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Die ewige Seligkeit

Wenn ihr wollt, erzähle ich euch eine hübsche Geschichte, wie ich einmal hineingefallen bin und beinahe für mein ganzes Leben unglücklich wurde. Und wie das kam? Doch nur, weil ich damals unerfahren und nicht allzu klug war. Es mag sein, daß ich auch heute nicht übermäßig gescheit bin; denn wäre ich gescheit, so hätte ich Geld: wenn man Geld hat, so ist man bekanntlich klug und schön und ein guter Sänger dazu.

Ich war damals noch ein junger Mann, aß ›Köst‹ bei den Schwiegereltern, saß ruhig da, lernte und sah zuweilen hinter dem Rücken des Schwiegervaters und der Schwiegermutter auch in ein weltliches Buch hinein; das heißt, weniger hinter dem Rücken des Schwiegervaters als hinter dem der Schwiegermutter. Denn ihr müßt wissen, meine Schwiegermutter war ein Mannsbild, das heißt, sie hatte die Mütze auf. Sie leitete die Geschäfte, sie verheiratete die Kinder und besorgte die Mitgift für die Töchter. Auch mich hatte sie selbst für ihre Tochter gewählt, in den Wissenschaften geprüft und aus Radomischl nach Swohil gebracht. Ich bin nämlich ein Radomischler, ihr habt wohl sicher von dieser Stadt gehört.

Ich saß also in Swohil, aß Köst, schwitzte über dem Maimonides und ging niemals aus dem Hause. Als aber die Zeit der Assentierung kam, mußte ich nach Radomischl hinüberfahren, um meine Papiere in Ordnung zu bringen, mich um ein Befreiungsprivileg zu bemühen und mir einen Paß zu beschaffen, wie es einmal nötig ist. Das war meine erste Reise in die weite Welt hinaus. Ich ging selbst auf den Markt, um mir eine Fuhre zu mieten; ich tat es ganz allein, weil ich der Welt zeigen wollte, daß ich selbständig bin. Gott schickte mir eine billige Gelegenheitsfuhre: ich erwischte einen Goj aus Radomischl mit einem wunderbaren Schlitten – es war im Winter – mit breitem Rücken und zwei Flügeln an den Seiten, wie bei einem Adler; auf das Pferd hatte ich aber gar nicht geachtet: es war nämlich weiß, und ein weißes Pferd, sagte die Schwiegermutter, bedeutet Unglück. »Gebe Gott, daß ich unrecht behalte, aber ich habe das Gefühl«, sagte sie, »daß diese Reise mit einem Unglück enden wird ...«

»Beiß dir die Zunge ab!« fiel ihr der Schwiegervater ins Wort, was er übrigens sofort bereute, denn er bekam von ihr auf der Stelle ein ordentliches Donnerwetter. Mir sagte er aber leise: »Das sind so Weibereinfälle!«

Ich machte mich also reisefertig, nahm Talles und Tfillin, etwas Buttergebäck, ein wenig Geld für die Auslagen und drei Kissen: ein Kissen, um darauf zu sitzen, ein Kissen, um mich anzulehnen, und ein Kissen für die Füße. Und nun kam der Abschied. Wie es aber zum Abschiednehmen kommt, ist meine Zunge wie gelähmt! Es kommt mir so unschicklich vor, einem Menschen den Rücken zu kehren und ihn allein zurückzulassen. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber für mich ist das Abschiednehmen eine der schwierigsten Sachen. Doch halt! Ich glaube, daß ich zu weit von der Geschichte abschweife ...

Ich nahm also Abschied und machte mich auf nach Radomischl. Es war anfangs Winter, es hatte ordentlich geschneit, und der Schlittenweg war ausgezeichnet. Das Pferd war zwar weiß, flog aber so schnell dahin wie ein Psalm. Und der Goj, den ich erwischt hatte, gehörte zu den Schweigsamen: er war einer von den Gojim, die auf jede Frage entweder mit einem ›Ehe!‹, das heißt ›ja‹, oder mit einem ›Ba-ni!‹, das heißt ›nein‹, antworten und von denen man sonst nichts zu hören bekommt. Ich fahre von zu Hause nach dem Essen ab, bin in der besten Laune und habe ein Kissen unter mir, ein Kissen im Rücken und ein Kissen auf den Füßen. Das Pferd rennt, der Goj schnalzt mit der Zunge, der Schlitten fliegt, der Wind weht, und die Schneeflocken legen sich wie Bettfedern auf die Landstraße. Es ist mir so wohl zumute, ich fühle mich so frei und heiter: ich fahre ja zum ersten Mal in Gottes Welt hinaus und bin mein eigener Herr! Und ich lehne mich zurück und mache mich breit wie ein Graf ...

Es ist aber Winterszeit. Wie warm man auch angezogen ist, hat man doch Lust, Station zu machen, in einer warmen Stube auszuruhen und dann weiterzufahren. Und ich male mir eine warme Schenke aus und einen kochenden Samowar auf dem Tisch und einen Teller heiße Suppe mit Suppenfleisch ... Solcherlei Gedanken beklemmen mir das Herz, und ich fühle, daß ich unbedingt etwas in den Mund nehmen muß. Nun beginne ich meinen Goj auszufragen und möchte von ihm wissen, ob es noch weit bis zur nächsten Schenke ist. Antwortet er mir: »Ba-ni«, das heißt ›nein‹. Frage ich ihn: »Ist es nahe?« antwortet er »Ehé«, das heißt ›ja‹. Wie lange wir aber noch zu fahren haben, kann man von ihm unmöglich herausbekommen, und wenn man auch sein Leben läßt! Und ich stelle mir vor, was sich abgespielt hätte, wenn der Fuhrmann kein Goj, sondern ein Jude – es sei zwischen den beiden wohl unterschieden! – wäre: er hätte mir nicht nur ganz genau erklärt, wo die Schenke ist, sondern auch mitgeteilt, wer der Wirt ist und wie er heißt und wieviel Kinder er hat und welche Pachtsumme er zahlt und was ihm die Schenke einbringt und wie lange er sie schon hat und wer sie vor ihm gehabt hat – lange Geschichten hätte er mir erzählt. Es ist doch wirklich ein sonderbares Volk! Ich meine unsere Juden, gesund sollen sie sein. Sie haben ein ganz anderes Blut, so wahr ich lebe! ...

So träumte ich von einer warmen Wirtsstube, einem heißen Samowar und ähnlichen guten Dingen, bis Gott sich meiner erbarmte, mein Goj mit der Zunge schnalzte und das Pferd etwas seitwärts lenkte. Und es zeigte sich ein kleines, graues, schneeverwehtes Häuschen, das inmitten der Schneefelder so trostlos, elend und einsam dalag wie ein vergessener Grabstein ... Wir fuhren nobel vor, der Goj brachte das Pferd in den Stall, und ich begab mich in die Wirtsstube. Ich mache die Türe auf und bleibe starr an der Schwelle stehen. Was ist es für eine Geschichte? Es ist eine kurze, doch schöne Geschichte: mitten in der Wirtsstube liegt auf dem Boden eine Leiche, mit einem schwarzen Tuch zugedeckt, ihr zu Häupten stehen zwei Messingleuchter mit brennenden Kerzen, und abgerissene, verwahrloste kleine Kinder sitzen um sie herum und klagen, weinen und jammern: »Mutter! Mutter!« Und ein Kerl in einem zerrissenen Sommermantel, der durchaus nicht nach der Jahreszeit ist, geht mit langen Beinen auf und ab, ringt die Hände und redet zu sich selbst: »Was soll ich tun? Was soll ich anfangen? ...«

