Gustave Aimard
Freikugel
Gustave Aimard

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2

Die Entdeckung einer Fährte

Unsere drei Jäger würden wahrscheinlich ihre beschauliche Ruhe noch lange genossen haben, wenn nicht ein leises Geräusch, das vom Fluß herkam, sie plötzlich und etwas unsanft an die notwendige Wachsamkeit gemahnt hätte, die ihre Lage erforderte.

»Was ist das?« fragte der Graf, indem er mit den Fingerspitzen die Asche von seiner Zigarre stieß.

Freikugel schlich ins Gebüsch, schaute sich kurze Zeit um und nahm dann gelassen seinen früheren Platz wieder ein. »Nichts«, sagte er, »als zwei Alligatoren, die im Schlamm miteinander schäkern.«

»So«, antwortete der Graf.

Es folgte eine Pause, während der der Jäger stillschweigend die Länge der Schatten, die die Bäume auf den Boden warfen, berechnete. »Es ist zwölf Uhr vorüber«, sagte er.

»Glauben Sie?« erwiderte der Graf.

»Ich glaube es nicht, sondern bin dessen gewiß, Herr Graf.«

Herr de Beaulieu richtete sich auf. »Lieber Freikugel«, sagte er, »ich habe Sie schon wiederholt gebeten, mich weder ›Herr‹ noch ›Graf‹ zu nennen. Wir stehen hier doch wahrlich nicht in Paris oder in einem Salon des Faubourg Saint-Germain. Wozu sind wir in der Wildnis, umgeben von jener großartigen Natur, wenn mich der aristokratische Titel bis hierher verfolgen soll? Wenn mich Ivon Herr Graf nennt, so finde ich es natürlich, denn einem so alten Diener würde es schwerfallen, eine so langjährige Gewohnheit abzulegen. Mit Ihnen ist es aber etwas anderes, Sie sind mein Freund und Genosse; nennen Sie mich daher Charles oder Eduard, nach eigener Wahl; nur verbitte ich mir künftig zwischen uns den Grafen.«

»Gut«, antwortete der Jäger, »ich werde mir Mühe geben, Herr Graf.«

»Hol Sie der Teufel! Da fangen Sie schon wieder an!« rief der junge Mann lachend aus. »Sie können, wenn es Ihnen zu schwer fällt, mich bei meinem Taufnamen zu rufen, mich auch so nennen, wie es die Indianer tun.«

»Welcher Einfall!« versetzte Freikugel abwehrend.

»Wie heißt denn gleich der Ehrentitel, den sie mir beigelegt haben, Freikugel? Ich habe es schon vergessen.«

»Ach, Herr, ich werde mir nie erlauben –«

»Was?«

»Eduard, wollte ich sagen –«

»Gut, das klingt schon besser«, erwiderte der junge Mann lächelnd; »ich bestehe aber auf jenem Beinamen.«

»Man nennt Sie ›Gläsernes Auge‹.«

»Richtig, Gläsernes Auge«, antwortete der junge Mann mit herzlichem Lachen. »Man muß gestehen, daß jene Indianer ganz originelle Einfälle haben.«

»Die Indianer«, erwiderte Freikugel, »sind nicht so arglos, wie Sie glauben, sondern besitzen eine wahrhaft teuflische Arglist.«

»Ach, schweigen Sie doch, Freikugel; ich habe Sie stets im Verdacht gehabt, eine kleine Schwäche für die Rothäute zu hegen.«

»Können Sie das von mir behaupten, der ich ihr unversöhnlichster Feind bin und bereits seit beinahe vierzig Jahren mit ihnen kämpfe?«

»Das ist ja, weiß Gott, der einfache Grund, weshalb Sie Ihre vierzigjährigen Feinde in Schutz nehmen.«

»Wie meinen Sie das?« fragte der Jäger, den diese Antwort überraschte, die er keineswegs erwartet hatte.

