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VII. Tewje fährt ins Heilige Land

Willkommen! Wie geht es Euch, Reb Scholem-Alejchem? Das ist doch eine unerwartete Begegnung! Wir haben es uns beide nicht träumen lassen! Friede sei mit Euch! Ich habe mich immer gefragt: warum sieht man Euch so lange nicht, weder in Bojberik noch in Jehupez? Es ist ja alles möglich, vielleicht habt Ihr schon Eure paar Gilden jemand vermacht und seid dorthin übersiedelt, wo man keinen Rettich mit Schmalz ißt? Und dann dachte ich mir wieder: ist es denn möglich, daß Ihr eine solche Dummheit macht? Ihr seid doch ein kluger und gelehrter Mann! Nun danke ich Gott, daß wir uns beim besten Wohlsein wiedersehen. Wie es geschrieben steht: ›Der Berg kommt mit dem Berg nicht zusammen‹, aber der Mensch mit dem Menschen.

Ihr schaut mich an, Reb Scholem-Alejchem, als ob Ihr mich nicht mehr erkennt? Das bin ich, Euer alter guter Freund Tewje! ›Schaue nicht auf den Krug, sondern auf seinen Inhalt.‹ – Macht Euch nichts daraus, daß ich einen neuen Rock anhabe, ich bin noch immer derselbe Pechvogel Tewje, der ich früher war, und habe mich nicht um ein Haar verändert. Wenn man seine Sabbatkleider anzieht, so sieht man eben mehr wie ein Mensch aus, wie ein reicher Mann: denn wenn man unter Menschen kommt, muß man sich anständig kleiden, besonders wenn man eine so weite Reise unternimmt.... Ich fahre ja ins Heilige Land, und das ist keine Kleinigkeit! Ihr schaut mich an und denkt Euch wohl: Wie kommt ein so kleiner Mensch wie dieser Tewje, der seinen Lebtag mit Milchwaren gehandelt hat, zu dieser Gnade, die sich auf seine alten Tage höchstens noch ein Brodskij leisten kann? Glaubt es mir, Reb Scholem-Alejchem: ››Alles ist ungewiß!‹ Ach, wie wahr sind doch diese Worte! Rückt, bitte, Euer Köfferchen ein wenig zur Seite, ich werde mich Euch gegenüber setzen und Euch eine Geschichte erzählen. Ihr werdet hören, was Gott alles kann. Kurz und gut, ich muß Euch vor allen Dingen sagen, daß ich, nicht auf Euch gedacht, Witwer geworden bin: meine Golde, sie ruhe in Frieden, ist gestorben. Sie war eine einfache Frau, ohne Weisheit und ohne Hintergedanken, aber eine wahre Heilige. Mag sie dort oben eine Fürbitterin für ihre Kinder sein: sie hat von ihnen genug zu leiden gehabt, und hat vielleicht nur darum die Welt verlassen, weil sie es nicht hatte ertragen können, daß die Kinder nach allen Ecken und Enden der Welt fortgezogen sind. »Was taugt mir noch die Welt«, pflegte sie zu sagen, »wenn ich kein Kind und kein Rind mehr habe? Selbst eine Kuh, sie sei von mir wohl unterschieden«, sagte sie, »sehnt sich nach ihrem Kalb, wenn man es ihr fortgenommen hat.« ... So spricht zu mir Golde und vergießt dabei bittere Tränen. Und wie ich sehe, daß sie von Tag zu Tag wie eine Kerze schmilzt, versuche ich sie natürlich zu trösten und sage zu ihr: »Ach«, sage ich, »liebe Golde, es steht geschrieben: ›Richte uns entweder wie deine Kinder oder wie deine Knechte‹: ob wir Kinder haben oder nicht«, sage ich, »jedenfalls haben wir einen großen, guten und starken Gott! Und doch«, sage ich, »möchte ich so viel Segen erleben, wie oft mir der Schöpfer der Welt solches angetan hat, was ich allen meinen Feinden wünsche!« Sie ist aber, sie verzeihe es mir, doch nur ein Weib, und sie sagt zu mir: »Du sündigst, Tewje, mit den Lippen! Man darf«, sagt sie, »nicht sündigen!« – »Was hast du nur?« sage ich: »Habe ich denn etwas Schlechtes gesagt? Lehne ich mich denn, Gott behüte«, sage ich, »gegen die Beschlüsse des Ewigen auf? Denn wenn er seine Welt so eingerichtet hat«, sage ich, »daß die Kinder keine Kinder mehr sind«, sage ich, »und die Eltern nichts mehr gelten«, sage ich, »so weiß er wohl selbst, was er zu tun hat.« ... Sie versteht aber nicht, was ich sage, und antwortet mir ganz unpassend: »Wer wird dir, wenn ich sterbe«, sagt sie, »das Abendessen kochen?«... So spricht sie zu mir ganz leise und sieht mich mit solchen Augen an, daß es auch einen Stein hätte rühren können. Tewje ist aber kein Frauenzimmer, und ich antworte ihr mit einem Scherz und mit einem Bibeltext und mit einer Stelle aus dem Midrasch und noch einer Stelle aus dem Midrasch. »Golde«, sage ich, »du warst mir so viele Jahre treu«, sage ich, »du wirst mich doch nicht auf meine alten Tage zu einem Narren machen?!« Und wie ich das sage, sehe ich sie wieder an: es steht schlimm um sie! »Was fehlt dir«, sage ich, »Golde?« – »Gar nichts«, sagte sie so leise, daß ich es kaum hören kann.

Ich sehe, daß das Spiel zum Teufel ist. Ich spanne mein Pferd an, fahre in die Stadt und hole einen Doktor, den besten Doktor, den ich finden kann. Wie ich zurückkomme, ist es schon aus! Meine Golde liegt auf dem Boden, mit einer Kerze zu Häupten, und sieht aus wie ein Häuflein Erde, das man zusammengescharrt und mit einem schwarzen Tuch bedeckt hat. Ich stehe da und sage mir: ›Ist das alles, was vom Menschen übrig bleibt? Ach, du Schöpfer der Welt, was tust du deinem Tewje an? Was werde ich jetzt in meinen alten Tagen anfangen?‹ Und mit diesen Worten falle ich zu Boden. ... Und da soll man noch schreien: ›Lebendiger und ewiger Gott!‹ Wißt Ihr, was ich Euch sagen werde? Wenn man vor sich den Tod sieht, muß man jeden Gottesglauben verlieren. Man fängt zu grübeln an: ›Was sind wir, und was ist unser Leben?‹ Was ist die Welt mit allen ihren Geschicken, die sich ewig wenden, mit ihren Eisenbahnen, die wie verrückt umherlaufen, mit allem Denken und Trachten, und selbst mit Brodskij und seinen Millionen? Alles ist eitel, alles ist nichts!

