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Die Schlange war es satt, von den Menschen getreten zu werden, und wandte sich an Zeus. Der aber sagte: »Wenn du den ersten, der dich trat, gebissen hättest, hätte kein zweiter das zu tun versucht.«
Ein Bauer hatte in seinem Gehöft eine Schlange, die er als Schutzgeist des Hauses hoch hielt und der er täglich Speise vorsetzte. Eines Tages aber biß die Schlange den Sohn des Bauern, der sie gequält hatte, so daß dieser starb. Da ergrimmte der Bauer und beschloß, die Schlange zu töten. Deshalb nahm er eine Axt und stellte sich vor das Loch, in dem die Schlange hauste, um sie zu erschlagen, sobald sie herauskäme. Als dann die Schlange den Kopf hervorstreckte, schlug er zu. Aber die Schlange fuhr schnell zurück, und der Beilhieb spaltete nur den Stein oberhalb der Höhle. Nach einiger Zeit ging der Bauer in sich und beschloß, die Schlange wieder gut zu stimmen. Daher stellte er Honig und Milch vor den Eingang der Höhle und bat die Schlange, sich wieder mit ihm zu versöhnen. Aber die Schlange sagte: »Zwischen uns kann nicht Friede und Freundschaft sein, solange ich den gespaltenen Stein sehe und du das Grab deines Sohnes.«
Ein Wanderer, der im Winter seine Straße zog, fand eine Schlange, die vor Frost erstarrt war. Er hatte Mitleid mit ihr und barg sie an seinem Busen, um sie zu erwärmen. Solange die Schlange von der Kälte noch bewußtlos war, hielt sie still. Als sie aber von der Wärme ins Leben zurückgerufen war, fuhr sie an dem Manne zur Erde nieder und biß ihn dabei in den Leib. Jener aber sagte sterbend: »Mir geschieht Recht! Was mußte ich auch die aus der Todesgefahr retten, die ich, auch als sie noch bei Kräften war, hätte erschlagen sollen.«
(vor Kroisos geführt, sprach Aisopos so:)
Ein armer Mann, der Heuschrecken nachstellte, fing unter ihnen auch eine lieblich zwitschernde Cikade. Als er sie töten wollte, sprach sie zu ihm: »Töte mich nicht, denn das hätte keinen Sinn. Ich schädige kein Zweiglein und keine Ähre, aber ich ergötze die Wanderer, indem ich meine Füße an meinen Flügeln reibend schöne Töne hervorbringe. Auch wirst du außer meiner Stimme nichts an mir finden.« Als der Mann das hörte, ließ er die Cikade fliegen. So umfasse auch ich, König, bittflehend deine Füße. Töte mich nicht, denn das hätte keinen Sinn. Ich bin keiner der Mächtigen, die dir schaden könnten. Aber in aller Schlichtheit weise Lehren verkündend bessere ich die Menschen.
Ein Mann verehrte den Hermes inständig, und dieser schenkte ihm eine Henne, die goldene Eier legte. Aber der Mann war mit dem sich so langsam mehrenden Gewinn nicht zufrieden. Er glaubte, auch die Eingeweide der Henne müßten golden sein, und tötete sie unverzüglich. Aber er sah sich in seinen Erwartungen getäuscht. Die Eingeweide der Henne waren wie die aller andern, und goldene Eier gab es nun auch nicht mehr.
Sofort nachdem die Lyder von den Persern unterworfen worden waren, schickten die Ioner und die Aeoler Gesandte an Kyros und erklärten, sie seien bereit, unter denselben Bedingungen seine Untertanen zu werden wie früher die des Kroisos. Als Kyros ihren Antrag gehört hatte, erzählte er ihnen folgende Fabel.
Ein Fischer sah, daß das Meer voller Fische war. Da setzte er sich an den Strand und begann Flöte zu spielen. Denn er hoffte, die Fische würden dann ans Land zu ihm herauskommen. Als er sich aber in dieser Hoffnung getäuscht sah, ergriff er ein Netz, fing eine Menge Fische und warf sie auf den Strand. Wie er sie dann da zappeln sah, sagte er zu ihnen: »Hört mir auf zu tanzen! Vorhin, als ich Flöte spielte, wolltet ihr ja auch nicht herauskommen und tanzen.«
Diese Fabel erzählte Kyros den Ionern und Aeolern aus diesem Grunde: als früher Kyros die Ioner durch Gesandte bat, von Kroisos abzufallen, ließen sie sich nicht dazu überreden. Nun aber, da die Dinge eine andere Gestalt angenommen hatten, waren sie bereit, dem Kyros zu gehorchen.
