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XV.

Juha sitzt auf einem Baumstumpf seiner Schwende, oben auf der Anhöhe. Die ganze Welt unter ihm ist in Nebel gehüllt, die Seen, die Wälder, seine Wiesen und seine Äcker und das Gehöft. Ein ferner Bergrücken nur erhebt sich wie ein Gespenst aus dem Nebelmeer hervor. Hier und dort reckt eine verdorrte Föhre ihre Spitze empor, wie die erstarrte Hand eines Ertrunkenen aus vereisten Wasserwogen. Die Stromschnelle ist nicht zu sehen, aber ihr Brausen tönt so nahe, daß man glauben möchte, man könne sie mit einem Steinwurf erreichen.

Es ist Juha, als habe er vor sich eine gähnende Leere, in deren Boden er sich vergeblich bemüht hat einzudringen, seitdem Marja gekommen ist. Daraus erhebt sich vor ihm gewiß Marjas Verschwinden und ihre Rückkehr, alles andere aber ist wie dunsterfüllter Bruchwald, in dessen Inneren nur die Gespenster seiner eigenen grübelnden Gedanken hausen ... Jener versuchte sie damals mit seinen Lumpen und Spangen zu blenden und mit seinen geschmeidigen Worten. Doch Marja warf seine prunkenden Fetzen weg und kam – wie eigens, um es ihm zu zeigen – an dem Sonntagabend, die Netze auseinanderzuwirren. Dann lief sie vor der Mutter davon an das Ufer der Schnelle und ward nicht mehr gesehen. Bis dahin war Juha klar, was sich zugetragen hatte. Von da ab war alles in Dunkel gehüllt, bis Marja unter den Kühen auf der alten Rodung erschien. Was dazwischen lag, war wie im Nebel. Aber darin konnte sich alles Mögliche verstecken, das Furchtbarste.

Weshalb spricht sie nichts? Wenn sie wenigstens erzählte, wenn sie die Rede darauf brächte, da würde ihr vielleicht auch selbst leichter. Sie mögen sie dort gequält, gemartert, gezerrt, gerissen, vergewaltigt daben, die Stolze, Scheue, Empfindliche, die wie ein Renntier zittert, wenn man sie nur leise anrührt; woher weiß ich, was sie ihr getan haben, wo sie nicht erzählt? Aber da sie wie zehn Jahre älter ist, der Zopf dünn geworden, der Glanz der Augen getrübt, die Brust eingesunken, die Stirn voll Falten – mögen sie sie so erschöpft haben, daß sie wohl auch am Tage wird ruhen müssen .. und sie jammert in ihrem Bett und wandert am lichten Tag wie im Traum umher. Ist so verschüchtert, daß sie nicht einmal mit Kaisa plaudern mag.

Juha kehrt jeden Abend von seiner Schwende mit dem Entschluß zurück, jetzt werde er fragen, jetzt werde er Marja erzählen und sich erleichtern lassen; aber die Frage bleibt stets ungetan.

Marja sitzt an einem regnerischen Tage – es war ein nebeliger, regnerischer und nasser Sommer in diesem Jahr – in der Stube, unter dem Eckfenster und strickt an einem Strumpf, einem kleinen Kinderstrumpf. Mag er fragen, wenn er will, ich werde ihm sagen: ich stricke für mein Kind. Ich kann es nicht verheimlichen .. und mag es nicht .. er kann es wissen .. einmal erfährt er es ja doch. Mag er mich dann fortjagen, wenn er will, ich gehe zurück. Oder mag er mich mit der Stampfe dort schlagen, wenn er Lust hat.

