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Windmüller, der den Schluß des Abends auch stark verspätet gefunden, gab dem Majordomo nach der Verabschiedung von der Marchesa durch ein paar rasch hingeworfene Worte zu verstehen, daß er ihn heute noch zu sprechen wünschte.

Er hatte nicht lange zu warten, denn bald nachdem er in seinem Zimmer war, trat Sebastiano bei ihm ein.

»Hören Sie, wir müssen etwas Wichtiges miteinander besprechen«, begann Windmüller vertraulich. »Sie sind in die Familienangelegenheiten dieses Hauses eingeweiht, und die Frau Marchesa hat mir gesagt, daß dies das Verdienst Ihrer langen, treuen Dienste ist, daß man sich unbedingt auf Sie verlassen kann. Man hat Ihnen jedenfalls mitgeteilt, daß die Signora Principessa nicht nur hier aus dem Hause, sondern überhaupt spurlos verschwunden ist.«

»Diavolo!« machte Sebastiano überrascht. »So ist sie nicht in Rom?«

»Weder in Rom noch anderswo«, bestätigte Windmüller. »Das hat mich nun auf den Gedanken gebracht, daß sie den Palazzo überhaupt nicht verlassen hat.«

»Den Gedanken, Signor, hat der Agostino von vornherein gehabt«, sagte Sebastiano mit einer Handbewegung, die seine Meinung gleichzeitig und zwar negativ ausdrückte. »Er sagte: sie ist durch keine der Türen des Hauses heraus, weil ich die Schlüssel habe und alle Riegel innen vorgeschoben waren. Sie ist nicht durchs Fenster, denn die waren zu; fliegen kann sie nicht, um vom Dache herabzukommen, und das ist auch zu hoch für eine Leiter; ein Seil, wenn sie daran heruntergerutscht wäre, müßte doch zu sehen sein, weil es oben angemacht werden müßte – folglich ist sie überhaupt nicht aus dem Hause heraus. Ich habe dem Agostino gesagt, er sei ein alter Esel, denn ohne Nahrung könne doch kein Mensch in einem Loche leben.« Windmüller steckte das Kompliment, das ja auch ihm galt, da er mit Agostino den gleichen Gedanken hatte, ohne zu zucken ein und beantwortete den gemachten Einwand zum dritten Male an diesem Tage, indem er bemerkte, daß jemand hier im Hause die freiwillig Gefangene speisen könne.

»Wer denn?« fragte Sebastiano verächtlich. »Die Lucia? Der Chef? Ich? Keines von uns würde sich darauf eingelassen haben. Warum? Weil wir hinter dem Rücken der Herrschaft keine gemeinsame Sache mit der – der Fremden machen würden. Wir nicht! Und die Gans, die Assunta? Die hätte sich damit in den ersten drei Stunden verraten.«

»Wer ist Assunta?« fiel Windmüller ein.

»Das Stubenmädchen, das die Frau Principessa hier bediente, weil sie ihre Zofe nicht mitgebracht hatte«, erklärte Sebastiano, der offenbar von der Erwähnten keine hohe Meinung hatte. »Sie kam heulend zum Essen, die Assunta nämlich, weil die Signora Principessa sie eine Gans genannt hat, als sie ihr beim Ausziehen helfen mußte, und später schickte die Frau Principessa sie fort, weil sie sich lieber allein ausziehen als von solchem Trampeltier bedienen lassen wollte. Die Assunta hätte jedem Menschen im ganzen Hause erst jeden Bissen gezeigt, ehe sie ihn ›heimlich‹ zugesteckt hätte! Eine Gans bleibt eine Gans, und Gänse müssen schnattern!«

»Hm – man kann aber den Gänsen den Schnabel zubinden«, wandte Windmüller ein.

Sebastiano verstand sofort, wie es gemeint war, denn er antwortete prompt: »Solche Gänse, wie die Assunta eine ist, schlagen dann wenigstens mit den Flügeln um zu zeigen, daß sie nicht schnattern dürfen.« Und nach diesem Beweis, daß ihm die vergleichende Zoologie geläufig war, fuhr er unaufgefordert fort: »Auch mit den beiden jungen Dienern und wer sonst noch im Hause ist, können wir nicht rechnen, Herr Doktor. Ich weiß bestimmt, daß sie mit keinem von der Dienerschaft, außer mit der Assunta, geredet hat. Ich will schon eingestehen, daß der alte Esel, der Agostino, mir einen Floh ins Ohr gesetzt hat. Ich habe also das ganze Haus durchsucht. Drin ist sie nicht, und wenn ihr der Teufel nicht geholfen hat, dann ist sie auch nicht herausgekommen. Es ist eine verdonnerte Geschichte Signor – das ist sie. Und unter uns: die Frau Principessa ist, ohne dem Respekt zu nahe zu treten, eine Dame, die sozusagen mit allen Hunden gehetzt ist, die dem Teufel selbst ein Schnippchen schlagen würde, wenn's darauf ankommt!«

Windmüller zweifelte zwar nicht daran, aber die Übereinstimmung dieser Ansicht tröstete ihn nicht über das Bewußtsein, daß es in der Tat eine ›verdonnerte Geschichte‹ war.

»Können Sie mir die Assunta mit irgendeinem Auftrag schicken, so daß sie nicht merkt, daß ich mit ihr reden will?« fragte er nach einer Pause. »Ich möchte gern noch ein paar Fragen an sie stellen, aber es ist notwendig, daß sie nicht vorbereitet zu mir kommt. Die Frau Marchesa hat mir Ihre Mithilfe zugesichert, lieber Herr Majordomo, und Sie sehen, daß ich recht sehr damit rechne.«

»Sie können in jeder Beziehung auf mich zählen, was die Interessen der Familie anbetrifft«, erwiderte Sebastiano mit Würde. »Die Assunta kann Ihnen eine Flasche Wasser bringen, Signor, falls sie nicht schon im Bett liegt! Das fällt um so weniger auf, als sie ja den Dienst bei Ihnen hat.« –

Die Assunta lag noch nicht im Bett, denn sie erschien sehr bald mit einer Platte, auf der eine Flasche Mineralwasser und ein Glas standen, stellte sie auf den Tisch neben den scheinbar in ein Buch vertieften Windmüller und wollte sich mit einem Knicks wieder entfernen, als er plötzlich aufsah.

»Danke sehr«, sagte er freundlich. »Sie sind die Assunta, nicht wahr? Dieselbe, die die Frau Principessa bei ihrer letzten Anwesenheit hier bedient hat? Sehr gut. Dann sagen Sie mir einmal, wann und um welche Zeit Sie sie zum letzten Male gesehen haben.«

Assunta legte den rechten Zeigefinger an die Nase und schien zu überlegen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Das kann ich nicht so genau sagen«, erklärte sie. »Es kann so zwischen zehn und elf Uhr morgens gewesen sein, als ich der Lucia half, die Zimmer für die fremde Herrschaft zurechtmachen. Ja, sie sind am Nachmittag bald nach der Collazione gekommen, und wir hatten bis zum Mittagläuten alles fertig gemacht.«

Windmüller sah das Mädchen erstaunt an. »Aber die fremden Herrschaften sind doch gestern erst eingezogen!« sagte er langsam.

»Jawohl, Signor – gestern«, bestätigte Assunta unbeirrt.

»Und gestern haben Sie die Frau Principessa hier zum letzten Male gesehen?« fragte Windmüller »Haben Sie auch mit ihr gesprochen?«

»O nein!« machte Assunta achselzuckend. »Sie hat nichts gesagt, und es ist doch nicht meine Sache, eine so große Dame anzureden!«

»Nein – natürlich nicht!« gab Windmüller zu. »Aber ich meine verstanden zu haben, daß die Frau Principessa schon am anderen Morgen wieder abgereist ist – nicht?«

»Ja, so ist's uns gesagt worden. Wie kann Sie aber abgereist sein, wenn ich sie doch gesehen habe? Vielleicht ist sie bloß noch einmal rasch wiedergekommen! Mir kann's gleich sein, so lange ich den Dienst nicht bei ihr habe.«

Windmüller überging diese Bemerkung, die freilich in einem unzweifelhaften Ton der Kränkung gemacht und mit einem Blick begleitet wurde, der eine Aufforderung enthielt, sie darüber weiter zu befragen. »Bitte, erzählen Sie mir, wie und wo Sie die Frau Principessa gesehen haben. Ich werde mich gern erkenntlich dafür zeigen«, sagte er einladend.

»Es war unten im Rosazimmer«, begann Assunta bereitwillig. »Ich hatte das Bett zu überziehen, während die Lucia drüben das andere Schlafzimmer mit den beiden Betten herrichtete. Nun, die Kissen waren überzogen, und ich legte das Laken auf, und weil doch das Bett so breit ist, mußte ich nach der anderen Seite herum, wo die Tür zum Badekabinett ist, um es dort unter die Matratze zu stecken – man reicht mit den Armen so nicht hinüber, und die Lucia ist schrecklich, wenn man nicht alles ganz genau macht. Das ist sie, Signor, Sie glauben nicht, wie sie einem auf die Finger sieht! Erst heute hat sie – «

»Weiter, weiter!« unterbrach Windmüller den drohenden Seitensprung.