Kurz und gut, ich mietete für Golde einen Kadisch und bezahlte ihn für ein ganzes Jahr voraus. Ich konnte ja nichts anderes tun, denn Gott hatte mich gestraft und mir keine männlichen Nachkommen geschenkt, sondern lauter Töchter, wie ich es keinem guten Menschen wünsche. Ich weiß nicht, ob alle Juden sich mit ihren Töchtern so abplagen müssen, oder ob nur ich allein solch ein Pechvogel bin, der mit ihnen kein Glück hat! Das heißt, meinen Töchtern kann ich nichts vorwerfen, und das Glück ruht in Gottes Hand. Es wäre gut, wenn auch nur die Hälfte davon in Erfüllung ginge, was meine Töchter mir wünschen! Sie hängen sogar zu sehr an mir, und alles, was ›zu‹ ist, ist von Übel. Schaut Euch zum Beispiel meine Jüngste an, die man Bejlke nennt. Wißt ihr, was das für ein Mädel ist? Ihr kennt mich doch, gottlob, wie man sagt, seit einem Jahr und einem Mittwoch und Ihr wißt, daß ich nicht zu solchen Vätern gehöre, die ihre Kinder so ohne jeden Grund loben. Wenn aber schon die Rede von Bejlke ist, so muß ich von ihr zwei Worte sagen: Seit Gott mit Bejlkes handelt, hat er noch keine solche Bejlke wie diese erschaffen! Von Schönheit brauche ich gar nicht zu sprechen: Tewjes Töchter, das wißt Ihr doch selbst, sind in der ganzen Welt als Schönheiten bekannt. Aber sie, ich meine Bejlke, kann alle ihre Schwestern in den Sack stecken. Wenn ich von ihr spreche, muß ich an das Lob des tugendsamen Weibes in den Sprüchen denken: ›Lieblich und schön sein ist nichts‹ – ich rede nicht von ihrer Schönheit, ich rede von ihrem Charakter: Gold, reines Gold, sage ich Euch! Ich war ihr immer so teuer wie das Oberste von der Milch; seit aber meine Golde, sie ruhe in Frieden, – mögen die Jahre, die ihr nicht beschieden waren, Bejlke zugute kommen! – verschieden ist, behandelt sie ihren Vater wie ihren Augapfel! Kein Stäubchen ließ sie auf mich fallen. Und ich sagte zu mir selbst: ›Der Schöpfer der Welt ist wirklich so, wie wir es im Jomkippur-Gebet sagen: Er schickt die Arznei noch vor der Krankheit!‹ Es ist aber manchmal schwer zu sagen, was schlimmer ist, die Arznei oder die Krankheit. Wer konnte es ahnen, daß Bejlke sich mir zuliebe für Geld verkaufen wird, daß sie ihren Vater auf seine alten Tage ins Heilige Land schicken wird? Ihr könnt es Euch wohl denken, daß ich das nur so sage, denn sie ist daran ebenso unschuldig wie Ihr. Die ganze Schuld trifft nur ihn, ihren Auserwählten, ich will ihm nicht fluchen, aber eine Kaserne möchte über ihm einstürzen! Und wenn wir die Sache ordentlich überlegen, so wird es sich vielleicht herausstellen, daß ich selbst an allem schuld bin, wie es auch ausdrücklich im Talmud steht: ›Der Mensch hat die Schuld.‹ Aber das brauche ich Euch wohl wirklich nicht zu erzählen, was im Talmud steht!

Kurz und gut, ich will Euch nicht lange aufhalten. Es verging ein Jahr und noch ein Jahr, meine Bejlke wuchs heran zu einem Mädchen, das man, unberufen, fremden Leuten zeigen konnte; und Tewje tat noch immer seine alte Arbeit und brachte auf seinem Wagen die Milchwaren im Sommer nach Bojberik und im Winter nach Jehupez – eine Sintflut möchte doch diese Stadt vernichten wie einst Sodom! Ich kann diese Stadt gar nicht mehr anschauen, das heißt, weniger die Stadt als die Menschen, und ich meine auch nicht alle Menschen, sondern einen ganz bestimmten: nämlich Efroïm, den Schadchen, der böse Geist mag in seinen Vater fahren! Da werdet Ihr gleich hören, was ein Schadchen alles anstellen kann.

Eines Tages, es war so um die Mitte Elul, komme ich mit meinen Waren nach Jehupez und sehe – ›Haman naht‹ – Efroïm, der Schadchen, kommt mir entgegen. Ich habe Euch schon einmal von ihm erzählt. Efroïm ist zwar ein ganz unausstehlicher Mensch, aber wenn man ihn sieht, muß man, ob man will oder nicht, stehen bleiben: so eine Gewalt hat dieser Mensch in sich! – »Höre einmal, mein Kluger«, sage ich zu meinem Pferdchen, »halte eine Weile, und ich werde dir etwas zum Kauen geben.« Und dann spreche ich Efroïm, den Schadchen, an, wünsche ihm Frieden und beginne mit ihm ein Gespräch von ungefähr:

»Wie steht es mit Euren Geschäften?« frage ich ihn. Er seufzt tief auf und sagt: »Es ist bitter!« – Sage ich: »Was heißt bitter?« – Sagt er: »Ich habe nichts zu tun!« – Sage ich: »Wirklich nichts?« – Sagt er: »Wirklich nichts!« – Sage ich: »Woher kommt das?« – Sagt er: »Das kommt daher, daß die Leute heute nicht mehr zu Hause heiraten ...« – Sage ich: »Wo heiraten sie denn?« – Sagt er: »Irgendwo dort, im Auslande ...« – Sage ich: »Was soll dann so ein Mensch wie ich tun, dessen Großmutter niemals im Auslande gewesen ist?« – Bietet er mir eine Prise an und sagt: »Für Euch, Reb Tewje, habe ich Ware hier am Platze ...« – Sage ich: »Das heißt?« – Sagt er: »Eine Witwe ohne Kinder mit hundertfünfzig Rubeln; sie war früher einmal Köchin in den vornehmsten Häusern ...« Schaue ich ihn an und sage ihm: »Reb Efroïm, wem wollt Ihr diese Partie vorschlagen?« Sagt er: »Wem ich sie vorschlagen will? Euch!« – Sage ich: »Alle bösen und wüsten Träume mögen die Köpfe meiner Feinde treffen!« Ich ziehe meinem Pferdchen eins über und will weiterfahren. Da sagt Efroïm zu mir: »Nehmt es mir nicht übel, Reb Tewje, wenn ich Euch irgendwie verletzt habe! Wen habt Ihr denn gemeint?« – Sage ich: »Wen soll ich wohl meinen, wenn nicht meine Jüngste?« ... Springt er in die Höhe, schlägt sich mit der Hand auf die Stirne und sagt: »Halt! Es ist gut, daß Ihr mich daran erinnert habt! Lange leben sollt Ihr, Reb Tewje!« – Sage ich: »Amen, auch Euch wünsche ich, daß Ihr Messias' Ankunft erlebt. Aber was ist mit Euch los?« – Sagt er: »Es ist gut, Reb Tewje, es ist ausgezeichnet, es kann gar nicht besser sein!« – Sage ich: »Was ist so gut?« – Sagt er: »Ich habe für Eure Jüngste etwas Passendes, ein Glück, einen Haupttreffer – einen reichen und mächtigen Mann, einen Millionär, einen Brodskij, einen Bauunternehmer und Heereslieferanten, und mit seinem Namen heißt er Pedozur!« – Sage ich: »Pedozur? Den Namen kenne ich aus der Schrift.« – Sagt er: »Was taugt mir die Schrift? Er ist ein Bauunternehmer, dieser Pedozur, er baut Häuser, Mauern und Brücken, er war während des Krieges in Japan, ist von dort mit einem Haufen Geld zurückgekehrt, fährt in vornehmen Equipagen mit feurigen Rossen, hat vor seiner Tür Lakaien stehen und ein Bad bei sich in der Wohnung, hat Möbel aus Paris und einen Brillantring am Finger. Ist noch nicht alt, unverheiratet, ein richtiger Junggeselle – Prima! Und er sucht ein schönes Mädel, auch wenn sie nackt und barfuß ist, nur daß sie schön von Angesicht ist!« – »Halt!« sage ich, »wenn Ihr so ohne Kompaß rennt, werden wir Gott weiß wohin kommen! Wenn ich nicht irre«, sage ich, »habt Ihr mir schon einmal diese selbe Partie für meine ältere Tochter vorgeschlagen, für Hodel?« ...