»Mein Gott, der Grund ist einfach genug! Will doch niemand mit einem Feind zu tun haben, der seiner unwürdig ist; und es ist daher natürlich, daß Sie die Ehre derjenigen retten wollen, die Sie Ihr Leben lang bekämpft haben.«

Der Jäger schüttelte den Kopf. »Mein Herr Eduard«, sagte er bedächtig, »die Rothäute sind Leute, die man erst nach langen Jahren kennenlernt. Sie vereinigen in sich nicht nur die Schlauheit des Opossums ihrer Wälder, sondern auch die Vorsicht der Schlange und den Mut des Jaguars; in einigen Jahren werden Sie sie nicht mehr verachten.«

»So Gott will, Kamerad«, entgegnete der Graf lebhaft, »habe ich die Prärie vor Ablauf des Jahres verlassen. Jaja, ich bin ein Freund der Zivilisation und sehne mich nach den Pariser Boulevards, Bällen, Festen und der großen Oper. Die Wildnis ist keineswegs für mich gemacht.«

Der Jäger schüttelte wieder den Kopf und fuhr in einem schwermütigen Ton, der dem Grafen unwillkürlich auffiel, fort, mehr mit sich selbst redend als dem Grafen antwortend. »Jaja, so sind die Europäer; sobald sie in der Wildnis anlangen, sehnen sie sich nach dem Leben der zivilisierten Welt, denn die Vorzüge der Einöde lernt man erst allmählich schätzen; wenn man aber den Wohlgeruch der Steppen eingeatmet, während langer Nächte das Geflüster der hundertjährigen Bäume und das Geheul der wilden Tiere in den Urwäldern gehört, die unerforschten Pfade der Prärie betreten und die großartige Natur bewundert hat, die keiner Kunst ihren Reiz verdankt, sondern allenthalben das Gepräge der Hand Gottes trägt, dessen Walten sich in unauslöschlichen Zügen ausspricht; wenn man endlich den erhabenen Schauspielen beigewohnt hat, die sich dem Auge hin und wieder darbieten, faßt man allmählich eine Zuneigung zu jener geheimnisvollen Welt voll seltsamer Abenteuer, die Augen öffnen sich für die Wahrheit, und man wird unwillkürlich gläubig; und nachdem man die Lügen der Zivilisation abgestreift, durch alle Poren die reine Luft der Berge und Prärien eingesogen hat und völlig umgewandelt ist, lernt man Gefühle kennen, die einen bisher unbekannten Reiz besitzen, erfreut sich berauschender Genüsse und erkennt keinen anderen Herrn an als den Gott, vor dessen Größe man so klein erscheint. Man vergißt alles, um für immer ein Wanderleben zu führen und in der Wildnis bleiben zu können, denn nur dort fühlt man sich frei und glücklich, wird mit einem Wort zum Menschen! Ja, reden Sie, was Sie wollen, Herr Graf; was Sie auch immer tun – Sie sind jetzt der Wildnis verfallen. Sie haben deren Freuden und Leiden empfunden und können ihr nicht mehr entfliehen! Sie werden weder Frankreich noch Paris so bald wiedersehen, denn die Wildnis hält Sie wider Willen gefangen.«

Der junge Mann hörte die lange Rede des Jägers mit einer Bewegung an, deren er sich nicht erwehren konnte. Er erkannte innerlich, daß der Waldläufer zwar übertreibe, im Grunde aber doch recht habe, und war fast erschrocken, das so unbeschränkt einräumen zu müssen. Er wußte nicht, was er antworten sollte, und mußte sich stillschweigend für besiegt erklären; er brach daher den Gegenstand der Unterhaltung plötzlich ab. »Sie sagten, mein Freund«, bemerkte er, »daß es zwölf Uhr vorüber sei.«

»Ungefähr ein Viertel auf eins«, antwortete der Jäger.

Der Graf zog seine Uhr. »Ganz recht«, erwiderte er.

»Ja«, fuhr der Jäger fort, indem er mit dem Finger auf die Sonne deutete, »das ist die einzig untrügliche Uhr, die nie vorgeht oder zurückbleibt, denn Gott selbst hat sie geordnet.«

Der junge Mann nickte bejahend mit dem Kopf. »Wollen wir wieder aufbrechen?« fragte er.

