Gustave Aimard
Freikugel
Gustave Aimard

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22

Ivon

Der Graf und seine beiden Gefährten hatten den Zusammenstoß mit den Indianern ruhig erwartet. Eine Zeitlang entstand ein furchtbares Gewühl, und es wurde mit der blanken Klinge mit großer Erbitterung gekämpft; dann wichen die Indianer zurück, um Atem zu schöpfen und den Angriff zu erneuern. Zu den Füßen der drei Männer, die noch immer fest und unerschüttert gleich ehernen Bildsäulen dastanden, lagen zehn Leichen.

»Wahrhaftig!« rief der Graf aus, indem er mit dem Rücken der Hand den mit Blut untermischten Schweiß von seiner Stirn wischte. »Das ist, bei Gott, ein herrlicher Kampf!«

»Ja«, antwortete Freikugel sorglos, »aber tödlich!«

»Gleichviel, wenn wir wacker sterben.«

»Darin teile ich nicht Ihre Meinung, und solange es noch einen Hoffnungsschimmer gibt, müssen wir ihn erfassen.«

»Es bleibt uns aber keiner!«

»Vielleicht doch! Lassen Sie mich nur machen!«

»Ich bin gern einverstanden; indessen gestehe ich, daß ich den Kampf köstlich finde.«

»Er ist allerdings ganz angenehm; doch wird es noch angenehmer sein, wenn wir künftig davon erzählen können.«

»Das ist allerdings wahr; daran dachte ich nicht.«

»Ja, aber ich desto mehr.« Der Kanadier neigte sich zu Ivon und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr.

»Ja«, antwortete dieser, »wenn ich nur keine Furcht bekomme.«

»In Gottes Namen«, sagte der Jäger lächelnd. »Sie werden tun, was Sie können. Einverstanden also?«

»Einverstanden!«

»Achtung, meine Freunde«, rief der Graf aus, »da kommt der Feind wieder!«

In der Tat standen die Indianer im Begriff, den Angriff zu erneuern. Natah-Otann und der Weiße Bison hatten fest beschlossen, sich des Grafen lebend und unversehrt zu bemächtigen; sie hatten daher Befehl gegeben, sich nicht der Gewehre zu bedienen, sondern sich zu begnügen, die Hiebe, die er austeilen würde, zu parieren, ihn aber um jeden Preis gefangenzunehmen.

Während der kurzen Frist, die die Angreifer den Weißen gönnten, waren die übrigen Indianer herbeigekommen, um am Kampf teilzunehmen, so daß die Jäger von allen Seiten umringt waren und es mit mindestens vierzig Mann aufnehmen mußten. Es war fast Wahnsinn oder wenigstens blinde Tollkühnheit zu nennen, wenn die Kämpfer gehofft hätten, einer solchen Zahl von Feinden widerstehen zu können. Indessen schienen die drei Weißen keineswegs gesonnen zu sein, um Gnade zu bitten.

Als Natah-Otann den Befehl zum Angriff geben wollte, trat der Weiße Bison, der sich bis dahin nachdenklich ferngehalten hatte, hervor. »Einen Augenblick«, sagte er.

»Wozu?« antwortete der Häuptling.

»Laß mich einen letzten Versuch wagen; vielleicht sehen sie jetzt ein, daß jeder Widerstand sinnlos ist, und willigen in unsere Bedingungen ein.«

»Das bezweifle ich«, murmelte Natah-Otann kopfschüttelnd; »sie scheinen entschlossen zu sein.«

»Laß mich einen Versuch machen! Du weißt ja, wie wichtig es für das Gelingen unserer Pläne ist, daß wir uns jenes Mannes bemächtigen.«

»Unglücklicherweise wird er sich umbringen lassen, wenn wir uns nicht vorsehen.«

»Das denke ich eben zu vermeiden.«

»Versucht Euer Heil, doch bin ich überzeugt, daß Ihr nichts ausrichten werdet.«

»Wer weiß; ich will es jedoch versuchen.«

Der Weiße Bison trat etwas näher und stand jetzt ungefähr zehn Schritt vom Grafen entfernt. In dieser Entfernung blieb er stehen.