Wie Efroïm von mir diese Worte hört, faßt er sich bei den Seiten und fängt so zu lachen an, daß ich schon fürchte, der Schlag könne ihn treffen. – »Ach«, sagt er, »Ihr redet von einer Sache, die sich zugetragen hat, als meine Großmutter mit ihrem ersten Kinde niedergekommen war! Der Mann, von dem Ihr redet, hat ja noch vor dem Kriege Bankrott gemacht und ist nach Amerika durchgebrannt!« – »Das Andenken des Gerechten zum Segen!« sage ich. »Wird vielleicht auch dieser dorthin durchbrennen?« Da wird er, der Schadchen, wütend und sagt: »Was redet Ihr, Reb Tewje? Jener war«, sagt er, »ein Pfeifer, ein Scharlatan, ein Verschwender, und dieser ist ein Bauunternehmer«, sagt er, »Kriegslieferant, ein Mensch, der viele Geschäfte hat, und ein Kontor, und Angestellte ... und ... und ...« Was soll ich Euch sagen? Der Schadchen kam in solche Hitze, daß er mich vom Wagen herunterzog, mich am Rocke packte und so lange schüttelte, bis ein Schutzmann kam und uns beide aufs Revier abführen wollte. Es war noch ein Glück, daß mir der Vers: ›An dem Fremden magst du wuchern‹ einfiel: mit Polizei muß man umzugehen wissen.

Kurz und gut, was soll ich Euch lange aufhalten: dieser Pedozur verlobte sich mit meiner Jüngsten, das heißt Bejlke, aber es dauerte noch eine Weile, bis man die Chuppe stellte. Und warum dauerte es? Weil sie, das heißt Bejlke, diese Partie ebenso wollte, wie man sterben will. Je mehr sie dieser Pedozur mit seinen Geschenken, mit goldenen Uhren und Brillantringen überschüttete, um so weniger mochte sie ihn leiden. Mir braucht man ja keinen Finger in den Mund zu stecken; ich merkte es sofort an ihrem Gesicht, ihren Augen und den Tränen, die sie heimlich vergoß. Einmal sage ich ihr so nebenbei: »Hörst du, Bejlke«, sage ich, »ich habe Angst, daß du deinen Pedozur«, sage ich, »ebenso liebst und schätzt wie mich.« ... Wird sie rot wie Feuer und sagt zu mir: »Wer hat dir das gesagt?« Sage ich: »Warum weinst du denn sonst ganze Nächte hindurch?« Sagt sie: »Weine ich denn?« Sage ich: »Nein, du weinst nicht, aber du schluchzt still in dich hinein. Du glaubst wohl«, sage ich, »daß, wenn du den Kopf in die Kissen vergräbst, ich deine Tränen nicht sehe? Du meinst wohl«, sage ich, »daß dein alter Vater ein kleiner Junge ist«, sage ich, »oder daß ihm sein Gehirn eingetrocknet ist, so daß er es nicht versteht«, sage ich, »daß du es nur ihm zuliebe tust? Daß du ihn auf seine alten Tage versorgen willst«, sage ich, »damit er einen Ort hat, wo sein Kopf ausruhen kann und damit er, Gott behüte, nicht betteln gehen muß? Wenn du es so meinst, so bist du«, sage ich, »dumm, denn wir haben«, sage ich, »einen großen Gott«, sage ich, »und Tewje gehört nicht zu den Nichtstuern, die sich mit Gnadenbrot begnügen. Geld«, sage ich, »ist nichts, wie es auch in der Schrift heißt. Und wenn du einen Beweis willst«, sage ich, »so schaue nur deine Schwester Hodel an: sie ist zwar eine Bettlerin, aber lies ihre Briefe«, sage ich, »die sie mir von Gott weiß wo«, sage ich, »vom Ende der Welt schreibt, und sieh, wie sie sich mit ihrem Pechvogel Pfefferl glücklich fühlt!« ... Zeigt nun Euren Scharfsinn und versucht zu raten, was mir Bejlke darauf geantwortet hat? – »Mit Hodel«, sagt sie, »darfst du mich nicht vergleichen: Hodel gehört in eine Zeit«, sagt sie, »wo die ganze Welt zitterte und jeden Augenblick umzustürzen drohte; damals waren alle«, sagt sie, »so sehr um die Welt besorgt, daß sie an sich selbst gar nicht dachten. Aber jetzt«, sagt sie, »wo die Welt wieder eine Welt ist«, sagt sie, »sorgt ein jeder nur für sich selbst, und niemand denkt mehr an die Welt.« ... So antwortete mir Bejlke auf meine Worte. Da gehe einer her und rate, was sie damit meint!

Nun? Ihr versteht Euch ja auf Tewjes Töchter! Ihr hättet sie sehen sollen, wie sie unter der Chuppe stand: wie eine Prinzessin! Wie ich sie so stehen sah und mich in ihr sozusagen spiegelte, dachte ich mir: ›Ist das auch wirklich Bejlke, Tewjes Tochter? Wo hat sie gelernt, so zu stehen, und so zu gehen, und so den Kopf zu halten, und sich so zu kleiden, daß alles wie angegossen sitzt?‹ ... Ich hatte aber nicht Zeit, mich lange in ihr zu spiegeln, denn das junge Paar machte sich noch am selben Tage nach der Trauung so gegen halb sechs Uhr abends auf und reiste mit dem Schnellzug zu allen Teufeln, nach Italien, wie es heute bei den reichen Leuten Mode ist.

Sie kehrten erst um die Chanuka-Zeit zurück und ließen mir gleich sagen, ich möchte um Gottes willen und sofort zu ihnen nach Jehupez kommen. Da sagte ich mir gleich: Wenn sie einfach den Wunsch hätten, daß ich zu ihnen komme, so würden sie mir sagen lassen, ich solle kommen und fertig. Was bedeutet aber das ›um Gottes willen‹ und das ›sofort‹? Das muß doch irgendeinen Grund haben! Nun frage ich mich: Was ist das für ein Grund? Und es kommen mir allerlei Gedanken, wie gute so auch böse in den Sinn: vielleicht haben sie sich dort wie zwei Katzen gezankt und wollen sich jetzt scheiden lassen? Dann sagte ich mir wieder: ›Du bist ein Narr, Tewje! Warum mußt du gleich das Schlechteste denken? Woher kannst du wissen, warum sie dich sehen wollen? Vielleicht sehnen sie sich einfach nach dir? Oder vielleicht will Bejlke ihren Vater in ihrer Nähe haben? Oder Pedozur will dir eine Stelle geben, dich an seinen Geschäften beteiligen und dich zu einem Aufseher bei seinen Unternehmungen machen?‹ So oder so, ich muß hin.

Ich setze mich also in meinen Wagen und fahre nach Jehupez. Wie ich so fahre, geht mir meine Einbildungskraft durch, und ich stelle mir vor, daß ich mein Dorf verlassen und meine Kühe, Pferde und Wagen und alles verkauft habe! Und ich bin in die Stadt gezogen und bei meinem Pedozur zuerst ein Aufseher, dann ein Kassierer, dann der Direktor aller seiner Unternehmungen und zuletzt Kompagnon, der an seinen Geschäften gleich ihm beteiligt ist, geworden. Und ich fahre ebenso wie er mit zwei feurigen Rossen aus – das eine ist falb und das andere kastanienbraun –, und ich wundere mich über mich selbst, wie mir das geschehen ist, und wie ein so bescheidenes Menschlein wie Tewje zu solchen großen Geschäften kommt. Was taugt mir die Hast und der Lärm Tag und Nacht, wie es in den Psalmen steht: ›Daß er ihn setze neben die Fürsten‹, – was brauche ich die Freundschaft mit allen Millionären? Laßt mich los, ich will ein ruhiges Alter haben, ich will ab und zu ein Kapitel Talmud durchnehmen oder in den Psalmen lesen! Man muß doch einmal auch an die andere Welt denken! Ja oder nein? Wie sagt doch König Salomo: der Mensch ist wie das liebe Vieh und vergißt immer, daß er früher oder später sterben muß.