Als zum erstenmal die Mistel emporwuchs, erkannte die Schwalbe die Gefahr, die von ihr den Vögeln drohte. Daher versammelte sie diese und riet ihnen, vor allem die Eichen auszurotten, auf denen die Mistel wachse. »Falls das aber unmöglich ist«, fuhr sie fort, »wollen wir uns bittflehend an die Menschen wenden und sie ersuchen, den Mistelleim nicht zu verwenden, um uns zu fangen.« Aber die Vögel verlachten sie wegen dieser törichten Rede. Da wandte sich die Schwalbe bittflehend an die Menschen. Die freuten sich über ihre Klugheit und nahmen sie als Hausgenossin an. – So werden denn die andern Vögel von den Menschen mit Leimruten gefangen und verspeist, aber die Schwalbe darf als ihr Schützling sogar in ihren Häusern ihr Nest bauen.
Eine Lerche sah, wie ein Vogelsteller seine Falle herrichtete. Neugierig flog sie hinzu und fragte ihn: »Was machst du denn da?« »Ich gründe eine Stadt«, sagte der Vogelsteller und zog sich hinter den Busch zurück. Arglos flog die Lerche näher heran und fraß von der ausgelegten Lockspeise. Ehe sie sich's versah, war sie gefangen, und der Vogelsteller eilte herbei. Als er sie aufgriff, sagte die Lerche: »Ja, wenn du auf diese Weise Städte gründest, wirst du viele Einwohner finden!«
Ein liederlicher Jüngling vertat sein ganzes väterliches Erbe, so daß ihm schließlich nur noch ein Mantel blieb. Als er spazieren ging, sah er eine Schwalbe, die vor der Zeit aus dem Süden zurückgekehrt war. Da glaubte er, es sei schon Frühling und er brauche jetzt keinen Mantel mehr. Also verkaufte er auch den schleunigst. Aber auf einmal schlug das Wetter um und es wurde wieder bitter kalt. Als er nun spazieren ging, fand er die Schwalbe tot am Strande liegen. Da sagte er: »O Schwälblein, du hast dich und mich zugrunde gerichtet.«
(Ich will euch eine Geschichte erzählen, die ich nach den Fabeln des Phrygers (Äsop) gestaltet habe.)
Ein Hirt und ein Metzger gingen gemeinsam über Land. Da sahen sie ein fettes Lamm, das von der Herde abgekommen war. Sofort schossen beide auf es los, und jeder wollte es haben. Da fragte das Lamm – denn damals redeten die Tiere noch die gleiche Sprache wie die Menschen –: »Was habt ihr für einen Beruf und was wollt ihr mit mir anfangen?« Beide gaben wahrheitsgemäß ihren Beruf an. Da überantwortete sich das Lamm dem Hirten und sagte zum Metzger: »Du bist ein mordgieriger Geselle und wütest wie ein Henker in der Schafherde. Dieser aber dürfte sich wohl mit meiner Wolle zufrieden geben.«
Ein kriegsunlustiger Mann mußte zu Felde ziehen. Als er auf dem Marsch war, hörte er plötzlich Raben krächzen. Da legte er zunächst seine Waffen nieder und blieb stehen. Dann aber nahm er die Waffen wieder auf und marschierte weiter. Als aber die Raben von neuem krächzten, blieb er wieder stehen. Schließlich jedoch sagte er: »Krächzt so laut ihr wollt! Meinen Leib werdet ihr doch nicht zu fressen kriegen« und marschierte weiter.
(Ich will euch etwas erzählen, was sich in Phrygien zutrug.)
Ein Phryger fuhr auf seinem Ochsenwagen. Da sah er eine Krähe und hielt die für ein schlimmes Vorzeichen – denn die Phryger sind stark in solchem Aberglauben. Deshalb stieg er ab, warf nach ihr mit einem Stein und traf sie auch. Da freute er sich sehr, denn er glaubte, das Unheil nun auf sie abgewendet zu haben. Er stieg also wieder auf und fuhr weiter. Die Krähe aber war vorausgeflattert und stieg plötzlich vor dem Gefährt auf, so daß die Tiere scheuten. Sie warfen den Mann ab, und dieser brach ein Bein. Da sah er zu seinem Mißvergnügen ein, daß Vorzeichen in Erfüllung gehen.