»Also, ich gehe um das Bett herum, bücke mich, um das Laken unterzustecken, und auf einmal riecht es so stark und merkwürdig, genau wie das Parfüm, das die Frau Principessa gebraucht. Ich denke mir, sie hat welches auf dem Bett verschüttet, hebe den Kopf, sehe auf, und da stand sie leibhaftig in der Tür auf der Schwelle. Sie hatte ihren grauseidenen Reisemantel an, aber keinen Hut auf dem Kopf und sah schrecklich blaß aus, und die Haare waren ganz in Unordnung. Sie sah mich nicht an, sondern geradeaus, und wie ich so stehe und darauf warte, ob sie etwas sagen wird, höre ich die Lucia durch den Saal herüberkommen. Weg war sie auf einmal, die Frau Principessa! Ich denke also, sie ist in den Salotto zurückgetreten und horche, ob sie mit der Lucia reden wird, aber die kam ohne anzuhalten, ohne daß ich sie auch nur flüstern gehört hätte, bis ins Rosazimmer und fragte mich, ob ich denn noch nicht fertig wäre, gerade als ob man hexen könnte!«

»Weiter!«

»Weiter ist nichts, Signor. Ich fragte die Lucia aber, ob nicht jemand im Nebenzimmer gewesen wäre, als sie durchkam – es wäre mir so gewesen, als ob ich jemand gehört hätte. Sie hatte aber niemand gesehen und ging sogar noch einmal zurück, um nachzuschauen. Es war aber niemand da.«

»Haben Sie der Lucia denn nicht gesagt, daß Sie die Frau Principessa gesehen hätten?« fragte Windmüller nach einer kleinen Pause.

»Ah – wo werde ich!« erwiderte Assunta. »Ich hatte gar keine Lust, wieder zum Dienst bei ihr befohlen zu werden! Nichts macht man ihr recht, und dann hat sie mich auch noch ein Trampeltier genannt – danke schön!«

»Nun, mit den anderen Dienstboten werden Sie aber doch wohl davon gesprochen haben?«

»Keine Silbe«, versicherte Assunta, wodurch sie Sebastianos Meinung über sie unrecht gab. »Ich hätte es ja tun können, es ist wahr, und ich weiß auch nicht, warum ich nichts sagte. Ich denke, es muß die Furcht gewesen sein, wieder den Dienst bei der Frau Principessa zu bekommen. Jetzt, wo Sie davon reden, Signor, fällt's mir ein, daß ich eigentlich den ganzen Tag darauf wartete, die anderen würden es erzählen, daß die Frau Principessa wieder angekommen sei. Keiner hat aber ein Wort davon gesagt, daß sie mit der Herrschaft gegessen hätte. Es wurde auch nicht mehr davon gesprochen, wie sie aus dem Haus gekommen sein könnte, denn der Sebastiano wollte nicht, daß darüber getratscht würde. Und dann waren ja auch die Fremden gekommen, über die wir genug zu reden hatten. Da dachte ich mir: behalte es für dich, aber wenn dich einer fragt, dann sag's nur ruhig. Ecco!«

Nachdem Assunta mit ihrer verheißenen Belohnung strahlend abgezogen war, blieb Windmüller nachdenklich auf seinem Platze sitzen, um den nächsten Schritt zu überlegen. Die Principessa also war wirklich im Hause, und Lucia wußte vermutlich darum – vorausgesetzt, daß die Aussage der Assunta der Wahrheit entsprach. Die Erzählung war ja eine ganz natürliche gewesen, aber sie hatte auch ihre Reserven in sich getragen, und zwar lag für Windmüller der Haken darin, daß das Mädchen die Sache für sich behalten und nicht mit den anderen Dienstboten besprochen hatte, was nach dem Aufsehen, welches das noch unaufgeklärte Verschwinden der Principessa aus dem Hause gemacht, einfach unverständlich war. Windmüller hatte Assunta, während sie redete, scharf beobachtet, und ein gewisser unsteter Ausdruck in ihren Augen war ihm nicht entgangen. Die Erklärung, warum sie, unmittelbar nachdem sie die Principessa gesehen haben wollte, sogar der Lucia gegenüber geschwiegen, war ungenügend, nachdem Sebastiano der Assunta das Zeugnis ausgestellt, daß sie nicht schweigen könnte.

Ein Klopfen an seiner Tür unterbrach diese Betrachtung, und auf Windmüllers Aufforderung steckte Don Gian seinen Kopf herein.

»Ich sah noch Licht bei Ihnen, Doktor – darf ich?« fragte er und betrat das Zimmer, gefolgt von einer kleinen, älteren Frau mit krausem, weißem Scheitel, deren freundliches, runzeliges Gesicht einen angenehmen und zuverlässigen Charakter verriet. »Spät wie die Stunde ist«, fuhr Don Gian fort, indem er den Arm um die Schulter der Alten legte, »so möchte ich Ihnen doch heute noch unseren guten Hausgeist, unsere treffliche Lucia, vorstellen. Ich habe mit ihr eben den Fall meiner Schwägerin besprochen, sie um ihre Meinung befragt, und sie soll Ihnen nun selbst sagen, was sie davon hält.«

Windmüller unterdrückte heroisch ein tiefes Stöhnen bei der Erinnerung an die vielen ›Fälle‹, die ungebetene und voreilige Dilettantenhilfe ihm schon verpfuscht hatten und resigniert versicherte er, daß es ihm Freude machen würde, die Meinung der Signora zu hören.

Lucia nahm mit einem dankbaren Lächeln, das ihr sehr gut stand, auf dem ihr von Don Gian mit fast zärtlicher Aufmerksamkeit hingeschobenen Stuhle Platz und faltete ihre Hände auf dem Schoß. »Signor«, begann sie ohne Umschweife und ohne Verlegenheit, »ich habe den Herrn Marchese und seinen verstorbenen Bruder auf dem Arme getragen und darum müssen Sie sich nicht wundern, wenn er einiges Gewicht auf die Meinung einer alten Frau legt, die seinem Hause so lange treu gedient hat. Nun, um Ihre Zeit nicht durch viele Worte zu verschwenden: ich glaube nicht, daß die Frau Principessa noch hier im Hause ist. Wie sie es verlassen hat, ist freilich mehr, als ich sagen kann. Sie wird schon gewußt haben, wie es zu machen war, und sie hat auch gewußt, daß hinter dem Rücken der Herrschaft mit uns alten Dienern nichts anzufangen gewesen wäre. Auf die jungen aber habe ich ein scharfes Auge, wie's notwendig ist, Signor, und wie es meine Pflicht ist – da hätte ich längst etwas Verdächtiges bemerkt, denn ich habe sie gleich alle scharf ins Gebet genommen, und ich darf schon sagen: stand hätte mir keiner gehalten, wenn er eine Heimlichkeit auf dem Gewissen hatte!«

Windmüller machte eine zustimmende Bewegung. »Die Frau Principessa ist gestern vormittag hier im Palazzo gesehen worden«, sagte er ruhig, indem er die Beschließerin voll ansah.

Das Erstaunen, das sich bei dieser Mitteilung auf dem Gesicht der Alten malte, war ein zu natürliches, als daß es ein geheucheltes hätte sein können, auch war es ein ganz reines, von jedem Schrecken oder Verlegenheit ungemischtes.

»Ist es möglich?« rief sie mit erhobenen Händen. »Darf ich fragen, wer sie gesehen hat?«

Windmüller gab in knappen Worten wieder, was er von Assunta gehört. Während Don Gian aber dabei Zeichen von Erregung kundgab, schüttelte Lucia mit dem Kopfe.