Und Marja strickte und starrte mit müden, zerstreuten Augen vor sich in die Stube, wo Juha in der Gegend der Tür mit dem Schnitzbeil arbeitete. Sie sah zusammenhanglose Bilder, ohne sie herbeizurufen, ohne sie von sich weisen zu können, obwohl sie es matt versuchte. Sie sah Schemeikka zurückgelehnt, sorglos dort auf der Bank am Tisch, mit seinem gestickten Hemd bekleidet. Sah, wie er langsam seinen Ranzen öffnete und seine Seidentücher und Spangen über die Finger hängte. Sah, wie er sie an seine Brust riß und ans Land trug. Sie mußte ihn sehen, obwohl sie ihn wegscheuchte, wie er auf der Insel unten an der Stromschnelle erwachte, das Laub fortraufte, Überdruß in den Zügen – ich hätte in die Schnelle springen sollen, dann wäre mir jetzt besser. Aber wieder stieg Schemeikka vor ihr auf, wie er in den Strudeln das Boot lenkte, der Bart auf beiden Seiten im Winde flatternd, um den Mund ein stolzes Lächeln, Jubel und Spott im Auge. Daß er mich doch betrog, daß er es doch fertig brachte! Und mochte auch sein Kind nicht sehen .. Weshalb finde ich keine Ruhe vor ihm? Aber sie konnte diese Erinnerungen nicht wegwischen, hatte keine Kraft dazu, nicht die einen und nicht die anderen. Sie kamen, wie das Vieh auf die Waldwiese, deren Zaun vermorscht und eingefallen ist, und gingen, fraßen gierig und stampften umher, und sie konnte sie nicht verscheuchen, und alles war so öde und jämmerlich – immer noch regnete es – ob wohl Anja mit dem Kinde aufgebrochen ist, wenn sie sich überhaupt getraut hat – was wird aus ihnen werden – sie werden wohl nicht kommen, da sie noch nicht gekommen sind.

Ach, Herr Jesus, was soll hieraus werden, wenn Anja nicht das Kind bringt! Wenn sie sich in die Wälder aufgemacht und sich verirrt haben? Oder gar nicht aufgebrochen sind, wenn Fischer-Matti nicht mitkommt, obwohl er es versprochen hat .. Ach, daß ich es dort gelassen habe!

Juha hörte Marja wieder seufzen. Das sieht man ja aus allem, daß sie einen Kummer hat und leidet. – Er legte das Beil beiseite, stand auf und begann mit seinem Messer zu schnitzen. Zuletzt sagte er mühsam:

»Hat er dich dort sehr übel behandelt?«

Jetzt fängt er an danach zu fragen. Sie hatte schon geglaubt, Juha werde nicht darauf eingehen. Was soll ich ihm sagen?

»Wo? Ach so, dort?«

»Wie hat er dich denn in das Boot bekommen?«

»Irgendwie ist es wohl gegangen.«

»Warst du bewußtlos geworden, daß du nicht einmal den Kopf gehoben hast? Konntest du kein Glied rühren?«

»Ob ichs nicht konnte?«

»Kaisa hat gesagt, du hättest wie gelähmt vorn im Boote gelegen. Sie hätte dich auch nicht rufen hören. Aber wie hätte man das auf der Stromschnelle gehört, wenn du auch gerufen hättest?«

Hatte Kaisa es gesehen? Was hat sie gesehen? erbebte Marja.

»Ich erinnere mich nicht,« sagte Marja. »Ich bin erst unterhalb der Schnelle wieder zu mir gekommen.«

Juha schwieg eine Weile und maß das Holz mit den Augen; dann begann er wieder, und seine Stimme zitterte:

»Haben sie dich da gebunden?«

»Wer, sie?«

»Na, der und seine Genossen.«

»Ob sie mich gebunden haben?«

»Im Boot, ja, oder an einen Baum oder sonstwie, daß du nicht entfliehen konntest?«

Marja antwortete zuerst:

»Nein.«

Aber dann:

»Es waren ja keine anderen als er allein.«

»Ich dachte, sie hätten dort auf euch gewartet.«

»Nein.«

»Aber wie konnte er dich denn allein halten .. bis hin .. solche weite Strecken?«

»Weshalb hätte er das nicht gekonnt – ein Mann ein Weib?«

»Gewiß, ja – solch ein Kerl – der hatte wohl seine Mittel?«

Sie antwortete nicht. Es krachte etwas. Marja wandte sich jäh um. Es war ihm seine Arbeit auf den Boden gefallen, und er bückte sich, um sie aufzuheben.

»Er hat dir auch Gewalt angetan?« sagte er barsch, um seine Rührung zu verbergen, hinter seinen Schnitzklotz gebeugt.