Auf der Flucht vor Jägern sah der Fuchs einen Holzhauer und flehte den um Schutz an. Der Holzhauer sagte ihm, er solle sich irgendwo in seiner Hütte verstecken. Gleich darauf kamen auch die Jäger und fragten den Holzhauer, ob er nicht einen Fuchs habe vorbeilaufen sehen. Der leugnete das zwar mit Worten ab, aber mit der Hand wies er auf den Ort hin, wo jener verborgen war. Die Jäger aber sahen den Wink nicht, sie trauten den Worten und zogen ab. Wie der Fuchs sah, daß sie gegangen waren, wollte er sich lautlos davonschleichen. Aber der Holzhauer fuhr ihn an: »Nun habe ich dir das Leben gerettet, und du bedankst dich nicht einmal mit einem Wort?« »Ich würde mich schon bedankt haben«, entgegnete der Fuchs, »wenn den Worten deines Munds die Taten deiner Hand entsprächen.«
Ein Löwe, der ein schönes Menschenkind liebte, hielt bei dem Vater um sie an. Der Greis zeigte sich wohlgesinnt und frei von jeder Abneigung. »Du sollst sie haben«, sprach er »sollst sie gern haben – des mächtigen Löwen Schwäher mag man wohl heißen! Doch junger Mädchen Herzen sind sehr schwachmütig, und was hast du für Klauen und für Raffzähne! Wie soll sie furchtlos dir wohl in den Arm sinken? Dein bloßer Anblick macht das zarte Kind weinen, drum nahe dich als Freier, nicht als Raubtier!« Der Löwe, freudetrunken, traut der Zusage, läßt sich die Zähne ziehn und mit dem Schnitzmesser die Nägel kürzen. So kommt er zum Brautvater, die Braut zu fordern. Doch da schlägt mit Holzknüppeln, mit Steinen alles auf ihn ein und Faustschlägen. Bald lag er wehrlos, wie ein Schwein verröchelnd. So hatte ihm der greise, höchst verschmitzte Schlaukopf die Weisheit beigebracht, daß Ehebündnis von Mensch und Tier und Tier und Mensch nicht angeht.
Dem Kind, das weinte, drohte einst die Landamme: »Sei still, sonst werf' ich dich dem Wolf zum Fraß vor!« Der Wolf kam just vorbei und hielt's für Wahrheit und wartete voll Freuden, bis die Nacht kam. Doch als das Kind zur Ruhe nun gebracht wurde, zog hungrig auch mit leerem Maul der Wolf ab, der lang vergeblich falscher Hoffnung nachhing. Doch als die Wölfin, seine Frau, ihn ausfrug: »Wie kommt's, daß nicht wie sonst du etwas mitbringst?« sprach er: »Wie sollt' ich, der ich einem Weib glaubte?«
Die Haubenlerche nistete im Kornfeld, ums Morgenrot wettsingend mit der Frühschwalbe, und zog die Jungen groß mit zarten Saatspitzen, so daß sie flügge schon mit stolzem Busch prangten. Da kam der Herr des Felds einmal sein Korn mustern und sprach, da falb die Ähren glänzten: »Zeit wird's, daß alle meine Freunde ich zur Mahd rufe.« Doch von den jungen Lerchen mit dem Kopfbusche vernahm es eine, die's dem Vater mitteilte. »Schau zu«, so sprach sie, »wo du jetzt uns ansiedelst.« Der aber sprach: »Noch ist zur Flucht kein Anlaß. Dem eilt's nicht sehr, der auf der Freunde Arm baut.« Bald kam der Bauer wieder. Von der Glutsonne sah er die Körner aus den Ähren ausfallen. »Zu morgen will ich Schnitter mir um Lohn mieten, zu morgen«, sprach er, »Garbenbinder anwerben«. Da rief die Lerche ihren Jungen: »Jetzund ist's Zeit, daß eilig wir von hier hinwegflüchten, da er nicht auf die Freunde baut und selbst schneidet.«
Ein Hirte trieb die Ziegen ins Gehöft ein. Die einen folgten, andre waren unfolgsam, besonders eine, die am würz'gen Mastix und andern Sträuchern nagte in der Felsschlucht. Der Hirte warf mit einem Stein und traf sie, so daß das eine Horn abbrach. Da fleht er: »Beim großen Pan, dem Hüter dieser Talschluchten, verrat' dem Herrn mich, liebes Zicklein, Mitsklavin, doch ja nicht, Zicklein! Nicht mit Absicht traf ich.« Die sprach: »Wie soll ich diese offenbare Tat bergen? Das Horn wird schreien, wenn ich selbst auch stillschweige.«
Ein Hirsch, den Jäger aus dem dichten Waldversteck herausgescheucht, flieht, um dem Tode zu entgehn, in blinder Angst dem nächsten Hofe zu und sucht im frohbegrüßten Ochsenstalle ein Versteck. Allein ein Ochse spricht zu ihm: »Was machst du, Tor, daß du dem Tod freiwillig in den Rachen läufst und menschlicher Behausung gar dich anvertraust?« Doch jener spricht voll Demut: »Wenn nur ihr mich schont, will ich im rechten Augenblicke schon entfliehn.« Der Tag trat nun sein Reich ab an die dunkle Nacht. Der Ochsenhirt bringt Heu herbei, doch merkt er nichts. Die Knechte laufen und die Mägde durch den Stall – den Hirsch sieht keiner. Nun macht der Verwalter noch die Runde – und auch er sieht nichts. Da dankt der Gast vom Wald den stummen Ochsen herzlich, daß sie ihm in schwerer Zeit so treue Gastfreundschaft erzeigt. Darauf spricht einer: »Alle wünschen wir dein Wohl, doch wenn der eine mit den hundert Augen kommt, dann schwebt dein Leben wahrlich ernsthaft in Gefahr.« So sprachen sie. Da kommt vom Essen her der Herr, und weil er jüngst die Ochsen schlecht gehalten sah, tritt er zur Krippe: »Schüttet doch mehr Futter auf! Es fehlt an Streu! Es ist euch wohl der Müh zuviel, das Spinnweb wegzuschaffen?« Also spürt er rings und sieht auf einmal auch das hohe Hirschgeweih. Rasch ruft er sein Gesinde und erlegt mit ihm die schöne Beute.