Natürlich verstand ich sofort, was es für eine Hochzeit war. Mein erster Gedanke war: Nojach, entflieh! Ich wollte auch wirklich fort, aber meine Füße waren plötzlich wie gelähmt, und ich konnte mich nicht vom Fleck rühren. Als der lange Kerl mit den langen Beinen mich erblickte, stürzte er zu mir und streckte mir die Hände wie ein Ertrinkender entgegen:

»Was sagt Ihr zu meinem Unglück?« sagt er zu mir und zeigt auf die Gesellschaft, die am Boden sitzt und weint. »Die Mutter ist ihnen, nebbich, gestorben! Was soll ich tun? Was soll ich tun?«

»Gepriesen sei der Richter der Wahrheit!« sage ich ihm und will ihn trösten, wie es sich schickt, er unterbricht mich aber und sagt:

»Versteht Ihr mich, sie war schon seit Jahren so gut wie tot, denn sie hatte die gute Krankheit, die richtige Schwindsucht, und wünschte sich selbst den Tod. Was soll ich aber tun? Was soll ich tun? Ich müßte in das nächste Dorf gehen und eine Fuhre suchen, um die Leiche nach dem Städtchen zu bringen. Wie soll ich aber die Kinder allein zurücklassen? Es ist ja schon bald Nacht! Was soll ich tun? Was soll ich tun?«

Bei diesen Worten begann der Mann zu weinen; es war ein merkwürdiges Weinen, ganz ohne Tränen, und klang mehr wie ein Lachen. Der Mann kostete mich wirklich ein Stück Gesundheit! Wer denkt noch an Hunger? Wer an Kälte? Ich vergesse alles und sage ihm:

»Ich fahre aus Swohil nach Radomischl und habe einen ausgezeichneten Schlitten. Wenn das Städtchen, von dem Ihr redet, nicht weit von hier ist, kann ich Euch meinen Schlitten geben und selbst hier warten, bis Ihr wieder zurückkommt.«

»Lange leben sollt Ihr für dieses gottgefällige Werk! Ihr erwerbt Euch damit die ewige Seligkeit, so wahr ich Jude bin!« sagt er zu mir und will mich umarmen. »Das Städtchen ist gar nicht weit von hier, höchstens vier oder fünf Werst. Es wird nicht mehr als eine Stunde dauern, und ich schicke Euch den Schlitten gleich wieder zurück. Ihr werdet Euch damit die ewige Seligkeit erwerben, so wahr ich Jude bin, die ewige Seligkeit! Kinder! Steht vom Boden auf und dankt diesem jungen Mann, küßt ihm Hände und Füße, weil er uns seinen Schlitten gibt, damit wir die Mutter an eine heilige Stätte bringen können! Die ewige Seligkeit verdient Ihr Euch damit, so wahr ich Jude bin, die ewige Seligkeit!«

Das Wort ›Freude‹ kann ich nicht gut gebrauchen: denn wie die Kinder hören, daß man ihre Mutter wegbringen will, fallen sie über die Leiche her und beginnen mit neuen Kräften zu weinen. Aber es machte auf sie doch einen großen Eindruck, daß sich ein Mensch gefunden hatte, der ihnen diese Gnade erweisen wollte. Gott selbst hat ihn wohl geschickt! Man sah mich wie einen Erlöser an, wie den Propheten Elias; ich muß euch die Wahrheit sagen: auch ich selbst betrachtete mich in diesem Augenblick als einen nicht ganz gewöhnlichen Menschen, ich war in meinen eigenen Augen gewachsen und hielt mich für einen Helden. In diesem Augenblick war ich imstande, Berge zu versetzen, die ganze Welt auf den Kopf zu stellen, keine Sache schien mir zu schwer, und fast unwillkürlich kamen mir die Worte aus dem Mund:

»Wißt Ihr was? Ich will sie selbst mit meinem Schlitten hinbringen! So erspare ich Euch die Mühe, und Ihr braucht Eure Kinder nicht allein zu lassen.«

Je mehr ich redete, um so mehr weinte die Familie. Sie sahen mich wie einen Engel vom Himmel an, und ich wuchs auch in meinen eigenen Augen immer mehr, beinahe in den Himmel hinein. Ich hatte sogar ganz vergessen, wie sehr ich mich sonst fürchtete, eine Leiche anzurühren: mit meinen eigenen Händen half ich sie aus dem Hause hinauszutragen und in den Schlitten zu legen. Ich versprach meinem Goj noch einen halben Rubel in bar und noch einen Schluck Branntwein in Natur. Anfangs kratzte er sich hinterm Ohr und brummte etwas in den Bart; aber nach dem dritten Gläschen ließ er sich erweichen, und so machten wir uns zu dritt auf den Weg: das heißt ich, und der Goj, er sei von mir wohl unterschieden, und die tote Wirtsfrau Chawwe-Nechome. So hat sie geheißen: Chawwe-Nechome, Tochter des Refoel-Michel. Den Namen weiß ich auch heute noch so genau, wie wenn die Geschichte sich erst gestern zugetragen hätte; während der ganzen Fahrt memorierte ich in einem fort den Namen, den mir ihr Mann gesagt hatte: um einen Menschen zu beerdigen, muß man doch seinen vollständigen Namen wissen.

So wiederholte ich während der ganzen Fahrt vor mich hin: Chawwe-Nechome, Tochter des Refoel-Michel! Chawwe-Nechome, Tochter des Refoel-Michel! Chawwe-Nechome, Tochter des Refoel-Michel! Dabei hatte ich den Namen des Mannes ganz vergessen. Er hatte mir aber auch seinen eigenen Namen angegeben und gesagt, ich solle mich im Städtchen nur auf ihn berufen: dann würde man mir die Leiche sofort abnehmen, so daß ich gleich weiterfahren könnte. In diesem Städtchen, sagte er, verbringt er jahraus, jahrein die hohen Feiertage und läßt den Leuten so viel Geld für ihre Schul und das Bad zurück, daß sie ihn alle gut kennen. Der Wirt sagte mir noch, wohin ich mich mit der Leiche wenden und was ich dort sagen sollte, aber das alles flog mir sofort aus dem Kopfe! Alle meine Gedanken drehten sich nur um den einen Punkt: ich führe eine Leiche mit mir, und das allein genügte schon, um alles andere zu verdrängen; ich wußte nicht einmal, wie ich selbst heiße, geschweige denn wie der Mann heißt. Schon als Kind hatte ich eine unheimliche Angst vor Leichen. Und auch heute bleibe ich um nichts in der Welt mit einer Leiche allein, und wenn ihr mich auch mit Gold überschüttet. Es scheint mir immer, daß die halboffenen erstarrten Augen mich anglotzen, daß die geschlossenen Lippen sich gleich auftun müssen und eine schmerzliche Stimme erklingen wird, beim bloßen Gedanken an die man ohnmächtig werden kann! Nicht umsonst erzählt man sich bei uns so viele Geschichten von Toten: wie Menschen vor Schreck verrückt geworden sind und selbst den Geist aufgegeben haben ...

