Karl Adolph
Schackerl
Karl Adolph

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Drittes Kapitel

(Die Gasse wird durch wundervolle Ereignisse in berechtigte Aufregung versetzt. – Die Wirkungen einer gesegneten Wallfahrt nebst mitlaufenden Ereignissen)

Herrn Kolbs Tagesläufte glichen denen eines großen schwarzen Käfers, der sich plötzlich einem Hindernis entgegengestellt sieht.

Ohne Roserl ging gar nichts in der Wirtschaft vonstatten. Katherl hatte am ersten Tage schon einiges Geschirr zerschlagen, das sie von der Manhartin mit dem festen Vorsatz übernahm, es tadellos abzutrocknen. War es ihr Unstern oder mangelndes Geschick, da im väterlichen Hause die Geschirrfrage keine Rolle spielte, kurz, Katherl, die nun bald einen Dienst antreten sollte, entledigte sich hier der ersten Kinderkrankheiten eines Dienstmädchens.

Peperl hatte, wie ein großes Gezeter der Manhartin gleich am zweiten Tage bewies, sich einiger Gläser »Eingekochtem« bemächtigt. Zu dieser Tat war er, wie er, zur Rechenschaft gezogen, behauptete, nur durch das schimpfliche Mißtrauen 41 der Sagfeilerin gedrängt worden, die hier Hausfrau spielen wolle. Ja, Peperl hatte gar nicht undurchsichtig angedeutet, daß bewußte Gläser Eingesottenen sich nicht an ihrem ständigen Platze befanden, sondern offenbar bestimmt waren, zu gelegener Zeit spurlos zu verschwinden.

»Ob i den Hundsbankerten net derschlag'n soll«, kreischte Frau Manhart.

»G'scheiter is 's no immer, i hab' das Eing'sottene aufgessen wia Sie und Ihnere – Kinder. I bin nämli aa auf kaner Sau daherg'ritten kumma, wann S' mi an' Bankerten haßen. Und wia mi der Herr Master kennt (hier stockte Peperls Stimme vor innerer Ergriffenheit), so waß er, daß i mir geg'n d' Frau Masterin das niamals derlaubt hätt'.«

Herrn Kolbs griffbereite Hand sank herunter. Peperl hatte mit dem größten Raffinement die verwundbarste Stelle getroffen.

O, Frau Meisterin!

Wo weilte sie zur Zeit? Was tat sie? Wie erging es ihr? Welche weiblichen Zauberkräfte mußten sie zieren, daß Peperl ihre Anwesenheit allein als genügend erachtete, um allen sündhaften Gelüsten zu widerstehen, und ihre schon zweitägige Abwesenheit dieses sittliche Fundament so tief untergraben konnte? (Herr Kolb hatte die Peperl 42 bezüglichen Ermahnungen Frau Rosas gänzlich vergessen.)

Desto mehr erinnerte er sich der Mahnung, der hungrigen Mäuler der Beugler-Kinder zu gedenken. Um die Kraft des Verlöbnisses nicht zu stören, glaubte Herr Kolb des Guten eher etwas mehr als weniger tun zu müssen.

Die Manhartin kreischte den ganzen Tag (welche Eigenschaft sie wohl der Hantierung ihres Gatten zu verdanken hatte), wenn die »Brut« ohne alle Scheu sich an sie wendete, die ganz einfach den Befehlen des Hausherrn nachzukommen hatte.

»Ob mi der Schlag auf der Stell' trifft oder net, aber meiner Seel', so a Wirtschaft hab' i mei Lebtag no net g'seg'n. Die Herrschaften hätten si schön bedankt, für die i amal 'kocht hab', wann so was im Haus vorkumma war'. Aber d' Guatheit is wia der Leichtsinn. D'r Kruag geht so lang zum Brunn', bis er hin is und alle Tag is no net Ab'nd. Mehr will i net g'sagt hab'n, und wann ma mi auf der Stell' bei lebendigem Leib schind't.«

Die Orakelhaftigkeit dieser Leibsprüche fand eine Aufhellung, als Peperl seinem Meister am fünften Tage die Mitteilung über unerhörte Malversationen der Manhartin machte, die die Speisekammer systematisch beraube und dann über die Gefräßigkeit der Gesellen mit Einschluß Peperls 43 sowie über die der Beugler-Kinder ein Geschrei anhebe.

