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Der Gast.

»Reb Jojne, ich habe für Euch einen Gast für die Osterfeiertage, einen Gast, wie Ihr noch nie einen hattet, seitdem Ihr ein Haus führt!«

»Nämlich?«

»Nämlich – eine feine Frucht!«

»Was heißt – eine feine Frucht?«

»Ich meine einen Juden, so fein wie Seide, einen schönen, vornehmen Juden. Nur einen Fehler hat er, daß er unsere Sprache nicht versteht.«

»Welche Sprache versteht er denn?«

»Hebräisch.«

»Ist er aus Jerusalem?«

»Von wo er stammt, weiß ich nicht, aber wenn er redet, spricht er alles mit ›a‹ aus.«

Dieses Gespräch führte mein Vater mit Asriel, dem Synagogendiener, wenige Tage vor Ostern. Ich war sehr neugierig, den vornehmen Gast, die ›feine Frucht‹, zu sehen, der unsere Sprache nicht verstand und alles mit ›a‹ aussprach. In der Synagoge hatte ich bereits ein seltsames Geschöpf bemerkt, mit einer verbrämten Mütze und einem türkischen, – gelb, blau und rot gestreiften Kaftan. Wir Jungen umgaben das Individuum von allen Seiten, betrachteten es neugierig und wurden von dem Synagogendiener dafür ausgescholten.

»Kinder sollen so ungezogen sein und einen fremden Menschen anglotzen!« fuhr er uns an.

Nach der Andacht begrüßten alle Leute den Fremden mit einem Handschlag und wünschten ihm ein frohes Fest. Der Fremde erwiderte allen mit einem freundlichen Lächeln auf den roten Wangen, die von einem grauen Bart umgeben waren: »Schalom, Schalom!«

Dieser Gruß rief bei uns Jungen ein lautes Gelächter hervor, das den Synagogendiener sehr ärgerte.

Er näherte sich uns und holte mit der Hand aus, um uns Ohrfeigen zu versetzen. Aber wir entschlüpften seiner Hand, schlichen uns wieder zu dem Fremden heran, um zu hören, wie er allerseits seinen Gruß bot und immer »Schalom, Schalom!« sagte, brachen wieder in lautes Lachen aus und entschlüpften immer wieder der drohenden Hand des Synagogendieners.

Mit großem Stolz folgte ich dem Vater, als er mit diesem Fremden am Feiertag nach Hause ging.

Ich fühlte, daß meine Kameraden mich um den Gast beneideten; sie schauten uns aus der Ferne nach, ich aber drehte mich zu ihnen um und steckte ihnen die Zunge aus. Während des ganzen Weges schwiegen wir alle drei; als wir das Zimmer betraten, rief der Vater der Mutter zu: »Gut Jonteff! Fröhliche Feiertage!«

Der Gast schüttelte den Kopf, so daß seine Feiertagsmütze sich bewegte und sagte wieder: »Schalom, Schalom!«

Ich erinnerte mich meiner Kameraden und versteckte mein Gesicht unter der Tischplatte, um nicht mit einem Gelächter herauszuplatzen.

Ich sah immer wieder zu den Fremden auf, der mir vortrefflich gefiel; ich bewunderte sein türkisches, rot, blau und gelb gestreiftes Gewand; ich bewunderte seine frischen, roten Wangen, die von einem runden grauen Bart umgeben waren; ich bewunderte seine schönen, schwarzen Augen, die lächelnd unter den dichten, grauen Augenbrauen hervorsahen. Auch meinem Vater schien er zu gefallen. Der Vater freute sich mit ihm, und meine Mutter blickte zu ihm auf, wie zu einem göttlichen Menschen. Niemand sprach ein Wort zu ihm, der Vater bereitete ihm selbst den Ehrensitz, die Mutter war mit der Vorbereitung der Osterzeremonien beschäftigt, und Rieke, das Dienstmädchen, half ihr dabei.

Erst, als es Zeit war, den Segensspruch über den Wein zu verrichten, begann der Vater mit dem Gast ein Gespräch in hebräischer Sprache; ich freute mich, daß ich fast jedes Wort verstand und gebe das Gespräch wörtlich wieder:

Der Vater: Nu? (In unserer Sprache heißt das: Bitte, verrichtet Ihr das Gebet!)

