände, die ich mit Hilfe der Kabbala machen kann. Aber Busja lacht nur. Warum würde sie sonst alle ihre kleinen Perlenzähnchen zeigen? ...

Ich fühle mich verletzt und frage sie:

»Du glaubst mir vielleicht nicht?«

Busja lacht.

»Glaubst du, daß ich dir etwas vorrede? Daß ich mir etwas ausdenke?«

Busja lacht noch lauter. Ich muß es ihr beibringen! Ich weiß schon, wie. Ich sage ihr:

»Es ist schade, daß du nicht weißt, was eine Kabbala bedeutet. Wüßtest du, was das heißt, dann würdest du nicht lachen. Mit Hilfe der Kabbala kann ich, wenn ich will, deine Mutter hier heraufbeschwören. Ja! Wenn du sehr bittest, wird sie dir noch heute Nacht, auf einem Besen reitend, erscheinen.«

Busja hörte sofort auf zu lachen. Eine leichte Wolke zog über ihr wunderhübsches, helles Gesichtchen. Mir war es, als wäre die Sonne plötzlich verschwunden. Ich fühlte, daß ich zu weit gegangen war. Ich hätte ihre wunde Stelle – die Mutter – nicht berühren sollen. Wie ich meine Tat bereue! Ich muß meine Schuld unbedingt wieder gutmachen, mich irgendwie entschuldigen. Ich rücke näher zu ihr heran. Sie dreht sich um. Ich will sie bei den Händen fassen. Ich will ihr mit den Worten des ›Liedes der Lieder‹ sagen:

»Kehre wieder, kehre wieder, Sulamith! Wende dich nach mir um, Busja!«

Plötzlich vernehme ich eine Stimme aus dem Haus:

»Schimek! Schimek!«

Schimek – bin ich. Die Mutter ruft mich. Es ist Zeit, mit dem Vater in die Synagoge zu gehen.

*

Kann es ein größeres Vergnügen geben, als am Abend vor Ostern mit dem Vater in die Synagoge zu gehen? Ich bin von Kopf bis zu Füßen nagelneu angezogen, ich kann mich vor meinen Kameraden zeigen. Und dann der Abendgottesdienst, die Feiertagsgebete am ersten Osterabend! Ach! Wieviel Freude hat der Herr Gott für die jüdischen Kinder geschafft!

»Schimek! Schimek!«

Die Mutter hat es eilig! Ich gehe, ich gehe sofort, ich komme schon. Ich muß Busja nur noch zwei Worte sagen. Nur zwei Worte ...

Ich sage sie. Ich gestehe ihr, daß ich die Unwahrheit gesagt habe. Mit Hilfe der Kabbala einen anderen fliegen zu lassen – sei unmöglich. Selber zu fliegen – das ist etwas anderes, das kann ich, wenn ich will. Mögen die Feiertage erst vorbei sein, dann will ich es ihr zeigen. Ich werde mich, vor ihren Augen von dieser selben Stelle, an der wir sitzen, von den Klötzen in die Höhe schwingen. In einem Augenblick werde ich bis über die Wolken hinauffliegen. Von dort werde ich mich nach rechts wenden, dorthin – siehst du? ... Dort ist das Land zu Ende, dort beginnt das Eismeer.

*

Busja hört aufmerksam zu. Die Sonne geht unter. Die letzten Strahlen streicheln die Erde.

»Was ist das? Das Eismeer?« fragt mich Busja.

»Kennst du das Eismeer nicht? Das ist ein Meer, das mit Eis bedeckt ist. Das Wasser ist dort ganz dick und sehr gesalzen, wie Heringslauge. Schiffe können auf diesem Meer nicht schwimmen, Menschen, die dorthin geraten, kehren nie wieder.«

Busja lauscht, die Augen weit aufgerissen.

»Warum willst du denn dahin gehen?«

»Gehen? Fliegen ... will ich! Ich fliege am Himmel entlang, wie ein Adler. In wenigen Augenblicken bin ich wieder auf dem Land. Dort ziehen sich in langer Reihe zwölf hohe, feuerspeiende Berge. Ich werde mich auf dem Gipfel des zwölften Berges niederlassen. Ich werde sieben Meilen zu Fuß gehen und zu einem dichten Wald kommen. Dann werde ich lange durch den Wald wandern. Aus einem Wald in den anderen. Endlich gelange ich zu einem Bach. Ich schwimme über den Bach hinüber und zähle siebenmal bis zu sieben. Hierauf erscheint ein Greis mit langem Bart und fragt mich: »Was wünschest du?« Ich werde ihm antworten: »Führe mich zur Prinzessin.«

»Zu welcher Prinzessin?« fragt mich Busja. Mir scheint, sie ist erschrocken.