Mit solchen Gedanken komme ich glücklich nach Jehupez zu meinem Pedozur. Daß ich Euch von seinem Prunk und seinem Reichtum, von seiner Wohnung und seiner Lebensart erzähle, das übersteigt meine Kräfte. Ich hatte noch niemals die Gnade, bei Brodskij im Hause zu sein, aber ich vermute auf Grund meines Verstandes, daß es auch bei Brodskij gar nicht schöner sein kann! Wie schön er wohnt, könnt Ihr schon daraus schließen, daß der Aufseher, der seine Türe bewacht, ein Kerl mit silbernen Knöpfen, mich um nichts in der Welt in die Wohnung einlassen wollte. Was macht man da? Die Türe ist aus Glas, und ich sehe, wie dieser Kerl mit den silbernen Knöpfen – ausgelöscht sei sein Name und sein Gedächtnis! – innen im Vorzimmer steht und Kleider bürstet. Ich winke ihm zu und erkläre ihm in der Taubstummensprache, mit den Händen, daß er mich einlassen soll, weil die Hausfrau meine leibliche Tochter ist. ... Versteht er aber nicht, der gojische Kopf, was ich meine, und sagt mir, auch in der Taubstummensprache, das heißt mit den Händen, daß ich zum Teufel gehen soll. Dieses Pech! Daß man, um seine eigene Tochter zu besuchen, die frommen Verdienste seiner Väter anrufen muß! ›Ach und weh ist dir‹, sage ich mir, ›Tewje, und deinem grauen Kopf, daß du so etwas erleben mußt!‹

Wie ich mir das denke, schaue ich wieder durch die Glastüre und sehe ein Mädel, das innen herumsteht. ›Es wird wohl das Stubenmädchen sein‹, denke ich mir, denn sie hat die Augen einer Diebin. Alle Stubenmädchen haben Diebsaugen: ich bin schon in vielen reichen Häusern gewesen und kenne alle Stubenmädchen. ... Nun winke ich ihr: »Mach mir auf, Kätzchen!« Sie macht die Türe auf und sagt zu mir auf jüdisch: »Wen sucht Ihr hier?« Sage ich: »Wohnt hier Pedozur?« Sagt sie schon etwas lauter: »Wen sucht Ihr hier?« Sage ich ihr noch lauter: »Wenn man dich fragt, so sollst du zuerst die Frage beantworten: wohnt hier Pedozur?« Sagt sie: »Ja hier!« – »In diesem Falle«, sage ich, »gehörst du zu meinen Leuten! Geh«, sage ich, »und melde deiner Madame Pedozur«, sage ich, »daß sie Besuch hat«, sage ich, »ihr eigener Vater, Tewje, sei da: er steht schon eine hübsche Weile vor der Tür«, sage ich, »wie ein Bettler, weil er keine Gnade in den Augen dieses Esaus mit den silbernen Knöpfen gefunden hat«, sage ich, »er möchte für deinen kleinsten Fingernagel zugrunde gehen!«

Als das Mädel diese Worte hörte, machte sie mir mit dem Lächeln einer Getauften die Türe vor der Nase zu, lief die Treppe hinauf, dann wieder herunter, ließ mich ein und führte mich in ein Gemach, wie es meine Väter nicht einmal im Traume gesehen haben. Seide und Samt, Gold und Kristall, und wenn Ihr geht, so hört Ihr Eure eigenen Schritte nicht, denn Ihr tretet mit Euren sündigen Füßen auf die teuersten Teppiche, die so weich sind wie Schnee. Und dann die vielen Uhren! An den Wänden hängen Uhren, auf den Tischen stehen Uhren, Uhren ohne Zahl! ›Schöpfer der Welt! Hast du noch mehr davon? Was braucht der Mensch so viel Uhren?‹ So denke ich mir und gehe, die Hände im Rücken, ein wenig weiter und sehe plötzlich, wie mir einige Tewjes zugleich von verschiedenen Seiten entgegenkommen; der eine Tewje geht her, der andere Tewje hin, der eine zu mir, der andere von mir – es ist zum Verrücktwerden! An allen vier Seiten hängen Spiegel! Nur so ein Kerl wie dieser Bauunternehmer kann sich so viel Uhren und so viel Spiegel leisten! Und ich muß an den dicken, rundlichen Pedozur mit der großen Glatze denken, der so laut spricht und trillernd lacht, wie er mit seinen feurigen Rossen zum ersten Male zu mir ins Dorf kam, wie er sich in meiner Stube wie in seines Vaters Weingarten bequem machte, wie er meine Bejlke kennenlernte, mich dann auf die Seite nahm und mir ein Geheimnis ins Ohr flüsterte, doch so laut, daß man es auch jenseits Jehupez hören konnte. Und was war das für ein Geheimnis? Das Geheimnis war, daß meine Tochter ihm gefallen hat, und daß ich – eins, zwei, drei – die Chuppe stellen soll. Daß meine Tochter ihm gefallen hat, das kann ich noch verstehen; aber daß ich auf der Stelle eine Chuppe stellen soll, diese Worte drangen mir ins Herz wie ein zweischneidiges Schwert – wie ein stumpfes Messer. Was heißt das ›auf der Stelle‹? Und wo bin ich? Wo ist Bejlke? Ach, wie gerne hätte ich ihm einige Texte aus der Bibel und aus dem Midrasch an den Kopf geschmissen, so daß er lange an mich denken würde! Aber dann sagte ich mir wieder: ›Was sollst du dich in die Angelegenheiten deiner Kinder einmischen, Tewje? Hast du denn bei deinen älteren Töchtern viel damit erreicht, daß du ihnen bei ihrer Verheiratung dreinredetest? Du hast wie eine Pauke geredet, hast deine ganze Thora ausgeschüttet, und wer blieb der Narr? – Natürlich Tewje!‹

Kurz und gut, wollen wir, wie es in Euren Büchern heißt, den Königssohn verlassen und uns zu der Königstochter wenden. Ich tue ihnen also den Gefallen und komme nach Jehupez. Und nun geht der Tanz los: Friede sei mit Euch! Friede sei mit Euch! Wie geht es? Wie steht es? Setzt Euch! Danke, es geht! Und so weiter. Daß ich als erster auf die Sache komme und sie frage: ›Wodurch unterscheidet sich dieser Tag von allen Tagen? – Warum habt ihr mich kommen lassen?‹ – das paßt mir nicht. Tewje ist kein Frauenzimmer, er kann warten. Inzwischen kommt ein Kerl mit weißen Handschuhen und meldet, daß das Frühstück auf dem Tische steht. Wir erheben uns also alle drei und kommen in ein Zimmer, das ganz aus gelber Eiche besteht: der Tisch ist aus Eiche, die Stühle aus Eiche, die Wände aus Eiche, die Decke aus Eiche, und alles ist geschnitzt, bemalt und verziert. Und auf dem Tische sind ›königliche Gewänden‹: Tee und Kaffee und Schokolade und Buttergebäck und guter Kognak, und die feinsten Delikatessen und noch andere Speisen und Früchte; es ist eine Schande zu sagen, aber ich fürchte, daß meine Bejlke am Tische ihres Vaters solche Gerichte nicht einmal gesehen hat! Und man schenkt mir einen Becher ein, und dann noch einen Becher, und ich trinke auf ihr Wohl, und ich schaue Bejlke an und denke mir: ›Da hast du es erlebt, Tewjes Tochter, wie wir es im Hallel sagen: ›Er richtet den Geringen auf aus dem Staube‹ – wenn Gott dem Bettler hilft, so erhöhet er den Armen aus dem Kot – so daß man ihn gar nicht wiedererkennt. Es ist Bejlke und doch nicht Bejlke!‹

Und ich denke an die Bejlke von einst und vergleiche sie mit der Bejlke, die ich jetzt vor mir sehe, und das Herz krampft sich in mir zusammen, wie wenn ich ein schlechtes Geschäft gemacht hätte, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, zum Beispiel, wie wenn ich mein gutes Pferd für ein Füllen hergegeben hätte, von dem man noch nicht weiß, was daraus einmal wird: ein Pferd oder ein Klotz? ›Ach, Bejlke, Bejlke!‹ denke ich mir: ›Was ist aus dir geworden! Erinnerst du dich noch, wie du einst mit deiner Näharbeit vor einer qualmenden Lampe saßest und ein Liedchen sangst? Oder wie du in einem Nu die beiden Kühe melktest? Oder wie du dir die Ärmel aufkrempeltest und mir eine einfache Rübensuppe kochtest, oder eine Mehlspeise mit Bohnen, oder Krapfen mit Käse, oder Mohnkuchen bukst und mir sagtest: ›Vater, geh, wasche dir die Hände!‹ Und diese Worte waren für mich wie die schönste Musik!‹