»Was wollen Sie?« sagte der junge Mann. »Wenn mir nicht eingefallen wäre, daß Sie Franzose sind, so hätte ich Ihnen schon eine Kugel durch die Brust geschossen.«

»Schießen Sie! Wer hindert Sie?« antwortete der Verbannte schwermütig.

»Genug der Redensarten; gehen Sie, sonst schieße ich!« Bei diesen Worten zielte er auf ihn.

»Ich wünsche ein Wort zu sprechen.«

»Sprechen Sie schnell, und gehen Sie dann!«

»Ich biete Ihnen und Ihren Gefährten das Leben an, wenn Sie sich ergeben wollen.«

Der Graf schlug ein lautes Gelächter auf. »Welch ein Einfall!« antwortete er achselzuckend. »Halten Sie uns für Dummköpfe? Wir waren die Gäste Ihrer Gefährten, und Sie haben das Menschenrecht frech gegen uns übertreten.«

»Ist das Ihr letztes Wort?«

»Das letzte, bei Gott! Sie müssen sehr lange bei den Indianern leben, daß Sie vergessen haben, daß wir Franzosen lieber sterben, als eine Niederträchtigkeit begehen.«

»So falle das vergossene Blut auf Ihren Kopf!«

»Es sei, schändlicher Renegat, der Sie sich mit den Wilden vereinigen, um gegen Ihre Brüder zu kämpfen!«

Diese scharfen Worte trafen den Greis ins Herz; er warf dem jungen Mann einen gehässigen Blick zu, wurde totenblaß und entfernte sich taumelnd wie ein Trunkener, indem er halblaut murmelte: »Ach, diese Aristokraten sind eine Schlangenbrut.«

»Nun?« rief ihm Natah-Otann entgegen.

»Er will nicht!« antwortete der Weiße Bison in gepreßtem Ton.

»Ich wußte es vorher. Jetzt ist die Reihe an uns.« Er setzte seine lange Kriegspfeife, die aus einem menschlichen Schienbein gefertigt war, an den Mund und pfiff lange und durchdringend, worauf die Indianer mit entsetzlichem Geheul auf die drei Männer eindrangen, die dem Angriff jedoch, ohne einen Zollbreit zu weichen, standhielten.

Es entstand ein neues, furchtbares Handgemenge; die drei Männer hatten ihre Büchsen beim Lauf gefaßt und bedienten sich dieser wie einer Streitaxt.

Ivon verrichtete wahre Wunder der Tapferkeit, hob und senkte seine Büchse mit der Regelmäßigkeit eines Pendels, erschlug, sooft er sie sinken ließ, einen Mann und murmelte bei jedem Hieb: »Da! Noch einer, heilige Jungfrau! Ich fühle, wie mich die Furcht übermannt.«

Der Kreis, der die drei Männer umschloß, zog sich immer enger, denn die Indianer, die fielen, wurden fortwährend durch andere ersetzt, denen wieder andere nachdrängten.

Die Jäger wurden des Zuschlagens müde; sie führten die Hiebe nicht mehr mit der früheren Kraft, diese fielen unregelmäßiger; das Blut stieg ihnen in den Kopf, ihre Augen waren blutunterlaufen, und es summte in ihren Ohren.

»Wir sind verloren!« murmelte der Graf.

»Nur Mut!« brüllte Freikugel, indem er den Schädel eines Indianers spaltete.

»Der Mut fehlt mir nicht, sondern die Kraft!« keuchte der junge Mann atemlos.

»Vorwärts! Vorwärts!« rief Natah-Otann ohne Unterlaß, indem er die drei Männer wie ein Tiger umkreiste.

»Jetzt, Ivon! Jetzt!« rief ihm Freikugel zu.

»Mit Gott!« rief der Angerufene aus und stürzte sich, indem er seine furchtbare Waffe im Kreis schwang, in das dichteste Gewühl der Indianer.

»Folgen Sie mir, Graf!« fuhr Freikugel fort.