»Zur Prinzessin, der schönen Prinzessin, die vom Altar entführt, verzaubert, hierher gebracht und in ein kristallenes Schloß eingeschlossen wurde. Sieben Jahre sind es her, seitdem sie dort sitzt ...«

»Was geht sie dich an?«

»Was sie mich angeht? Ich muß sie befreien.«

»Du mußt sie befreien?«

»Wer denn sonst?«

»Du sollst nicht so weit fliegen; höre auf mich, du sollst nicht ...«

*

Busja faßt mich bei der Hand. Ich fühle die Kälte ihres kleinen Händchens. Ich schaue ihr in die Augen. Ich sehe, wie sich in ihnen die goldene Sonne spiegelt, die von dem Tage, von dem ersten hellen Tag vor Osteranfang Abschied nimmt. Ganz langsam stirbt dieser Tag. Wie eine Kerze erlischt die Sonne. Der Lärm, der während des Tages geherrscht hat, läßt nach. Auf der Straße sieht man fast keine Menschen mehr. In den Fenstern der Stuben flammen die Lichter der Feiertagskerzen auf. Eine seltsame, heilige Stille umgibt uns, mich und Busja, ringsumher. Wir fühlen uns mit dieser Festtagsstille eng verschmolzen.

»Schimek! Schimek!«

*

Bereits zum dritten Male ruft mich die Mutter. Es ist Zeit, mit dem Vater in die Synagoge zu gehen. Weiß ich denn nicht selber, daß man in die Synagoge gehen muß? Ich bleibe noch einen Augenblick. Noch eine Minute, nicht länger. Busja hörte, daß ich gerufen werde, und zog ihre Hand fort. Sie gemahnt mich zur Eile:

»Schimek, du wirst ja gerufen! Geh! Es ist Zeit, geh, geh!«

Ich schicke mich an, zu gehen. Der Tag ist fortgeweht, die Sonne ist erloschen. Das Gold hat sich in Blut verwandelt. Ein leichter Wind weht, zart und kühl. Busja treibt mich an. Ich werfe ihr einen letzten Blick zu. Es ist eine ganz andere Busja wie vorher. Wie prächtig sie an diesem verzauberten Abend ausschaut. ›Eine verzauberte Prinzessin!‹ geht es mir durch den Kopf. Aber Busja läßt mich nicht lange nachdenken. Sie treibt mich, sie gemahnt mich zur Eile. Ich gehe und schaue mich nach meiner verzauberten Prinzessin um. Sie ist vollständig mit dem heiligen, zaubervollen Abend vor Osteranfang verschmolzen. Auch ich bleibe wie verzaubert stehen. Sie winkt mir mit der Hand: Geh! Geh! Es scheint mir, daß ich ihre Stimme höre. Sie spricht zu mir, mit den Worten aus dem ›Lied der Lieder‹.

»Laufe, o du mein Geliebter, gleich einem Reh oder jungen Hirsch auf den Scheidebergen!«

Noch ein paar Blätter aus dem Lied der Lieder.

»Schneller, Busja, schneller!« sage ich zu Busja am Abend vor ›Schewuos‹ – dem Pfingstfest, fasse sie bei der Hand, und wir rennen schnell hinunter.

»Der Tag steht nicht still, Dummchen!«

Wir müssen einen Berg überschreiten, nach dem Berg noch ein Flüßchen. Über den Fluß führt eine kleine Brücke. Das Flüßchen fließt, die Frösche quaken, die Balken schwanken unter den Füßen.

Aber dort, jenseits der Brücke, beginnt das wahre Paradies.

»Busja, dort beginnen meine Besitzungen.«

»Deine Besitzungen?«

»Ja, meine saftigen Wiesen. Eine riesige Wiese zieht sich endlos dahin, ohne Grenzen, mit einem grünen Teppich bedeckt, mit gelben Fleckchen bespritzt, mit roten Blümlein überschüttet! Und einen Duft wirst du dort vernehmen, – den schönsten Balsam in der Welt. Auch einen Wald habe ich, mit zahllosen, furchtbar hohen, astreichen Bäumen. Dort gehört mir ein kleiner Berg, auf dem ich mich aufhalte. Wenn ich will, sitze ich, – wenn ich will, sage ich einen ›heiligen Namen‹ und fliege wie ein Adler bis über die Wolken hinaus, über Felder und Wälder, über Meere und Wüsten, über die ›Schwarzen Berge‹ ... Von dort lasse ich mich hinunter.