Jetzt sitzt sie hier wie eine Königstochter mit ihrem Pedozur, zwei Diener bringen die Speisen und klappern mit den Tellern. Und sie? Sie spricht keine Silbe! Dafür spricht er, ich meine Pedozur, für zwei: keinen Augenblick steht sein Mundwerk still. Seit ich lebe, habe ich noch keinen Menschen gesehen, der soviel plaudern und schwatzen konnte, der Teufel weiß wovon! Und die ganze Zeit lacht er mit hoher Stimme, wie man bei uns sagt: ›Er macht selbst einen Witz und lacht selbst dazu.‹ ... Außer uns dreien saß am Tische noch ein Mensch mit roten Backen; ich weiß nicht, wer und was er war, aber er schien ein guter Esser zu sein: während Pedozur redete und lachte, aß er, wie es in den Sprüchen der Väter heißt: ›Drei Menschen aßen‹ – er aß für drei. ... Der eine hat gegessen und der andere geredet, und immer von solchen dummen Dingen, die mir gar nicht in den Kopf gehen wollten: Lieferungen, Gouvernementsverwaltung, Domänenverwaltung, Rentamt, Japan. ... Von allen diesen Dingen interessierte mich nur Japan allein, denn zu Japan hatte ich doch gewisse Beziehungen: während des Japankrieges standen, wie Ihr wißt, die Pferde in hohem Ansehen, und man suchte sie überall zu kaufen. Also kam auch mein Pferdchen zur Musterung: man maß es mit einer Elle, trieb es einmal hin und einmal her und erklärte es schließlich für untauglich. Da habe ich ihnen gesagt: »Ich wußte es schon vorher, daß Eure ganze Mühe vergebens ist, wie es auch in der Schrift heißt: ›Der Gerechte kennt die Seele seines Viehes‹: – Tewjes Pferd wird doch nicht in den Krieg ziehen!« ... Nehmt es mir nicht übel, Reb Scholem-Alejchem, daß ich alles durcheinanderbringe und vom Wege abschweife. Wollen wir also zu unserer Geschichte zurückkehren.

Kurz und gut, wir aßen und tranken so gut, wie es Gott befohlen hat. Und wie wir vom Tische aufstehen, nimmt mich Pedozur am Arm und führt mich in sein Arbeitszimmer, das mit königlichem Prunk ausgestattet ist: Spieße und Gewehre an den Wänden und Kanonen auf dem Tische. Er setzt mich in ein Sofa, das so weich wie Butter ist, holt aus einer goldenen Dose zwei große, dicke, duftende Zigarren, steckt die eine sich und die andere mir an, setzt sich mir gegenüber, streckt die Füße aus und sagt zu mir: »Wißt Ihr, warum ich Euch rufen ließ?« – Aha! – denke ich mir –, nun will er wohl von der Hauptsache sprechen! – Ich stelle mich aber dumm und sage zu ihm: »›Bin ich denn der Hüter meines Bruders?‹ – Woher soll ich das wissen?« Sagt er zu mir: »Ich wollte mit Euch wegen Euch selbst sprechen!« – Es ist also doch wegen einer Stelle! – denke ich mir und sage zu ihm: »Wenn es nur etwas Gutes ist, will ich gerne hören.« Nun nimmt er, das heißt Pedozur, die Zigarre aus dem Munde und hält eine ganze Predigt: »Ihr seid«, sagt er, »kein dummer Mensch und werdet es mir nicht übel nehmen, wenn ich mit Euch ganz offen rede. Ihr müßt wissen«, sagt er, »daß ich große Geschäfte habe, und daß, wenn man ein so großes Geschäft hat wie ich...« – Ja – denke ich mir, er will mir eine Stelle anbieten! – Und ich unterbreche ihn und sage: »Es ist, wie es im Talmud steht: ›Je mehr Geschäfte, um so mehr Sorgen!‹ Wißt Ihr«, sage ich, »was diese Stelle bedeutet?« Antwortet er mir ganz aufrichtig: »Ich muß Euch sagen«, sagt er, »die reine Wahrheit sagen: ich habe«, sagt er, »niemals den Talmud gelernt und weiß sogar nicht, wie er ausschaut!« – So spricht er, Pedozur, zu mir und beginnt wieder mit seiner hohen Stimme zu lachen. Könnt Ihr das verstehen? Ich meine: wenn Gott dich gestraft hat, und du ein unwissender Mensch bist, so schweige wenigstens darüber: was brauchst du damit noch zu prahlen? Das denke ich mir und sage zu ihm: »Das habe ich mir auch gedacht«, sage ich, »daß Ihr von diesen Dingen nichts versteht. Aber wollen wir hören, was Ihr mir weiter sagen wollt!« Sagt er zu mir: »Weiter wollte ich Euch noch sagen«, sagt er, »daß es mir bei meinen Geschäften und meinem Namen und meiner Position nicht paßt«, sagt er, »daß man Euch Tewje, der Milchmann, nennt. Denn Ihr müßt wissen«, sagt er, »daß ich mit dem Gouverneur persönlich bekannt bin«, sagt er, »und daß zu mir ins Haus einmal Brodskij oder auch Poljakow kommen kann und vielleicht gar Rothschild – alles ist möglich!«... So sagt zu mir Pedozur. Ich schaue aber auf seine glänzende Glatze und denke mir: ›Es ist wohl möglich, daß du mit dem Gouverneur persönlich bekannt bist und daß zu dir einmal Rothschild ins Haus kommen kann, aber du redest wie ein Hund unter Hunden.‹... – Und ich sage zu ihm etwas gereizt: »Was kann ich dagegen machen«, sage ich, »wenn zu Euch einmal wirklich Rothschild kommt?« Meint Ihr vielleicht, daß er den Stich merkte? Weder den Wald noch den Bären – nichts merkte er!

»Ich möchte gern«, sagte er, »daß Ihr Euren Milchhandel aufgebt«, sagt er, »und irgend etwas anderes treibt.« – »Zum Beispiel was?« – »Was Ihr wollt!« sagt er: »Gibt es denn wenig Geschäfte auf der Welt? Ich will Euch«, sagt er, »mit Geld helfen«, sagt er, »damit Tewje, der Milchmann, einmal ein Ende nimmt. Oder wißt Ihr was?« sagt er: »Vielleicht wollt Ihr gar nach Amerika hinüberfahren? Wie?« So sagt er zu mir, steckt sich die Zigarre wieder in den Mund und schaut mir gerade in die Augen; und seine Glatze glänzt.... Nun? Was antwortet man so einem rohen Kerl? Zuerst sagte ich mir: ›Was sitzt du noch da, Tewje, wie ein Lehmgötze? Stehe auf, »küsse die Mesuse, und schlage die Türe ohne Abschied zu nehmen hinter dir zu!‹ So sehr packten mich seine Worte an der Leber!... Diese Frechheit von einem Bauunternehmer! Was heißt das, daß du mir befiehlst, meinen ehrlichen Beruf aufzugeben und nach Amerika zu fahren? Weil zu dir einmal Rothschild kommen kann, muß Tewje, der Milchhändler, ans Ende der Welt fliehen?!... Das Herz siedet in mir wie ein Kessel, und einen Zorn habe ich noch von früher her. Denn ich ärgerte mich über Bejlke: Was sitzt sie dort wie eine Königstochter zwischen den hundert Uhren und tausend Spiegeln, während man ihren Vater auf glühenden Kohlen Spießruten laufen läßt? Ich möchte so viel Segen erleben, denke ich mir, wie deine Schwester Hodel besser gehandelt hat als du! Sie hat zwar keine so prunkvolle Wohnung wie du. Dafür hat sie aber den Pfefferl zum Mann, der an sich selbst gar nicht denkt und für die anderen sorgt. ... Und dieser Pfefferl hat auf seinen Schultern einen Kopf sitzen und keinen Nudeltopf mit einer glänzenden Glatze! Und ein Mundwerk hat er – reines Gold! Wenn ich ihm mit einem Text komme, gibt er mir drei zurück! Warte nur, mein lieber Pedozur, da werde ich dir gleich einen Text hinschmeißen, daß es dir finster vor den Augen wird!...