Diese Fabel zeigt euch an, daß stets der Herr in seinem Haus das meiste sieht.
Ein ägyptischer König soll Affen das Tanzen haben lehren lassen. Die Tiere, deren mimische Talente ja hervorragend sind, begriffen die Kunst sehr schnell und tanzten mit Masken in Purpurgewändern. Eine Zeitlang ging die Sache gut; dann aber kam ein Witzbold auf einen schlimmen Einfall. Er brachte nämlich im Bausch seines Gewandes Nüsse mit und warf diese mitten unter die Tanzenden. Wie die Affen das sahen, vergaßen sie das Tanzen gänzlich und wurden aus Tänzern wieder zu Affen. Sie rissen sich die Masken vom Gesicht, zerfetzten die Purpurgewänder und balgten miteinander um die Beute. Das ganze Ballet stob auseinander und das ganze Theater lachte.
... Es geht euch ganz ähnlich wie jenem Jüngling, der, wie man erzählt, ein rasendes Pferd bestiegen hatte. Das ging in wildem Jagen mit ihm durch, der Jüngling aber wagte nicht, während des Laufes abzuspringen. Da begegnete ihm einer und fragte ihn, wohin er denn wolle. »Wohin es diesem da gefällt«, antwortete der Jüngling und deutete auf das Pferd.
So müßt auch ihr, wenn ihr der Wahrheit die Ehre geben wollt, auf die Frage: »Wohin treibt ihr eigentlich?« antworten: »Wohin es den Leidenschaften gefällt.« Manchmal könntet ihr sagen: »Wohin uns die Lust«, manchmal: »Wohin uns die Ruhmsucht«, manchmal: »Wohin uns die Geldgier treibt.« Denn manchmal läßt euch die Lust, manchmal die Angst, manchmal etwas anderes entgleisen.
Der Gesetzgeber Lykurg wollte die Spartaner der bei ihnen herrschenden Genußsucht entwöhnen und sie zu einer vernünftigeren Lebenshaltung bewegen und sie, die bis dahin weichlich waren, zu wahrhaft adligen Männern machen. Daher ersann er folgendes:
Er zog zwei Hunde von demselben Wurf auf, aber auf verschiedene Weise. Den einen hielt er im Haus und gewöhnte ihn an Leckereien, den andern nahm er mit auf die Jagd und härtete ihn ab. Dann brachte er beide mit in die Volksversammlung. Er stellte nun auf der einen Seite einen Teller mit Leckereien auf und ließ nach der andern einen Hasen laufen. Sofort stürzten sich beide auf die Dinge, die ihnen gewohnt waren, und der Jagdhund hatte auch bald den Hasen gefangen. Darauf sprach Lykurg: »Mitbürger, ihr seht, wie diese beiden, die von demselben Wurf stammen, durch Erziehung in ihrem Leben sehr verschieden geworden sind. Denn auf dem Weg zum Guten ist die Zucht mächtiger als die Natur.« Andre berichten, er habe nicht Hunde von derselben Brut vorgeführt, sondern einen Sprößling von Haushunden und einen von Jagdhunden. Dann habe er den von der minderen Rasse zur Jagd abgerichtet und den von der besseren an Leckereien gewöhnt. Als nun jeder sich auf das stürzte, was ihm gewohnt war, sei bewiesen gewesen, daß Erziehung zum Besseren auch die schwächere Natur überwindet. Dann habe er gesagt: »So nützt auch uns, Mitbürger, unsere von der Menge bewunderte Abstammung von Herakles nichts, wenn wir nicht das leisten, wodurch jener berühmter und adliger geworden ist als alle Menschen. Durch das ganze Leben hindurch müssen wir uns üben, das Schöne zu erlernen.«