»Dann gehst du sieben Meilen,« unterbricht mich Busja, »und kommst zu einem Bach? ...«

»Nein, zu einem dichten Wald ... Ich muß lange durch den Wald gehen, bis ich das reizende Bächlein erblicke.«

»Dann schwimmst du über das Bächlein und zählst siebenmal zu sieben ...«

»Und vor mir erscheint ein alter Greis mit langem Bart ...«

»Er fragt dich: ›Was wünschest du?‹«

»Und ich sage ihm: ›Führe mich zur Prinzessin.‹«

Busja zieht die Hand aus der meinen und rennt den Berg hinauf. Ich renne ihr nach.

»Busja, warum rennst du so?«

Busja antwortet nicht, Busja ist böse. Sie liebt die Prinzessin nicht. Alle Märchen liebt sie, nur nicht das von der Prinzessin ...

*

Ha, ha, ha! Alle glauben, daß ich und Busja Bruder und Schwester sind. Meinen Vater nennt sie Papa, meine Mutter – Mama. Wir leben miteinander wie Bruder und Schwester und lieben einander wie Bruder und Schwester. Wie Bruder und Schwester? – Warum schämt sich denn Busja vor mir?

Einmal blieben wir ganz allein zu Hause. Es war zur Dämmerzeit, es war schon ganz dunkel. Der Vater war in die Synagoge gegangen, das Totengebet für den verstorbenen Bruder Benja zu sagen, die Mutter war fortgegangen, Streichhölzer zu holen.

Ich verkroch mich mit Busja in einen Winkel. Ich erzählte ihr Märchen, schöne Märchen aus Tausend und einer Nacht. Sie rückte ganz nahe zu mir heran; ihre Hand ruhte in meiner Hand.

»Erzähle, Schimek, erzähle.«

Die Nacht sank leise herab. Über die Wand glitten langsam Schatten, sie zitterten, krochen über den Fußboden und zerrannen dort. Wir sahen einander kaum. Aber ich fühlte, daß ihr Händchen zitterte; ich hörte, wie ihr Herzchen klopfte; ich sah, wie ihre Äuglein im Dunkeln glänzten. Plötzlich riß sie ihre Hand aus der meinen.

»Was ist denn, Busja?«

»Das ist nicht erlaubt.«

»Was ist nicht erlaubt?«

»Deine Hand zu halten.«

»Warum nicht? Wer hat es dir gesagt?«

»Ich weiß es selbst.«

»Sind wir uns denn fremd? Bist du denn nicht meine Schwester?«

»Ach, wären wir Bruder und Schwester ...« sagte Busja leise.

In ihren Worten hörte ich das Echo des ›Liedes der Lieder‹:

»Oh, wärest du mein Bruder!«

*

Jetzt rennen wir den Berg hinauf. Busja voran, ich hinter ihr her. Busja ist noch immer ärgerlich. Aber Busjas Ärger dauert nicht lange. Schon ruhen wieder ihre großen, hellen, nachdenklichen Augen. Sie wirft ihr Haar nach hinten und sagt zu mir:

»Schimek, ach Schimek! Schau nur! Schau doch nur den Himmel an! Du siehst gar nichts!«

»Ich sehe, Dummchen, sehe ich denn nicht? Ich sehe den Himmel, ich fühle den warmen Windhauch, ich höre, wie die Vöglein zwitschern und singen und über unseren Häuptern dahinziehen. Das ist unser Himmel, unser Wind, unsere Wolken – alles unser, unser, unser! – Gib mir deine Hand, Busja!«

Nein. Sie gibt sie mir nicht. Sie schämt sich. Warum schämt sie sich vor mir? Warum ist sie rot geworden?

»Dort,« sagt Busja und rennt davon, »dort, jenseits des Flüßchens! ...« Und es scheint mir, als spreche sie mit den Worten der Sulamith aus dem Hohen Lied: ›Komm, mein Freund, laß uns auf das Feld hinausgehen und auf den Dörfern bleiben; daß wir früh aufstehen zu den Weinbergen, daß wir sehen, ob der Weinstock blühe und Augen gewonnen habe, ob die Granatäpfelbäume ausgeschlagen sind?‹

Wir sind an der Brücke angelangt.

*

Das Flüßchen strömt, die Frösche quaken, das Schilf schwankt, zittert. Auch Busja zittert.