»Es sei, mit Gott!« erwiderte dieser.

Die beiden Männer vollbrachten das Manöver, das Ivon gewagt hatte, in der entgegengesetzten Richtung. Ivon, der Furchtsame, als den ihn der Leser bereits kennt, schien jetzt seine Angst – von der Furcht übermannt zu werden, die, wie er selbst sagte, ihn beständig verfolgte – ganz vergessen zu haben. Er glich dem Briareus; denn auch er schien hundert Arme zu besitzen, mit denen er die Angreifer, die immer neu vor ihm erstanden, zu Boden warf. Er schlug gerade vor sich hin und bahnte sich auf solche Weise eine breite Straße. Glücklicherweise für den Bretonen war die Mehrzahl der Krieger dem edleren Wild nachgeeilt – nämlich dem Grafen und dem Kanadier, die beide ihre übermenschlichen Anstrengungen noch verdoppelten.

Ivon war, fortwährend um sich schlagend, an den Eingang des Gehölzes gelangt, und zwar wenige Schritte von der Stelle, wo das Pferd seines Herrn, das des Jägers und sein eigenes angebunden standen. Das war vermutlich auch seine Absicht gewesen, denn sobald er sich in gleicher Linie mit den Pferden sah, drang er nicht wie bisher weiter vor, sondern fing an, dergestalt zurückzuweichen, daß er sie erreichen mußte. Unterdessen fuhr er fort, mit jener kalten Entschlossenheit um sich zu schlagen, die den Bretonen im allgemeinen eigen ist und durch die sie so gefährlich sind.

Als Ivon dem ersehnten Ziel nahe genug zu sein glaubte, versetzte er dem Indianer, der ihm der nächste war, einen letzten Hieb, in dessen Folge dieser mit zerschmettertem Schädel zu Boden stürzte; er nahm dann einen Anlauf und schwang sich mit einem Satz wie ein Panther auf das Pferd des Grafen, das zunächst stand, zog den Zügel an sich, riß diesen unter dem Stein, der ihn beschwerte, hervor, drückte die Sporen in die Weichen des edlen Tieres und flog pfeilgeschwind von dannen, wobei er zwei Indianer umriß, die ihm verwegen in den Weg getreten waren. »Hurra! Gerettet! Gerettet!« rief er mit Donnerstimme, indem er im Wald verschwand, wohin die Schwarzfüße ihm nicht zu folgen wagten.

Die Rothäute standen betroffen über eine solche Behendigkeit und eine so fabelhafte Flucht.

Der Schrei, den Ivon ausgestoßen hatte, war jedenfalls ein zwischen ihm und Freikugel verabredetes Zeichen, denn sobald der Jäger den Ruf vernahm, hielt er plötzlich den Arm des Grafen, der zu einem Hieb ausholte, zurück.

»Was tut Ihr, zum Teufel?« rief jener aus und drehte sich zornig um.

»Ich rette Sie!« antwortete der Jäger kalt. »Werfen Sie die Waffe weg; wir ergeben uns!«

»Sie werden mir aber Ihr Benehmen erklären, nicht wahr?« entgegnete der Graf.

»Seien Sie unbesorgt; Sie werden mir recht geben.«

»So sei es denn«, entgegnete Eduard und ließ seine Flinte fallen.

Die Indianer, die der heldenmütige Widerstand der Jäger in angemessener Entfernung hielt, stürzten auf diese zu, sobald sie sahen, daß sie unbewaffnet waren. Schon lagen die beiden Männer am Boden, da eilten Natah-Otann und der Weiße Bison herbei.

Der Häuptling trat dazwischen. »Sie sind mein Gefangener, Herr Graf«, sagte er; »und Freikugel gleichfalls!«

Der junge Mann zuckte verächtlich die Achseln.

»Seht, was euch der Sieg kostet«, antwortete der Jäger mit ironischem Lächeln, indem er auf die zahlreichen Leichen deutete, die den Boden bedeckten.

Natah-Otann stellte sich, als habe er die Antwort nicht gehört.