»Warum denn jetzt?« antwortete der Kanadier. »Es drängt uns ja nichts.«

»Das ist wahr; sind Sie aber auch gewiß, daß wir uns nicht verirrt haben?«

»Verirrt?« rief der Jäger verwundert aus und hatte fast Lust, sich zu ereifern. »Nein, nein, das ist unmöglich, und ich stehe Ihnen dafür, daß wir den Itascasee noch vor acht Tagen erreichen werden.«

»Entspringt der Mississippi wirklich aus jenem See?«

»Ja, denn trotz aller Gegenbehauptungen ist der Missouri nur der Hauptarm des Stromes, und die Gelehrten würden besser getan haben, sich zuvor selbst davon zu überzeugen, ehe sie aussprengten, daß der Missouri und der Mississippi zwei verschiedene Ströme seien.«

»Wir werden es nicht ändern können, Freikugel«, antwortete der Graf lachend, »daß sich die Gelehrten aller Zeiten und Länder stets gleichbleiben werden. Da sie alle von Natur sehr bequem sind, verläßt sich fortwährend einer auf den anderen, und daraus entstehen die unzähligen Albernheiten, die sie mit bewunderungswürdiger Zuversicht verbreiten. Wir müssen uns drein ergeben.«

»Die Indianer lassen sich nicht täuschen.«

»Ganz recht; die Indianer sind aber keine Gelehrten.«

»Nein, sie begnügen sich, selbst nachzusehen, und behaupten nur, was sie wissen.«

»Das meine ich eben«, antwortete der Graf.

»Wenn Sie meinem Rat folgen, Herr Eduard, so bleiben wir noch einige Stunden hier, um die stärkste Hitze abzuwarten, und brechen erst wieder auf, wenn die Sonne anfängt zu sinken.«

»Vollkommen einverstanden; fahren wir also fort zu ruhen. Ivon scheint übrigens unsere Ansicht zu teilen, denn er hat sich noch nicht von der Stelle gerührt.«

Der Bretone schlief in der Tat tief und fest.

Der Graf war aufgestanden, und ehe er sich wieder hinstreckte, warf er unwillkürlich einen Blick auf die Ebene, die sich still und majestätisch zu seinen Füßen ausbreitete. »Schau«, rief er plötzlich aus, »was geht denn da unten vor sich? Sehen Sie doch, Freikugel!«

Der Jäger stand auf und blickte nach der vom Grafen angedeuteten Richtung.

»Nun? Sehen Sie nichts?« fuhr der junge Mann fort.

Freikugel legte die Hand vor die Augen, um die Sonnenstrahlen abzuwehren, und blickte, ohne zu antworten, aufmerksam in die Ferne.

»Nun?« fragte der Graf wieder nach einer Weile.

»Wir sind nicht mehr allein«, entgegnete Freikugel; »es sind Menschen da.«

»Wieso Menschen? Wir haben ja keine indianische Fährte gefunden.«

»Ich habe nicht gesagt, daß es Indianer wären«, antwortete Freikugel.

»Nun, auf solche Entfernung dürfte es Ihnen vermutlich schwerfallen, zu sagen, wer es ist.«

Freikugel lächelte. »Sie legen fortwährend Ihren Maßstab aus der zivilisierten Welt an, mein Herr Eduard«, antwortete er.

»Was soviel heißt...?« fragte der junge Mann, der sich durch die Bemerkung innerlich verletzt fühlte.

»Was soviel heißt, als daß Sie sich fast immer irren.«

»Bei Gott, lieber Freund, Sie werden mir – abgesehen von meinem Unglauben – wohl zugestehen, daß es auf eine solche Entfernung unmöglich ist, irgendeinen Gegenstand zu unterscheiden; besonders wenn man nichts sieht als etwas weißlichen Rauch!«

»Und ist das nicht genug? Glauben Sie denn, daß der Rauch immer das gleiche Ansehen habe?«

»Das scheint mir ein subtiler Unterschied zu sein, und ich muß bekennen, daß in meinen Augen jede Rauchwolke der anderen gleicht.«

»Darin liegt eben der Irrtum«, antwortete der Kanadier mit großer Kaltblütigkeit. »Und wenn Sie erst einige Jahre in der Prärie verlebt haben werden, lassen Sie sich gewiß nicht mehr auf solche Weise täuschen.«

Herr de Beaulieu blickte ihn scharf an, denn er war überzeugt, daß sich der Jäger über ihn lustig mache.