»Ja, wenn ein anderer sie gesehen hätte! Aber die Assunta – bah!« sagte sie. »Signor, die Assunta ist eine von denen, die immer etwas sehen! Vor ein paar Tagen schickte ich sie in den Saal drunten, um ein Staubtuch zu holen, das sie dort liegen gelassen, und sie kam ohne dieses zurück, denn im Saal habe ein Kardinal in roter Schleppe und im weißen Spitzenrochet gestanden und habe sie angeschaut! Nun weiß ja jedes Kind, daß die Leute sagen, der Kardinal Luigi Terraferma gehe hier im Palazzo um. Ich habe ihn noch nicht gesehen – Gott sei Dank! Aber die Assunta hat das Gerede gehört, hat sein Bild, das drüben im Nordflügel hängt, gesehen und hat sich natürlich eingebildet, daß er ihr in eigener Person erschienen ist. Und ein paar Tage später stürzte die Assunta, als ich mich gerade schlafen legen wollte, in mein Zimmer. Ihr Großvater stände vor ihrer Kammertür, und der sei doch schon vor zwei Jahren gestorben! Sie ist eben ein von denen, die sich einbilden, Geister zu sehen, und wenn ja auch die Frau Principessa keiner ist, so wird sie eben im Rosazimmer an sie gedacht und dann gemeint haben, sie zu sehen. – Darum also fragte sie mich, ob nicht jemand im Nebenzimmer gewesen sei, als ich durchkam! Und ich habe richtig noch einmal hineingeschaut, trotzdem ich nun schon wissen konnte, daß die Assunta immer etwas sieht, was andere Leute nicht sehen können, weil eben nichts zu sehen ist!«

Windmüller hatte die alte Lucia bei sich längst von einer Mitwisserschaft freigesprochen und fand ihre Erklärung, Assunta betreffend, annehmbar »Das Mädchen war aber über die Kleidung der Frau Principessa, als sie sie, sagen wir denn, zu sehen vermeinte, ganz sicher«, wandte er indes noch ein. »Sie hat die Frau Principessa zuletzt in ihrer flittergestickten schwarzen Abendtoilette gesehen und gab an, daß sie gestern in ihrem grauseidenen Staubmantel, jedoch ohne Hut, gekleidet war.«

Jetzt lächelte die Lucia nicht nur, sondern sie lachte. »Signor, die Assunta hat ihren Großvater zuletzt im Totenhemd gesehen; als sie ihn dann vor ihrer Kammertür gesehen haben wollte, trug er nach ihrer Beschreibung schwarzweißkarierte Hosen und einen braunen Rock mit Messingknöpfen. Sie hat ihn mir ganz deutlich beschrieben und hat auch gesehen, daß der Großvater frisch rasiert war.«

»Madonna mia«, murmelte Don Gian enttäuscht.

Windmüller war es auch, denn er fand das Argument Lucias überzeugend und in Übereinstimmung mit dem sonderbaren Ausdruck in Assuntas sonst ganz hübschen braunen Augen. Und als er bald darauf wieder allein war, mußte er sich eingestehen, leeres Stroh gedroschen zu haben, und wenn das nun zwar auch eine unvermeidliche Sache im ›Geschäft‹ war, so wurde das Bewußtsein darum doch nicht süßer, weil kein arbeitender Mensch gern seine Zeit vergeudet sieht. War sie das aber wirklich? Windmüllers praktischer Sinn sagte ja, aber Windmüller war ein Mensch mit einem sechsten Sinn – die Leute, die er ›zur Strecke‹ gebracht, gaben ihm noch mehr Sinne, über die wir jedoch hier zur Tagesordnung übergehen können.

Windmüllers sechster Sinn war zwar keiner, mit dem er ›arbeitete‹, er half ihm nur, die Menschen zu verstehen, die ihn wirklich besaßen, und darum konnte und wollte er die Assunta nicht so ganz ohne weiteres als Kuriosität unter diejenigen schieben, die in den Augen der ›vernünftigen Leute‹ zu den Verrückten gehören, bloß weil sie mehr sehen können als jene. Er glaubte im tiefsten Schreine seines Herzens ganz fest daran, daß es trotz der ›Vernünftigen‹ solche Menschen gibt, hypersensitive Naturen. Er fand Hudsons Lehre von diesen Naturen ganz glaubwürdig und überzeugend, und was Robert Hugh Benson darüber geschrieben, hielt er, Windmüller, keineswegs für überspannt. Warum sollte ein venezianisches Stubenmädchen nicht auch diesen sechsten Sinn besitzen?

Freilich, in bezug auf die Principessa konnte Lucias Erklärung durchaus richtig sein: woran oder an wen man gerade recht lebhaft denkt, in diesem Falle unterstützt durch einen ganz spezifischen Geruch, einen prägnanten Duft, von dem ist es sehr gut möglich, daß man ihn auch in Person zu sehen vermeint. Es wäre eine krasse Unvernunft gewesen, das nicht zu bedenken.

Aber man durfte auch die andere Möglichkeit nicht übersehen. Nach Hudsons Lehre prägt sich eine Persönlichkeit dem Raume, in dem sie eine physische oder geistige Angst durchzukämpfen hatte, in einem solchen Grade ein, daß sensitiv veranlagte Naturen sie darin zu sehen vermögen, und zwar in der umgekehrten Folge, in der man gewöhnlich zu sehen pflegt, das heißt also erst mit dem Hirn und dann mit den Augen.

Bei dem hohen Einsatz und der Natur des Spieles, das sie gespielt, war es ganz begreiflich, daß die Principessa in dem Rosazimmer zum mindesten die geistigen Angstzustände des Gewinnens oder Verlierens durchzukämpfen gehabt hatte. Niemand war da, um zu sagen, ob und was sie auch physisch leiden mußte. Die Vorbedingung für Hudsons Theorie war also vorhanden, und das Subjekt, wie es schien, in der Person Assuntas gleichfalls.

Windmüller beschloß, ehe er zur Ruhe ging, morgen früh noch eine Unterhaltung mit der Assunta anzuknüpfen, und wenn es auch nur im Interesse einer Wissenschaft war, über die die Wissenschafter die Achseln zucken, weil sie ein Rätsel ist, dem man mit ›natürlichen Erklärungen‹ nicht zu Leibe rücken kann.

Im übrigen wurde Windmüllers Überzeugung, daß Donna Xenia den Palazzo Terraferma überhaupt nicht verlassen hatte, keineswegs dadurch erschüttert, daß er die alten Diener und die Assunta von einer Mitwissenschaft gänzlich freizusprechen geneigt war. Mit dem, was er über den Charakter der Verschwundenen wußte und bei den großen Gefahren des Spieles, das sie spielte, war es nur logisch, wenn sie sich keine Mitwisser gemacht, sondern sich auf eigene Hilfsmittel verlassen hatte. Daß sie ihr Kofferchen zurückgelassen, konnte eine absichtliche Irreleitung, aber auch unbeabsichtigt gewesen sein, falls die Annahme zutraf, daß in letzter Stunde, vielleicht in letzter Minute etwas sehr Drohendes sie von ihrer Abfahrt mit der bestellten Gondel zurückgehalten und sie gezwungen hatte, sich zu verbergen.

Windmüllers ›Ruhe‹ bestand zunächst nun darin, daß er es sich bequem machte. Insbesondere legte er mit liebevoller Sorgfalt ein Paar leichte Hausschuhe mit Gummisohlen an, die es ihm ermöglichten, als alle Lichter im Hause erloschen waren, lautlos die Treppe hinabzusteigen und sich zu überzeugen, daß alle Ausgänge nach den Wasser- und Landseiten ordnungsmäßig verschlossen und verriegelt waren und die Schlüssel sich in Agostinos treuer Hut befanden.

Und dann hielt er auf der Loggia, von der er den ganzen Hof übersehen konnte, eine lange, lange und – fruchtlose Wache, die er erst aufgab, als Agostino, der mit den Hühnern aufstand, den Hof so laut gähnend betrat, daß Fafner, der Lindwurm, in der Neidhöhle darob vor Neid geborsten wäre.

»Und sie steckt doch noch hier!« murmelte Windmüller, als er danach steif und fröstelnd sein Bett aufsuchte.

Galilei hat sein berühmtes Wort: ›Und sie bewegt sich doch!‹ sicher nicht überzeugter ausgesprochen, als Windmüller sein: ›Und sie steckt doch noch hier!‹ worauf er gewohnheitsmäßig sofort einschlief, um nach ein paar Stunden wieder ganz frisch und ausgeruht am Frühstückstisch zu erscheinen.

Die Post war noch nicht eingetroffen, aber sie kam, während er noch mit Don Gian beim Kaffee saß, und ein paar Telegramme folgten ihr auf dem Fuße.

»Das alte Lied«, sagte er, sie Don Gian hinüberschiebend. »Donna Xenia ist nirgend aufgetaucht, man hat auch in Rom nichts von ihr gesehen oder gehört. Das spricht sehr für meine Theorie über ihren Verbleib. Hier dieser Brief meines Agenten – er hat Glück, der junge Mann, daß man ihn mit seiner Trödelei beim Kronleuchterreinigen bis gestern noch nicht an die Luft gesetzt hat – dieser Brief berichtet, daß ›man‹ dort fieberhaft tätig ist, die Verschwundene zu suchen.«

Vielleicht sind sie glücklicher damit wie wir«, bemerkte Don Gian. »Sie müßten ja doch ihre Bewegungen besser kennen als wir, die wir erst seit kurzem Gewißheit darüber erlangt haben.«

»Glücklicher? Hm. – Wir wissen mehr als ›sie‹« › warf Windmüller hin. »Wesentlich mehr. Wenn das auch noch zu keinem Resultat geführt hat, so dürfen Sie nicht übersehen, daß verlorengegangene Menschen viel schwerer zu finden sind als gestohlene Brillanten. Es ist eine charakteristische Eigentümlichkeit des Menschen, daß er durch ein Brett nur sehen kann, wenn es ein Loch hat. Die Leute behaupten zwar, daß ich's auch ohne Loch zuwege bringe, doch ist das eine kolossale Übertreibung. Das Brett hätten wir – es bleibt mir nur übrig, das ungemein gut zugepichte Loch zu finden, und ehe ich das nicht habe, müssen Sie mir schon noch weitere Gastfreundschaft gewähren, Herr Marchese!«

Don Gian reichte Windmüller die Hand zu wirklich herzlichem Drucke. »Mein Haus ist das Ihre – auch wenn das Loch gefunden ist, sagte er warm. »Ohne Sie säße ich jetzt nicht bei meinem Kaffee im Vollbesitz meiner Ehre. Das wird Ihnen bei mir und den Meinen unvergessen bleiben.«

»Das ist ein langes und großes Wort«, erwiderte Windmüller mit einem melancholischen Lächeln. »Es steht nur im Wörterbuch von wenigen. Ich glaube aber, daß Sie zu diesen gehören, und der Gedanke ist mir ein sehr lieber und werter. Und nun wünsche ich Ihnen einen guten Morgen. Es ist eben neun Uhr, und die Dringlichkeit der Sache muß bei meinem Werk die frühe Stunde entschuldigen.«

Der Rede letzter Teil bezog sich – was Don Gian aber nicht wußte – darauf, daß Windmüller nach dem ersten Stock hinabstieg und in Ermangelung einer Person, die ihn melden konnte, einfach in den großen Saal trat und an der geschlossenen Tür zur Stanza del' Brustoloni anklopfte.