Herr Kolb kratzte sich während dieser Tage schon mehr als das ganze Jahr den Kopf.

Er konnte Peperls Einflüsterungen nicht kurzweg als Verleumdungen erklären und begnügte sich nur, zu sagen:

»Jetzt is all's aus, Peperl. Is die Kuah hin, soll 's Kalbl aa hin sein. Destweg'n werd'n m'r no lang net verhungern. In a paar Täg kummt eh die Masterin z'ruck, bis durthin haßt's schweig'n und weiterdienen. I laß m'r von der Manhartin ka Grobheit anhäng'n.«

Peperl, der sonst allen Gemütserregungen, soweit sie nicht Dinge betrafen wie seine eigene werte Person, vollkommen fernstand, äußerte eine gewisse Ergriffenheit bei dem Gedanken an die Frau Meisterin.

Er gab seiner Ansicht unverhohlen Ausdruck, daß es hoch an der Zeit wäre, wenn wieder feste Hände in die Zügel der häuslichen Regierung griffen. Zugleich beteuerte er seine Bereitwilligkeit, für die Frau Meisterin ans Ende der Welt zu gehen.

»Is's wahr, Peperl?« fragte der Meister mit tiefer Rührung über das reine, unverdorbene Anhänglichkeitsgefühl seines Lehrjungen, dem er sich 44 durch göttliche und weltliche Einrichtungen als oberster Schirmherr fast nahe verwandt dünkte.

»Für d' Frau Masterin geh i in d' Höll', erklärte Peperl mit Pathos.

»Is recht«, gab Herr Kolb seine Zustimmung, »denn, waßt, i . . . i gangt für sie no um a paar Klafter tiafer.«


Gibt es Gebetserhörungen und Wunder?

Kann die Gesetzmäßigkeit der strengen Natur auch nur für ein Atemholen aussetzen von dem ihr innewohnenden, allmächtigen Triebe? Kann etwas, was nicht geschehen dürfte, nach den weisen Zwecken der großen Verwalterin dennoch geschehen, weil sich eine kindische Menschenseele gegen die Notwendigkeit eines natürlichen Ereignisses sträubt?

Nein, unsere Bitten, Beschwörungen, Bußgänge, Aufopferungen vermögen nicht eine Linie in dem ewigen, strengen Gesicht der großen waltenden Mutter zu ändern.

Aber da es nicht meine Sache ist, zu philosophieren und der Wissenschaft mit meinen unerbetenen Kräften zu Hilfe zu kommen, und da es für die harmlose Geschichte einer noch harmloseren Gasse ganz gleich ist, will ich mich ganz einfach an Tatsachen halten, die auch ohne Wallfahrt und 45 Bittgang geschehen wären; aber ich hätte nicht von so vielen närrischen und lächerlichen Ereignissen zu sprechen.

Mögen die Wundergläubigen entzückt sein, die Ungläubigen mit den Achseln zucken und die Zweifelnden fragen: Wer weiß, was dran is? – ich schildere ganz einfach allerlei Dinge, die sich im Bannkreise der kleinen Gasse und vor allem in dem von Herrn Saltners Hause zugetragen.

Die Tage verrinnen, mag es mit Bächleingeschwindigkeit oder sogenannter bleierner Langsamkeit geschehen; und da man eine Woche gemeinhin mit acht Tagen berechnet, so waren auch diese acht Tage verronnen und die zwei Wallfahrerinnen kehrten so gesund und wohlbehalten zurück, wie sie sich vor genanntem Zeitabschnitt den Armen ihrer Gatten entwunden.

Sie sahen gebräunt und fast kinderfroh aus. Die Beuglerin hatte sich in einer Weise erholt, daß sie das berechtigte Staunen aller erregte.