Jener fuhr gelassen fort: »Was wir dort unten sehen, ist weder ein Indianer- noch ein Jägerfeuer, sondern rührt von Weißen her, die an das Leben der Prärie noch nicht gewöhnt sind.«

»Das werden Sie mir erklären, nicht wahr? Denn es klingt unglaublich.«

»Ich bin zufrieden, und Sie werden bald zugeben müssen, daß ich recht habe. Merken Sie wohl auf, Herr Eduard, denn der Gegenstand ist wichtig.«

»Ich höre, mein Freund.«

»Es wird Ihnen jedenfalls bekannt sein«, fuhr der Jäger mit unerschütterlicher Ruhe fort, »daß das, was man die Wildnis nennt, sehr bevölkert ist.«

»Gewiß«, antwortete der junge Mann lächelnd.

»Nun wohl, aber die schlimmsten Feinde in den Prärien sind nicht die reißenden Tiere, wohl aber die Menschen. Die Indianer und die Jäger wissen das auch so gut, daß sie eifrig bemüht sind, die Spuren ihrer Gegenwart zu vertilgen und ihre Nähe zu verbergen.«

»Das gebe ich zu.«

»Wohlan; wenn also die Rothäute oder die Jäger genötigt sind, ein Feuer anzubrennen – entweder um ihre Nahrungsmittel zu bereiten oder sich vor der Kälte zu schützen –, so wählen sie sorgfältig das Holz, dessen sie sich bedienen wollen, und gebrauchen die Vorsicht, nur trockenes Holz zu verbrennen.«

»Warum das lieber als jedes andere, das sehe ich nicht ein.«

»Sie werden es sogleich begreifen. Das trockene Holz gibt nur einen bläulichen Rauch, der sich leicht mit dem Blau des Himmels verbindet, wodurch er selbst in geringer Entfernung unsichtbar bleibt. Das nasse Holz hingegen entwickelt einen weißlichen, dicken Rauch, der die Nähe derjenigen, die es angezündet haben, schon von weitem verrät; daher konnte ich aus dem bloßen Rauch bestimmen, wie ich es eben getan habe, daß jene Leute dort unten Weiße sind, und zwar solche Weiße, die die Prärie nicht kennen, sonst hätten sie nicht versäumt, sich des trockenen Holzes zu bedienen.«

»Das ist wahrlich merkwürdig genug, und ich muß mich selbst davon überzeugen.«

»Was denken Sie zu tun?«

»Nun, ich will ganz einfach sehen, welche Leute das sind, die jenes Feuer angezündet haben.«

»Weshalb sollten Sie sich die Mühe geben, da ich es Ihnen sage?«

»Wohl möglich; ich tue es aber zu meiner eigenen Überzeugung, denn seitdem wir beisammen sind, mein Freund, erzählen Sie mir so ungewöhnliche Dinge, daß ich ein für allemal wissen möchte, was ich davon zu halten habe.«

Ohne die Einwände des Kanadiers anzuhören, weckte der junge Mann seinen Diener. »Was wünschen Sie, Herr Graf?« fragte dieser, sich die Augen reibend.

»Die Pferde! Schnell, Ivon!«

Der Bretone stand auf und sattelte die Pferde. Der Graf schwang sich in den Sattel, der Jäger folgte kopfschüttelnd seinem Beispiel, und alle drei sprengten rasch den Abhang hinunter.