So denke ich mir und spreche zu ihm diese Worte: »Mein Gott!« sage ich, »daß der Talmud für Euch ein Buch mit sieben Siegeln ist, das will ich Euch gerne verzeihen: wenn ein Jude in Jehupez wohnt und Pedozur heißt und ein Bauunternehmer ist, so kann«, sage ich, »der Talmud auf dem Dachboden liegen. Aber einen ganz gewöhnlichen Vers aus der Schrift«, sage ich, »kann ja auch ein Goj verstehen. Ihr wißt doch«, sage ich, »wie es im Targum Onkelos von Laban dem Aramäer heißt: ›Meschwanzosso deschweinosso nitmachanto streimelosso.‹« Schaut er mich an wie ein Hahn das Gebet ›Bnej-Odom‹ und sagt zu mir: »Was heißt das?« – »Das heißt«, sage ich, »daß man aus einem Schweineschwanz kein Streimel machen kann!« – »Worauf bezieht sich das?« sagt er. – »Das bezieht sich darauf«, sage ich, »daß Ihr von mir verlangt, daß ich nach Amerika gehe.« Lacht er mit seiner hohen Stimme und sagt: »Wenn Euch Amerika nicht paßt, so wollt Ihr vielleicht nach Palästina? Alle alten Juden fahren nach Palästina.« ...

Wie er mir das sagt, setzt sich dieser Gedanke in meinem Gehirne sofort wie ein eiserner Nagel fest: ›Halt! Vielleicht ist es gar nicht so dumm, wie du meinst, Tewje? Vielleicht ist es eine gute Idee? Vielleicht ist es sogar besser, ins Heilige Land zu fahren, als von seinen Kindern so viel Freude zu haben, wie du sie hast? Rindvieh! Was riskierst du dabei und wen läßt du hier zurück? Deine Golde, sie ruhe in Frieden, liegt doch schon sowieso im Grabe; und liegst du denn auch nicht selbst – ich sollte es lieber gar nicht aussprechen! – neun Ellen tief in der Erde? Wie lange willst du noch auf dieser Welt herumstampfen?‹ ... Nun müßt Ihr wissen, Reb Scholem-Alejchem, daß es mich auch schon früher nach dem Heiligen Lande hinzog: ich habe große Lust, die Klagemauer zu sehen, und die Zwiefache Höhle und Mutter Rahels Grab, mit meinen eigenen Augen den Jordan zu sehen, den Berg Sinai, das Schilfmeer und wie die Städte Pison und Ramses ausschauen, und ähnliche Dinge. Und meine Gedanken führen mich ins Gelobte Land Kanaan, wo Milch und Honig fließt.

Pedozur unterbricht mich aber mitten in meinen Gedanken und sagt zu mir: »Nun? Was überlegt Ihr es Euch noch so lange? Eins – zwei – drei ...« – »Bei Euch«, sage ich, »geht alles, gottlob, eins – zwei – drei; für mich ist es aber ein schwieriges Talmudkapitel, denn um aufzubrechen«, sage ich, »und ins Heilige Land zu fahren, braucht man Geld.« ... Lacht er wieder mit seiner hohen Stimme, steht auf, geht zum Tisch, macht eine Schublade auf, holt eine Brieftasche heraus und zählt mir eine recht hübsche Summe vor. Ich bin natürlich nicht faul, scharre das Häuflein Banknoten zusammen – da sieht man wieder die Macht des Geldes! – und stecke sie tief in die Tasche. Ich will ihm noch einige Texte aus dem Midrasch anführen, die ihm alles erklären würden, hört er aber auf mich wie auf einen Kater und sagt zu mir: »Dieses Geld«, sagt er, »wird Euch für die Reise mehr als genügen. Und wenn Ihr schon an Ort und Stelle seid«, sagt er, »und noch Geld braucht, so schreibt nur«, sagt er, »einen Brief, und man wird Euch sofort – eins, zwei, drei – noch mehr Geld schicken. Euch noch einmal daran erinnern«, sagt er, »daß Ihr auch wirklich hinfahren sollt, brauche ich wohl nicht, denn Ihr seid«, sagt er, »ein Mensch, der Ehre und Gewissen im Leibe hat.« ... So spricht zu mir Pedozur und beginnt wieder mit seiner hohen Stimme zu lachen, so daß sich mir der Magen umdreht. Und es kommt mir der Gedanke in den Sinn: ›Soll ich ihm vielleicht das Geld an den Kopf schmeißen und ihm sagen, daß man Tewje nicht kaufen kann und daß man mit ihm nicht von Ehre und Gewissen sprechen darf?‹ ... Doch ehe ich noch den Mund aufmache, klingelt er und läßt Bejlke rufen. Wie sie hereinkommt, sagt er zu ihr: »Weißt du was, Schätzchen? Dein Vater will uns verlassen; er will seine ganze Habe verkaufen und, eins – zwei – drei, ins Heilige Land fahren ...« – ›Ich hatte einen Traum und weiß nicht, was er bedeutet‹ ... denke ich mir und schaue meine Bejlke an. Glaubt Ihr vielleicht, daß sie auch nur mit einer Wimper zuckte? Sie steht wie ein Baum da, hat keinen Tropfen Blut im Gesicht, sieht bald auf mich und bald auf ihn und sagt keine Silbe! Auch ich schaue sie an und spreche kein Wort, und so schweigen wir alle beide, wie es in den Psalmen steht: ›Meine Zunge klebe an meinen Gaumen‹; meine Zunge ist wie gelähmt, es schwindelt mir im Kopfe und es hämmert mir in den Schläfen. ›Woher mag das kommen?‹ frage ich mich: ›Wohl von der schönen Zigarre, die er mir gab.‹ ... Da raucht er aber auch selbst, ich meine Pedozur, die gleiche Zigarre, und sie scheint ihm nichts zu machen, denn er redet dabei unaufhörlich, und sein Mundwerk steht keinen Augenblick still, obwohl ihm die Augenlider zufallen und er offenbar große Lust hat, ein wenig zu schlafen.

»Ihr müßt«, sagt er, »von hier mit dem Schnellzug nach Odessa fahren und von Odessa zu Schiff nach Jaffa. Für die Seereise«, sagt er, »ist gerade jetzt die beste Zeit«, sagt er, »denn später beginnen die Stürme und Schneefälle und Winde.« ... So spricht er zu mir mit lallender Zunge, wie einer, der schlafen will. Aber er hört noch immer nicht auf und redet weiter: »Und wenn Ihr reisefertig seid«, sagt er, »so sollt Ihr es uns zu wissen geben«, sagt er, »und wir werden beide zum Bahnhof kommen, um uns von Euch zu verabschieden, denn wer weiß, wann wir uns je wiedersehen.« ... Hier reißt er, mit Verlaub zu sagen, das Maul auf, gähnt, steht auf und sagt zu Bejlke: »Schätzchen, bleib ein wenig mit dem Vater«, sagt er, »denn ich will mich ein wenig hinlegen.« – ›Das ist das Vernünftigste, was du bisher gesagt hast!‹ denke ich mir. ›Jetzt werde ich wenigstens mein bitteres Herz etwas erleichtern können!‹ So denke ich mir und bin schon im Begriff, meine Bejlke vorzunehmen und ihr alles zu sagen, was sich an diesem Tage in meinem Herzen angesammelt hat, als sie mir plötzlich um den Hals fällt und zu weinen beginnt. Aber was heißt weinen? Meine Töchter, nicht gedacht soll ihrer werden, haben alle die gleiche Eigenschaft: anfangs sind sie fest und tapfer, wenn es aber zur Entscheidung kommt, so fließen sie über in Tränen wie die Beresina. So zum Beispiel meine ältere Tochter Hodel: hat sie im letzten Augenblick, als sie mit ihrem Pfefferl in die Verbannung nach den kalten Ländern ziehen mußte, wenig Geschichten gemacht? Aber man darf die beiden gar nicht vergleichen! Hodel kann bei Bejlke die Öfen heizen!