Die Heimkunft der beiden Pilgerinnen bildete bei den harmlosen, glücklichen Ansprüchen des Gäßchens auf Sensationen wieder durch Tage das Hauptgespräch und hatte sich unter der gleichen Teilnahme aller Bewohner wie die Abreise vollzogen.

Frau Kolb hing wieder (jedoch mit Bildchen verziert und einem geweihten »Buschen«, der an 46 einem Pilgerstecken aufgepflanzt war) am Halse ihres Radl; die Beuglerin bildete in ebensolcher Ausstattung im Kreise der Ihren eine nicht minder bemerkenswerte Persönlichkeit und eine neugierige und wohlwollende Nachbarschaft bildete wieder das Auditorium.

Die Aufregung hätte vielleicht länger vorgehalten. Aber da das Neueste immer der Gegner des Neuen ist, so verdrängte eine aufregende Begebenheit, die sich in einem anderen Hause der Gasse abspielte, das Interesse an dem Wallfahrtszuge.

Die Köchin des betreffenden Hausbesitzers, eine schon überreife Jungfrauenschaft repräsentierend und mit den Traditionen der Familie förmlich verwachsen, wurde plötzlich von einem unüberwindlichen Johannistrieb befallen.

Der Gegenstand ihrer etwas verspäteten oder vielleicht zu oft wiederholten Neigung zum Männlichen war ein noch jugendlicher Tischlergeselle tschechischen Mutterlautes, der weniger den Reizungen sinnlicher Gelüste als denen eines Sparkassenbuches von zweitausendfünfhundert Gulden unterlag. Mit diesem Betrag konnte er Meister werden, die höchste Staffel seines einstweiligen Ehrgeizes.

Dazu kam noch eine vollständige Aussteuer 47 seitens des Hausherrnpaares, das zwar mit seinen Sympathien nicht auf der Seite des jugendlichen Bräutigams stand (wie es diese auch einem älteren und dem ältesten nicht entgegengebracht hätte), aber sich seiner Würde genug bewußt war, um keine Unterlassung zu begehen.

Als Sali, so hieß der dienstbare Geist, dem Ehepaar die Mitteilung von der bevorstehenden »Veränderung« gemacht hatte, befiel die beiden Alten ein solch zitternder Schrecken, wie wenn das einzige Herzenskind die elterliche Schwelle zu verlassen gedachte.

Es gab auf beiden Seiten viel Tränen, Erklärungen, Beschwörungen, Bitten, bis sich endlich Salis geläuterte und des Bräutigams nicht minder geläuterte Liebe siegreich über alle Hindernisse emporschwang.

Nach Berichten einer alten Augenzeugin soll die Hochzeit eine außergewöhnliche Augenweide geboten haben. Man sah selten so viel »Nachbarschaft« und einander drängende Kinder als an dem Tage, da Hymen ein würdiges Opfer gebracht werden sollte.

Der schmächtige, flaumbärtige, mit vortretenden Backenknochen und einem stechenden Blicke hinreichend ausgezeichnete Bräutigam bildete einen sonderbaren Kontrast zur Braut, die ihm an 48 Größe, Umfang und einem sproßenden Bartwuchs an der Oberlippe sowie einem vollmondartigen, gutmütigen Gesicht bedeutend überlegen war.

Das Rührendste und Ergreifendste soll der Abschied zwischen dem alten Ehepaar und der scheidenden Dienerin gewesen sein. Diese fiel aus einer Umarmung und Ohnmacht in die andere, so daß ihr der Myrtenkranz und der bis auf den Boden wallende weiße, jungfräuliche Schleier stark in Unordnung gebracht wurden.

Tränen, Küsse und Segenswünsche geleiteten die junge Frau auf ihren neuen Pfad und es ist zu hoffen, daß Sali glücklich wurde in ihrem neuen Heim, das sie mit der scheuen Verschämtheit der Braut betrat.

Und wieder wäre die Hochzeit wohl länger das Tagesgespräch gewesen, wenn sich das vernachlässigte erste Ereignis nicht an seinem Nachfolger in eklatanter Weise gerächt hätte.