»Sie werden sehen, Herr Eduard«, sagte Freikugel, »Sie werden sehen, daß ich recht hatte.«

»Das soll mich freuen; doch bin ich neugierig, mit eigenen Augen zu schauen.«

»Tun wir das, da Sie es wünschen. Erlauben Sie mir nur, vorauszureiten; denn da wir nicht wissen, welche Leute wir vor uns haben, ist es geraten, auf der Hut zu sein.« Damit stellte sich der Kanadier an die Spitze des kleinen Zuges.

Das Feuer, das der Graf von der Anhöhe aus bemerkt hatte, war keineswegs so nahe, wie er gemeint hatte; der Jäger war fortwährend genötigt, kreuz und quer im hohen Gras zu gehen, um den Büschen und dem Gestrüpp auszuweichen, die ihnen den Weg von allen Seiten versperrten, wodurch der Weg verlängert wurde und sie fast zwei Stunden zubrachten, ehe sie das Ziel ihrer Wanderung erreichten.

Als sie endlich in geringer Entfernung des Feuers angekommen waren, das die Neugierde des Herrn de Beaulieu so lebhaft erregt hatte, blieb der Kanadier stehen und winkte seinen Begleitern, ein Gleiches zu tun. Diese gehorchten.

Freikugel sprang nun vom Pferd, reichte Ivon den Zügel seines Tieres, ergriff die Büchse mit der Rechten und sagte: »Ich gehe auf Entdeckung aus.«

»Gehen Sie«, antwortete der junge Mann kurz.

Herr de Beaulieu war ein Mann von bewährtem Mut, doch hatte er, seitdem er sich in der Prärie aufhielt, eingesehen, daß einem Feind gegenüber, der sich nur der Hinterlist und des Verrats bedient, der Mut ohne Vorsicht Torheit wäre. Er entsagte daher allmählich seinen früheren ritterlichen Ansichten und fing an, den Brauch der Wildnis anzunehmen, denn er hatte einsehen gelernt, daß bei einem Hinterhalt derjenige im Vorteil ist, der die Gegner, die ihm der Zufall zuführt, zuerst entdeckt. Der Graf erwartete also geduldig die Rückkehr des Jägers, der sich geräuschlos in das Gebüsch geschlichen hatte und nach der Richtung des Feuers verschwunden war. Er mußte ziemlich lange warten.

Endlich entstand nach ungefähr einer Stunde eine Bewegung in den Zweigen, und Freikugel trat von der entgegengesetzten Seite als der, von der er eingedrungen war, aus dem Gebüsch.

Jenes Feuer in der Ferne hatte den alten Waldläufer sehr beschäftigt, sobald es ihm der Graf von der Höhe des Hügels aus zeigte. Er war kaum allein, als er – dem alten Sprichwort gemäß, das lautet: »Von einem gegebenen Punkt zu einem anderen ist die krumme Linie die kürzeste«, dessen Wahrheit sich in der Prärie nie verleugnet – einen weiten Bogen machte, um womöglich die Spur der Leute zu entdecken, die er beobachten wollte, um daraus ungefähr schließen zu können, welche Art von Menschen er vor sich habe.

In der Wildnis fürchtet man nichts so sehr als das Zusammentreffen mit Menschen. Jeder Unbekannte wird auf den ersten Blick als Feind betrachtet; man redet sich daher in der Regel schon aus der Entfernung an, während man die Flinte anlegt und den Hahn spannt. Freikugel bemerkte mit jenem sicheren Blick, den er sich durch sein Leben in den Steppen erworben hatte, einen Kreis im Rasen, wo das Gras verwelkt und niedergetreten war, und er durfte daraus den gewissen Schluß ziehen, daß es die Stelle sei, wo die unbekannten Reisenden vorübergekommen waren.

Bald stand der Jäger, der sich fortwährend gebückt hielt, um nicht aufgespürt zu werden, am Rand einer etwa vier Fuß breiten Furche, deren anderes Ende sich in einem nahen Urwald verlor. Nachdem sich der Kanadier die nötige Zeit gegönnt hatte, um ein wenig zu verschnaufen, stemmte er den Kolben seiner Büchse auf den Boden und fing an, die tief in die Erde gedrückte Spur ernstlich zu betrachten.

