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Schmilik

Schmilik ist kein erfundener Name und das, was ich euch erzählen will, keine Legende. Schmilik ist ein wirklich existierender Mensch, lebt in unserer Gegend, und ich kenne ihn! Ein Bursche von siebzehn Jahren, ein einfacher Junge, ein Dorf junge von einer Eisenbahnstation. Sein Vater – er heißt Naftoli, und die Bauern nennen ihn Pantelej – wohnt bei der Station und lebt von der Eisenbahn; und da er hier seit mehr als dreißig Jahren lebt und sich in dem Dorfe noch vor den Judenverfolgungen des Grafen Ignatjew niedergelassen hat, so hört er auf alle Minister und ihre Zirkulare wie der Bösewicht Haman auf die Gragger; vom Pristaw und Revieraufseher schon gar nicht zu reden. Gar mancher Pristaw und mancher Revieraufseher haben sich hier seit der Zeit abgelöst, und ein jeder von ihnen ließ sich Naftolis Papiere zeigen und hatte große Lust, den Juden aus dem Dorfe zu jagen. Es half ihnen aber wie der vorjährige Schnee. Naftoli pflegte ihnen ganz offen zu erklären: »Ich habe schon mehr als einen Pristaw und einen Revieraufseher überlebt; eher werde ich euch von hier ausräuchern als ihr mich.« Und er behielt jedesmal recht, denn wie der Pristaw so auch der Revieraufseher gingen nach kurzer Zeit zugrunde, und zwar an unheilbarer Liebe. Ihre Liebe war ungeheuer groß, hatte keine Grenzen und bezog sich auf zwei Dinge: auf einen Rubel und einen Schluck Branntwein. Und es ist schwer zu sagen, was sie eigentlich lieber hatten, den Rubel oder den Schluck Branntwein. Ich fürchte, daß sie in dieser Hinsicht einem kleinen Kinde glichen, welches gefragt wird: ›Wen hast du lieber – den Vater oder die Mutter?‹ Sollen aber beide in die Erde versinken, wie der Pristaw so auch der Revieraufseher. Wir kehren wieder zu Naftoli und seinem Sohn Schmilik zurück.

Da Schmilik unter Bauern geboren, erzogen und aufgewachsen ist, so redet er wie ein Goj, kleidet sich wie ein Goj, lebt wie ein Goj, denkt wie ein Goj und kümmert sich nur um gojische Interessen, er weiß ganz genau, was Iwan will, was Iwan hat und was Iwan fehlt; er fühlt, wo Iwan der Schuh drückt, und weiß, was Iwan kann, was Iwan nicht kann und was Iwan könnte, wenn Iwan wollte ... Und da Schmilik immerhin Naftolis und nicht Iwans Sohn ist, so kann er beten und russisch wie jüdisch lesen und schreiben; und da er Naftolis und nicht Iwans Sohn ist, so liest er täglich die Zeitung und weiß, was in der Zeitung über den Krieg, den Frieden, die Streiks, Aufstände, Manifeste, Pogrome und andere schöne Sachen steht, die bei uns in unserem gesegneten Lande vorgehen. Schmilik teilt alles, was er gelesen hat, den Bauern mit. Denn die Bauern verstehen, nebbich, nicht zu lesen, wollen aber gerne wissen, was in der Welt vorgeht; sie lechzen danach, wissen aber gar nichts; und selbst das, was sie wissen, wissen sie nur stückweise und von einer Seite wie kleine Kinder oder Wilde.

»Ihr seid ein finsteres Volk«, sagte ihnen Schmilik. »Ihr wißt gar nichts.«

»Es ist wahr«, antworten die Bauern. »Wir sind ein finsteres Volk und wissen gar nichts.«

Und da sie ein finsteres Volk sind und gar nichts wissen, aber gerne alles wissen wollen, so muß Schmilik ihnen die Zeitung vorlesen und alles erklären.

»Erzähle uns doch, Schmilik«, bitten sie ihn, »was die Gelehrten schreiben, was die Klugen sagen.«

Und Schmilik ist nicht faul; er setzt sich zu ihnen auf die Erde und liest ihnen vor, was die Gelehrten schreiben und was die Klugen sagen. Und die Bauern hören ihm zu, starren ihm in den Mund und glauben ihm jedes Wort. Sie glauben nur ihm allein und sonst niemand. Und wenn sie etwas hören, was sie nicht verstehen, so fragen sie Schmilik. Und wenn man ihnen etwas Neues erzählt, so glauben sie nicht und wenden sich an Schmilik. In allen Fällen wenden sie sich an Schmilik.

Man kennt Schmilik nicht nur in dem einen Dorf, wo seine Eltern wohnen, sondern in der ganzen Gegend, in fünfzig Dörfern ringsherum. Groß ist Schmiliks Name!