Denn mit der katastrophalen Plötzlichkeit einer Bombe fiel die Nachricht in die Gasse: die Beuglerin hat einen Terno gemacht! Nun muß man wenig Phantasie haben und sehr stumpfsinnig sein, um nicht die Wirkung einer solchen Nachricht vollkommen zu würdigen.

Der Gewinst nahm im Gerücht eine schwindelnde Höhe an, obwohl er nur einige hundert 49 Gulden betrug. Freilich, für eine so arme Familie hoch genug. Frau Beugler hatte die Unklugheit begangen, in einer benachbarten Lotterie zu setzen, so daß sie ihren Gewinst nicht einmal zu verschweigen vermochte. Wenn dies überhaupt angängig gewesen wäre, wie man später ersehen wird.

Aber als hätte das nun gänzlich vernachlässigte Geschick des Ehepaares Kolb im gerechten Unmut darüber, daß es als letztes auf den Plan durfte, zu einem gewaltigen Schlag ausgeholt, erstickte es fast das Gäßchen durch den Alarmruf: »Die Schaffnerin is zu der Kolb 'gangen!«

Um zu ermessen, was diese Nachricht bedeutet, genügt es, zu wissen, daß die Schaffnerin die alte Bezirkshebamme war. Herr Kolb sah dieser Konfrontation mit mächtig klopfendem Herzen entgegen und als er die Bestätigung eines so geheimen und doch lauten Herzenswunsches vernahm, fehlte nicht viel und der Riese wäre einer Schwäche unterlegen, die nur für hochempfindsame Damen geschaffen erscheint: er wäre fast ohnmächtig geworden.

Also man möge bedenken, ob diese beiden Neuigkeiten nicht imstande waren, alle Usurpatoren für geraume Zeit aus dem Felde zu schlagen! Vielleicht findet man, daß die zwei Ereignisse in 50 einem zu zeitlichen Zusammenhang stehen, um wahrscheinlich zu sein.

Aber was ist unwahrscheinlich?

Jedes Jahr läßt der Fiskus seinen Krallen einen soundso großen Teil entfahren, denn sonst würde überhaupt kein Mensch mehr Lotterie spielen. Der Zufall hatte diesmal eben die Beuglerin bedacht.

Und Frau Kolb? Jeden Tag werden so viele Frauen guter Hoffnung, daß es bei ihrer Jugend und Gesundheit wahrlich nicht wunderzunehmen braucht.

Bleibt eben nur die Wallfahrt mit ihren beiden Anliegen. Vielleicht – wäre aber das »Wunder« ebenso eingetreten wie ohne Verlöbnis. Aber dann lohnte es sich wahrlich nicht, die Geschichte eines Ternos und einer Schwangerschaft zu schreiben, und die närrische kleine Gasse hätte von den Ereignissen sicher viel kühler Notiz genommen.

Aber das »Wunder«! . . .

»Ha, sollt' ma's glaub'n, daß es heutingstags no Wunder gibt?« lautete eine Frage.

»Ja, wann ma Geld hat, is der Seg'n leicht z' hab'n, Frau Zinslinger. Wo kummt unserans nach Mariazell. Höchstens anmal in das patscherte 51 Lanzendorf, und das nutzt nix, das hab' i scho g'merkt. Die Beuglerin kann si wirkli bedank'n bei dera guat'n Haut, der Kolbin, und dem Patschachter, der alles tut, was sei' Frau will.«

»Herentgeg'n«, sagte Herr Zinslinger im Gasthause zu dem Gatten der anderen Sprecherin, »jetzt ham m'r 's Unglück am Gnack. Was mi mei Alte seckiert, daß i s' net aa nach Mariazell schicken kann, is schon aus der Weis'. Sie tät' si glei an' Haupttreffer ausbitten. No, was sagst zu der ganzen G'schicht' überhaupt? Ma möcht' beinah' wirkli glaub'n, daß die Wallfahrt . . .«

»Hör' m'r auf«, erwiderte seufzend der andere, »alles is ja narrisch word'n. A Zuafall, mein Gott, wia so viele. Aber mit meiner Alten is 's jetzt aa ganz aus. Sunst is s' alle zwa Jahr' vielleicht amal mit der Fleischhackerprozession mitg'fahrn, und wann s' a halb's Jahr draus an' Ambo g'macht hat, hat s' es auf die Fürbitt' g'schob'n. Und z'frieden war s' dabei. Am meisten i. Aber jetzt . . .«

Die beiden Ehemänner verfielen in ein nachdenkliches Schweigen.