Die Musterung währte ungefähr zehn Minuten, worauf er lächelnd den Kopf hob, seine Büchse über die Schulter warf und gelassen zu der Stelle zurückkehrte, wo er seine Gefährten verlassen hatte, ohne sich nur die Mühe zu nehmen, bis zu dem Feuer hinzugehen. Die kurze Untersuchung war hinreichend gewesen, ihn vollkommen zu unterrichten; er wußte alles, was er zu wissen verlangte.

»Nun, Freikugel, was bringen Sie Neues?« fragte der Graf, als er ihn erblickte. »Die Leute, deren Feuer wir gesehen haben, sind amerikanische Auswanderer, Schanzgräber, die ihr Zelt in der Wildnis aufschlagen. Es ist eine Familie, die aus sechs Personen – vier Männern und zwei Frauen – besteht. Sie haben einen Wagen bei sich, der ihr größeres Gepäck enthält, und eine ziemlich bedeutende Anzahl Vieh.«

»Steigen Sie wieder aufs Pferd, Freikugel, wir wollen die wackeren Leute willkommen heißen in der Wildnis!«

Der Jäger blieb unbeweglich stehen und stützte sich nachdenklich auf seine Büchse.

»Nun, mein Freund, haben Sie mich nicht verstanden?« fuhr der Graf fort.

»Gewiß, Herr Eduard, ich habe Sie vollkommen verstanden; doch habe ich neben den Spuren der Auswanderer andere bemerkt, die mir verdächtig vorkommen, und ich würde vorschlagen, erst die Gegend zu durchspähen, ehe wir uns in ihr Lager wagen.«

»Was sind das für Spuren, mein Freund?« fragte der junge Mann eifrig.

»Nun«, antwortete der Jäger, »Sie wissen doch, daß sich die Rothäute mit Recht oder Unrecht die Könige der Wildnis nennen und die Anwesenheit der Weißen auf keine Weise dulden wollen.«

»Ich muß gestehen, daß ich Ihnen darin nicht unrecht geben kann. Seit der Entdeckung Amerikas sind sie durch die Weißen aus allen ihren Ländereien vertrieben und in die Wildnis gedrängt worden. Sie haben daher vollkommen recht, wenn sie diesen letzten Zufluchtsort verteidigen.«

»Ich bin vollkommen Ihrer Meinung, Herr Graf, und finde, daß die Wildnis nur von den Indianern und den Jägern betreten werden sollte; die Amerikaner sind unglücklicherweise anderer Ansicht und verlassen fortwährend ihre Städte, um in das Innere einzudringen, sich bald hier, bald dort niederzulassen und die fruchtbarsten und am reichsten mit Wildbret gesegneten Landstriche an sich zu reißen.«

»Was können wir dagegen tun, mein Freund?« erwiderte der Graf lächelnd. »Es ist ein unabwendbares Übel und muß eben ertragen werden. Aber bis jetzt sehe ich nicht, was Sie mit jenen gewiß sehr treffenden, aber gegenwärtig etwas fern liegenden Betrachtungen bezwecken, und ich werde mich freuen, wenn Sie sich deutlicher aussprechen wollen.«

»Das soll sogleich geschehen: An den Spuren habe ich erkannt, daß ein Indianertrupp der Fährte nachspürt und wahrscheinlich nur auf eine passende Gelegenheit wartet, um die Auswanderer abzuschlachten.«

»Teufel! Das klingt ja bedenklich«, entgegnete der junge Mann. »Wahrscheinlich haben Sie die wackeren Leute vor der Gefahr gewarnt, die ihnen droht?«

»Ich? Keineswegs; ich habe nicht mit ihnen gesprochen, ja sie nicht einmal gesehen.«

»Wie? Sie haben sie nicht gesehen?«

»Nein; sobald ich die Fährte der Indianer erkannt hatte, bin ich eiligst umgekehrt, um mich mit Ihnen zu beraten.«

»Sehr schön; aber wenn Sie nicht bis zum Lager gegangen sind, wie konnten Sie wissen, daß es amerikanische Auswanderer, daß es sechs Personen – vier Männer und zwei Frauen – wären, kurz, wie haben Sie mir eine so genaue und bestimmte Beschreibung geben können?«