Eine Antwort erfolgte nicht, aber Fiore Meldeck öffnete selbst die Tür.

»Sie, Herr Doktor?« rief sie überrascht. »Seien Sie mir herzlichst willkommen!«

»Das ist in Anbetracht der frühen Stunde doppelt liebenswürdig von Ihnen, Komtesse. Sie wollen wohl eben ausgehen?«

»Das hat Zeit«, erklärte sie energisch. »Herr und Frau von Krähenhausen sind eben auf den Bahnhof gefahren, um ihren Wiwigenz abzuholen, der sich heute früh telegraphisch angemeldet hat. Ich habe zwar eine gründliche Vermahnung erhalten, mich würdig auf den Empfang dieses Übermenschen vorzubereiten, aber ich habe nicht vor, mit einem Blumenstrauße in der Hand aufgebaut zu stehen und bei seinem Erscheinen einen Kotau zu machen. Kumm! Wenn ich mir der zu erwartenden Ehre voll bewußt wäre, so – ec. ec. Sie glauben gar nicht, welch wilden Haß ich gegen diesen Wiwigenz im Herzen hege!«

»Na, vielleicht ist er gar nicht so schlimm«, meinte Windmüller lachend »Wissen Sie, daß ich den alten Herrn für einen ganz netten Menschen halte? Er hat Humor, und das spricht Bände für ihn.«

»Oh, Vater Kumm ist lieb. Wenn seine bessere Hälfte nicht seine nettesten Regungen allemal in ihm zusammentrampelte, wäre er sogar ganz famos«, versicherte Fiore großmütig. »Aber er ist ein Schwachmatikus und – mürbe geworden. Da liegt der Hase im Pfeffer. Es hat indes alles sein Gutes: ich lerne von Frau von Krähenhausen, wie man seinen Mann – nicht behandeln soll.«

»Glücklicher Mensch, Ihr künftiger Gatte!« rief Windmüller mit Überzeugung. »Ich will Sie aber nicht lange aufhalten, Komtesse, und darum gleich mit meinem Anliegen kommen. Ich möchte gern das Rosazimmer noch einmal sehen.«

»So lange und so oft Sie wollen, Herr Doktor«, versicherte Fiore bereitwilligst. »Darf ich dabei sein? Es interessiert mich wirklich brennend – Ihnen zuzusehen nämlich. Das Rosazimmer an sich natürlich auch. Es ist ein wunderbarer Raum, obgleich ich gestehen muß, daß – daß er als Schlafzimmer einigermaßen den Reiz für mich verloren hat.«

»Warum? Ist der Gardenienduft immer noch so stark bemerklich?« fragte Windmüller aufmerksam.

»Immer noch«, bestätigte Fiore. »Der Gardenienduft wäre fast noch zu ertragen, aber der andere Geruch, der sich damit mischt – er ist einfach gräßlich. Wirklich gräßlich! – Warten Sie einmal hier einen Augenblick – ich will im Rosazimmer die Fenster schließen, und dann sollen Sie selbst sagen, was Sie davon denken!«

Windmüller sah der schlanken Gestalt wohlgefällig nach, wie sie durch die offene Flügeltür in das Rosazimmer eilte, dort beide Fenster schloß und dann stehenblieb und den Kopf witternd hob.

»Noch sind's nur die Gardenien, die ich rieche – kommen Sie!« rief sie ihm zu, und als er langsam hereintrat, da sah er, daß sie sich schüttelte. »Da haben wir ihn wieder, diesen – diesen Gestank, der gewissermaßen unter dem aufdringlichen Duft einherschwebt. Es wird einem ganz übel dabei – puh!«

Windmüller, dessen Geruchsorgan so hyperempfindlich war, daß er zum Beispiel genau sagen konnte, welche Tabaksorten in einem Raume geraucht worden waren, roch nichts – einfach nichts als die frische, anregende Morgenbrise der See, die, von Osten kommend, Venedig an diesem Morgen durchzog. Er sah Fiore prüfend an: sie war ganz blaß, und nun bemerkte er auch, daß sie blaue Ringe unter den Augen hatte und diese müde aussahen und dabei auch beunruhigt.

Er trat ans nächste Fenster, machte es wieder auf und sah, wie sie die hereinströmende frische Luft erleichtert einsog.

»Schrecklich – nicht wahr?« sagte sie matt.

»Komteßchen, Sie sollten das Zimmer wechseln«, entgegnete er besorgt. »Sie sehen heute ganz elend aus.«

»Ach – das ist ja nicht des Geruchs wegen«, meinte sie. »Wenn die Fenster offen sind, ist's ganz erträglich. Ich – ich habe heute nacht einen Schrecken gehabt und danach nicht schlafen können – das ist's. Ich denke nicht daran, das Zimmer zu wechseln – das gäbe einen schönen Trara und eine nette Predigt von Frau von Krähenhausen, nachdem wir dieses Zimmers wegen, in das ich mich verliebt hatte, in den Palazzo gezogen sind. Sie ist furchtbar, die liebe Tante ›Wenn‹, sobald die Schleusen ihres Sprechmechanismus gezogen sind.«

»Ich kann's mir denken«, meinte Windmüller trocken. »Was hat Sie denn heute nacht so erschreckt?«

»Ach – ich habe mir eingebildet, etwas zu sehen – es kann aber doch nur eine Einbildung gewesen sein, denn die Türen waren alle geschlossen.«

»Was war's?« redete Windmüller zu, als Fiore stockte.

»Wenn Sie mir auf der Seele knien, dann würde ich sagen: ich war so munter und wach, wie ich jetzt bin«, rief sie mit etwas ungerechtfertigter Energie, denn Windmüller hatte das ja noch gar nicht bestritten. »Ich hatte überhaupt noch nicht geschlafen, sondern lag mit offenen Augen und sah dem Mondstrahl zu, der durch das offene Fenster schräg nach meinem Bett zu ins Zimmer fiel, und dachte an gar nichts Ungewöhnliches, sondern ließ den Abend droben bei der Marchesa noch einmal vor meinen geistigen Augen vorüberziehen – es war doch ein sehr netter Abend – nicht wahr? Nun also! Dann richtete ich mich etwas auf, um mich nach der anderen Seite umzudrehen, und – da sah ich sie in der Tür zur Stanza del' Brustoloni stehen: eine Dame war's, etwa von Mittelgröße, in einem ganz modernen grauseidenen Reisemantel, aber ohne Hut, mit dunklen, etwas wirren Haaren und blassem, aber jungem, hübschem Gesicht. Ich rief sie an. Sie gab aber keine Antwort, schien mich gar nicht zu sehen, und ich sprang nun aus dem Bett und ging auf sie zu. Da war sie plötzlich verschwunden. Ich dachte, sie sei ins Nebenzimmer zurückgewichen, und ich lief ihr nach, denn ich war empört über dieses lautlose Eindringen. Aber drinnen waren die Läden geschlossen, es war fast ganz finster, und ich drehte das elektrische Licht auf. Das Zimmer war leer, die Türen innen geschlossen! In mein Schlafzimmer zurückgekehrt, hab' ich noch nachgeschaut, ob irgendwelcher Schatten mich getäuscht haben könnte; es war aber absolut keiner vorhanden, und ich muß schon sagen, daß es mir etwas unheimlich wurde – mein Herz fing an wie ein Schmiedhammer zu schlagen, und eingeschlafen bin ich erst, als schon der Morgen zu dämmern anfing. – So, jetzt können Sie mich meinetwegen auslachen, Herr Doktor!«

»Ich lache Sie ganz und gar nicht aus«, versicherte Windmüller, der mit dem größten Interesse zugehört hatte. »Komteßchen – verzeihen Sie die alte Anrede – ich möchte Sie zu meiner Vertrauten machen. Ich kann mich auf Ihre Diskretion doch verlassen – nicht wahr?«

»Ich denk' es schon – ich bin doch meines Vaters Tochter«, erwiderte Fiore.