Der Gast: Nu, nu! (In unserer Sprache heißt das: Macht, macht!)

Der Vater: Nu, o? (Warum nicht Ihr?)

Der Gast: O, nu! (Und Ihr warum nicht?)

Der Vater: Ih, o! (Erst Ihr!)

Der Gast: O, ih! (Ihr erst!)

Der Vater: Eh, o, ih! (Ich bitte Euch, fangt Ihr an!)

Der Gast: Ih, o, eh! (Fangt Ihr an, ich bitte Euch!)

Der Vater: Ih, eh, o, nu? (Was schadet es Euch, wenn Ihr anfangt?)

Der Gast: Ih, oh, eh, nu, nu! (Wenn Ihr durchaus wollt, werde ich anfangen!)

Der Gast nahm den mit Wein gefüllten Becher aus der Hand des Vaters und verrichtete den Segensspruch, – einen Segensspruch, wie wir ihn noch nie gehört haben und nie mehr hören werden. Erstens sagte er den Anfang des Segensspruchs mit lauter ›a‹: »Barschat marabanan warabanan, warabatai ...« und zweitens kam die Stimme bei ihm nicht aus dem Hals, sondern gleichsam aus dem türkischen – blau, gelb und rot gestreiften – Gewand. Ich stellte mir vor, wie meine Kameraden in lautes Lachen ausgebrochen und was für Ohrfeigen geflogen wären, wenn sie bei diesem Segensspruch zugegen gewesen wären. Aber da ich allein war, hielt ich mich zurück und richtete an den Vater die vier Fragen. Wir sagten zusammen die ›Hagada‹ – die Schilderung des Auszugs der Juden aus Ägypten – und ich war stolz darauf, daß der Fremde unser und nicht eines anderen Gast war.

Der Gelehrte, der gesagt hat, daß man während des Essens nicht sprechen soll, kannte – er soll es mir verzeihen – das jüdische Leben nicht. Ich bitte euch, wann hat ein Jude mehr Zeit zum Reden, als beim Essen, und besonders am Osterabend beim Festmahl, wenn so viel erzählt werden muß? ...

Rieke, das Dienstmädchen, reichte das Wasser, dann wuschen wir uns die Hände, verrichteten den Segensspruch über dem Brot und gelobten, ›Mazze‹ zu essen. Endlich teilte die Mutter die Fische aus. Der Vater strich seine Ärmel hoch und begann mit dem Gast ein langes Gespräch in hebräischer Sprache. Das erste, was der Vater ihn fragte, war das übliche, was ein Jude den andern zu fragen pflegt:

»Euer Name?«

Hierauf antwortete ihm der Gast mit lauter ›a‹, in einem Atem, wie man die zehn Namen der Söhne Hamans herunterleiert:

»Ajak, Bacha, Galasch, Damas, Hanach, Wassam, Saan, Chafaz, Takaz.«

Der Vater blieb mit dem Bissen im Mund sitzen und blickte den Fremden verwundert an, wahrscheinlich, weil er einen so langen Namen hatte. Ich hustete und sah unter den Tisch, da sagte die Mutter zu mir: »Vorsichtig beim Fischessen, du kannst dich, Gott behüte, an einer Gräte erwürgen,« und blickte den Fremden mit großem Respekt an. Sie schien von seinem Namen sehr entzückt zu sein, obgleich sie sich den langen Namen nicht zu erklären wußte. Der Vater setzte ihr alles auseinander: »Verstehst du: Ajak, Bacha – das ist der Anfang des Alphabets, wahrscheinlich ist es bei ihnen Sitte, daß die Leute sich nach dem Alphabet nennen.«

»Alef, Beis! Alaf Beis,« unterbrach ihn der Fremde, seine blutroten Wangen zu einem Lächeln verzerrend, während seine schwarzen, leuchtenden Augen auf uns alle gerichtet waren und mit besonderem Behagen auf Rieke ruhten. Nachdem der Vater den Namen des Fremden kannte, war er neugierig zu erfahren, von wo er stammte und woher er kam. Ich verstand die Namen der Städte und Länder, die er nannte; der Vater erklärte der Mutter wieder jeden Namen, von dem die Mutter jedesmal entzückt war und Rieke in Bewunderung geriet. Es war in der Tat auch Grund, entzückt zu sein! Eine Kleinigkeit! Ein Fremder kam zehntausend Meilen aus einem Land dahergefahren, nach dem man über sieben Meere und Wüsten reisen mußte. Vierzig Tage und vierzig Nächte brauchte man, um die Wüste zu durchschreiten. Wenn man dem Ziel schon nahe war, mußte man einen hohen Berg besteigen, dessen schneebedeckte Spitze bis in die Wolken hineinragte und von lebensgefährlichem Sturmwind umbraust war.