»Das war leicht genug, glauben Sie mir«, antwortete der Jäger bescheiden. »Die Wildnis ist ein Buch, das die Hand Gottes geschrieben hat; und für denjenigen, der es zu lesen versteht, enthält es keine Geheimnisse. Ich habe die Spuren nur kurze Zeit prüfen müssen, um alles zu wissen, was ich Ihnen gesagt habe.«

Herr de Beaulieu blickte den Jäger verwundert an, denn obwohl er bereits seit sechs Monaten in der Prärie lebte, begriff er doch die Art Sehergabe noch nicht, die den Jäger in die Lage versetzte, alles zu enträtseln, was ihm dunkel blieb. »Aber«, sagte er, »vielleicht sind jene Indianer, deren Spur Sie entdeckt haben, ganz harmlose Jäger?«

Freikugel schüttelte den Kopf. »Unter den Indianern gibt es keine harmlosen Jäger«, sagte er. »Besonders dann nicht, wenn sie die Fährte der Weißen verfolgen. Jene Indianer gehören drei Raubstämmen an, und ich bin verwundert, sie beisammen zu finden. Wahrscheinlich haben sie etwas Ungewöhnliches vor, und das Niedermetzeln der Auswanderer wird wahrscheinlich nur Nebensache sein.«

»Was sind es für Indianer? Glauben Sie, daß es deren viele sind?«

Der Jäger bedachte sich eine Weile. »Der Trupp, den ich entdeckt habe, ist wahrscheinlich nur die Vorhut einer größeren Anzahl«, antwortete er. »Soviel ich glaube, sind es deren höchstens vierzig; aber die Krieger der Rothäute marschieren mit der Geschwindigkeit einer Antilope; es ist unmöglich, sie genau zu zählen. Der gegenwärtige Trupp besteht aus Komantschen, Schwarzfüßen und Sioux oder Dakotas – das sind die drei kriegerischsten Stämme der Prärie.«

»Ja«, bemerkte der Graf nach einigem Nachdenken, »wenn es jene Satane wirklich auf die Auswanderer abgesehen haben – wie es allerdings den Anschein hat –, scheinen mir die armen Amerikaner in einer unerfreulichen Lage zu sein.«

»Wenn kein Wunder geschieht, sind sie verloren«, versicherte der Jäger.

»Was ist zu tun? Wie sollen wir sie warnen?«

»Sehen Sie sich vor, Herr Eduard, was Sie beginnen.«

»Wir können aber doch nicht zugeben, daß Menschen unserer Farbe beinahe unter unseren Augen abgeschlachtet werden; das wäre niederträchtig!«

»Ja, es wäre aber eine unverantwortliche Torheit, wenn wir uns zu ihnen gesellen wollten. Bedenken Sie doch, daß wir nur drei sind.«

»Ich weiß es wohl«, erwiderte der junge Mann nachdenklich; »trotzdem werde ich nicht zugeben, daß wir jene armen Menschen verlassen, ohne wenigstens zu versuchen, ihnen beizustehen.«

»Hören Sie, wir können nur eins tun, und vielleicht wird uns Gott helfen.«

»Heraus damit, und fassen Sie sich kurz, mein Freund, denn die Zeit drängt!«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach haben uns die Indianer noch nicht ausgewittert, obwohl sie sich nicht weit von uns aufhalten müssen. Wir wollen vor allen Dingen nach der Stelle zurückkehren, wo wir gefrühstückt haben, weil man von dort aus die ganze Prärie überblicken kann. Die Indianer überfallen ihre Feinde nie vor vier Uhr morgens. Wir müssen uns ruhig verhalten und sie, sobald sie die Auswanderer angreifen, im Rücken anfallen. Wahrscheinlich werden sie über die unerwartete Hilfe, die die Amerikaner erhalten, so verwundert sein, daß sie die Flucht ergreifen; denn die Dunkelheit der Nacht wird ihnen nicht gestatten, uns zu zählen, und sie werden niemals glauben, daß drei Männer unsinnig genug sind, sie auf solche Weise anzufallen.«