»Wenn Sie uns Ihr Ehrenwort geben, uns nicht zu entwischen, meine Herren«, sagte der Weiße Bison, »so wird man Sie losbinden und Ihnen Ihre Waffen zurückgeben.«

»Wollen Sie uns etwa eine neue Falle stellen?« fragte der junge Mann hochmütig.

»Bah«, entgegnete Freikugel, indem er seinem Gefährten einen bedeutsamen Blick zuwarf, »auf vierundzwanzig Stunden können wir immerhin unser Ehrenwort geben; das Weitere wird sich finden.«

»Haben Sie es gehört, meine Herren?« sagte der Graf. »Der Jäger und ich geben Ihnen auf vierundzwanzig Stunden unser Ehrenwort. Sind Sie zufrieden? Es versteht sich, daß es uns nach Ablauf jener Zeit freisteht, es zurückzunehmen.«

»Oder uns ferner zu verpflichten«, fügte der Kanadier hinzu. »Das Wagnis können wir auf uns nehmen.«

Die beiden Häuptlinge wechselten flüsternd einige Worte.

»Wir nehmen den Vorschlag an«, sagte Natah-Otann endlich. Auf seinen Wink löste man die Fesseln der Gefangenen.

Diese erhoben sich. »Ah!« sagte Freikugel, indem er sich behaglich streckte. »Es ist doch eine Wohltat, wenn man seine Glieder frei gebrauchen kann. Ich wußte ja, daß Sie mich diesmal noch nicht töten würden.«

»Hier, meine Herren, sind Ihre Waffen und Ihre Pferde«, sagte der Häuptling.

»Erlauben Sie?« antwortete der Graf, indem er kaltblütig seine Uhr aus der Tasche zog.

»Es ist jetzt halb acht Uhr; Sie haben unser Wort bis morgen zu derselben Stunde.«

»Vollkommen einverstanden«, sagte der Weiße Bison mit einer Verbeugung.

»Und wohin führen Sie uns denn jetzt?« fragte der Jäger spöttisch.

»In das Dorf.«

»Danke!«

Die beiden Männer schwangen sich in den Sattel und folgten den Indianern. -

Wir lassen jetzt den Grafen und den Jäger unter sicherem Geleit in das Dorf zurückkehren, um der Fährte Ivons zu folgen.

Nachdem dieser das Schlachtfeld verlassen hatte, sprengte er in gerader Richtung davon, denn er hatte keine Lust, seine kostbare Zeit damit zu vergeuden, irgendeinen Weg zu suchen. Für den Augenblick war ihm jede Richtung recht, und er war nur darauf bedacht, sich von den Feinden zu entfernen, denen er auf so wunderbare Weise entkommen war. Nachdem er aber ungefähr eine Stunde lang im Galopp durch den Wald gejagt war, veranlaßte ihn die vollkommene Ruhe, die ringsumher herrschte, seinen Schritt zu mäßigen. Es war hohe Zeit, daß er auf diesen Einfall kam, denn das arme, so unbarmherzig abgehetzte Pferd fing an die Kräfte zu verlieren.

Der Bretone benützte die Frist, die ihm sein Tier gönnte, dazu, seine Waffen instandzusetzen. »Ich bin zwar kein Held«, murmelte er für sich, »aber, weiß Gott – um zu reden wie mein armer Herr –, dem ersten Schlingel, der es wagt, mir den Weg zu versperren, schieße ich eine Kugel in den Kopf, so wahr ich Ivon heiße.«

Er hätte sicherlich getan, wie er sagte, der würdige Mann; dafür können wir uns verbürgen.