Wenn man aber den Berg überschritten hatte und das Land betrat, erblickte man das wahre Paradies der Erde. Allerlei Früchte: Äpfel, Birnen, Pomeranzen, Weintrauben, Datteln, Feigen, Nüsse – und Gewürze gab es dort in Hülle und Fülle! Die Häuser waren von Dattelholz gebaut und mit echtem Silber bedeckt. Das Hausgerät war von purem Gold – hierbei musterte der Fremde unsere silbernen Becher, und die silbernen Messer, Gabel und Löffel; – Diamanten, Perlen und Brillanten konnte man dort auf der Straße finden, man gab sich kaum die Mühe, sich zu bücken, um sie aufzuheben, weil sie dort keinen Wert haben ... hierbei betrachtete der Fremde die Brillantenohrringe und die weiße Perlenkette, die die Mutter trug.

»Hörst du?« versetzte die Mutter und fragte: »Warum werden all die schönen Sachen nicht hierher gebracht? Es könnte hier doch gut verwertet werden. Frag ihn doch einmal, Jojne ...«

Der Vater stellte die Frage an den Fremden und erhielt von ihm eine Antwort, die er der Mutter in unsere Sprache übersetzte:

»Er sagt, verstehst du, wenn man hinkommt, kann man sich nehmen, so viel man will, alle Taschen voll, aber wenn man das Land verläßt, muß man alles wiedergeben. Falls etwas gefunden wird, was man nicht gutwillig abgegeben hat, so hat man die Todesstrafe auf sich geladen.«

»Was heißt das?« fragte die Mutter erschrocken.

»Das heißt, man wird an einen Baum gehängt oder gesteinigt.«

*

Je mehr man sich mit dem Fremden unterhielt, um so interessanter wurden seine Geschichten. Als wir bereits bei der Knödelspeise hielten und Wein dazu tranken, fragte ihn der Vater:

»Wem gehört das alles? Gibt es bei euch einen König?« Hierauf erhielt er prompt eine Antwort, die er der Mutter mit großer Freude übersetzte:

»Er sagt, alles gehört den dortigen Juden, die man ›Sefardim‹ nennt; sie haben einen König, ebenfalls einen Juden, der sehr fromm ist, eine Feiertagsmütze trägt und Josef Ben Josef heißt. Er ist Oberpriester bei den Sefardim und fährt in einer goldenen, mit sechs feurigen Pferden bespannten Karosse. Wenn er die Synagoge betritt, kommen ihm die Priester mit Gesang entgegen.«

»Singt man bei Euch in der Synagoge?« fragte ihn der Vater erstaunt und erhielt sofort eine Antwort, die er der Mutter in unsere Sprache übersetzte. Sein Gesicht leuchtete dabei wie die Sonne.

»Was sagst du dazu? Er erzählt, daß sie einen heiligen Tempel mit Hohenpriestern, Leviten und Orgel haben ...«

»Nun, habt Ihr auch einen Altar?« fragte ihn der Vater und erhielt eine Antwort, die er der Mutter übersetzte. »Er sagt, sie haben einen Altar für Opfergaben und goldene Gefäße, – alles wie in früheren Zeiten bei uns in Jerusalem.«