So fuhren wir also zu dritt mit der Leiche. Ich trat ihr eines meiner Kissen ab und legte sie quer zu meinen Füßen. Um die trüben Gedanken von mir fernzuhalten, blickte ich immer zum Himmel hinauf und wiederholte leise vor mich hin: »Chawwe-Nechome, Tochter des Refoel-Michel! Chawwe-Nechome, Tochter des Refoel-Michel!« Bis ich alle diese Namen durcheinander brachte und schließlich sagte: »Chawwe-Refoel, Tochter des Nechome-Michel« oder gar: »Refoel-Michel, Tochter des Chawwe-Nechome«. Und ich merkte gar nicht, daß es immer dunkler wurde, daß der Wind immer stärker blies und der Schnee so dicht fiel, bis man schließlich nichts vom Wege sah und wir ohne Weg und Steg, nur auf Gottes Barmherzigkeit bauend, durch die Welt fuhren. Mein Goj brummte, anfangs leise, dann immer lauter und lauter, und ich könnte schwören, daß er mich mit den wüstesten Flüchen bedachte: ... Frage ich ihn: »Goj, was hast du?« Spuckt er aus, tut den Mund auf und überschüttet mich mit Worten. Ich habe ihn, sagt er, und sein Pferd zugrunde gerichtet. Weil wir die Leiche auf dem Schlitten haben, ist das Pferd vom Wege abgekommen, und Gott allein weiß, wie lange wir noch herumirren werden: die Nacht bricht schon an, und wir sind verloren!

Diese Nachricht machte auf mich solchen Eindruck, daß ich im Begriff war, umzukehren, die Leiche wieder in die Schenke zu bringen und auf die ewige Seligkeit zu verzichten. Sagt mir aber der Goj, daß es nicht mehr geht: er weiß überhaupt nicht mehr, wo die Schenke liegt, denn wir drehen uns einfach im Kreise herum. Der Weg ist verschneit, der Himmel finster, die Nacht ist angebrochen, und das Pferd ist todmüde. Einen plötzlichen Tod wünscht er dem Wirt und auch allen anderen Wirten von der ganzen Welt. Er hätte es vorgezogen, sich ein Bein zu brechen, sagt er, als in diese Schenke einzukehren: Ach, wäre er doch lieber bei dem ersten Glase Branntwein erstickt und hätte nicht dieses Unglück auf sich geladen und für einen halben Rubel sein Leben und das Leben seines Pferdes verkauft. Um ihn selbst, sagt er, ist es weniger schade. Aber was kann das Pferd dafür? Was hat das Pferd verbrochen? Es ist ja nur ein unschuldiges Vieh, das nichts weiß ...

Ich könnte schwören, daß ihm Tränen in den Augen standen ... Um ihn zu trösten, verspreche ich ihm noch einen halben Rubel und noch zwei Schluck Branntwein. Gerät er aber in Zorn und sagt mir ganz offen, daß er mich, wenn ich nicht sofort schweige, mitsamt der Leiche aus dem Schlitten hinauswirft! Und ich denke mir: Was fange ich an, wenn er mich wirklich aus dem Schlitten hinauswirft? Was so einem Goj nicht alles einfallen kann, wenn er zornig wird! Ich muß also schweigen, ruhig in meinen Kissen sitzen und achtgeben, daß ich nicht einschlafe. Erstens, wie kann ich einschlafen, wenn mir eine Leiche vor den Füßen liegt? Und zweitens soll es schon vorgekommen sein, daß mancher, der bei starkem Frost im Freien einschlief, nie wieder erwachte. Doch wie zum Trotz fallen mir die Lider zu, ich könnte mein Leben hingeben, wenn ich nur eine Minute schlafen könnte! ... Und ich halte mir die Augen gewaltsam offen, aber die Lider gehorchen mir nicht und fallen immer wieder zu ... Und der Schlitten gleitet über den weißen, tiefen, weichen Schnee, und ein sonderbares Wonnegefühl zieht mir durch alle Glieder, und es ist mir so wohl ums Herz, und ich habe nur den einen Wunsch, daß dieser Zustand ewig dauern möchte ... Aber eine Stimme raunt mir immer zu: ›Schlafe nicht, Nojach, schlafe nicht!‹ Und ich reiße die Augen auf, und statt des Wonnegefühls fühle ich nur Kälte, und es ist mir so schwer zumute, und mich befällt eine Angst, vor der der Herr einen jeden behüten möchte! Es kommt mir vor, als ob die Leiche sich bewegte und mich mit den halbgeschlossenen Augen anglotzte, als wollte sie sagen: ›Was habe ich verbrochen, ich arme tote Frau, Mutter kleiner Kinder, daß du mich um ein jüdisches Grab bringst?‹ Und der Wind heult und pfeift mir in die Ohren und raunt mir ein furchtbares Geheimnis zu ... Schreckliche Gedanken, grauenhafte Bilder ziehen mir durch den Sinn, und ich stelle mir vor, daß wir alle im Schnee begraben sind, ich, und der Goj – er sei von mir wohl unterschieden – und sein Pferd und die Leiche ... Wir sind alle tot, und nur die Leiche allein, des Schenkwirts Frau ist merkwürdigerweise lebendig ...

Plötzlich höre ich, wie mein Fuhrmann mit der Zunge schnalzt, Gott dankt und erleichtert aufatmet. Mir ist es, wie wenn eine neue Seele in mich eingezogen wäre, und ich sehe in der Ferne ein Licht. Das Licht verschwindet und erscheint wieder. ›Eine Menschenwohnung!‹ denke ich mir und preise Gott aus vollem Herzen und sage zu meinem Goj: »Wir sind wohl schon«, sage ich, »auf dem richtigen Wege? Es scheint«, sage ich, »daß wir bald im Städtchen sind?« – »Ehé!« sagt er mir in seinem früheren Ton, ganz ohne Zorn, und ich möchte ihn von rückwärts umarmen und ihn in den Rücken küssen für die frohe Botschaft, für sein kurzes stilles ›Ehé‹, das mir in diesem Augenblick lieber ist als die schönste und klügste Predigt. »Wie heißt du?« frage ich ihn und wundere mich selbst, daß ich ihn nicht schon früher nach seinem Namen gefragt habe. »Mikita«, antwortet er kurz, wie es seine Gewohnheit ist. »Mikita?«, frage ich, und dieser Name kommt mir plötzlich so schön vor. »Ehé«, antwortet er mir. Ich habe so große Lust, noch einige Worte aus seinem Munde zu hören, denn Mikita ist mir plötzlich der liebste Mensch auf der Welt. Auch für sein Pferd empfinde ich Liebe. Also beginne ich mit ihm ein Gespräch über sein Pferd. Ich sage ihm, daß er ein gutes Pferd hat, ein ganz ausgezeichnetes Pferd. Antwortet er mir darauf: »Ehé!« – »Auch dein Schlitten ist gut, es ist ein ausgezeichneter Schlitten!« Antwortet er wieder: »Ehé!« Sonst kann ich aber von ihm kein Wort zu hören bekommen, und wenn ich ihn auch in Stücke schneide. »Magst du denn nicht reden, Mikita, mein Herz?« Antwortet er: »Ehé!« Und ich muß lachen, es ist mir so froh zumute, wie wenn ich die Festung Otschakow erstürmt oder einen Schatz gefunden oder eine Neuigkeit entdeckt hätte, von der kein Mensch etwas weiß! Mit einem Wort – ich war glücklich, überglücklich! Wißt ihr was? Ich wollte sogar meine Stimme erheben und singen, so wahr ich lebe! Diese Angewohnheit habe ich seit jeher: wenn es mir wohl zumute ist, singe ich. Mein Weib, leben soll sie, kennt diese Angewohnheit und fragt mich manchmal: »Was gibts schon wieder, Nojach? Wieviel hast du verdient, daß du so singst?« Die Weiber glauben nämlich mit ihrem Weiberverstand, daß es einem Menschen nur dann wohl zumute ist, wenn er etwas verdient hat; als ob ein Mensch sonst nicht guter Laune sein kann! Wie ist es nur zu erklären, daß unsere Weiber viel mehr aufs Geld versessen sind als wir Mannsbilder? Und wer plagt sich ab, um das Geld zu verdienen? Wir oder sie? Doch halt, ich glaube, ich schweife wieder von der Geschichte ab ...