Warum schnüffelt er denn nach allem? Wird es dadurch besser? Das sollte er sich doch denken können. Und Marja entgegnete hämisch:

»Glaubst du, er hätte es nicht getan? – Schemeikka, der Sohn Hilappas.«

Zugleich aber entfuhr ihr ein Schrei, ein Segen. Juha stand aufgerichtet an seinem Schnitzklotz, die Augen gerötet, die Hand erhoben und darin das Beil, den Längsbalken streifend.

»Ich – ich – schlage ihn noch tot!« keuchte er, und das Beil sank bis zum Rücken in den Klotz. Er riß daran, aber es saß fest, der Klotz hob sich mit empor und krachte so hart auf, daß die ganze Stube erbebte und die Brotstange auf die Diele polterte. Juha stürzte hinaus.

Marja überkam, als der Schreck vorüber war, ein Gefühl wie Jubel, wie Entzückung. Das Herz schien sich ihr vom Fleck zu bewegen. Wärest du der Mann dazu? Dich an Schemeikka zu rächen, ihm das Beil in die Stirn zu hauen wie in den Klotz dort? Ihm meinen Knaben mit Gewalt zu nehmen, wenn er ihn nicht anders gibt? Wärest du auch dazu imstande? Fände er in dir seinen Meister?

Man hörte Juha mit heftigen Schritten zurückkommen.

»Der – der gemeine Räuber – das Schlenkerbein – hat dir Gewalt angetan?«

»Der!« schürte Marja.

»Dir, die – die – wo es keine gibt wie du – in der ganzen Welt. – Bei dir hat er es getan – gewagt?«

»Er scheint es gewagt zu haben.«

»Hat er es öfters getan?« brüllte Juha.

Marja mußte sich abwenden. Jetzt fühlte sie Angst. Nie hatte sie Juha so gesehen, so unheimlich, seltsam.

»Sag, hat er es öfters getan?«

»Nein – nein doch,« sagte Marja leise, wie beruhigend.

»Hast du ihn nicht gelassen?«

»Frag doch nicht so etwas!«

»Hast du ihn gehindert?«

»Ach, frag nicht mehr!«

»Hast du nach ihm geschlagen, gebissen, getreten?«

»Was hast du, Juha?«

»Nein – nein – ich will ja nicht ...«

Juha bemerkte die Brote, die vom Spieße rings über die Diele gerollt waren, und wollte sie auflesen. Zugleich aber begann er wieder:

»Wo hat er es getan?«

»Wo wars gleich ...«

»Sofort, als er ans Land stieg, oder schon im Boote?«

Marja vermochte nicht zu antworten.

»Wenn ich ihn kriege – und ich kriege ihn .. ich kriege ihn!«

Er stand mitten auf der Diele, wie ein Bär auf zwei Beinen, und führte die Hände unbeholfen zusammen und auseinander, wie nach etwas Unsichtbarem tastend, mit knirschenden Zähnen, stand an derselben Stelle, wo damals Schemeikka Marja mit dem einen Arm an sich gerissen hatte.

Und Marja, wie in einem Rausch, ohne zu wissen, ohne zu fassen, wie vor einer Gefahr ausweichend und sich in dieselbe stürzend, warf sich an seine Brust, drückte sich an seinen Hals und schrie:

»Ach, lieber Juha – schlag mich nicht tot!«

»Dich, dich –«, stammelte Juha. »Ich – ich werde dich doch nicht schlagen.«

»Verzeih mir, Juha!«

»Was .. weshalb denn?«

»Laß mich los! – Laß mich gehen!« – Marja versuchte von Juha loszukommen.

»Wohin denn, weshalb .. liebes Kind, hör doch!«

»In die Schnelle .. oder sonstwohin.«

»Weshalb .. hör doch!«

Marja warf sich von neuem an Juhas Brust.

»Ich habe dich belogen!«

»Was hast du gelogen?«

»Es war nicht das Kind der anderen!«

»Was für ein Kind?«

Juha erinnerte sich nicht, wußte nicht, dachte an nichts als an Marja ... daß Marja in seinen Armen, an seiner Brust lag, zitternd wie ein frierendes Lamm.

