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Eine Hochzeit ohne Musikanten

»Ich versprach Euch, einmal zu erzählen, wie wir dank unserer Schmalspurbahn, die wir der ›Leergänger‹ nennen, vor einem großen Unglück bewahrt worden sind. Wenn Ihr die Geschichte hören wollt, so legt Euch, bitte, hier auf diese Bank, und ich lege mich Euch gegenüber auf die andere Bank!«

So sprach zu mir der Heißiner Kaufmann, mit dem ich wieder einmal in einem Wagen des ›Leergängers‹ zusammenkam. Und da wir auch dieses Mal wie immer die einzigen Fahrgäste waren und der Wagen entsetzlich überheizt war, legten wir die Röcke ab, knöpften die Westen auf und machten uns bequem wie in unseres Vaters Weingarten. Er legte sich auf die eine Bank und ich auf die andere. Und er begann mir ziemlich weitläufig zu erzählen, und ich hörte ihm aufmerksam zu, um die Erzählung später mit seinen eigenen Worten wiedergeben zu können.

»Es war in den Tagen – nicht gedacht soll ihrer werden! – in den Tagen der Freiheitsmanifeste, in den Tagen, an denen wir Juden so viel Freuden erlebt haben ... Wir in Heißin hatten allerdings keine Angst vor einem Pogrom ... Und wißt Ihr, warum wir keine Angst hatten? Einfach aus dem Grunde, weil es bei uns niemanden gibt, der einen Pogrom machen kann. Wenn man ordentlich nachsuchen wollte, hätte man wohl schon ein paar Leute finden können, die Lust hätten, uns ein wenig zu verprügeln ... Das folgt schon daraus, daß, als von den andern Städten die schönen Nachrichten kamen, sich auch bei uns in Heißin einige Leute fanden, die sofort eine geheime Botschaft an die maßgebende Stelle abschickten: da es nur recht und billig sei, daß man auch in Heißin etwas veranstalte, und da es doch in der Stadt selbst nicht genügend Leute gäbe, die mittun können, möchte man ihnen um Gottes willen zur Hilfe kommen und die nötige Anzahl Kerle schicken ... Und wie Ihr Euch denken könnt, kam schon nach vierundzwanzig Stunden die Nachricht, selbstverständlich eine ganz vertrauliche Nachricht, daß die nötigen Leute unterwegs seien. Woher kommen die Leute? Aus Schmerinka, aus Kasatin, aus Rasdjelnaja, Popelnaja und ähnlichen Orten, die sich durch ihre Pogromarbeit ausgezeichnet haben. Eine Frage: wieso erfuhr man bei uns dieses heilige Geheimnis? Nun, wir haben eben eine Quelle, und diese Quelle heißt Nojach Tonkonog. Und wer ist dieser Mann? Ihr kommt ja in unsere Gegend, also muß ich ihn Euch genauer schildern, damit Ihr ihn kennenlernt.

Nojach Tonkonog ist ein Mann, der mehr in die Höhe als in die Breite gewachsen ist. Gott gab ihm ein Paar lange Beine, also macht er von ihnen gehörig Gebrauch. Er ist immer unterwegs, und man kann ihn fast nie zu Hause antreffen. Er rennt ständig in tausend Angelegenheiten herum, die zum größten Teil fremde und nicht seine eigenen Angelegenheiten sind. Im übrigen besitzt er eine kleine Druckerei, die einzige Druckerei in Heißin. Und darum hat er Verbindungen bei allen Behörden, verkehrt mit sämtlichen Gutsbesitzern und Beamten und kennt alle Geheimnisse.