Wir kamen also mit Gottes Hilfe in das Städtchen. Das Städtchen lag noch im tiefsten Schlaf, denn es war noch lange vor Tag. Man sah kein einziges Licht, und wir entdeckten mit großer Mühe ein Häuschen mit einem breiten Tor und einem Besen über dem Tor: das deutet auf ein Gasthaus hin. Wir machten Halt, stiegen vom Schlitten, klopften mit den Fäusten ans Tor und sahen endlich in einem der Fenster Licht. Dann hörten wir Schritte auf dem Hof und eine Stimme, die uns hinter dem Tore anrief: »Wer ist da?«

»Macht auf«, sage ich, »wenn Ihr aufmacht, erwerbt Ihr Euch die ewige Seligkeit!«

»Die ewige Seligkeit? Wer seid Ihr denn?« fragt die Stimme hinter dem Tore, und ich höre, wie das Schloß aufgesperrt wird.

»Macht auf«, sage ich, »ich habe eine Leiche bei mir.«

»Eine was?«

»Eine Leiche!«

»Was heißt eine Leiche?«

»Eine Leiche heißt ein toter Mensch. Eine tote Frau habe ich hergebracht, aus einer Schenke an der Landstraße.«

Hinter dem Tore wurde es still. Ich hörte nur, wie der Schlüssel wieder umgedreht wurde und die Schritte sich entfernten.

Bald darauf sah ich auch, wie das Licht im Fenster erlosch. Nun stehe da und schreie zu Gott! Ich ärgerte mich sehr und sagte zu meinem Goj, er solle mir helfen, mit den Fäusten ans Fenster zu klopfen. Und wir klopften so kräftig, daß schließlich wieder Licht gemacht wurde und hinter dem Tore dieselbe Stimme erklang:

»Was wollt Ihr von mir haben? Was ist das für eine Belästigung?«

»Um Gottes willen«, flehe ich, wie man einen Räuber um sein Leben anfleht: »Habt Erbarmen! Ich habe ja eine tote Frau bei mir!«

»Was für eine Frau?«

»Die Frau vom Schenkwirt.«

»Von was für einem Schenkwirt?« »Ich habe vergessen, wie er heißt, aber sie heißt Chawwe-Michel, Tochter des Channe-Refoel, ich will sagen Channe-Refoel, Tochter des Chawwe-Michel, ich meine Channe-Chawwe ...«

»Macht, daß Ihr weiterkommt! Sonst gieße ich Euch einen Eimer Wasser auf den Kopf!«

So sagt zu mir der Wirt und geht wieder vom Tore weg und löscht das Licht aus. Was soll ich mit ihm anfangen? Erst nach eine Stunde, als es schon tagte, ging das Tor ein wenig auf, ein Kopf voller Bettfedern im schwarzen Haar und Bart zeigte sich in der Spalte und fragte:

»Seid Ihr es, der ans Fenster geklopft hat?«

»Ich. Wer denn sonst?«

»Was wolltet Ihr?«

»Ich habe eine Leiche hergebracht.«

»Eine Leiche? Die müßt Ihr zum Schammes der Chewre-Kadische bringen.«

»Wo wohnt denn Euer Schammes? Und wie heißt er?«

»Jechïel heiß er, der Schammes, und wohnen tut er in der Nähe des Bades.«

»Und wo ist hier das Bad?«

»Ihr wißt nicht, wo das Bad ist? Seid Ihr nicht von hier? Woher seid Ihr, junger Mann?«

»Woher ich bin? Aus Radomischl bin ich, aber ich fahre aus Swohil, und die Leiche ist aus einer Schenke an der Landstraße. Es ist des Schenkwirts Weib, an der Schwindsucht ist sie gestorben.«

»Nicht auf Euch gedacht! Was geht die Leiche Euch an?«

»Mich? Mich geht sie gar nichts an. Ich fuhr an der Schenke vorbei, und der Schenkwirt bat mich darum. Er wohnt im freien Felde mit kleinen Kindern, kann die Leiche nirgends unterbringen und bittet mich um die Gefälligkeit. Er sagt, daß ich mir damit die ewige Seligkeit erwerbe. Warum sollte ich ihm den Gefallen nicht tun?«

»Die Geschichte ist wohl doch nicht so einfach«, sagte er zu mir. »Ihr werdet mit dem Gabbojim reden müssen.«

»Und wer sind hier die Gabbojim? Wo wohnen sie?«

»Was, die Gabbojim kennt Ihr auch nicht? Der Gabbe Reb Schepsel wohnt hinter dem Markt, Reb Elieser-Moische mitten auf dem Markt, und Reb Jossi neben dem alten Beiß-Hammedrisch. Vor allen Dingen müßt Ihr mit Reb Schepsel reden, er ist hier der Hauptmacher. Ein harter Mensch ist er, das muß ich Euch gleich sagen, so leicht werdet Ihr bei ihm nichts durchsetzen.«

»Danke schön«, sage ich, »ich wünsche Euch, daß es Euch einmal beschert sein soll, einem Menschen angenehmere Dinge mitzuteilen! Wann kann ich die Gabbojim sehen?«

»Was heißt wann? So Gott will, gleich am Morgen nach dem Beten.«

»Masel-tow! Was soll ich aber inzwischen tun? Laßt mich doch wenigstens ein, damit ich mich wärmen kann. Oder bin ich nach Sodom geraten?«

Als der Wirt diese Worte hörte, machte er das Tor hübsch wieder zu, drehte den Schlüssel um, und es wurde wieder still wie auf einem Friedhofe. Was sollte ich tun? Wir stehen mit dem Schlitten mitten auf der Gasse, Mikita schimpft, brummt, kratzt sich hinter dem Ohr, spuckt und flucht: Ein plötzlicher Tod, sagt er, möge den Gastwirt befallen und alle Gastwirte von der ganzen Welt. Ihn selbst, sagt er, mag der Teufel holen! Aber sein Pferd tut ihm leid. Was hat, sagt er, sein Pferd verbrochen, daß es erfrieren und verhungern muß? Ein unschuldiges, stummes Tier, sagt er, das nichts begreift ...