Gewiß bemerkenswert, wie aus dem kurzen Gespräch der beiden Frauen zu entnehmen, war die Art und Weise, wie sie einen Wallfahrtsort auf seine Vorzüglichkeit abschätzten, als wäre er 52 ein Modebad gewesen, dem jeweilige gesundheitskräftigende Wirkungen nachgerühmt werden.


Wenn ein Sprichwort lautet: »Sage mir, mit wem du umgehst« usw., so könnte man es folgendermaßen variieren:

»Sage mir, wie du einen Glücksfall ausnützest, und ich sage dir, wie du bisher gelebt.« Umkehren läßt sich der Satz allerdings auch.

Von dem Tage an, als Frau Beugler unter atemloser, platonischer Teilnahme der sämtlichen Bewohner der Umgebung (nicht bloß der Gasse allein) ihren Gewinst behoben und unter die Sicherheit eines Sparkassenbuches gestellt hatte, schien es fast, als wäre das Haus Herrn Saltners das berühmte Schlaraffenland, in welches sich eine Kinderschar nicht allein durch einen Wall von Brei, sondern von Fett, Butter, Obst, Mus und allem Erdenklichen gegessen.

Diese beneidenswerte Schar als die Sprößlinge am Beuglerischen Familienstamm zu agnoszieren bedarf wohl keines weiteren Scharfsinns.

Wo immer man einem von ihnen begegnete, glänzten seine Wangen von Schmalz oder schienen in Berührung mit einem Powidlfaß gelangt zu 53 sein. Keinem konnte man über den Weg treten, der nicht ein Stück Butterbrot, Fleisch, Obst oder Gebäck in Händen hielt.

Nirgendhin im Hofe oder vor dem Hause konnte man den Fuß setzen, ohne auf abgenagte Knochen, Wursthäute, Apfelschalen oder gar Spuren von unvermeidlichem Vomita zu treten.

Herr Saltner ließ vergeblich eine Mahnung nach der anderen herabgelangen. Wollte man den Kindern nicht kurzweg das Essen entziehen, wozu weder die Eltern das Herz hatten und das zu verlangen der sanftmütige Hausherr auch nicht die Absicht hegte, so mußte man den Ereignissen ihren Lauf lassen. Das Hausmeisterpaar war durch Verabreichung eines Geldbetrages für die nötigen, oftmaligen Reinigungen des Hofes entschädigt worden. Aber die allgemeine Empörung machte sich doch einmal Luft. Dazu gab nachstehend geschilderter Vorfall Anlaß:

In einer kinderreichen Gasse gibt es stets einen oder mehrere Bösewichter, die um einen schlechten Streich nicht verlegen sind. Und da jedes Haus Gemeineigentum der Kinderschar der ganzen Gasse für ihre Spiele war, so wurden Freveltaten meistens von Zuzüglern ausgeführt, die nach vollbrachter Tat sich unsichtbar machten.

Ein bis auf das letzte Fäserchen abgenagtes 54 Schinkenbein, dessen sich einer der jüngsten Beuglerischen Vielfraße als Spielzeug bediente, erschien einigen Jungen als geeignetes Mittel, einen früher beliebten Scherz auszuführen, der in unseren Tagen der Hundeverringerung, des Maulkorbzwanges und der elektrischen Klingel auf keine Auferstehung rechnen darf.

Man band den delikaten Knochen mittelst einer starken Schnur an den senkrecht zu ziehenden Glockenzug des Hauses, noch angeeifert durch das behagliche, beifällige Schmunzeln einiger aus ihren Ladentüren und Fenstern lugenden Nachbarn, denen das zu erwartende Schauspiel die Schläfrigkeit eines Sommernachmittags zu vertreiben versprach.