Ich will Euch die reine Wahrheit sagen: Wie Ihr mich kennt, bin ich kein Mensch von Tränen. Ordentlich geweint habe ich nur das eine Mal, als meine Golde, sie ruhe in Frieden, auf der Erde lag. Und noch einmal habe ich ordentlich geweint, als Hodel mit ihrem Pfefferl wegfuhr und ich wie ein großer Narr allein mit meinem Pferdchen auf dem Bahnhof zurückblieb. Vielleicht habe ich noch ein paarmal geweint, doch im allgemeinen kann man nicht sagen, daß ich die Gewohnheit habe zu weinen. Als ich aber Bejlke so herzerweichend weinen sah, konnte ich mich nicht länger halten und hatte nicht mehr den Mut, ihr auch den leisesten Vorwurf zu machen. Mit mir braucht man gar nicht viel Worte zu machen. Ich heiße ja Tewje und habe sofort verstanden, was ihre Tränen bedeuteten: das waren keine gewöhnlichen Tränen, es waren die Tränen des Sündenbekenntnisses: ›Und vergib mir die Sünde, die ich begangen habe‹, durch Ungehorsam gegen den Vater. ... Und statt ihr so einzuheizen, wie sie es verdiente, und meinen Zorn auf ihren Pedozur zu ergießen, begann ich ihr alles, was ich auf dem Herzen hatte, zu erzählen, mit allerlei Texten und Sprüchen untermengt.

Bejlke hört mich an und sagt zu mir: »Nein, Vater, nicht darum weine ich«, sagt sie. »Ich habe niemand etwas vorzuwerfen! Nur das eine«, sagt sie, »daß du um meinetwillen wegfährst und ich nichts dagegen machen kann«, sagt sie, »brennt mir auf der Seele.« – »Höre schon auf, höre auf«, sage ich, »du redest wie ein Kind! Du hast wohl vergessen«, sage ich, »daß wir einen großen Gott auf der Welt haben und daß dein Vater«, sage ich, »noch bei klarem Verstande ist. Deinem Vater«, sage ich, »macht es wirklich nicht viel aus, nach dem Heiligen Lande hinüberzufahren und dann wieder zurückzukommen, wie es in der Schrift steht: ›Und sie zogen aus und lagerten sich.‹« ... – So rede ich mit ihr und denke mir dabei: ›Tewje, du lügst! Wenn du einmal nach dem Heiligen Lande abgereist bist, so ist es mit Tewje, er ruhe in Frieden, aus!‹ ... Wie wenn sie meinen Gedanken erraten hätte, sagt sie zu mir: »Nein«, sagt sie, »nein, Vater, so tröstet man nur ein kleines Kind! Man gibt ihm«, sagt sie, »eine Puppe oder ein anderes Spielzeug und erzählt ihm«, sagt sie, »eine hübsche Geschichte vom weißen Zicklein. ... Wenn man schon Geschichten erzählen soll«, sagt sie, »so werde ich dir eine erzählen, und nicht du mir. Aber die Geschichte, die ich dir erzählen will, ist weniger schön als traurig, Vater!«

So spricht zu mir Bejlke. Tewjes Töchter reden niemals einfach! Und sie erzählt mir eine lange Geschichte, ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Wie ihr Pedozur sich aus dem niedrigsten Stande emporgearbeitet hat und mit eigener Kraft und eigenem Verstand die höchste Stufe erreicht hat und es jetzt noch so weit bringen will, daß Brodskij zu ihm ins Haus kommt; darum gibt er Riesensummen für wohltätige Zwecke aus und wirft mit Tausenden um sich. Da aber Geld allein dazu nicht genügt, und man auch noch eine vornehme Abstammung haben muß, gibt er, das heißt Pedozur, sich die größte Mühe, nachzuweisen, daß er nicht der erste beste sei, daß er von den großen Pedozurs abstamme und daß auch sein Vater ein berühmter Bauunternehmer gewesen sei. – »Obwohl er ganz gut weiß«, sagt sie, »daß ich weiß, daß sein Vater nur ein Spielmann gewesen ist. Er erzählt auch allen«, sagt sie, »daß sein Schwiegervater ein Millionär sei...« – »Wen meint er damit?« sage ich: »Mich? Wenn es mir vielleicht«, sage ich, »einmal wirklich beschieden war, Millionen zu haben«, sage ich, »so habe ich es schon überstanden.« – »Vater, du kannst es dir gar nicht vorstellen«, sagt sie, »wie mir das Gesicht brennt, wenn er mich seinen Bekannten vorstellt und mit meinem Vater und meinen Onkeln und meiner ganzen Familie prahlt und das Blaue vom Himmel herunterlügt. Und ich muß das alles hören«, sagt sie, »und dazu schweigen, denn er hat«, sagt sie, »in solchen Dingen seine Launen.« – »Du nennst es«, sage ich, »Launen? Wir nennen es einfach Frechheit und Gewalttätigkeit.« – »Nein«, sagt sie, »du kennst ihn nicht, Vater: er ist kein so schlechter Mensch, wie du glaubst. Er ist nur ein Mensch, der jetzt so und in einem Augenblick wieder anders ist. Er hat«, sagt sie, »ein gutes Herz und eine offene Hand. Wenn man ihn nur traurig anschaut«, sagt sie, »und er gerade in der richtigen Laune ist, so ist er imstande, sein Leben hinzugeben. Und wer spricht davon«, sagt sie, »was er für mich alles tut! Meinst du vielleicht«, sagt sie, »daß ich über ihn gar keine Gewalt habe? Erst vor kurzem habe ich es bei ihm durchgesetzt, daß er mir versprach, für Hodel und ihren Mann die Begnadigung zu erwirken. Er hat mir«, sagt sie, »geschworen, daß er es sich viele Tausende kosten lassen wird, doch nur mit der Bedingung, daß sie von dort, wo sie jetzt sind, nach Japan gehen...« – »Warum gerade nach Japan?« sage ich, »und warum nicht nach Indien oder nach Mesopotamien zu der Königin von Saba?« – »Weil er in Japan«, sagt sie, »seine Geschäfte hat. In der ganzen Welt«, sagt sie, »hat er Geschäfte. Was ihm täglich die Telegramme allein kosten«, sagt sie, »hätte uns allen genügt, um ein halbes Jahr davon zu leben. Was habe ich aber davon«, sagt sie, »wenn ich nicht mehr ich bin?« – »Es ist«, sage ich, »wie wir es in den Sprüchen der Väter lesen: ›Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich?‹ Ich bin nicht mehr ich, und du bist nicht mehr du...« So spreche ich zu ihr mit Scherzworten und Texten, obwohl mein Herz in Stücke zerreißt, da ich sehe, wie meine Tochter hier in Reichtum und Ehren zugrunde geht. ... – »Deine Schwester Hodel«, sage ich, »hätte ganz anders gehandelt...« Unterbricht sie mich aber und sagt zu mir: »Ich habe dir doch schon einmal gesagt«, sagt sie, »daß du mich mit Hodel nicht vergleichen darfst, Vater. Hodel«, sagt sie, »lebte in Hodels Zeiten, und Bejlke lebt in Bejlkes Zeiten.... Und Hodels Zeiten sind von Bejlkes Zeit ebensoweit entfernt wie Jehupez von Japan.« ... Versteht Ihr den Sinn dieser aramäischen Worte?