Ich mußte mich vor dem Goj furchtbar schämen, und ich dachte mir: ›Was mag so ein Goj von uns Juden denken? Wie stehen wir, die wir uns Barmherzige, Söhne von Barmherzigen nennen, vor den Gojim da, von denen wir sagen, daß sie rohe Kerle sind? Wenn ein Jude seine Türe vor dem andern Juden verschließt und ihm nicht erlaubt, sich in der Stube zu wärmen, so verdienen wir doch wirklich alles, was man uns antut, und noch dreimal soviel! ...‹ So rechtfertige ich alle Plagen, die wir von den andern zu erdulden haben, und beschuldige das ganze Volk, wie es der Jude immer tut, wenn ihm ein anderer Jude eine Gefälligkeit versagt. Kein anderes Volk verleumdet uns so, wie wir uns selbst verleumden. Tausendmal am Tage könnt ihr von jedem beliebigen Juden solche Worte hören: ›Mit einem Juden ist nicht zu spaßen!‹ – ›Mit dem Juden soll man nichts zu tun haben!« – ›Mit einem Juden ist nur gut, Kugel zu essen!‹ – »Das kann sich nur ein Jude erlauben!‹ Und noch viele andere ähnliche Urteile und Komplimente kann man täglich zu hören bekommen. Ich möchte gern wissen, ob auch die andern Völker so sind: ob auch ein Goj, wenn ihm ein anderer Goj nicht helfen will, auf das ganze Volk zu schimpfen beginnt und sagt, es sei nicht wert, daß die Erde es trage? Aber halt! Ich schweife wieder zu weit ab ...

Stehen wir also mit dem Schlitten mitten auf dem Markte und warten, daß die Stadt irgendein Lebenszeichen von sich gibt. Und wir erlebten es auch wirklich: irgendwo knarrte eine Türe, klirrte ein Eimer, aus zwei oder drei Schornsteinen stieg Rauch auf, und die Hähne krähten immer lauter und lebhafter. Die Türen gingen eine nach der andern auf, und auf der Straße zeigten sich allerlei Geschöpfe und Gestalten: – Kühe, Kälber, Ziegen und – sie seien von ihnen wohl unterschieden! – Männer, Weiber und Mädchen in warmen Tüchern; mit einem Worte, das Städtchen war erwacht wie ein lebendiger Mensch. Es wusch sich die Hände, kleidete sich an und ging an die Arbeit: die Männer gingen an den Dienst des Herrn – beten, lernen, Psalmen lesen; und die Weiber an die Öfen und Herde, an die Kälber und Ziegen.

Nun begann ich mich nach den Gabbojim zu erkundigen: wo wohnt Reb Schepsel, wo Reb Elieser-Moische, wo Reb Jossi? Beginnen mich die Leute ihrerseits auszufragen, welchen Schepsel, welchen Elieser-Moische und welchen Jossi ich meine? Es gibt, sagen sie, hier im Städtchen mehrere Schepsels, mehrere Elieser-Moisches und mehrere Jossis. Und als ich ihnen sagte, daß ich die Gabbojim von der Chewre-Kadische suche, erschraken sie und fragten mich, wozu ich wohl zu einer so frühen Stunde die Gabbojim von der Chewre-Kadische brauche. Ich ließ sie nicht lange fragen, sondern enthüllte ihnen mein Herz und erzählte ihnen die Geschichte von der Last, die ich auf mich genommen hatte. Ihr hättet sehen sollen, welchen Eindruck es auf die Leute machte! Meint Ihr vielleicht, daß sie sich beeilten, mich von meiner Last zu befreien? Gott behüte! Jeder einzelne ging zum Schlitten, um sich zu vergewissern, ob ich die Wahrheit gesprochen habe und ob darin tatsächlich eine Leiche liege. So standen wir von einem Rudel Menschen umgeben, die sich in einem fort ablösten: da es kalt war, gingen die einen schnell nach Hause, und an ihre Stelle kamen andere. Sie schauten alle in den Schlitten hinein, schüttelten die Köpfe, zuckten die Achseln, erkundigten sich nach der Leiche, woher sie stamme, und wer ich sei, und wie ich zu der Leiche komme. Aber niemand dachte daran, mir irgendwie behilflich zu sein. Mit großer Mühe erreichte ich es schließlich, daß man mir die Wohnung Reb Schepsels zeigte.

Ich traf Reb Schepsel, den Gabbe, mit Talles und Tfillin angetan, mit dem Gesicht zur Wand stehen: er betete mit solcher Inbrunst und solcher Andacht, daß selbst die Wände mitzusingen schienen. Er brach sich die Finger, schrie und schnitt merkwürdige Grimassen. Ich hatte große Freude an diesem Anblick: erstens höre ich immer gerne zu, wenn einer mit solcher Inbrunst betet; und zweitens konnte ich mir inzwischen meine erfrorenen Glieder etwas erwärmen.

Als Reb Schepsel mir schließlich sein Gesicht zukehrte, standen ihm noch die Tränen der Rührung in den Augen, und er kam mir wie ein göttlicher Mann, wie ein Heiliger vor, dessen Seele von allem Irdischen ebenso weit entfernt ist wie sein fetter Leib vom Himmlischen. Da er mit seinem Morgengebet noch nicht zu Ende war und es durch profane Worte nicht unterbrechen wollte, begann er mit mir in der ›heiligen Sprache‹ zu reden, das heißt, in einer Sprache, die aus Handbewegungen, Augenzwinkern, Achselzucken, Kopfschütteln und einigen hebräischen Brocken bestand. Wenn ihr wollt, kann ich euch dieses Gespräch wörtlich wiedergeben; ich redete jiddisch und er, wie gesagt, hebräisch. »Friede sei mit Euch, Reb Schepsel.«

»Auch mit Euch sei Friede. Setzt Euch ...«

»Danke, ich habe schon genug gesessen.«

»Nun? Was?«

»Ich möchte Euch um etwas bitten, Reb Schepsel. Ihr könnt Euch damit die ewige Seligkeit erwerben.«

»Die ewige Seligkeit? Gut ... Nun? Wie?«

»Ich hab Euch eine Leiche gebracht.«

»Leiche? Wer ist die Leiche?«

»Hier in der Nähe gibt es an der Landstraße eine Schenke, und der Schenkwirt ist ein armer Mann. Seine Frau ist, nicht auf Euch gedacht, an der Schwindsucht gestorben und hat kleine Kinder hinterlassen. Wenn ich mich seiner nicht angenommen hätte, so weiß ich gar nicht, was der Schenkwirt mitten im Felde mit der Leiche angefangen hätte ...«

»Gepriesen sei der Richter der Wahrheit ... Nun? Geld? Chewre-Kadische?«

»Was für Geld? Wer hat Geld? Der Schenkwirt ist ein armer Mann, nur mit Kindern gesegnet! Ihr werdet Euch die ewige Seligkeit erwerben, Reb Schepsel!«

»Die ewige Seligkeit? Gut, sehr gut! Aber wie? Spital? Juden! Auch sie sind Bettler! Alle!«

Da ich unmöglich verstehen konnte, was er damit sagen wollte, wandte er sich wieder mit dem Gesicht zur Wand und betete weiter, aber nicht mehr mit der gleichen Andacht wie früher. Seine Stimme klang um einige Töne tiefer, und er wiegte sich dabei auch viel schneller als früher. Er eilte wie mit einem Schnellzug. Er betete schnell zu Ende, nahm Talles und Tfillin ab und fiel über mich mit großem Zorn her, als ob ich ihm ein Geschäft verdorben oder den Kaftan zerrissen hätte.

»Unerhört!« sagte er mir: »Das Städtchen ist arm, es hat für seine eigenen Bettler zu sorgen und muß ihnen, wenn sie sterben, auch noch die Sterbegewänder liefern. Und da bringt man uns Leichen von auswärts her! Alle Leichen von der ganzen Welt bringt man uns her! ...« Sage ich ihm darauf, daß ich an der Sache unschuldig sei, daß ich das gottgefällige Werk auf mich freiwillig genommen hätte; solle er sich denken, daß man draußen im Felde eine Leiche gefunden hätte, der man zu einem jüdischen Grabe verhelfen müsse.