Aus dieser Quelle erfuhr man bei uns die gute Botschaft. Das heißt, die ›Quelle‹ selbst hat die Nachricht in der ganzen Stadt austrompetet. Natürlich erzählte er sie jedem einzelnen ganz vertraulich und setzte hinzu: ›Das erzähle ich Euch ganz allein, jemand anderm würde ich es gar nicht erzählen ...‹ Und so erfuhr es bald die ganze Stadt, daß die Pogromkerle aus den verschiedenen Städten zu uns unterwegs seien und daß bereits ein Plan ausgearbeitet sei, wie man die Juden schlagen solle. Man weiß sogar ganz genau, an welchem Tag, zu welcher Stunde und an welchem Ende der Stadt der Pogrom beginnen solle und welchen Weg die Kerle nehmen würden. Das war alles genau vorausbestimmt, wie in einem Kalender. Ihr könnt Euch vorstellen, was es für eine Aufregung in der Stadt gab! Und unter welchen Leuten, meint Ihr? Hauptsächlich unter den Ärmsten! Es ist doch wirklich sonderbar mit diesen Bettlern! Wenn ein Reicher vor solchen Dingen zittert, kann man es noch verstehen: er fürchtet, von heute auf morgen ein Bettler zu werden. Aber was zittern die geborenen Bettler? Was haben die zu verlieren? Ihr hättet aber sehen sollen, wie sie ihr bißchen Hab und Gut zusammenscharrten und sich mit ihren Kindern versteckten. Wo verstecken sich Juden in solchen Fällen? Der eine – bei einem anständigen Goj im Keller, der andre beim Notar auf dem Dachboden, der dritte – beim Fabrikdirektor in der Fabrik. Ein jeder findet sich schon ein Plätzchen. Doch ich allein, wie Ihr mich seht, wollte mich nicht verstecken. Nicht um vor Euch zu prahlen, sondern bloß, damit Ihr mein Benehmen versteht, will ich Euch beweisen, daß ich nicht so unrecht habe: Erstens frage ich mich, warum muß ich vor einem Pogrom Angst haben? Und zweitens – das will ich Euch lieber nicht sagen; denn es ist möglich, daß auch Ihr Lust hättet, Euch in der heißen Stunde zu verstecken ... Nur ist die Frage: Wo soll man sich verstecken? Wer garantiert mir dafür, daß auf den anständigen Goj oder auf den Notar oder auf den Fabrikbesitzer im rechten Augenblick noch ein Verlaß ist? Ihr versteht mich doch? Und außerdem, wie läßt man so eine ganze Stadt im Stich? Weglaufen ist kein Kunststück. Man muß etwas tun. Doch, andererseits, was können Juden tun? Es gibt nur eine Zuflucht – die Obrigkeit! Wahrscheinlich gibt es auch in Eurer Stadt einen Menschen, der sich mit der Obrigkeit gut steht. Bei uns in Heißin gibt es einen solchen Mann. Nachman Kossoj heißt er. Er ist Bauunternehmer, hat einen runden Vollbart, trägt eine samtene Weste und wohnt in einem eigenen Haus. Und da er Bauunternehmer ist und am Straßenbau beteiligt ist, steht er sich gut mit dem Polizeimeister und pflegt sogar mit ihm Tee zu trinken. Damals hatten wir zufällig einen sehr anständigen Polizeimeister. Einen Edelstein von einem Polizeimeister. Was heißt einen Edelstein? Er pflegte gerne kleine Geldgeschenke anzunehmen, doch nur von Nachman Kossoj. Das heißt, er nahm eigentlich von jedem; warum sollte er auch nicht nehmen? Aber vom Bauunternehmer nahm er eben mit größerer Lust. Ihr versteht?