»Darum meine ich's eben«, sagte Windmüller zustimmend. »Also ganz im Vertrauen: ich bin hier, um eine Dame – ihr Name tut nichts zur Sache – , um eine Dame zu suchen, die in diesem Zimmer vor wenigen Tagen gewohnt hat, offiziell abgereist und seitdem verschwunden ist. Ich habe nun die Überzeugung, daß ihre Abreise fingiert war und sie sich hier im Hause aus nur ihr bekannten Gründen verborgen hält. Ihre Beschreibung der – Gestalt, die Sie heute nacht hier gesehen haben, paßt auf die Gesuchte, und ich habe die Idee, die Sie ja schon gestern erraten haben, daß in diesem Rosazimmer sich ein geheimer, der Familie unbekannter Ausgang befindet – «

»Und den Sie suchen wollen. – Nein, wie romantisch!« fiel Fiore mit leuchtenden Augen ein, aus denen der Ausdruck der Beunruhigung vollständig verschwunden war. »Hat – doch nein, ich will nichts fragen, sondern mich mit dem begnügen, was Sie mir zu sagen für gut halten. Nun, wenn es einen verborgenen Ausgang hier gibt, dann muß er der Tür zur Stanza del' Brustoloni verzweifelt nahe sein, denn weit zu gehen hatte diese geheimnisvolle Dame nicht Zeit – sie war kaum verschwunden, da war ich ja schon aus dem Bett heraus und in der Tür, wo sie gestanden!«

Windmüller nickte. Diese Beobachtung stimmte ganz mit der überein, die Assunta gemacht, als sie fast gleichzeitig mit den Schritten Lucias das Verschwinden der Principessa bemerkt, und da Lucia die letztere beim Betreten der Stanza del' Brustoloni nicht mehr gesehen, so konnte der notwendig vorhandene Ausgang nur dicht neben der Tür oder in dem auffällig tiefen Rahmen derselben liegen. Diese Erwägung vereinfachte natürlich die Sache insofern, als nur ein bestimmter Umkreis in oder zwischen den beiden Räumen in Frage kam, aber diese ›Vereinfachung‹ blieb trotzdem eine harte Nuß, denn methodisch, wie Windmüller damit vorging, ausgerüstet mit der Kenntnis der Schleichwege solch alter Häuser, wie er war – er konnte keine Fuge finden, keine Kombination entdecken, mit der dem Geheimnis beizukommen möglich gewesen wäre.

Das erschütterte aber seinen felsenfesten Glauben an die Existenz eines verborgenen Ausganges keineswegs. Wozu sonst die plötzliche Vorliebe der Principessa für das Rosazimmer, das sie bisher verschmäht hatte? Mehr noch: das Zimmer oder aber die Stanza del' Brustoloni mußte eine Verbindung mit dem oberen Stock enthalten, die sie zum Raube des Dokumentes benützt hatte.

Zu beiden Seiten der Flügeltüren, die nach dem Zimmer mit den Ebenholzmöbeln führten, standen große, hohe Lehnsessel, die sich vermöge ihrer ungeheuren Schwere kaum von der Stelle schieben ließen, geschweige denn von einer so zarten Persönlichkeit wie der Principessa so weit abgerückt werden konnten – mit einer solchen Schnelligkeit wenigstens nicht, wie es ihr ›Verschwinden‹ bedingte, um ihr genügenden Raum zu geben, dahinter zu schlüpfen. Fiore war ganz sicher, daß diese Sessel nicht von ihrem Platze gekommen waren, so lange sie diese Räume bewohnte; zudem war die Tapete hier ganz ohne jede bemerkbare Fuge, die Wand dahinter so solid, daß sie der Annahme einer verborgenen Tür einfach spottete, und neben den Sesseln standen eine Ecketagere und ein Schrank von solcher Schwere und Solidität, daß schon die Kräfte mehrerer Männer dazu gehörten, um sie auch nur um Zentimeter von den Wänden fortzubewegen. Es blieb also die Türfüllung, die, durch vergoldete Leisten in je zwei bemalte Paneele rechts und links abgeteilt, ihr Geheimnis, wenn sie eines verbarg, so trefflich hütete, daß Windmüller sich nach genauester Untersuchung für geschlagen erklärte – wenigstens zunächst, denn daß hier des Rätsels Lösung zu suchen und infolgedessen auch zu finden war, davon war er fester denn je überzeugt.

Nach kurzem Nachdenken, in dem Fiore ihn durch keine Silbe störte, kam er zu dem Entschluß, der Sache von unten beizukommen, mindestens aber vielleicht durch die Architektur des Erd- oder Wassergeschosses einen Fingerzeig zu erspähen. Er verabschiedete sich von Fiore, die ihn durch den Saal begleitete und ihm unterwegs versprach, die Forschung auf eigene Faust fortzusetzen.

»Nicht, daß ich mir anmaße zu finden, was Ihnen entgangen ist«, meinte sie bescheiden, »indes kann man ja immer nicht wissen. Die Maus soll dem Löwen auch schon einmal geholfen haben.«

»Komteßchen, ich weiß, was ich kann, aber ich bin durchaus nicht so anmaßend, mich für allvermögend zu halten«, erwiderte Windmüller lächelnd. »Die Hilfe der Maus wird dankbar angenommen. Vor allem aber: Diskretion! Namentlich Ihrem Vormund und seiner Frau gegenüber, die dieser Sache verständnislos gegenüber stehen dürften.«

»Die wären auch die letzten, mit denen ich darüber reden würde«, rief Fiore.

Sie waren inzwischen nach der Vorhalle gekommen, und diese öffnend, befand sich Windmüller einem Herrn gegenüber, der offenbar eben im Begriffe war, anzuklopfen. Es war ein noch junger Mann, in so tadellos elegantem Zivil, daß man ausnahmsweise sicher nicht den deutschen Offizier auf Urlaub in ihm vermutet haben würde, wenn er beim Anblick der ihm Entgegenkommenden nicht die Hacken ganz militärisch zusammengeschlagen hätte. Er war auch ein ganz hübscher Mensch mit rassigen Zügen, und er wäre sicher noch hübscher gewesen ohne den verschnittenen modernen Schnurrbart, der wie eine Zahnbürste unter der Nase hängt und allen Gesichtern, die ihn als ›Zierde‹ tragen, den gleichen halb törichten, halb ›wurstigen‹ Ausdruck zu verleihen pflegt.

»Vetter Fritz!« rief Fiore überrascht, aber ohne Begeisterung.

»In Person, Bäslein!« bestätigte der Fremde, und mit nochmaligem Zusammenklappen der Hacken stellte er sich Windmüller vor: »Rittmeister Graf Meldeck!«

»Doktor Windmüller!« erwiderte dieser die erwiesene Höflichkeit, sagte dann: »Also auf Wiedersehen, Komteßchen!« grüßte kurz und ging rasch seiner Wege.

»Donnerwetter – ! Kolossal feudales Lokal!« Das waren Graf Meldecks erste Worte, als er den Saal betreten hatte, indem er sich überrascht darin umsah.

»Kolossal!« bestätigte Fiore. »Und was verschafft mir die hohe Ehre deines Besuches, Vetter Fritz?«

»Hohe Ehre – na, hör mal, begrüßt man so seinen nächsten Verwandten?« rief Graf Meldeck lachend.

»Nachdem der nächste Verwandte sich fünf Jahre lang nicht um einen gekümmert, einem nicht mal eine Postkarte zu Neujahr geschrieben hat, muß man wohl von ›hoher Ehre‹ reden«, gab Fiore prompt zurück.

»Man sachte mit die jungen Pferde, Bäschen!« war die ebenso prompte Antwort »Wohin hätte ich denn mit deiner gütigen Erlaubnis schreiben sollen? Du bist's, die es nicht für nötig gehalten hat, uns mitzuteilen, wohin du mit der alten Vogelscheuche, die du deinen nächsten Verwandten vorgezogen hast, verduftet warst!«

»Hast du mich gefragt, wohin ich ›verduften‹ wollte?« entgegnete Fiore hitzig. »Na, denn nicht, liebe Seele, hast du einfach nur gesagt, als du damals Papas Begräbnis mit deiner Gegenwart verherrlicht hattest und mir, der armen, mittellosen Verwandten, großmütig eine Stelle als – Kindermädchen bei deiner Schwester anbotest, die es nicht für notwendig gehalten hatte, dich zu begleiten. Ja, wenn noch von einem ›Heim‹ bei deiner Schwester die Rede gewesen wäre! ›Du kannst dich bei den Kindern dort nützlich machen‹ – das war alles. Kannst du mir's etwa noch übelnehmen, daß ich das mir so gütig angebotene Heim bei meiner Pate vorzog, die schon vorher gekommen war, um mir in den letzten Tagen meines Vaters beizustehen? Ich möchte den sehen, der nach einem Knochen schnappt, wenn ihm ein Herz geboten wird!«