Nachdem Ivon noch einige Schritte fortgeritten war, blickte er sich um, hielt sein Pferd an und stieg ab. »Weshalb sollte ich jetzt noch weiterreiten?« sagte er zu sich selbst. »Mein Pferd bedarf der Ruhe; ich selbst würde mich gern etwas erholen; das kann hier ebensogut geschehen als woanders.« Hierauf nahm er seinem Pferd den Sattel ab, nahm den Mantelsack seines Herrn herunter, trug ihn unter einen Baum und schickte sich an, Feuer anzuzünden. »In dem verwünschten Land kommt einem die Nacht über den Hals, ehe man sich dessen versieht!« brummte er. »Es ist kaum acht Uhr und schon so finster wie in einem Sack.«

Während er so mit sich selbst sprach, hatte er eine ziemliche Menge trockenes Holz gesammelt; er kehrte hierauf an den Ort zurück, wo er die Nacht zubringen wollte, schichtete das Holz übereinander, entzündete ein Streichhölzchen, steckte es unter den Scheiterhaufen, den er errichtet hatte, kniete nieder und fing aus Leibeskräften an zu blasen, um das Holz zu entflammen.

Nach einer Weile richtete er sich auf, um Atem zu schöpfen – da stieß er einen Schrei des Entsetzens aus und wäre beinahe rücklings zu Boden gefallen. Auf der anderen Seite seines Feuers hatte er zwei Personen erblickt, die ihn aufmerksam betrachteten.

Nachdem Ivon den ersten Schrecken überwunden hatte, stand er auf und lud seine Pistolen. »Donnerwetter«, sagte er, »ihr habt mir einen schönen Schrecken eingejagt! Aber laßt es gut sein; ihr sollt schon sehen!«

»Mein Bruder beruhige sich«, sagte eine sanfte Stimme in gebrochenem Englisch; »wir wollen ihm nichts zuleide tun.«

In seiner Eigenschaft als Bretone radebrechte Ivon das Englische fast ebenso gut wie das Französische. Bei den Worten der fremden Personen beugte er sich vor und schaute diese an. »Aha«, murmelte er, »die Indianerin!«

»Ja, ich bin es«, sagte Lianenblüte vortretend. Ihr Begleiter folgte ihr, und Ivon erkannte in ihm den Roten Wolf.

»Seid willkommen in meinem elenden Lager!« sagte der Bretone.

»Ich danke Euch«, entgegnete sie.

»Wie kommt es, daß Sie hier sind?« fragte er.

»Und Ihr?« entgegnete sie, indem sie seine Frage durch eine andere beantwortete.

»Ja, ich ...«, sagte er kopfnickend. »Das ist eine traurige Geschichte.«

»Was wollt Ihr damit sagen?« fragte der Rote Wolf.

»Schon gut, schon gut!« sagte Ivon kopfnickend. »Das sind meine Angelegenheiten und nicht die eurigen; sagt mir zuvor, was euch hierher führt, so werde ich ja nachher sehen, ob ich euch anvertrauen kann, was meinem Herrn und mir widerfahren ist.«

»Mein Bruder ist vorsichtig«, bemerkte Lianenblüte. »Er hat recht; in der Prärie ist Vorsicht gut.«

»Nun, ich wünschte, mein Herr hätte Euch so reden hören, so wäre er vielleicht nicht, wo er jetzt ist.«

Lianenblüte konnte sich einer Äußerung des Schreckens nicht erwehren. »Uah! Ist ihm ein Unglück zugestoßen?« fragte sie mit stockender Stimme.

Ivon blickte sie an. »Sie scheinen Anteil an seinem Schicksal zu nehmen.«

»Er ist überaus tapfer!« rief sie mit Wärme aus. »Er hat heute morgen den Kuguar erlegt, der Lianenblüte bedrohte. Sie hat ein Herz und vergißt es nicht«, fügte sie bewegt hinzu.

»Es ist wahr, vollkommen wahr, Mädchen, daß er Euch das Leben gerettet hat; trotzdem möchte ich erst hören, wie es kommt, daß wir uns hier mitten im Wald treffen.«

»So hört denn, da Ihr darauf besteht.«

Ivon nickte bejahend. Nächst seinen übrigen Eigenschaften war er so hartnäckig wie ein andalusisches Maultier, und sobald sich der Wackere etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er auf keine Weise davon abgebracht werden. – Wir müssen übrigens zugeben, daß er in jenem Augenblick wahrhaftig begründete Ursache hatte, den Indianern zu mißtrauen.