Kurz und gut, man besprach die Sache mit Nachman Kossoj, veranstaltete eine Kollekte und brachte, wie Ihr Euch denken könnt, eine recht hübsche Summe zusammen. Denn wie kann man unter solchen Umständen mit einem Beamten sprechen, ohne ihm ein entsprechendes Geschenk in die Hand zu drücken, damit er sich der Sache mit richtigem Eifer annimmt? Der Polizeimeister beruhigte uns natürlich und sagte, wir könnten ruhig schlafen, denn es würde nichts geschehen. Wir konnten uns also beruhigen, nicht wahr? Nun haben wir aber in Heißin die bewußte Quelle, und diese Quelle, das heißt Nojach Tonkonog, läßt plötzlich das Gerücht los, natürlich ganz vertraulich, daß von der Pogrombande bereits eine Depesche eingetroffen sei; und er schwört, daß er diese Depesche mit eigenen Augen gesehen hätte. Und was steht in der Depesche? Nur zwei Worte: ›Wir kommen.‹ Es sind sehr unangenehme Worte! Natürlich läuft man sofort wieder zum Polizeimeister: ›Euer Gnaden, die Sache steht schlecht!‹ Fragt er: ›Was ist schlecht?‹ Sagt man ihm : ›Eine Depesche ist gekommen.‹ Fragt er: ›Woher?‹ Sagt man ihm: ›Aus jener Gegend.‹ Fragt er: ›Was steht in der Depesche?‹ Sagt man ihm: ›Wir kommen!‹ Fängt er zu lachen an und sagt: ›Ihr seid Narren‹, sagt er, ›denn ich habe doch gestern aus Toltschin eine Eskadron Kosaken kommen lassen. ›Wie wir das Wort ›Kosaken‹ hören, wächst uns, wie man sagt, eine neue Haut. Denn, wenn ein Jude von ›Kosaken‹ hört, fühlt er sich plötzlich sicher und hat vor niemand mehr Angst. Es ist doch wirklich keine Kleinigkeit, wenn man solche Beschützer hat! Nun ist aber noch fraglich, wer früher ankommen wird: die Kosaken oder die Pogrombande. Die Kosaken kommen geritten, und die Kerle reisen mit der Eisenbahn. Die ganze Hoffnung ist also, daß unser ›Leergänger‹ wieder einmal eine Verspätung von einigen Stunden haben wird. Denn das kam bei ihm gar nicht so selten vor, eigentlich – jeden Tag. Nun stellt Euch vor, daß dieses Wunder gerade an diesem Tage nicht geschah. Wie zum Trotz fuhr der Zug von Station zu Station pünktlich nach dem Fahrplan. Ihr könnt Euch vorstellen, wieviel Gesundheit es uns kostete und welche Angst uns alle befiel, als wir, natürlich aus der bewußten Quelle, erfuhren, daß eine neue Depesche eingetroffen sei, und zwar schon von der letzten Station ›Krischtofowka‹, und daß die Depesche wieder lautete: ›Wir kommen!‹ mit dem Zusatz: ›Hurra!‹ Auch diese Nachricht teilte man sogleich dem Polizeimeister mit und flehte ihn an, er möchte sich nicht nur auf die Kosaken verlassen, die vielleicht einmal aus Toltschin eintreffen würden, sondern auch Polizei zum Bahnhof schicken, um wenigstens das Ansehen zu wahren und den Kerlen zu zeigen, daß es noch ein Recht und ein Gesetz gibt. Und der Herr Polizeimeister ließ sich diesmal nicht lange bitten und erfüllte unsere Bitte. Er tat sogar noch mehr: er legte seine Galauniform mit allen Orden an und begab sich in eigener Person und Herrlichkeit, an der Spitze der ganzen ihm unterstellten Polizei, zum Bahnhof, um den Zug zu empfangen.

Doch die einigen Bösewichter und Feinde, die wir in der Stadt hatten, ruhten auch ihrerseits nicht: auch sie legten ihre festlichen Gewänder mit allen Orden an, nahmen einige Popen mit und begaben sich gleichfalls zum Bahnhof. Der Polizeimeister fragte sie sogar: ›Was wollt ihr hier?‹ Und sie antworteten mit der gleichen Frage: ›Und was willst du hier?‹ Ein Wort gab das andere, und der Polizeimeister sagte ihnen, daß ihre ganze Mühe umsonst sei. Solange er hier Polizeimeister sei, sagte er, wird es in Heißin keinen Pogrom geben. Das sagte er ihnen mit großem Nachdruck. Sie hörten ihn lächelnd an und antworteten ganz frech: ›Das werden wir bald sehen!‹ Und kaum hatten sie diese Worte gesprochen, als aus der Ferne ein Lokomotivpfiff erklang. Ihr könnt Euch denken, daß uns vor diesem Pfiff das Blut gerann. Wir waren gefaßt, nach diesem Pfiff noch einen zweiten Pfiff und ein ›Hurra‹ zu hören und alles, was diesem ›Hurra‹ zu folgen pflegt. Das wußte man schon aus anderen Städten ... Doch was stellte sich heraus? Es war wirklich der Pfiff der Lokomotive, doch das ganze Pfeifen war umsonst. Wieso? Das ist eben die schöne Geschichte, die sich nur mit unserem ›Leergänger‹ treffen kann. Hört nur weiter.