Bei diesen Worten seufzte der Vater tief, und als die Mutter das sah, seufzte auch sie, nur ich allein verstand nicht, warum man dabei seufzen mußte. Eigentlich sollte man doch froh darüber sein, daß es ein Land gibt, in dem ein jüdischer König regiert und in dem es einen Tempel mit Hohenpriestern, Orgel und Opferaltar gibt ... Leichte, frohe Gedanken umgaukelten mich und trugen mich hin in jenes glückliche, jüdische Land mit den Häusern von Dattelholz und mit silbernen Dächern, mit den echt goldenen Geräten, mit Perlen und Diamanten, die auf den Straßen herumlagen. Plötzlich leuchtete ein Gedanke in mir auf! Ich wußte, was ich tun würde, wenn ich dort wäre. Ich würde alles so gut verstecken, daß kein Mensch etwas finden würde. Ich würde der Mutter ein schönes Geschenk mitbringen, Brillantenohrringe und viele Perlenketten ... Hierbei betrachtete ich die Brillantohrringe der Mutter und die weißen Perlen, die ihren Hals zierten. Eine starke Lust ergriff mich, nach jenem Land zu kommen, und ich faßte den Gedanken, mit dem Fremden nach Ostern nach dort zu reisen, ganz im geheimen, daß niemand etwas davon wüßte. Ich wollte mein Geheimnis dem Fremden anvertrauen, mein Herz vor ihm ausschütten, ihm die ganze Wahrheit sagen und ihn bitten, mich wenigstens für kurze Zeit mitzunehmen; er wird meinen Wunsch sicher erfüllen, denn er ist ein guter, liebenswürdiger Mensch, der jeden und sogar Rieke, unsere Magd, liebevoll anschaute.

Während ich diesen Gedanken nachhing, betrachtete ich unseren Gast, der mein Vorhaben zu erraten schien; denn er sah mich mit seinen schönen, schwarzen Augen an, als ob er mir zublinzelte und in seiner Sprache sagen wollte:

»Schweig, mein kluger Junge! Laß erst Ostern vorüber sein, dann wird alles gut werden! ...«

*

Während der ganzen Zeit plagten mich Träume. Ich sah eine Wüste, einen heiligen Tempel mit Priestern und einen hohen Berg, den ich bestieg und auf dem Diamanten, Perlen und Brillanten wuchsen. Meine Kameraden kletterten auf die Bäume und schüttelten sie, so daß die Perlen und Diamanten in Unmenge herabfielen. Ich stand unten und las die Perlen, Diamanten und Brillanten auf und stopfte mir die Taschen mit ihnen voll ... Aber merkwürdig, – so viel ich auch stopfte, – es ging immer noch mehr hinein, und je mehr ich hineinstopfte, um so mehr ging hinein. Als ich die Hand in die Tasche steckte, zog ich von dort anstatt Perlen, Diamanten und Brillanten allerlei Früchte heraus: Äpfel, Birnen, Pomeranzen, Feigen, Datteln und Nüsse. Ich erschrak, drehte mich von einer Seite auf die andere und träumte weiter von dem Tempel, in dem ich die Priester singen und die Orgel spielen hörte. Ich wollte in den Tempel hineingehen, aber ich konnte nicht, weil Rieke mich zurückhielt und nicht hineinließ; ich bat sie, ich schrie und weinte und zitterte vor Angst ... Schließlich drehte ich mich im Schlaf um und erwachte ...

Da erblickte ich den Vater und die Mutter halb angezogen vor mir, beide leichenblaß, den Vater mit herabgelassenem Kopf, die Mutter, die Hände ringend, mit Tränen in den Augen. Mein kindliches Herz fühlte, daß etwas geschehen war, und zwar nichts Gutes, durchaus nichts Gutes. Aber mein kindlicher Kopf vermochte nicht zu fassen, wie groß das Unglück war.

Folgendes hatte sich ereignet: Unser Gast aus jenem fernen, glücklichen Land mit den Häusern aus Dattelholz und mit den silbernen Dächern und so weiter ... war verschwunden und mit ihm eine Menge Sachen; alle silbernen Becher, sämtliche silbernen Messer, Gabeln und Löffel, der gesamte Schmuck der Mutter und auch bares Geld, das bei uns im Kasten lag. Mit ihm war auch Rieke, unsere Magd, verschwunden ... Ich bedauerte nicht die silbernen Becher, noch die Messer, Gabeln und Löffel, die verschwunden waren, nicht den Schmuck der Mutter oder die Barschaft, auch nicht Rieke, unser Dienstmädchen, – hol' sie der Teufel! – Es tat mir nur leid um das glückliche Land mit den Perlen, Diamanten und Brillanten, die auf den Straßen herumlagen, und dem heiligen Tempel mit den Priestern, dem Opferaltar und der Orgel und um all die guten Sachen, die man mir geraubt hat. Geraubt! Geraubt! Ich wandte mich mit dem Gesicht zur Wand und weinte still und leise.


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