»Da hast du nun wieder recht«, gestand Graf Meldeck unumwunden ein. »Ich hab' halt damals ausgerichtet, was mir aufgetragen wurde – na, am Ende war's vielleicht ganz gut, daß ich's so tappig gemacht. Du warst glücklich bei deiner Pate, und Sie hat dir, wie ich höre, auch ein bißchen Moos vermacht – nicht?«

»Die alte Vogelscheuche, wie du die Pate zu nennen beliebtest, hat mich nicht ganz mittellos hinterlassen«, erwiderte Fiore etwas besänftigt, aber immer noch mit – natürlich bildlich gesprochen – gesträubten Federn. »Ich war sehr glücklich bei ihr – wenn dir's eine Beruhigung ist, das zu hören.«

»Freut mich von Herzen«, versicherte Graf Meldeck aufrichtig. »So, und nun du deinem Herzen Luft gemacht, laß uns das Kriegsbeil vergraben, an dem ich eigentlich ganz unschuldig bin. Darf ich mich setzen?«

Jetzt mußte Fiore lachen. »Ja, setz dich nur«, sagte sie heiter. »Und entschuldige, daß ich dich so ungastlich behandelt habe, Vetter Fritz!«

»Schon recht – nur aus seinem Herzen keine Mördergrube machen, das ist mein Grundsatz! Übrigens mein Kompliment: wenn schon die Puppe viel versprach – der Schmetterling hat mehr gehalten!« meinte Graf Meldeck mit ungeheucheltem und unverhohlenem Wohlgefallen seine Verwandte betrachtend.

Die begriff das Kompliment gar nicht einmal, weil sie ein ganz unaffektiertes Wesen war, und fragte höchst erstaunt: »Welche Puppe?«

Vetter Fritz lachte jetzt auch. »Na, hör mal – welche?« machte er belustigt. »Das hab' ich doch hübsch und poetisch gesagt – nicht? Gemeint hab' ich: du hast dich höllisch herausgemausert – paff war ich, wie ich dich vorhin sah!«

»Ach, so war's gemeint?« rief Fiore übermütig lachend mit einem Blick auf den sich lichtenden Scheitel des Vetters. »Ich werde dir das Kompliment zurückgeben, wenn du einmal mit dem Mausern fertig bist.«

»Grundgerechter – hat die ein Mundwerk!« stöhnte Graf Meldeck mit einem Blick gen Himmel und einem zweiten begeisterten auf Fiore. »Na, ich werde mich in acht nehmen und noch einmal galant sein – die Gefahr ist mir zu groß. – Übrigens – war das dein Vormund, der vorhin hinausging? Habe den Namen nicht recht verstanden.«

»Nein – es war ein alter Freund«, erwiderte Fiore. »Mein Vormund heißt Krähenhausen.«

»Ganz richtig, das las ich im Fremdenbuch meines Hotels, in dem ich zu meiner Überraschung deinen Namen fand, worauf mir gesagt wurde, daß du mit den Herrschaften in diesen Palast übergesiedelt seist. Natürlich nahm ich mir gleich eine Gondel, um dich aufzusuchen.«

»Daher also wußtest du, daß ich hier bin!« rief Fiore. »Nun, es ist sehr nett, daß du gekommen bist, Vetter Fritz. Ich danke dir für deinen Besuch und bitte dir den etwas – hm – etwas steifen Empfang ab.«

»Steif ist gut«, meinte Graf Meldeck gutmütig. »Übrigens ist da nichts zu danken – Blut ist nun mal dicker als Wasser. Ich hätte gar nicht anders gekonnt, als zu dir zu kommen, nun ich dich am selben Ort mit mir wußte. Sag mal – muß ich nicht auch deinem Vormund meinen Besuch machen?«

»Kannst du gleich haben. Er ist mit seiner Frau auf den Bahnhof, um seinen Sohn – den ich noch nicht kenne – den Professor Doktor Wiwigenz Freiherrn von Krähenhausen, Hochgeboren, abzuholen. Er will hier im Archiv Studien machen, denn er lehrt Geschichte in – «

»Was – das ist der?« rief Graf Meldeck. »Ich kenne ihn gut, den außerordentlichen Kich-Wiwi!«

»Wie nennst du ihn?«

»Das ist sein Spitzname«, erklärte Graf Meldeck schmunzelnd. »Bezugnehmend auf seine Stellung als außerordentlicher Professor, auf eine seiner Eigentümlichkeiten und auf seinen ebenso schönen wie ungewöhnlichen Vornamen.«

»Das nennt man Ausnützung!« rief Fiore belustigt. »Was ist er denn für ein Mensch?«

»Oh, er ist ein ganz netter, anständiger Kerl, der viel in unserem Regiment verkehrt«, erwiderte Meldeck. »Wir haben ihn ganz gern, lachen aber manchmal ein bißchen über ihn. Du weißt ja – ›Leutnants, stets verbrecherlich, finden alles lächerlich‹. – Und um noch ein Zitat anzuwenden – er kann von sich sagen: ›Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!‹ Die eine Seele ist die eines von Natur harmlosen, stillvergnügten, netten Kerls – «

»Hat er vom Vater!« flocht Fiore ein.

»Die andere Seele ist die eines auf seine Fähigkeiten und seine Stellung als außerordentlicher Universitätsprofessor viel zu hochmütigen Aristokraten – «

»Hat er von der Mutter!«

»Na ja – und beide Seelen streiten miteinander. Wenn er der Stimme der ersteren gefolgt und uns alle damit gewonnen hat, dann besinnt er sich plötzlich darauf, daß er eigentlich geistig turmhoch uns armen Landsknechten überlegen ist. Er macht dann ›Kich‹, mit welchem Laut er seiner von einem chronischen Stockschnupfen belasteten Nase Luft verschafft – «

»Erbteil vom Vater!«

»Worauf er sich aufs Katheder – bildlich geredet – schwingt und uns durch ein Privatissimum einfach niederschmettert, bis seiner Nase wieder die Luft mangelt. ›Kich!‹ macht er dann wieder und steigt zu uns Sterblichen als Sterblicher von neuem herab. Deshalb nennen wir ihn den außerordentlichen Kich-Wiwi.«

»Seine beiden Seelen sind demnach von seiner Nase in ihrer Wechselseitigkeit abhängig?«

»Scheint so. Na, wir haben halt alle eine Schraube irgendwo locker. Lassen wir jetzt den Kich-Wiwi, erzähle mir lieber, warum du das gute und bequeme Hotel gegen diesen alten Kasten verlassen hast?«

»Geschmacksache, Vetter Fritz! Ich finde diesen alten Kasten wundervoll, und weil er gerade zu haben war, so haben wir zugegriffen und sind nun erst so richtig in Venedig.«

»Hm – ja. Wenn alle Zimmer so sind, wie dieser Saal, dann allerhand Hochachtung! Ich verstehe nur nicht, wie der Besitzer dieses Haus vermieten kann. Ruinierter Nobile – wie?«

»Es macht mir nicht den Eindruck. Ich glaube eher – wenigstens deutete die Gräfin Candiani es an – , daß nur eine vorübergehende Verlegenheit die Ursache ist, Mieter zuzulassen, die übrigens einer sehr gewichtigen Empfehlung zur Zulassung bedürfen. Denn diese Räume sind ja voll von Kunstgegenständen, für die man eine Garantie verlangt. Von einer Vermietung des Hauses ist auch nicht die Rede. Die Familie bewohnt die oberen Stockwerke, und von der unbenützten Flucht in dieser Etage haben wir nur die Hälfte – zehn Zimmer im ganzen.«

»Alle Wetter – das ist imposant! – Wer ist eigentlich der Besitzer? – Marchese Terraferma? Mir begegnete unten vorhin, als ich ankam, ein sehr schick aussehender junger Herr »

»Das wird schon der Marchese gewesen sein. Er ist zur Zeit auf Urlaub hier«, sagte Fiore wie obenhin und ohne die Augen zu senken, denn Graf Meldeck sah sie eigentümlich forschend an.

»Ist er Offizier?«

»Nein – Diplomat. Sekretär des Ministers der Auswärtigen Angelegenheiten.«

»So? Hm. Verheiratet?«

»Nein. Seine Großmutter und Schwester leben hier im Palazzo. Die solltest du sehen, Vetter Fritz! Ich sage dir: eine echt venezianische Schönheit mit rotgoldenem Haar und schwarzen Augen!«

»Wäre ganz mein Geschmack!« rief Graf Meldeck. »Blondinen – helle Blondinen sind nämlich meine Passion«, setzte er mit einem Seufzer hinzu, der Fiore lachen machte.