»Das ist bei Gott ein guter Einfall«, antwortete der Graf lachend, »und eines so tapferen Jägers wie Freikugel vollkommen würdig. Kehren wir also auf unseren Posten zurück, und halten wir uns auf alle Fälle bereit.«

Der Kanadier schwang sich wieder in den Sattel, worauf die drei Männer den Rückweg antraten. Freikugel nötigte sie aber, seiner Gewohnheit gemäß unzählige Umwege zu machen; wahrscheinlich in der Absicht, ihre Verfolger irrezuführen für den Fall, daß sie ihre Fährte aufspüren sollten.

Sie erreichten den Gipfel der Anhöhe in dem Augenblick, wo die Sonne eben am Horizont verschwand. Beim Schein der letzten Strahlen der Abendsonne schimmerten alle Gegenstände in wechselnden Reflexen, die allmählich schwächer wurden. Der Wind hatte sich erhoben und fing an, die schlanken Wipfel der hohen Bäume zu bewegen. Das Geschrei der Hirsche, das Gebrüll der Bisons und das kurze Gebell der gelben Wölfe, deren dunkle Gestalten hier und da am Ufer des Stromes auftauchten, waren bereits mit dem dumpfen Knurren der Jaguare vermischt. Der Himmel verdunkelte sich mehr und mehr und fing bereits an, sich mit funkelnden Sternen zu schmücken.

Die drei Jäger setzten sich auf den Gipfel des Hügels und wählten dieselbe Stelle, die sie vor wenigen Stunden verlassen hatten, um nicht wieder dahin zurückzukehren, und trafen die Vorbereitungen zu ihrer Abendmahlzeit. Die Vorbereitungen waren bald beendet, denn die Vorsicht gebot ihnen, kein Feuer anzuzünden, da dieses den unsichtbaren Augen, die sicher in ihrer Nähe lauerten, ihre Nähe sofort verraten haben würde. Während sie einige Bissen Pemmikan (das getrocknete und pulverisierte Fleisch des Bisons) genossen hatten, hefteten sie ihre Blicke auf das Lager der Auswanderer, deren Feuer in der Dunkelheit vollkommen sichtbar war.

»Was meinen Sie?« fragte Freikugel. »Sind es nicht Leute, die vom Leben in der Wildnis nicht das geringste verstehen? Sie würden sich sonst wohl hüten, ein Feuer anzuzünden, das den Indianern auf zehn Meilen im Umkreis sichtbar ist.«

»Dieses Leuchtfeuer wird dazu dienen, uns zu leiten, wenn wir ihnen zu Hilfe kommen«, bemerkte der Graf.

»Gebe Gott, daß es nicht vergeblich sei!«

Nach beendeter Mahlzeit forderte der Jäger den Grafen und seinen Diener auf, einige Stunden zu schlafen. »Für den Augenblick haben wir nichts zu fürchten; lassen Sie mich für alle wachen, meine Augen sind daran gewöhnt, die Dunkelheit zu durchdringen.«

Der Graf ließ es sich nicht zweimal sagen; er wickelte sich in seinen Mantel und streckte sich auf den Boden. Zwei Minuten später waren beide – sowohl er als Ivon – fest eingeschlafen.

Freikugel setzte sich unter einen Baum und zündete seine Pfeife an, um sich die Langeweile der Nachtwache auf seine Weise zu vertreiben. Plötzlich neigte er sich vor, drückte das Ohr an den Erdboden und schien aufmerksam zu lauschen. Sein geübtes Ohr hatte einen fast unmerkbaren Laut vernommen, der aber allmählich näher zu kommen schien. Der Jäger lud geräuschlos seine Büchse und wartete.

Nach ungefähr einer Viertelstunde ließ sich ein leises Rauschen im Gebüsch vernehmen, die Zweige teilten sich, und ein Mann trat heraus.

Jener Mann war Natah-Otann, der Sachem der Piekanns.


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