»Ach, Busja, wie bist du ... wovor fürchtest du dich? Klammere dich fest an mich, oder komm, wir wollen uns umarmen. So.«

Die Brücke ist zu Ende.

Wir halten uns umarmt und wandeln ganz allein in diesem Paradies. Busja hält mich fest, sehr fest. Sie schweigt, aber es scheint mir, als hörte ich die Worte aus dem ›Lied der Lieder‹:

»Mein Freund ist mein, und er hält sich auch zu mir.«

Die Wiese zieht sich endlos, grenzenlos hin. Und wir wandeln, einander umarmend, allein durch dieses Paradies.

»Schimek,« sagt Busja zu mir, sieht mir in die Augen und rückt noch näher zu mir heran, »wann fangen wir an, Gras zu pflücken?«

»Der Tag ist noch lang, Dummchen!« sage ich zu ihr. Ich weiß nicht, was ich zuerst anschauen soll: die blaue Himmelskappe oder den grünen Teppich der weiten Wiese oder den Horizont, wo die Erde sich mit dem Himmel vereint ... Oder soll ich in Busjas helles Gesichtchen blicken, in ihre wunderschönen, großen Augen, die so tief sind wie der Himmel und so nachdenklich wie die Nacht?

Ihre Augen sind immer nachdenklich. Tiefe Traurigkeit ist in ihnen verborgen. Bange Schwermut lagert in ihnen. Ich kenne ihre Traurigkeit. Sie hat einen großen Schmerz in ihrer Brust, sie grollt ihrer Mutter, warum sie einen fremden Vater geheiratet hat und für immer, wie eine Fremde, von ihr fortgereist ist. Im Hause darf der Name ihrer Mutter nicht erwähnt werden, als wäre sie gar nicht ihre Mutter. Meine Mutter ist ihre Mutter, mein Vater – ihr Vater. Sie lieben sie, zittern um sie, lesen ihr alle Wünsche von den Augen ab. Nichts ist ihnen zu teuer für Busja.

Busja sagte, daß sie mit mir gehen möchte, Grünes zu Pfingsten zu pflücken; – ich habe sie auf diesen Gedanken gebracht. Der Vater blickte über seine Brillengläser hinweg, glättete die langen Fäden seines Silberbartes und fragte die Mutter:

»Wie denkst du darüber?«

Es entspinnt sich zwischen den Eltern ein Gespräch über unseren Spaziergang zur Stadt hinaus, um Grünes zu holen.

Der Vater: Was sagst du dazu?

Die Mutter: Was sagst du dazu?

Der Vater: Soll man sie spazierengehen lassen?

Die Mutter: Warum soll man sie nicht gehen lassen?

Der Vater: Sage ich denn, daß nicht?

Die Mutter: Was meinst du denn?

Der Vater: Ich frage nur, ob es lohnt, sie gehen zu lassen?

Die Mutter: Warum sollen sie nicht gehen?

Und so weiter. Ich weiß, worum es sich handelt: zwanzigmal warnt mich der Vater, dann die Mutter, daß dort eine Brücke ist und unter der Brücke – Wasser, das Flüßchen, das flinke, lustige Flüßchen ...

*

Ich und Busja haben längst die Brücke, das Wasser und das Flüßchen vergessen. Wir wandeln über die weite, freie Wiese, unter dem weiten, freien Himmel. Wir laufen über die grüne Wiese, fallen, wälzen uns im duftenden Gras. Wir stehen auf, rennen wieder, fallen und wälzen uns. Noch denken wir nicht daran, Grünes zu pflücken. Ich führe Busja, zeige ihr meine Besitzungen, rühme mich vor ihr mit meinen Reichtümern.

»Siehst du dort jene Bäume? Siehst du jenen Sand? Siehst du jenen Hügel?«

»Und all dies ist dein?« sagt Busja zu mir, und ihre Augen lachen. Mir ist es peinlich, daß sie lacht. Ich schmolle und wende mich ab. Busja errät, daß ich ärgerlich bin. Sie kommt von vorn heran, schaut mir in die Augen, faßt mich bei der Hand und sagt zu mir: »Schimek!«

Der Zorn verschwindet, – alles ist vergessen. Ich fasse sie bei der Hand und führe sie zu meinem Hügel, dorthin, wo ich stets, jedes Jahr zu sitzen pflege. Wenn ich will, sitze ich still, wenn ich will, spreche ich den ›Heiligen Namen‹ und fliege als Adler bis zu den Wolken, über Felder und Wälder, über Meere und Wüsten ...