»Na, dann sieh nur zu, daß du keine Gefärbte erwischst«, meinte sie heiter. »Wobei mir einfällt: bist du eigentlich verheiratet?«

»Ich? Aber absolut nicht! Erstens weil ich die gesuchte Blondine noch nicht gefunden habe, und dann ist noch sehr die Frage, ob sie sich einen armen Teufel, wie mich, der nischt hat als sein Gehalt und ein paar Schulden, nehmen würde. Denn zum Heiraten gehören nämlich zwei.«

»Ist die Möglichkeit!« staunte Fiore. Und dann, aufhorchend, fuhr sie lebhaft fort: »Jetzt kannst du gleich deine Bekanntschaft mit dem ›Außerordentlichen‹ erneuern. Denn ich höre die Krähenhausens eben die Treppe heraufkommen.«

Sie waren's wirklich und betraten gleich darauf den Saal, und es entging Fiore nicht, daß Frau von Krähenhausens Gesicht ganz unverhohlen den Ausdruck unangenehmster Überraschung beim Anblick Meldecks zeigte, als sie, ihren Sohn an der Hand, ihn dem Mündel ihres Gatten mit den Worten zuführte: »Hier, liebes Kind, bringe ich Ihnen meinen Wiwigenz, der sich schon sehr darauf freut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wenn ich freilich gewußt hätte, daß Sie Besuch haben, so – «

»Guten Tag, Herr Professor! Haben Sie eine gute Reise gehabt?« unterbrach Fiore den mit ›so‹ beginnenden unvermeidlichen Nachsatz, indem sie dem ›Außerordentlichen‹ die Hand reichte.

Er war eine ganz stattliche Erscheinung, dieser jüngere Krähenhausen – eine zweite Auflage seines Vaters, der mit noch dunklem Haar und Bart genau so ausgesehen haben mußte.

»Mein Vetter, Graf Meldeck«, stellte Fiore den Genannten vor, ohne auf eine Antwort ihrer Höflichkeitsfrage zu warten. »Ich höre, die Herren kennen sich schon – «

»Das ist ja eine angenehme Überraschung, Herr Graf! Als Sie mir sagten, daß Sie eine Urlaubsreise machen wollten, erwähnten Sie nicht, daß Sie nach Venedig reisen würden«, rief der Professor mit harmloser Herzlichkeit, aber mit einem Seitenblick auf seines Vaters Mündel.

»Ich gebe Ihnen diese Unterlassungssünde zurück«, erwiderte Meldeck lachend. »Denn als Sie sagten, Sie träten gleichzeitig eine Studienreise an, erwähnten Sie auch nicht, daß Venedig Ihr Ziel sei. Und so treffen wir uns in der Seestadt in diesem höchst feudalen Palaste – nur daß ich, nach Venedig kommend, noch keine Ahnung hatte, meine Base hier wiederzusehen!«

»Oh – in der Tat? Und woher erfuhren Sie, daß Gräfin Fiore hier ist?« fragte Frau von Krähenhausen mißtrauisch.

»Aus dem Fremdenbuch des Hotels, gnädige Frau«, entgegnete Meldeck bereitwillig. – »Doch ich will die Herrschaften nun nicht länger stören. – liebes Bäslein, ich darf doch wiederkommen? Stelle mich auch für einen Ausflug ganz zu Diensten. – War mir eine besondere Ehre, meine Herrschaften!«

Als die Tür hinter Graf Meldeck kaum geschlossen war, sah Frau von Krähenhausen sich zu einer kleinen Ermahnung veranlaßt.

»Hast du gewußt, Wiwigenz, daß dieser Graf Meldeck ein Vetter unserer lieben Fiore ist?« begann sie sauersüß und fuhr im selben Atem fort: »Aber gleichviel, liebe Fiore, ich hätte es für passender gefunden, wenn Sie den Herrn in meiner Gegenwart empfangen hätten!«

»Kumm!« machte Herr von Krähenhausen einleitend.

Aber Fiore ließ ihn nicht zur Rede kommen. »Ah, nein!« sagte sie ruhig. »In Ihrer Gegenwart hätten wir uns ja nicht zanken können! Das war für dieses Mal. Sollten Sie bei seinem nächsten Besuch, der Ihnen ja gelten wird, wieder nicht zu Hause sein, dann muß ich mir halt getrost das ›Passendere‹ versagen, damit sich mein nächster Blutsverwandter nicht erst einbildet, daß ich mich in bezug auf seine Person dummen Gedanken hingebe – «

»Gnädigste Komtesse gestatten mir, die Sache dahin moderieren zu dürfen, daß ich kühn behaupte, es wäre besser, einen so verwöhnten Liebling der Damen wie Ihren Herrn Vetter, nicht selbst auf ›dumme Gedanken‹ zu bringen,« fiel der Professor mit solch harmlosem Lachen ein, daß Fiore ohne Rückhalt herzlich einstimmte.

»Sie müssen ihn besser kennen wie ich, Herr Professor, und darum schließe ich mich Ihrer Begründung für seinen künftigen Empfang an, die ja auch Ihre Frau Mutter nicht umhin können wird zu billigen,« sagte sie heiter.

»Ich weiß doch nicht«, widersprach Frau von Krähenhausen. »Wenn es einem jungen Mädchen zu meiner Zeit eingefallen wäre, einen jungen Herrn allein zu empfangen, so – «

»Kumm!« machte Herr v. Krähenhausen vermittelnd.

»Kich!« ließ sich gleichzeitig der Professor vernehmen.

Vor dieser dreifachen Äußerung Krähenhausenscher Familieneigentümlichkeiten strich Fiore einfach die Segel, weil sie sich der Möglichkeit, dem standzuhalten, nicht sicher war. Ehe der Professor nach dem erfolgten Warnungssignal den ›außerordentlichen‹ Wiwigenz zur Geltung bringen konnte, erklärte sie, mit allen Geistern der Lachlust ringend, daß sie die Freude des Wiedersehens zwischen Eltern und Sohn nicht länger stören, sondern hinauf zu Donna Loredana gehen wollte, mit der sie eine Verabredung getroffen hätte.

»Wenn Sie mich vorher befragt hätten, so wäre das rücksichtsvoller gewesen«, sagte Frau von Krähenhausen scharf und zurechtweisend.

»Befragt?« wiederholte Fiore ruhig und höflich, aber sich höher emporrichtend. »Das verstehe ich nicht. Warum hätte ich Sie wegen einer einfachen Verabredung mit einer einwandfreien Persönlichkeit befragen sollen? Und ich dachte gerade recht rücksichtsvoll zu sein, weil ich Sie Ihrem Herrn Sohn nicht entziehen wollte, mit dem Sie sich ja viel zu sagen haben werden. Aus diesem Gefühl heraus habe ich auch für meine Person die Einladung der Marchesa zum Lunch angenommen und zu einer Spazierfahrt mit den Damen, werde aber, wenn Sie nicht lieber allein unter sich bleiben wollen, an unserem gemeinsamen Mittagsmahl teilnehmen.«

Mit einer anmutigen Verbeugung entfernte sich Fiore, ohne eine Entscheidung über die letztere Frage abzuwarten, ohne Hast, aber mit einer zweifellosen Endgültigkeit, und eilte die Treppen zur Wohnung Donna Loredanas hinauf. Daß sie oben den Marchese bei seiner Schwester antraf, war wirklich reiner Zufall und nicht Verabredung oder gar Gelegenheitsmacherei, wie Frau v. Krähenhausen annahm, die diesem Verdacht scharfen Ausdruck gab, kaum daß die Tür sich hinter ihres Gatten Mündel geschlossen hatte.

»Na, laß gut sein, Alte – kumm«, meinte Herr von Krähenhausen. »Wir haben dafür, daß die Leute droben Fiore einfangen wollen, doch nicht den geringsten Anhalt. Es scheinen mir im Gegenteil höchst anständige und vornehme Menschen zu sein – «

»Scheinen! Scheinen!« rief Frau von Krähenhausen giftig. »Dir ›scheint' immer, was gelb ist, Gold zu sein, bis ich dir beweise, daß es bloß Messing ist. Was dir ›scheint‹, dafür gebe ich keinen roten Pfennig! Der Preis für diese Wohnung ist freilich so ›anständig‹, daß mir die Augen vom bloßen Hören noch tränen, aber was wissen wir sonst von dieser welschen Lumpenbagage? Nichts – nichts, sage ich dir!«

»Hm – kumm – die Gräfin Candiani – « »Ist auch ein Vogel vom gleichen Neste. Ich huste auf die Gräfin Candiani!« ereiferte sich Frau von Krähenhausen. Aber freilich, bei Fiore ist's das welsche Blut der Mutter, das im welschen Lande anfängt sich zu regen und nach dieser Seite zu drängen, und wenn wir nicht ordentlich aufpassen – «

»Komtesse Meldeck ist wirklich ein sehr schönes Mädchen«, fiel der Professor hastig ein. »Und sie hat auch Charakter. Sie weiß, was sie will.«

»Na, wenn sie dir gefällt, dann ist's ja gut«, erwiderte Frau von Krähenhausen mit einem Ton, der eine starke Dosis persönlichen Widerspruchs enthielt. »Ob Fiore wirklich weiß, was sie will, das möchte ich doch sehr bezweifeln nach dem Schwabenstreich mit diesem Palaste. Ich werde sie schon noch schärfer anfassen müssen, wenn – «

»Alte, Alte, tu's lieber nicht!« fiel Herr von Krähenhausen besorgt ein. »Sie ist so – so selbständig von ihrem Vater erzogen worden – und wenn sie nicht will, können wir sie nicht zwingen, bei uns zu bleiben. Wäre es jetzt nicht ganz praktisch, wenn Wiwigenz sein Frühstück bekäme?«

Frau von Krähenhausen bejahte ausnahmsweise einmal eine Frage ihres Gatten, was er nicht ohne Berechtigung auch für eine Zustimmung zu seiner vorangegangenen Warnung anzusehen geneigt war.