Das alte Hausmeisterpaar Klingsberger, dessen dienstliche Verpflichtungen der Frühstunden ein reiches Maß von Nickerchen und Schläfchen am Nachmittag bedingten, wurde plötzlich aus einem gesegneten Schlummer in jäher Weise geweckt. Ein Sturmgeläute der Hausglocke erscholl. In unregelmäßigen Intervallen erfolgte ein Riß um den anderen.

Die beiden Alten blickten einander erst halbverschlafen und verwundert an. Dann, von dem Instinkt aller Hausmeister getrieben, ergriffen sie je einen Besen und eilten, so sehr ihnen das 55 möglich war, vor das Tor, das schon von einer jauchzenden Kinderschar umstellt war.

Der Bösewicht war ein mächtiger, zottiger Straßenköter, der unaufhörlich an dem herabbaumelnden Schinkenknochen zerrte.

Zwei Besen mengten sich gleichzeitig störend in dieses Beginnen, ohne jedoch das Biest zu vermögen, davon abzulassen. Er knurrte nur die beiden Störenfriede an, schnappte abwechselnd einmal in diesen, dann in jenen Besen, erneute aber zwischendurch seine Angriffe auf das ersehnte Objekt mit unverminderter Heftigkeit, bis es ihm endlich gelang, seine Beute loszubekommen, mit der es schleunigst enteilte.

Diese schnöde Handlung führte zu einer Untersuchung unter dem Vorsitz des Hauspatriarchen, die jedoch kläglich im Sande verlief, da einesteils die Schuldigen nicht eruiert werden konnten, andernteils Herr Saltner zu große Aufregungen scheute.

Aber allgemein war man geneigt, für den traurigen Verfall der guten Sitten die Beugler-Schar verantwortlich zu machen, deren unstillbare Gefräßigkeit sich nicht nur das Mißfallen der Hausbewohner, sondern auch fast der ganzen weiteren Nachbarschaft zugezogen hatte.

Auch der vorerwähnten Untersuchung hatten 56 sie beigewohnt, in der aufreizendsten Weise jedes mit einem eßbaren Gegenstand bewaffnet. Ihre fettigen, verschmierten Gesichter glänzten vor Vergnügen bei der Erinnerung an die drollige Rauferei des Hausmeisterpaares mit dem fremden Köter.

Das erweckte besonders nachhaltige Empörung.

»Es is a Skandal überhaupt mit der Fresserei«, eiferte eine Frau, deren neidgelbes Gesicht für die Motive ihrer Entrüstung zeugte. »Den ganzen Tag nix anders als fressen. Das anschau'n müass'n . . . I bin scho selber krank drauf. Der Gusto muaß an' ja vergehn, wann ma so was mitmacht. Alles was recht is. Aber zwischen Essen und Fressen is a Unterschied. Das Schwein frißt aa. Das hat der guate Surm, der Kolb, für sein' Guatheit und sein teuers Geld. Derentweg'n hat müassen a Wunder g'scheg'n, daß die Schweinigln den ganzen Tag einipampfen können?«

Kurz, der Unmut, der in den meisten Gemütern aufgespeichert lag, dessen Wurzel der Neid und dessen Krone ästhetische Entrüstung waren, richtete sich gegen die mittelbaren Urheber als Besitzer des Schinkenbeines.

Der ebenfalls, und zwar ob seiner unangebrachten Gutmütigkeit gescholtene Wagnermeister, dessen Tasche gewissermaßen das Gründerkapital 57 des geschehenen Wunders entstammte, lachte herzlich über das ganze Gesicht bei dem Anblick der gefräßigen Schar. Sie war ihm sympathisch, denn er liebte es nicht, des Leibes Notdurft zu vergessen.

Er war eben bei den letzten Worten der entrüsteten Nachbarin in den Hof getreten.