»Das, welches du dort hast weinen hören.«

Marja brach in Tränen aus, sank vor Juha auf den Fußboden, von wo er sie auf die Bank heben mußte, und fiel da zusammen.

»Nicht doch .. du lieber Gott.«

Juha hielt mit der einen Hand Marja am Arme, mit der anderen drückte er ihr unbeholfen auf den schütternden Rücken, von Rührung und Weichheit ergriffen, gegen sein Mitleid und seine Tränen ankämpfend.

»Ich wollte mit dir überlegen, wie wir es heimlich hierher bekommen könnten – aber ich will es nicht mehr her haben, und wenn ich es nie wiedersehen sollte.«

»Das sollst du ja .. weshalb solltest du es denn nicht ..«

»Sie geben es nicht heraus! Es kommt nicht mehr, da es noch nicht gekommen ist! Ich .. werde es .. nie wiedersehen.«

»Das wirst du doch – wir holen es.«

Marja weinte immer noch, wimmerte fast, jetzt über das, was Juha gesagt hatte.

»Wir holen es, holen es zusammen her.«

»Nein, lieber Juha .. ach nein, nein .. sag das nicht!«

»Da ist ja nichts dabei .. du konntest ja dort nichts machen .. er hat dich ja mit Gewalt fortgeschleppt .. er hat dir ja Gewalt angetan.«

Marja wollte rufen: er hat mir ja nicht Gewalt angetan, ich war ja gern mitgegangen! – so wäre alles gesagt gewesen. Aber sie sagte:

»Du könntest es ja doch nicht, wenn du es auch sagst – Schemeikkas Kind.«

»Es ist ja nicht seins, scheint mir, so wenig wie sonst jemandes.«

»Es ist doch seins.«

»Das war ja ein Versehen .. oder eher ein Unglück .. weine nicht, liebe Marja.«

»Ein Unglück?«

»Dagegen konntest du doch nichts, gegen die Gewalt.«

»Wenn sie es erfahren .. deine Mutter und deine Brüder.«

»Davon erfährt niemand etwas.«

»Du wolltest es zu dir nehmen?«

»Ich werde dich doch nicht von meiner Sippe zerreißen lassen .. meine Einzigste, Liebste ..«

Juha brachte nicht mehr heraus. Er fürchtete wieder in etwas auszubrechen, er wußte nicht, ob in Lachen oder Weinen. Um etwas zu tun, begann er die Brote von der Diele aufzulesen und sie an den Spieß zu stecken. Marja eilte herbei, um zu helfen, den Spieß am einen Ende zu stützen. Als Juha ihn an seinen Platz unter dem Dach hob, bemerkte er, daß die Rutenringe, an denen der Spieß unter dem Dache gehangen hatte, zerbrochen waren.

»Legen wir ihn hier auf den Tisch .. bis ich ein paar neue Ringe gedreht habe.«

Marja sah ihn im Regen mit bloßem Kopf hinter dem Haus in die Hürde eilen und dort am Gatter eine junge Fichte zu einem Band drehen, wobei der Wipfel wild hin und her schwankte.

Er will das Kind Schemeikkas als sein eigen annehmen, und der eigene Vater stellt sich, als wüßte er nicht von ihm? Und den habe ich belogen, und den betrüge ich immer noch. Und ich kann es ihm auch nie gestehen. – Sie lief hin und her .. nach der Tür und zurück .. zum Fenster und zurück ...

Ich sage es ihm doch! Und wenn ich es ihm gesagt habe, springe ich in die Schnelle. Oder ich sage nichts, und gehe doch hinein .. Und soll ihnen das Kind lassen? Jetzt, wo Juha gerade versprochen hat, es zu sich zu nehmen? – Ich kann jetzt nicht .. jetzt noch nicht.

Am Abend hörte Marja Juha zu Kaisa sagen:

»Ich gehe morgen mit der Frau über die Grenze. Hüt du inzwischen hier das Haus.«

»Du lieber Gott, weshalb denn?«

»Die Frau hat ein Kleines dort gelassen .. sie konnte es nicht allein mitbringen.«


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