Ich sehe aber, daß Ihr keine Zeit habt, Reb Scholem-Alejchem! Nur noch zwei Minuten, und alle meine Geschichten sind zu Ende. Als ich mich am Unglück und Kummer meiner glücklichen Jüngsten gesättigt hatte, verließ ich das Haus, wie es von Mardechai heißt, traurig und mit verhülltem Kopf – ganz zerbrochen und vernichtet. Ich schleuderte die Zigarre, von der mir der Kopf schwindelte, zu Boden und sagte zu ihr, das heißt zu der Zigarre: »Geh zum Teufel, der böse Geist fahre in deinen Vater!« – »Wen meint Ihr damit, Reb Tewje?« sagt plötzlich jemand hinter meinem Rücken. Ich wende mich um und sehe: es ist Efroim, der Schadchen, daß ihn der Teufel hole! »Gesegnet sei, der da kommt!« sage ich. »Was macht Ihr hier?« – »Und was«, sagt er, »macht Ihr hier?« – »Ich habe«, sage ich, »meine Kinder besucht.« – »Wie geht es ihnen?« – »Wie soll es ihnen gehen?« sage ich: »Uns beiden soll es so gehen, wenn sie nur davon keinen Schaden haben!« – »Wie ich sehe«, sagt er, »seid Ihr mit meiner Ware recht zufrieden?« – »Und ob ich zufrieden bin!« sage ich: »Gott möchte es Euch hundertfach vergelten!« – »Danke«, sagt er, »für den Segen! Vielleicht werdet Ihr mir aber zu dem Segen auch noch etwas in bar zulegen?« – »Habt Ihr denn«, sage ich, »wenig an der Sache verdient?« – »Soviel wünsche ich Eurem Pedozur zu verdienen!« – »Was ist denn los«, sage ich, »hat er Euch wenig gezahlt?« – »Es war nicht wenig«, sagt er, »aber er gab es mir nicht mit gutem Herzen!« – »Das heißt?« – »Das heißt, daß von dem Gelde«, sagt er, »nichts mehr übrig geblieben ist.« – »Wo ist es denn«, sage ich, »hingekommen?« – »Ich habe«, sagt er, »eine Tochter verheiratet.« – »Maseltow!« sage ich: »Gebe Gott, daß die Ehe glücklich wird und daß Ihr viel Freude erlebt...« – »Ich habe schon viel Freude erlebt«, sagt er. »Ich habe einen Scharlatan zum Schwiegersohn erwischt; er hat«, sagt er, »meine Tochter halbtot geprügelt, hat ihr die paar Rubel weggenommen und ist«, sagt er, »nach Amerika durchgebrannt.« – »Warum«, sage ich, »habt Ihr ihn so weit reisen lassen?« – »Was hätte ich«, sagt er, »dagegen tun können?« – »Ihr hättet ihm Salz auf den Schwanz streuen sollen ...« – »Es ist Euch«, sagt er, »wohl recht froh zumute, Reb Tewje?« – »Auf Euch sei es gesagt«, sage ich, »wenn Gott Euch auch nur die Hälfte meiner Freude geben wollte!« – »So stehen die Sachen? Und ich habe geglaubt«, sagt er, »daß Ihr jetzt ein reicher Mann seid!... Wenn es sich aber so verhält«, sagt er, »so nehmt Euch eine Prise.« ...

Ich nahm vom Schadchen die Prise, fuhr nach Hause und begann meinen ganzen Hausstand, den ich in so viel Jahren zusammengespart hatte, zu verkaufen. Glaubt nur nicht, daß es so schnell ging, wie ich es Euch erzähle! Jeder Topf und jede Kleinigkeit kosteten mich ein Stück Gesundheit. Der eine Gegenstand erinnerte mich an Golde, sie ruhe in Frieden, der andere – an meine Kinder, sie mögen um so länger leben. Aber den größten Kummer machte mir mein Pferdchen. Vor meinem Pferdchen fühlte ich mich schuldig. ... Du lieber Gott, wir haben uns so viele Jahre gemeinsam abgeplagt, haben zusammen so viel Kummer erfahren, und da soll ich es plötzlich verkaufen! Ich verkaufte es einem Wasserführer, denn von den Fuhrleuten kann man nur Schande erleben. Wie ich ihnen mein Pferdchen zum Kaufe anbiete, sagen sie zu mir: »Was fällt Euch ein, Reb Tewje? Ist es denn ein Pferd?« – »Was denn ist es«, sage ich, »vielleicht ein Hängeleuchter?« – »Es ist«, sagen sie, »kein Hängeleuchter, sondern einer der sechsunddreißig Gerechten.« Nach einer Sage besteht die Welt nur wegen der sechsunddreißig Gerechten, die, von niemand gekannt, ständig unter den Menschen leben. – »Was heißt das«, sage ich, »einer der sechsunddreißig Gerechten?« – »Das heißt«, sagen sie, »ein Greis von sechsunddreißig Jahren ohne Zähne, mit grauem Bart, dem die Hüften zittern wie einer alten Frau an einem kalten Freitagabend!« – Wie gefällt Euch diese Fuhrmannssprache? Ich möchte einen Eid leisten, daß mein Pferdchen, nebbich, jedes Wort verstand, das wir redeten, wie es auch in der Schrift heißt: ›Der Ochs kennt seinen Herrn‹: das Tier fühlt, wenn man es verkaufen will. Denn als ich mit dem Wasserführer handelseinig war und ihm sagte: »Nehmt es! Segen und Glück auf den Weg ...« – so wendete mein Pferd seinen schönen Kopf nach mir um und sah mich mit stummen Augen an, als ob es mir sagen wollte: ›Ist das der Dank für meine Dienste?‹ ... Ich warf noch einen letzten Blick auf mein Pferdchen, das der Wasserführer in Behandlung nahm, und blieb allein zurück. Und ich dachte mir: ›Schöpfer der Welt! Wie vernünftig regierst du doch deine Welt! Da hast du den Tewje erschaffen und hast auch das Pferdchen erschaffen – es sei zwischen ihnen wohl unterschieden! – und beide haben auf dieser Welt das gleiche Schicksal. ... Der einzige Unterschied ist, daß der Mensch einen Mund hat und alles sagen kann, und das Pferd, nebbich, stumm ist, wie wir es auch in den Psalmen lesen: Was ist des Menschen Vorzug vor dem Vieh? Nichts! Alles ist eitel ...‹

Ihr schaut mich an, Reb Scholem-Alejchem, Ihr seht, daß mir die Tränen in die Augen getreten sind, und Ihr denkt Euch wohl: ›Diesem Tewje tut wohl sein Pferd leid?‹ Warum nur das Pferd? Alles tut mir leid und nach allem werde ich mich sehnen. Ich werde mich nach meinem Pferdchen sehnen, und nach dem Dorf, nach dem Dorfschulzen und dem Dorfpolizisten, nach den Bojberiker Sommerfrischlern und den Jehupezer Reichen und selbst nach Efroïm, dem Schadchen, – daß ihn die Cholera! Denn wenn ich es mir so überlege, ist er doch nur ein armer Jude, der, nebbich, einige Kopeken zu verdienen sucht. Wenn Gott mich in Frieden dorthin bringt, wo ich hinfahre, so weiß ich selbst noch nicht, was ich dort tun werde; aber eines ist mir klar wie der Tag: vor allen Dingen werde ich mich zu Mutter Rahels Grab begeben und dort für meine Kinder beten, die ich wohl niemals wiedersehen werde. Und ich werde dabei auch ihn, Efroïm, den Schadchen, in Sinnen haben, und Euch und das ganze Volk Israel. Da habt Ihr meine Hand darauf! Bleibt gesund, glückliche Reise, und grüßt von mir jeden einzelnen gar freundlich.


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