»Ihr seid doch«, sage ich ihm, »ein anständiger Mensch und ein frommer Jude, und Ihr könnt Euch damit die ewige Seligkeit erwerben!« Fiel er noch mehr über mich her. Ich kann fast sagen, daß er mich hinauswarf; er warf mich eigentlich nicht hinaus, aber er setzte mir mit seinen Worten so zu, daß ich von selbst ging.

»So? Ihr seid ein junger Mann, der die ewige Seligkeit zu vergeben hat? Geht also einmal durch unser Städtchen und schaut, daß die Leute nicht vor Hunger und Kälte sterben. Damit könnt Ihr Euch wahrlich die ewige Seligkeit erwerben! Ein junger Mann, der mit der ewigen Seligkeit handelt! Geht mit Eurer Ware zu den Gottlosen, die können sie brauchen. Wir haben unsere eigenen frommen Verdienste und gottgefälligen Werke, und wenn es einen von uns nach der ewigen Seligkeit gelüstet, so findet er auch ohne Euch Rat!«

So spricht zu mir der Gabbe Reb Schepsel und begleitet mich hinaus und schlägt die Türe hinter mir zu. Ich schwöre euch – wir sehen uns ja zum ersten und vielleicht auch zum letzten Mal –, von jenem Morgen an bekam ich einen besonderen Haß gegen alle frommen altfränkischen Juden, die mit Andacht und Inbrunst beten; einen Haß gegen die Juden, die Gott dienen und vorgeben, alles in Gottes Namen zu tun. Werdet ihr mir vielleicht darauf einwenden, daß es bei den Modernen und Aufgeklärten noch weniger Wahrheit und Recht gibt als bei den Frommen? Es ist möglich, daß ihr recht habt, aber über die andern ärgert man sich weniger, denn sie reden wenigstens nicht von Gott! Werdet ihr wohl fragen, warum die Aufgeklärten so viel von Wahrheit und Recht reden, wenn es aber zum Handeln kommt, nicht besser als die anderen sind? Aber halt! ich schweife schon wieder von meiner Geschichte ab ...

So hatte mich der Gabbe Reb Schepsel, mit Verlaub zu sagen, hinausgeworfen. Was sollte ich tun? Nun hieß es, die andern Gabbojim aufsuchen. Es geschah mir aber ein Wunder, ein göttliches Wunder: ich ersparte den Weg zu den Gabbojim, denn die Gabbojim kamen mir selbst entgegen. Ich stieß mit ihnen gleich vor der Türe des Reb Schepsel zusammen.

»Seid Ihr vielleicht der junge Mann mit der Ziege?«

»Mit was für einer Ziege?«

»Seid Ihr der junge Mann, der die Leiche hergebracht hat?«

»Ja, das bin ich ... Was ist?«

»Kommt zurück zu Reb Schepsel, und wir wollen über die Sache reden.«

»Reden?« sage ich. »Was soll man da lange reden? Nehmt mir die Leiche ab, laßt mich weiterfahren und erwerbt Euch damit die ewige Seligkeit.«

»Hält Euch denn jemand zurück?« sagten sie zu mir. »Fahrt mit Eurer Leiche, wohin Ihr wollt, selbst nach Radomischl. Wir werden Euch dafür sogar dankbar sein.«

»Und ich danke Euch für den guten Rat«, sage ich.

»Keine Ursache«, sagen sie zu mir, und wir gehen alle drei zu Reb Schepsel zurück. Die drei Gabbojim beginnen zu reden, zu streiten und zu schimpfen. Die beiden, mit denen ich gekommen bin, sagen zu Reb Schepsel, daß er ein harter Mann ist, der sich niemals erweichen läßt. Und er verteidigt sich mit Texten wie zum Beispiel: »Die Armen deiner eigenen Stadt gehen vor.« Fallen die andern beiden über ihn her:

»Und wenn schon? Wollt Ihr vielleicht, daß der junge Mann mit der Leiche wieder zurückfährt?«

»Gott behüte!« sage ich. »Was heißt, ich soll mit der Leiche wieder zurückfahren? Ich bin schon jetzt halb tot und habe beinahe mein Leben draußen auf dem Feld gelassen. Der Goj, lange leben soll er, wollte mich aus dem Schlitten werfen. Ich bitte Euch, habt Erbarmen, befreit mich von der Leiche, Ihr werdet Euch damit die ewige Seligkeit erwerben.«

»Die ewige Seligkeit ist doch sicher ein guter Bissen«, antwortet mir einer von den beiden, ein langer, hagerer Mann mit langen knochigen Fingern, den man Elieser-Moische nennt. »Wir wollen Euch die Leiche abnehmen und mit ihr tun, was Recht ist. Aber einige Rubel wird Euch die Sache doch kosten müssen.«

»Was heißt das?« sage ich. »Es ist wohl nicht genug, daß ich das gottgefällige Werk auf mich genommen habe, daß ich im Felde beinahe umgekommen bin und daß der Goj, lange leben soll er, mich aus dem Schlitten hinauswerfen wollte, – und Ihr redet gar von Geld?«

»Dafür erwerbt Ihr Euch aber die ewige Seligkeit!« sagte zu mir Reb Schepsel mit einem so gemeinen Lächeln, daß ich ordentlich Lust habe, über ihn herzufallen; ich beherrsche mich aber, denn ich bin ja in ihrer Gewalt!

»Laßt Euch noch folgendes sagen«, sagt mir der dritte Gabbe, den man Reb Jossi nennt, ein kleines Männchen mit einem zur Hälfte ausgerupften Bärtchen: »Ihr müßt bedenken, junger Mann, daß Ihr noch eine andere unangenehme Sache auf Euch habt: Ihr habt ja keine Papiere!«

»Was für Papiere?« frage ich ihn.

»Woher sollen wir wissen, wer die Leiche ist? Vielleicht verhält sich die Sache gar nicht so, wie Ihr erzählt?« sagt zu mir der Lange mit den spitzen Fingern, das heißt Elieser-Moische.

Ich stehe da und schaue sie abwechselnd an. Der Lange mit den spitzen Fingern, den man Reb Elieser-Moische nennt, schüttelt den Kopf, zeigt auf mich mit seinem dürren Finger und sagt:

»Ja, ja, es ist wohl möglich, daß Ihr irgendeine Frau, vielleicht sogar Euer eigenes Weib ermordet habt, die Leiche zu uns bringt und uns eine lange Geschichte von einer Schenke erzählt, von der Frau des Schenkwirts, von Schwindsucht, kleinen Kindern und von ewiger Seligkeit ...«

Als ich diese Worte hörte, wurde ich wohl totenblaß, denn der Kleine, den man Reb Jossi nannte, versuchte mich zu trösten. Er sagte mir, daß sie selbst gegen die Sache nichts einzuwenden haben; sie haben gar keinen Verdacht gegen mich und wissen ganz gut, daß ich kein Räuber und kein Mörder bin. Ich bin aber doch nur ein Fremder, sagt er, und eine Leiche ist doch etwas anderes als ein Sack Kartoffeln. Es handelt sich ja, sagt er, um einen toten Menschen ... Dazu haben sie im Städtchen einen Kronrabbiner und einen Urjadnik – sie seien voneinander wohl unterschieden –, und man muß ein Protokoll aufnehmen ...