 

Als die Nachricht eintraf, daß man in allen großen Städten die Juden schlägt, kamen die Bauern von allen fünfzig Dörfern zu Schmilik und baten ihn, er möchte ihnen den kaiserlichen Ukas vorlesen, durch den den Bauern erlaubt wird, die Juden drei Tage hintereinander zu morden und zu plündern.

»Geht nach Hause«, sagte ihnen Schmilik, »es gibt keinen Ukas, daß man die Juden morden und plündern soll.«

Die Bauern hörten seine Worte, blieben aber noch unentschlossen stehen und kratzten sich die Nacken.

»Geht nach Hause!« sagte ihnen Schmilik noch einmal. »Was kratzt ihr euch?«

Die Bauern standen noch eine Weile da, erklärten aber schließlich Schmilik, er solle für sich keine Angst haben ... Schmilik hörte sie an und sagte, daß er für sich auch so keine Angst habe ... Darauf sagten ihm die Bauern, er solle auch für seinen Vater keine Angst haben ... Darauf sagte ihnen Schmilik, daß auch sein Vater keine Angst habe. Es kostete Schmilik große Mühe, sie davon zu überzeugen, daß es keinen Ukas gäbe, nach dem man drei Tage hintereinander die Juden schlagen dürfe. Die Bauern gingen nach Hause, kamen aber bald wieder und baten Schmilik, er möchte ihnen erklären, was in der Welt vorgeht, was die Konstitution sei und wieviel Land ein jeder von ihnen zugeteilt bekommen werde. Und Schmilik erklärte ihnen, was in der Welt vorgeht, was die Konstitution sei und wieviel Land ein jeder von ihnen zugeteilt bekommen werde. Und Schmilik hatte keine Angst mehr vor einem Pogrom, weder in seinem Dorf noch in den fünfzig Dörfern ringsherum. Schmilik ist auf der Hut, und wenn fremde Bauern aus fremden Dörfern kommen, um einen Judenpogrom zu veranstalten, so wird man ihnen die Köpfe blutig schlagen und sie dorthin jagen, wo der schwarze Pfeffer wächst. Denn wie ist ein Pogrom ohne Schmilik möglich?

Nicht nur ein Judenpogrom, auch ein Pogrom gegen die Gutsbesitzer ist ohne Schmiliks Einwilligung undenkbar. Wenn Schmilik sich nicht ins Zeug gelegt hätte, so hätten die Bauern schon längst die Gutsbesitzer überfallen und mit ihnen abgerechnet. Schmilik hält sie aber davon ab und sagt ihnen, daß Rauben und Morden, Brennen und Schlachten unvernünftig sei und daß sie damit nichts erreichen werden. Schmilik sagt ihnen, daß sie noch abwarten sollen. Sie sollen warten bis zum Frühjahr, wenn die Natur aufersteht, wenn die Erde erwacht, die weiße Bettdecke von sich wirft und bittet, daß man sie bestellt, – dann sollen sich die Gutsbesitzer selbst bemühen: sie sollen nur selbst die Felder bestellen, selbst pflügen, säen, mähen, binden, das Getreide einbringen, dreschen, mahlen, Teig kneten und Butterbrot backen; alles sollen sie selbst tun! Und die Bauern hören auf Schmilik, sitzen still in ihren Dörfern und rühren niemanden an.

Plötzlich kam aber die Obrigkeit, trieb die Bauern von allen fünfzig Dörfern zusammen und las ihnen das Manifest vom siebzehnten Oktober vor. Die Bauern hörten das Manifest an, beschlossen aber, Schmilik kommen zu lassen. Man holte Schmilik, rollte ein leeres Faß herbei, stellte Schmilik auf das Faß und bat ihn, er möchte vorlesen, was im Manifest steht. Denn sie wollen niemand außer Schmilik glauben. Groß ist Schmiliks Name!

Natürlich gefiel das der Obrigkeit gar nicht. Sofort ging ein Papier aufs Landamt, und aus dem Landamt in die Stadt, und bald darauf zeigten sich in der Gegend berittene Gendarmen, und der Pristaw forderte von den Bauern die Auslieferung Schmiliks, dieses ›jüdischen Gapon‹. Als die Bauern hörten, daß man auf Schmilik fahndet, gaben sie Schmilik zu wissen, daß man Schmilik sucht, und sie verkleideten Schmilik als einen Bauern und gingen mit Schmilik zu Schmilik ins Haus, um Schmilik, diesen ›jüdischen Gapon‹ zu verhaften ...

Von nun an laufen jeden Montag und Donnerstag im Landamt ganze Stöße von Papieren ein, in denen befohlen wird, Schmilik einzufangen, zu verhaften und in die Stadt zu bringen. Die Gendarmen, Polizeiagenten und Kosaken suchen, spionieren und beschnuppern die Luft. Und die Bauern mitsamt Schmilik helfen ihnen, Schmilik zu suchen. In der ganzen Gegend spricht man nur von Schmilik. Alle suchen Schmilik, und Schmilik ist verschwunden!

Groß ist der Name Schmiliks, des jüdischen Gapon!


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