»Unser Herrgott g'seg'n eahners«, sagte er. »Besser, als der Voda versauft das Geld im Wirtshaus, oder d' Muatta tragt's heilig wieder durthin, von wo sie 's g'holt hat. Übrigens a Wunder g'schiecht nur amal im Leb'n.«

Frau Beugler selbst, die arme, gute Seele, deren Glücksfall nichts weiter vermocht hatte, als sie noch demütiger, schüchterner und dankbarer erscheinen zu lassen, ließ alle Vorwürfe ruhig über sich ergehen. Mit fast andächtigen Blicken verfolgte sie den Vertilgungsprozeß aller Art Eßbarkeiten, der anderen ein solcher Dorn im Auge war.

Auf unschickliche Vorhalte und Meinungsäußerungen pflegte sie zu sagen:

»Sie essen si anmal recht wirkli satt. Neiden S' eahner's net hinein. Sie ham dafür oft g'nua hungern müass'n. Wann i m'r a Glück derbitt hab', war's für mei Familie. Mein Mann kann bei sein' staubigen G'schäft aa manchmal a Glasl Bier vertrag'n, der arme Kerl. I verlang' für mi weiter nix, als daß i seg'n kann, wia's eahner allen 58 schmeckt. Wann S' amal Ihner Familie hab'n müassen Hunger leiden seg'n, werden S' mi verstehn.«

Als sie den Gewinnst behoben hatte, wollte sie gleich mit einem Teile zu der Vergütung ihrer Mariazellerfahrt schreiten.

»Für all's and're kann i ja eh nur mit an' herzlichen Vergeltsgott danken«, sagte sie zu Herrn Kolb.

»Und lassen S' das aa alles sein«, erwiderte dieser. »Wo wär' denn nachher das guate Werk? Ha? Wann die Wallfahrt nur Ihner allani g'nutzt hätt', sechert i's ein, daß mir die Auslag'n a bißl in d' Nasen g'stieg'n wär'n. Aber so . . . Wann's unser Herrgott will, gibt er mir an' feschen Buam, das is do die paar Guld'n wert.

Im übrigen lass'n ma die G'schicht'. Was i tan hab', hab' i tan. Nur an's möcht' i Ihner bitten, die Kinder soll'n weniger grad vor meine Fenster . . . Na, Sie wiss'n ja.«

Mit der letzten Äußerung wollte Herr Kolb auf den Umstand hinweisen, daß die eruptiven Neigungen der überfüllten kindlichen Magen sich häufig den Platz vor seinen Wohnungsfenstern erkoren.

So erlitt die Roßhaarkremplerin mit ihrer 59 Absicht der Rückzahlung eine nicht unangenehme Abweisung. Im übrigen mochte man sich nur wundern, für wie groß sie ihren Schatz betrachtete, um an ein Schmelzen desselben gar nicht zu denken.

Mittlerweile bemühte sie sich, der werdenden Mutter mit all ihren reichen Erfahrungen in dem gegenwärtigen delikaten Zustand nützlich zu sein. Diese erneuerte nun die erst als so unnütz betrachtete und verschenkte Säuglingsaussteuer. Und halb unbewußt, wie zur Vorbereitung, sang sie dabei durch Vorfahren auf sie überkommene Lieder, die bestimmt waren, in nicht ferner Zeit ihr Kind in den Schlaf zu wiegen.

Man hatte früher noch die Zeit und wohl die Liebe dazu, lange Balladen zu singen, die meist einen tieftraurigen Ausgang nehmen. Eine dieser Balladen möge der Vergessenheit entrissen werden, weil sie so kunstlos und dabei doch so kunstvoll ist, wie es der Volksgesang eben sein kann:

Es ging ein Knab' spazieren
zum Mädchen ihr'm Fensterlein.
Schön's Mädchen, wohnst du darinnen?
Steh auf und mach' mir auf!

Ich steh nicht auf vom Bette,
Zum Fensterlein geh ich nicht.
Ich bin schon mit einem versprochen,
Denjenigen laß ich nicht. 60

Und bist du mit einem versprochen
Und laßt du denjenigen nicht –
So komm' nur heraus zum Fenster,
Vielleicht erkennst du mich.

Und als sie das Fenster öffnete,
Riecht sie einen Totengeruch:
Ich weiß nicht, bist du von der Erde,
Oder bist selber der Tod?