»Ja, ja, ein Protokoll! Ein Protokoll!« fällt ihm der Lange, den man Elieser-Moische nennt, ins Wort, zeigt auf mich mit dem Finger und schaut mich mit solchen Augen an, als ob ich wirklich eine Mordtat auf dem Gewissen hätte ... Ich finde keine Worte mehr. Ich fühle nur, wie mir kalter Schweiß in die Stirne tritt, ich könnte, nicht auf euch gedacht, in Ohnmacht fallen. Ich sehe meine verzweifelte Lage wohl ein und begreife, wie furchtbar ich reingefallen bin, und fühle zugleich Scham und Furcht. Nun sage ich mir: was soll ich noch lange Geschichten machen? Also hole ich meinen Geldbeutel aus der Tasche und sage zu den drei Gabbojim von der Chewre-Kadische:

»Hört mich an, die Sache ist die: ich sehe schon, daß ich ordentlich hereingefallen bin. Das war sicher ein Werk des Teufels, daß ich in die Schenke einkehrte gerade an dem Tage, wo es der Frau des Schenkwirts einfiel, den Geist aufzugeben, und daß ich ausgerechnet auf einen armen Schenkwirt gestoßen bin, der mit Kindern gesegnet ist und mir zuredet, daß ich mir die ewige Seligkeit erwerbe. Nun muß ich dafür Lehrgeld zahlen. Da habt ihr meinen Geldbeutel, es sind wohl an die siebzig Rubel darin; nehmt euch das Geld und tut damit, was ihr wollt; laßt mir nur so viel übrig, daß ich bis Radomischl kommen kann. Nehmt mir nur die Leiche ab und laßt mich lebend von dannen ziehen.«

In meinen Worten lag wohl eine große Kraft, denn alle drei Gabbojim wechselten die Blicke, rührten meinen Geldbeutel gar nicht an und sagten mir, daß ich, Gott sei Dank, nicht nach Sodom gekommen bin; das Städtchen, sagen sie, ist allerdings ein armes Städtchen, und es gibt hier mehr Bettler als Reiche, sie haben aber doch nicht die Manier, einen fremden Menschen zu überfallen und auszurauben. Wenn ich ihnen etwas geben will, so ist es gut: umsonst könnten sie die Leiche nicht beerdigen, denn das Städtchen ist, wie gesagt, arm; und man braucht Geld für den Schammes, für die Sargträger, für die Sterbegewänder, für den Platz auf dem Friedhofe und für sonstige Auslagen; ich brauche dabei ja gar nicht mit dem Gelde um mich zu werfen, denn das hätte ja schon gar keine Grenzen!

Mein Gott, was soll ich euch noch viel erzählen? Wenn der Schenkwirt auch fünfmalhunderttausend Rubel hätte, könnte seine Frau kein schöneres Begräbnis haben, als sie es hatte! Das ganze Städtchen war zusammengelaufen, um den jungen Mann anzuschauen, der die Leiche gebracht hatte. Einer erzählte es dem andern, daß der junge Mann seine reiche Schwiegermutter beerdige; wo sie es herhatten, daß es meine Schwiegermutter sei, weiß ich wirklich nicht! Also kamen alle, den jungen Mann zu begrüßen, der seine reiche Schwiegermutter beerdigt und mit Geld um sich wirft ... Man zeigte auf mich mit den Fingern. Und erst die Bettler – wie der Sand am Meere! Seit ich lebe und seit ich auf meinen Füßen stehe, habe ich noch nie so viel Bettler gesehen! Die Bettler, die sich am Vorabend von Jom-Kippur vor der Schul versammeln, sind nichts dagegen! Man zupfte mich an den Rockschößen, man zerriß mich förmlich in Stücke. Das ist doch wirklich keine Kleinigkeit: ein junger Mann, der so mit Geld um sich wirft!

Zum Glück nahmen sich die Gabbojim meiner an und verhinderten es, daß ich mein ganzes Geld weggab. Der Lange mit den spitzen Fingern, den man Elieser-Moische nannte, wich für keinen Augenblick von meiner Seite und redete mir immer zu: »Junger Mann, werft nicht so mit Geld herum! Das hat ja schon gar keine Grenzen ...« Doch je mehr er redete, um so mehr umdrängten mich die Bettler. Sie rissen mir Stücke Fleisch vom Leibe. »Es wird ihm nicht schaden!« schrien sie: »Wenn er die reiche Schwiegermutter beerdigt, so kann er es sich auch ein paar Rubel kosten lassen. Von der Schwiegermutter hat er doch genug geerbt!«

»Junger Mann!« schreit einer der Bettler und zieht mich am Rockschoß: »Junger Mann! Gebt uns beiden einen halben Rubel! Oder wenigstens zwanzig Kopeken! Wir sind zwei geborene Krüppel, der eine blind, der andere krumm, gebt uns wenigstens einen Gilden, einen Gilden für zwei Krüppel! Zwei Krüppel sind doch immerhin einen Gilden wert! ...«

»Was hört Ihr zu, was er Euch von Krüppeln erzählt?« schreit ein anderer Bettler und stößt den ersten mit dem Fuß weg. »Nennt sich so etwas auch Krüppel? Ein Krüppel ist mein Weib, sie hat weder Arme noch Beine, weder Leib noch Leben, dafür aber kleine kranke Kinder auf dem Halse. Junger Mann, gebt mir wenigstens ein Fünfkopekenstück, ich werde für Eure Schwiegermutter Kaddisch sprechen, damit sie ein lichtes Paradies hat!«

Jetzt lache ich, damals war es mir aber gar nicht zum Lachen. Denn die Menge der Bettler schwoll an wie auf Hefe: in einer halben Stunde überschwemmten sie schon den ganzen Markt, so daß es unmöglich war, mit der Bahre vorwärts zu kommen. Die Angestellten der Chewre-Kadische mußten schließlich die Leute mit Stöcken auseinandertreiben; daraus entstand eine Schlägerei, nun kamen auch Gojim mit ihren Weibern, Söhnen und Töchtern, und zuletzt erschien auch die hohe Obrigkeit, der Herr Urjadnik, hoch zu Roß, mit einer Peitsche in der Hand, und jagte mit einem einzigen Blick und einigen ordentlichen Peitschenschlägen die ganze Gesellschaft auseinander.

Dann stieg er vom Pferd, ging zur Bahre und forderte Rechenschaft, was hier geschieht und wer gestorben ist und woran er gestorben ist und warum die Leute den Markt überschwemmen. Es beliebte ihm, sich zuerst an mich zu wenden und mich zu fragen, wer ich bin, woher ich komme und wohin ich fahre. Vor Schreck verlor ich die Sprache. Ich weiß gar nicht, woher das kommt: wenn ich einen Urjadnik sehe, zittern mir gleich die Arme und Beine, obwohl ich in meinem Leben noch keiner Fliege etwas zuleide getan habe und obwohl ich weiß, daß der Urjadnik nur ein Geschöpf von Fleisch und Blut wie alle anderen Menschen ist. Und obwohl ich Juden kenne, die mit einem Urjadnik wie gute Freunde leben, sich gegenseitig besuchen, ihn an Feiertagen mit Fisch traktieren und sich von ihm Eier schenken lassen und gar nicht aufhören, den Urjadnik zu loben. Wenn ich aber einen Urjadnik sehe, mache ich mich auf die Beine. Ich habe wohl diese Angst von meinen Vorfahren geerbt. Denn ihr müßt wissen, daß ich von den ›Geschlagenen‹ abstamme, von den Slawutern aus Wassiltschikows Zeiten; davon könnte ich euch erstaunliche Geschichten erzählen, aber ich fürchte, daß ich wieder von meiner Geschichte abschweife...