Lianenblüte fuhr folgendermaßen fort: »Nachdem das Gläserne Auge den Kuguar so tapfer erlegt hatte, erzürnte sich der große Häuptling Natah-Otann gegen Lianenblüte und befahl ihr, mit dem Roten Wolf nach dem Dorf zurückzukehren.«

»Das weiß ich alles«, fiel ihr Ivon ins Wort; »ich war ja zugegen und wundere mich daher doppelt, euch gegenwärtig hier zu sehen, da ihr doch auf dem Wege zum Dorf begriffen sein solltet.«

Die Indianerin nahm den mutwillig schmollenden Ausdruck an, der ihr eigen war und sie so reizend erscheinen ließ. »Der bleiche Mann ist neugierig wie ein altes Weib«, antwortete sie unmutig. »Warum will er die Geheimnisse von Lianenblüte wissen? In ihrem Herzen ist ein kleiner Vogel, der ihr süße Lieder vorsingt und sie unwillkürlich drängt, den Schritten des bleichen Mannes zu folgen, der sie gerettet hat.«

»So?« entgegnete Ivon, der jetzt so ziemlich begriff, was das junge Mädchen meinte. »Das ist etwas anderes.«

»Lianenblüte verlangte, statt nach dem Dorf zurückzugehen, beim Gläsernen Auge zu bleiben«, sagte der Rote Wolf.

Ivon bedachte sich geraume Zeit; die Indianer betrachteten ihn schweigend und warteten geduldig, bis es ihm gefallen würde zu reden. Nach einer Weile blickte er auf, heftete seine mutwillig blitzenden Augen auf das junge Mädchen und fragte unumwunden: »Ihr liebt ihn also?«

»Ja«, antwortete sie mit niedergeschlagenen Augen.

»Gut. In dem Fall hört mich aufmerksam an; denn ich müßte mich sehr irren, wenn Euch meine Mitteilung nicht ganz ausnehmend interessieren sollte.«

Seine beiden Zuhörer neigten sich zu ihm und lauschten aufmerksam.

Ivon berichtete nun sehr ausführlich, wie sich sein Herr mit den beiden Häuptlingen unterhalten hatte, wie daraus ein Streit entstanden sei, welch ein Kampf darauf gefolgt und auf welche Weise er entkommen war. »Gott ist mein Zeuge«, fuhr er fort, »daß ich nicht in der Absicht entflohen bin, mein eigenes Leben zu retten. Obwohl ich von Natur sehr furchtsam bin, würde ich mich doch keinen Augenblick bedenken, mein Leben für meinen Herrn zu lassen; aber Freikugel hat mir geraten, so zu handeln, damit ich imstande wäre, ihnen beiden Hilfe herbeizurufen.«

»Gut!« rief das junge Mädchen eifrig aus. »Der bleiche Mann ist tapfer; was denkt er zu tun?«

»Ich will meinen Herrn retten«, sagte der Diener entschlossen, »weiß aber nicht, wie ich es anfangen soll.«

»Lianenblüte weiß es und wird dem Bleichgesicht helfen.«

»Darf ich glauben, was Sie mir da versprechen, Mädchen?«

Die Indianerin lächelte. »Lianenblüte wird das Bleichgesicht mit Hilfe des Roten Wolfs an einen Ort bringen, wo Freunde sind.«

»Schön! Und wann wollt ihr das tun, meine Schöne?« fragte der Diener, dessen Herz vor Entzücken schlug.

»Sobald das Bleichgesicht bereit sein wird, aufzubrechen.«

»Auf der Stelle! Bei Gott, auf der Stelle!« rief Ivon aus, indem er eilig aufstand und auf sein Pferd zueilte.

Lianenblüte und ihr Begleiter hatten ihre Tiere in geringer Entfernung im Dickicht verborgen.

Zehn Minuten später verließ Ivon mit seinen Begleitern die Waldlichtung, in der sie sich getroffen hatten. Als sie aufbrachen, war es ungefähr Mitternacht.

»Mein armer Herr!« murmelte Ivon. »Wenn es mir nur gelingt, ihn zu retten!«


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