Wie die Lokomotive am Bahnhof von Heißin hält, springt der Maschinist von der Lokomotive herunter und begibt sich, seiner Gewohnheit gemäß, direkt ins Büfett. Fragt man ihn: ›Bursche, wo ist der Zug?‹ – Sagt er: ›Was für ein Zug?‹ – ›Siehst du denn nicht, daß du mit der Lokomotive allein, ohne einen einzigen Wagen, angekommen bist?‹ Der Maschinist betrachtet die Lokomotive und sagt: ›Was geht mich das an? Der Zug geht die Kondukteure an.‹ – ›Und wo sind die Kondukteure?‹ Sagt er darauf: ›Was gehen mich die Kondukteure an? Der Zugführer‹ sagt er, ›teilt mir mit einem Pfiff mit, daß er fertig ist. Und ich antworte ihm‹, sagt er, ›ebenfalls mit einem Pfiff, daß auch ich fertig bin, und lasse die Maschine los. Ich habe‹, sagt er, ›nur ein Paar Augen und kann nicht wissen, was hinten geschieht.‹ So antwortet ihnen der Maschinist und hat eigentlich recht. Man spricht hin, und man spricht her, doch eines steht fest: der Zug ist da, doch ohne Passagiere, also eine Hochzeit ohne Musikanten!

Wie es sich später herausstellte, fuhr zu uns eine ganz nette Gesellschaft, lauter erprobte und ausgewählte Kerle mit den nötigen Werkzeugen, Stöcken, Gummiknüppeln und Brecheisen. Sie waren lustig und guter Dinge und tranken während der Fahrt ununterbrochen Schnaps. Und auf der letzten Station, in Krischtofowka, tranken sie aus Freude, daß sie schon bald am Ziel seien, besonders tüchtig und traktierten auch das ganze Personal: den Zugführer, die Kondukteure, den Heizer und Gendarmen. Und so kam es, daß man eine Kleinigkeit vergaß: die Wagen an die Lokomotive anzuhängen. Die Lokomotive fuhr zur festgesetzten Zeit nach Heißin ab, und der ganze Zug blieb in Krischtofowka zurück. Das Schönste aber war, daß weder jemand von der schönen Gesellschaft noch das Zugpersonal, noch die übrigen Passagiere etwas davon merkten, daß der Zug ruhig auf einer Stelle stand. Sie tranken weiter, leerten eine Flasche nach der andern, bis der Stationschef endlich feststellte, daß die Lokomotive weggefahren war und die Wagen noch dastanden. Als man das Versehen merkte, ging die Hölle los! Die Bande schimpfte auf das Zugpersonal und das Zugpersonal auf die Bande. Und man schimpfte so lange, bis es beschlossen wurde, die Beine auf die Schultern und die Augen in die Hände zu nehmen und die Reise nach Heißin zu Fuß fortzusetzen. Und so war es. Sie faßten sich ein Herz und machten sich auf den Weg. Sie kamen schließlich auch wirklich in Heißin an, mit Gesang und Hurra, wie Gott es befohlen hat. Es war aber ein wenig zu spät: in den Straßen ritten schon Kosaken umher, mit Reitpeitschen in der Hand, und Ihr könnt Euch denken, daß schon nach einer halben Stunde die ganze Bande spurlos verschwunden war. Sie rannten davon wie die Mäuse zur Hungerszeit, sie zerschmolzen wie Schnee im Sommer.

Nun frage ich Euch: verdient es denn unser ›Leergänger‹ nicht, daß man ihn von oben bis unten vergoldet oder wenigstens in einer Erzählung beschreibt?«


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