*

Dort auf dem Hügel sitzen wir, ich mit Busja, und erzählen Märchen: ich erzähle, sie hört zu. Ich erzähle ihr davon, was einst aus uns werden wird. Mit der Zeit, wenn ich groß bin und sie groß ist, und ich sie nehme ... Wir werden das ›Heilige Wort‹ sagen und uns sofort bis zu den Wolken aufschwingen und die ganze Welt umfliegen. Vor allem werden wir alle diejenigen Länder besuchen, wo Alexander von Mazedonien einst gelebt hat. Dann begeben wir uns nach dem Heiligen Land, dort werden wir alle balsamischen Berge, alle Weinberge aufsuchen, die Taschen mit Weintrauben, Feigen, Granaten füllen und weiterfliegen. Überall werden wir uns etwas anderes ausdenken, damit uns niemand sehe ...

»Wird uns niemand sehen?« fragt Busja und faßt mich bei der Hand.

»Niemand! Niemand! Wir werden alle sehen, aber uns wird niemand sehen!«

»Dann habe ich eine Bitte zu dir, Schimek?«

»Eine Bitte?«

»Eine kleine Bitte ...«

Ich weiß, was es für eine Bitte ist: sie will, daß wir dahinfliegen, wo ihre Mutter lebt, und ihrem Stiefvater gründlich die Wahrheit sagen ...

»Warum denn nicht?« sage ich ihr ... »Mit dem größten Vergnügen, du kannst dich auf mich verlassen. Ich werde ihnen die Wahrheit sagen, daß sie daran denken werden ...«

»Nicht ihnen, sondern ihm allein!« bittet mich Busja.

Aber so leicht lasse ich mich nicht erbitten. Wenn man mich böse macht, dann – Vorsicht! Ich kann's der Mutter nicht verzeihen! Was eine Frau sich alles erlauben kann! Einen fremden Vater heiraten und das Kind verlassen, nicht einmal einen Brief schreiben! Ist so etwas erlaubt? Wo hat man eine solche Schande gehört?! ...

*

Ich hätte mich nicht so aufregen sollen. Ich bereue es jetzt, aber es ist vorbei. Busja hat das Gesicht mit beiden Händen verdeckt. Sie weint! Ich könnte mich in Stücke zerreißen: Warum habe ich an ihrer Wunde gerührt? Warum habe ich ihre Mutter erwähnt? Ich belege mich mit den gröbsten Schimpfworten: »Dummkopf, Ochse, Esel, Schafskopf, Bohnenstroh!« Ich rücke zu ihr heran, erfasse ihre Hand.

»Busja! Busja!« Ich möchte ihr mit den Worten aus dem ›Lied der Lieder‹ sagen: ›Zeig mir dein Angesicht, laß mich deine Stimme hören ...‹

Plötzlich ... Woher sind plötzlich mein Vater und meine Mutter erschienen?

*

Die silberne Brille meines Vaters glitzert in der Ferne. Die langen Fäden seines Silberbartes wehen im Wind. Die Mutter wedelt uns von weitem mit dem Tuch zu. Wir beide, ich und Busja, sitzen wie erstarrt. Wozu sind sie hierher gekommen? Sie kamen, nach uns zu schauen. Ob uns nicht etwas zugestoßen sei? Wer weiß, welch ein Unglück passieren konnte! – Die Brücke, das Wasser, das Flüßchen, das Flüßchen, das Flüßchen ...

Seltsame Eltern habe ich.

»Wo ist euer Grünes?«

»Was für Grünes?«

»Das Grüne, das ihr verspracht, zum Feiertag zu pflücken? ...«

Wir beide, ich und Busja, sehen einander an. Ich verstehe ihren Blick. Mir erscheint, als sage sie mit den Worten aus dem ›Lied der Lieder‹:

›Oh, wärest du mein Bruder! ... Warum bist du nicht mein Bruder!‹ ...

»Nun, wir werden schon irgendwie Grünes für die Feiertage herbeischaffen!« sagt der Vater lächelnd, und die silbernen Fäden seines Bartes glänzen in den hellen Strahlen der goldenen Sonne.

»Gott sei Dank, daß die Kinder gesund sind, daß ihnen gottlob nichts zugestoßen ist!«

»Gott sei Dank!« antwortet die Mutter und wischt mit dem Taschentuch ihr rotes, schweißbedecktes Gesicht. Und beide sind zufrieden. Ein Lächeln umspiegelt ihre Gesichter.

Wunderbare Eltern habe ich.

So pflückten wir Grünes für die Pfingstfeiertage.

 

Ende.


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