Wie sollt' ich nicht von Erde riechen,
Da ich ein Toter bin.
Heut ist das siebente Jahre,
Daß ich begraben bin.

Weck' auf dein' Vater und Mutter,
Weck' auf dein ganzes Haus.
Weck' auf dein' Schwester und Bruder,
Dein Bräutigam ist schon bereit.

Putz' dich schnell rein und sauber,
Setz' dir ein grün's Kränzelein auf,
Zieh an dein Hochzeitshemde
Dann fahr'n wir in Himmel hinauf.

In Himmel zum höchsten Herren,
In Himmel zu seinem Sohn.
Dort wollen als Engel wir singen
Vor seinem ewigen Thron.

Es war wahrlich kein erheiterndes Lied, aber Frau Rosa sang die Melodie und achtete der Worte kaum. In ihrem Herzen war genug Freudigkeit, 61 um allem Grauen vor einem aus seinem Grabe echappierten Bräutigam zu begegnen.

Hatte man schon früher dem Kolbschen Ehepaar alle Gerechtigkeit widerfahren lassen, jetzt wurden die beiden Riesen für die patentesten Kerle der Welt erklärt.

Hatte Frau Kolb schon früher gern geplaudert, jetzt tat sie es zehnmal öfter und lieber. Hatte früher Herr Kolb im Kreise seiner Stammtischfreunde sich an allen Scherzen beteiligt, mehr oder minder derbe Neckereien ertragen, manche Maß auf den Tisch stellen lassen, so tat er es auch jetzt noch lieber zehnmal öfter als einmal weniger.

Also, wie gesagt, standen die Kolb-Leute in größerem Ansehen als jemals und man behauptete, die für die Wallfahrt gemachten Auslagen seien das glänzendste Anlagekapital gewesen, das je auf einen öffentlichen Markt geworfen wurde.

In Wahrheit profitierte auch alles an den stattgehabten Wundern, als welche sie nun ohne Widerspruch aufgenommen und bezeichnet wurden. Gab es einen Skeptiker, so hütete er sich, seiner Naturanlage die Zügel schießen zu lassen. Ich sagte, es profitierte alles. Die Frauen, indem sich für sie Klatsch an Klatsch, Aufregung an Aufregung reihte.

War es die, daß ein Beugler-Kind mit 62 Vermeidung des in der Gasse ansässigen kleinen Zuckerbäckers bei einem entfernteren ein Stück Torte kaufte; war es die, daß der Roßhaarkrempler zwei- oder dreimal nach Torschluß heimgekehrt war und einen »Endstrumm Affen« nach Hause gebracht haben sollte; oder gar die, daß man seine Frau in der Lotterie eines fremden Bezirkes gesehen haben wollte, wo sie Einsätze mit Banknoten beglichen habe. Kurz, jeder Tag brachte etwas, was in Beziehung zu den zwei von der Muttergottes erhörten Frauen stand.

Daß der Profit der Männerwelt ein weit realerer war, wurde schon gesagt. Durch zwei Monate dauerte der Freudenparoxysmus des Vaters und der Gasse, dann schlief alles ein. Zurzeit aber war Herr Kolb noch geneigt, die Sitzungen zu verlängern (mit gewährtem Dispens seitens Roserls nämlich). Und da er kein grämlicher Zecher war, sondern in reichlichen Bestgaben die Anregung für seinen eigenen Durst fand, die natürliche Freigebigkeit auch noch eine Verstärkung durch die ihm bisher unbekannten väterlichen Gefühle erhielt, so profitierten alle, die mit ihm in der Gaststube zusammenkamen.

Seine Voraussagung: »Leuteln, wenn die G'schicht' guat vorüber is, und wann's a Bua is . . .« konnte nicht für unheilverkündend angesehen werden.

63 Wie Völker in Anhoffnung vieler Gnaden- und Gunstakte auf das Erscheinen eines Thronerben warten, harrte eine wackere Zecherschar auf das Erscheinen des Kolbschen Haus- und Erbprinzen. 64

 


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