Nun nahm mich der Herr Urjadnik ins Gebet: wer ich bin und was ich bin und woher ich komme und wohin ich fahre. Soll ich ihm eine lange Geschichte erzählen, daß ich in Swohil bei meinen Schwiegereltern lebe und nach Radomischl fahre, um mir einen Paß zu verschaffen? Gott gebe den Gabbojim langes Leben; sie halfen mir aus der Klemme – einer von ihnen, der Kleine mit dem ausgerupften Bärtchen, nahm den Herrn Urjadnik auf die Seite und begann mit ihm zu tuscheln; der Lange mit den spitzen Fingern belehrte mich inzwischen, was ich dem Urjadnik antworten sollte:

»Ihr sollt ihm sagen, daß Ihr ein Hiesiger seid, aber außerhalb der Stadt wohnt; daß Eure Schwiegermutter verschieden ist und Ihr hergekommen seid, um sie zu bestatten. Und wenn Ihr ihm ein Geschenk in die Hand drückt, sollt Ihr ihm den ersten besten Namen aus der Haggode angeben. Euren Goj werden wir aber inzwischen ins Haus laden und mit Branntwein traktieren, damit er nicht draußen vor den Augen des Urjadniks herumsteht. Und so wird alles gut werden!«

Der Herr Urjadnik nahm mich in die Stube und begann ein Protokoll aufzusetzen. Ich wünsche mir und euch so viel Böses, wie ich weiß, was ich da alles zusammengeredet habe. Ich weiß nur, daß ich redete, was mir in den Sinn kam. Und er schrieb alles auf.

»Wie heißt du?«

»Moische.«

»Wie heißt dein Vater?«

»Itzke.«

»Wie alt bist du?«

»Neunzehn.«

»Verheiratet?«

»Verheiratet.«

»Hast du Kinder?«

»Ja.«

»Beruf?«

»Kaufmann.«

»Wer ist die Leiche?«

»Meine Schwiegermutter.«

»Wie hat sie geheißen?«

»Jente.«

»Und ihr Vater?«

»Gerschoin.«

»Wie alt war sie?«

»Vierzig.«

»Wie ist sie gestorben?«

»Vor Schreck.«

»Vor Schreck?«

»Vor Schreck.«

»Was heißt vor Schreck?« fragt er mich, legt die Feder weg, steckt sich eine Zigarette an und betrachtet mich vom Kopf bis zu den Füßen. Ich fühle, daß mir die Zunge am Gaumen klebt. Nun sage ich mir: wenn ich schon einmal angefangen habe, Lügen zu backen, backe ich eben weiter. Und ich erzähle ihm eine lange Geschichte, wie meine Schwiegermutter ganz allein im Zimmer saß und einen Strumpf strickte und ganz vergessen hatte, daß sich in der Stube ihr Junge, namens Efrojim, befand. Der Junge war schon dreizehn Jahre alt, aber ein selten dummes Kind. Der Junge hatte hinter dem Rücken der Mutter seine Hände auf eine besondere Art zusammengelegt und einen Schatten an die Wand geworfen, der wie eine Ziege aussah; dabei hatte er den Mund aufgetan und ›Mäh!‹ geschrien. Da ist die Schwiegermutter vor Schreck vom Stuhle gefallen und gestorben.

So erzähle ich ihm eine lange Lügengeschichte, und er wendet keinen Blick von mir. Wie ich mit der Geschichte fertig bin, spuckt er aus, streicht seinen roten Schnurrbart, geht mit mir zu der Bahre, hebt die schwarze Decke auf, blickt der Leiche ins Gesicht und schüttelt den Kopf, als wollte er sagen, daß die Geschichte ihm etwas verdächtig vorkomme. Ich schaue ihn an, und er schaut mich an, und dann sagt er zu den Gabbojim:

»Nun, die Leiche dürft ihr behalten, aber den jungen Mann muß ich festnehmen, bis ich die ganze Sache untersucht und festgestellt habe, daß es seine Schwiegermutter ist und daß sie wirklich vor Schreck gestorben ist.«

Ihr könnt euch wohl ausmalen, wie finster und bitter es mir da zumute wurde. Ich wandte mich von ihm ab und begann wie ein kleines Kind zu weinen.

»Junger Mann! Was weint Ihr?« sagt zu mir der Kleine, den man Reb Jossi nennt. Und er tröstet mich und sagt, daß mir nichts geschehen wird, da ich doch wirklich unschuldig bin. Was habe ich zu fürchten? »Wer keinen Knoblauch ißt, der riecht auch nicht aus dem Mund«, fügt Reb Schepsel, der Gabbe, mit einem so gemeinen Lächeln hinzu, daß ich große Lust habe, ihm zwei Ohrfeigen auf seine dicken Backen zu geben ... Gott! Was nützte mir die ganze Lügengeschichte? Was brauchte ich meine Schwiegermutter hineinzumischen? Mehr fehlt mir ja nichts, als daß sie erfährt, wie ich sie vor Schreck sterben ließ! ...

»Fürchtet Euch nicht, Gott sei mit Euch! Der Herr Urjadnik ist gar kein so schlechter Mensch, wie Ihr glaubt! Drückt ihm etwas in die Hand und sagt ihm, daß er das Protokoll vernichten soll. Er ist ein kluger Mann, ein durchtriebener Mann und weiß ganz gut, daß alles, was Ihr ihm erzählt habt, Trug und Lüge ist.«

So sprach zu mir Reb Elieser-Moische und fuchtelte mir dabei mit seinen spitzen Fingern vor der Nase herum. Wenn ich es könnte, hätte ich ihn entzweigerissen, wie man einen Hering entzweireißt. Er war es ja, der mich aufs Glatteis geführt hatte, ausgelöscht sei sein Name und sein Gedächtnis!...

Ich habe nicht mehr viel zu erzählen. Ich kann mich gar nicht erinnern, was dann noch alles kam. Ihr könnt euch das selbst ausmalen. Man nahm mir das letzte Geld ab, sperrte mich ein und stellte mich vors Gericht. Aber das alles ist nichts gegen den Krach, den ich später erlebte, als meine Schwiegereltern erfuhren, daß ihr Schwiegersohn wegen einer Leiche eingesperrt ist, die er irgendwo unterwegs aufgegabelt hat ... Es versteht sich von selbst, daß sie angefahren kamen und sich als meine Schwiegereltern vorstellten. Da ging erst der richtige Tanz los: denn erstens nahm mich die Polizei ins Gebet: »Bursche, wenn deine Schwiegermutter Jente, Gerschoins Tochter, lebt, wer ist dann die Leiche? ...« Das war Nummer eins. Und zweitens nahm mich die Schwiegermutter selbst, leben soll sie, in Behandlung: »Sage mir das eine: wie konntest du nur mich bei lebendigem Leibe begraben?!« Selbstverständlich zeigte es sich bei der Gerichtsverhandlung, daß ich so rein bin wie das reinste Gold; man sparte nicht mit Geld, man schaffte den Schenkwirt mit seinen Kindern als Zeugen herbei, und schließlich wurde ich herausgelassen. Was ich aber wegen der Sache ausgestanden habe, besonders von meiner Schwiegermutter, das wünsche ich auch meinem ärgsten Feind nicht! ...

Seit jener Zeit fliehe ich die ewige Seligkeit!


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