*

Windmüller war mit Agostino ins untere Geschoß gestiegen, um dort seine Untersuchungen fortzusetzen. Er fand die Mauer, deren außergewöhnliche Dicke zwischen den Zimmern des ersten und zweiten Stockwerkes ihm zu denken gegeben, zum mindesten noch einmal so stark vor, ohne jedoch eine Lösung für dieses Rätsel zu finden. Es war ja freilich möglich, daß architektonische Rücksichten gerade diese eine Mauer in diesem Umfang auszuführen geboten hatten, aber Windmüller wollte diese Erklärung nicht recht einleuchten. Der Raum zur rechten Seite der Halle – wenn man diese vom Wasserportal aus betrat – dieser Raum, der genau unter dem Eckzimmer, der Stanza del' Brustoloni, lag, entsprach in seiner Länge an der Seite des Sackkanals nicht ganz dem oberen Raum, die Mauer, die oben von der Tür in das Rosazimmer unterbrochen wurde, schob sich hier unten schon um etwa siebzig Zentimeter weiter vor und zeigte keinerlei Durchgang oder auch die Spur, daß jemals ein solcher darin bestanden. Es war dies ganz zweifellos festzustellen durch den ebenmäßig aufgetragenen Kalkverputz, den die Zeit schon stark abgebröckelt hatte. Im übrigen wurde dieser Raum als Rumpelkammer für alle möglichen Hausgeräte gebraucht.

Auf der gegenüberliegenden Seite dieser Windmüller so stark beschäftigenden, rätselhaft dicken Mauer befand sich die Wohnung des Portiers. Die Wand war hier ebenmäßig verputzt, blau getüncht und zeigte nicht einmal die Möglichkeit eines etwaigen Ausganges. Und doch – nach einer ungefähren Messung betrug die Dicke dieser merkwürdigen Mauer hier unten mehr als zwei Meter, eine Tatsache, die bisher anscheinend niemand aufgefallen war.

»So war's immer und wird wohl von Beginn an so gewesen sein«, brummte Agostino kopfschüttelnd. »Der das Haus gebaut hat, wird wohl gewußt haben, warum er diese Mauer so dick gemacht hat. Ob sie massiv oder innen hohl ist – wer soll das wissen nach so langer Zeit, und der's sagen könnte, ist längst tot. Was geht's uns schließlich an?«

Windmüller war zwar nicht dieser Ansicht, denn die Meinung, daß es ihn zum Beispiel etwas ›angehen‹ könnte, setzte sich immer mehr in seinem Kopfe fest, aber er mußte einsehen, daß dieser Mauer von den vier Seiten, die in Betracht zu ziehen waren, nicht beizukommen war. Wo er sie auch prüfte, klang sie ganz ausnehmend massiv und solid und dennoch – welcher Architekt legt solch einen Mauerblock in die Mitte eines Hauses, ohne einen ganz besonderen Zweck damit zu verbinden? Als Stütze des ganzen südöstlichen Teiles des Palastes, der doch wie das ganze übrige Gelände auf dem Rost von Lärchen- und Eichenpfählen erbaut war, auf dem ein jedes Haus in Venedig steht? Nur ein Grundriß des Palastes hätte darüber Auskunft geben können. Daß ein solcher existiert hatte, war ebenso sicher wie die Annahme, daß er im Laufe der Zeiten verlorengegangen. Und ebenso sicher bemächtigte sich Windmüllers die Überzeugung, daß zwischen diesen vier Mauern sich das Rätsel der Donna Xenia barg, das Rätsel, zu dem sie die Lösung besessen hatte, ja, sie noch besaß, denn daß sie den Palast nicht verlassen, das stand nach dem Erlebnis Fiore Meldecks in der vergangenen Nacht fester denn je.

Vorausgesetzt natürlich, daß die Person, die Fiore Meldeck in der Tür ihres Schlafzimmers gesehen, die Principessa war!

Und auch darüber sollte Windmüller bald eine größere Gewißheit erhalten, denn als er nach langer, fruchtloser Prüfung der rätselhaften Mauer wieder in das zweite Stockwerk hinaufstieg, kam vom dritten Fiore Meldeck von ihrem Besuch bei Donna Loredana herab.

»Denken Sie nur, Herr Doktor«, rief sie ihm schon von weitem, aber mit gedämpfter Stimme entgegen, »denken Sie, ich habe eben bei Donna Loredana die Photographie meiner nächtlichen Besucherin gesehen! Es ist ihre Schwägerin, die Witwe ihres ältesten Bruders!«

»Tatsächlich? Sie haben sie auf dem Bilde wiedererkannt?«

»Auf den ersten Blick, trotzdem sie auf der Photographie anders angezogen ist. Das schmale Gesicht mit den übergroßen Augen ist nicht zu verkennen und gab mir einen solchen Ruck, daß ich mich fast verraten hätte. Aber natürlich habe ich nichts gesagt, trotzdem Donna Loredana mich ganz erstaunt fragte, ob ich ihre Schwägerin kenne, was ich ja mit gutem Gewissen verneinen konnte. Ich sagte nur, das Bild sieht jemand ähnlich, den ich unlängst gesehen.«

»So ist's recht, Komteßchen. Es ist besser, wenn die Familie vorläufig nichts von Ihrem nächtlichen Besuche erfährt.«

»Ich hätte mich auch gar nicht überwinden können, vor ihnen davon zu sprechen, und weiß überhaupt nicht, wie ich dazu kam, es vor Ihnen zu tun. Es war etwas so – wie soll ich sagen? – so Unwahrscheinliches in der Art, wie diese Dame ungehört, lautlos bei mir erschien und ebenso lautlos und spurlos wieder verschwand. Ich denke mir, sie muß nicht gewußt haben, daß das Rosazimmer bewohnt ist. Oder – «

»Oder?«

»Ach, ich weiß nicht. Ich muß jetzt meinen Hut holen. Donna Loredana will mit mir ausfahren.«

»So, so! Viel Vergnügen, Komteßchen!« –

Kaum daß Windmüller in seinem Zimmer war, kam auch Don Gian von seiner Schwester herab. Er zögerte einen Augenblick vor der Tür seines Gastes, besann sich dann aber eines anderen und ging zu seiner Großmutter, die ihn wie immer mit offenen Armen empfing.

»Etwas Neues über Xenia,« fragte sie mit einem forschenden Blick in sein Gesicht, das einen von den vergangenen Tagen sehr verschiedenen, fast frohen Ausdruck zeigte.

»Xenia?« wiederholte er und setzte mit verdüsterter Miene hinzu: »Nein, nichts Neues. Ich wollte, Xenia wäre in – in Jericho meinetwegen! Wir werden schon noch zeitig genug von ihr und ihren neuesten Taten hören – trotz der pessimistischen Auffassung von Doktor Windmüller über ihren Verbleib. – Sieh nicht so erstaunt aus, Nonna! Es ist mir nicht zu verdenken, wenn der Name Xenia mich nicht gerade wie ein Zephyr umkost. – Sag mal, was ist's eigentlich mit der Mutter der Komtesse Meldeck? Warum warst du so bewegt, als du hörtest, wer diese Mutter war?«

Die alte Dame kämpfte sichtlich mit sich selbst. »Giannino – das ist ein schmerzliches Kapitel in der Geschichte unserer Familie«, sagte sie endlich. »Ich – ich möchte lieber nicht darüber sprechen – «

»In der Geschichte unserer Familie?« fiel Don Gian erstaunt ein. »Unserer? Aber liebe Nonna – «

»Oh, nun habe ich dich erst neugierig gemacht!«

»Ja, das hast du – ehrlich und rechtschaffen!«

»Nun, so sei es. Dein Vater war mit der Mutter von Fiore Meldeck verlobt. Ihr Großvater, der Duca di Rifreddi, und dein Vater waren entfernt verwandt, und die Familien hatten die Verbindung besprochen und verabredet, als beide Verlobte noch Kinder waren – ebbene, wie es eben so Sitte ist. Fiorenzia Crespolo war ein sehr schönes Mädchen – schöner, viel schöner noch, als ihre Tochter ist. Ich habe sie sehr lieb gehabt und mich auf sie gefreut, wie auf eine leibliche Tochter, Gian, und – acht Tage vor der Hochzeit erklärte dein Vater ihr, er könne sie nicht heiraten, denn er liebe eine andere, die dann ja in der Folge auch deine Mutter wurde. Ich brauche dir nicht erst zu sagen, was diese Handlung deines Vaters im Gefolge hatte – denk nur allein an das Aufsehen, das dieser Bruch so kurz vor der Hochzeit erregte! Es war sehr, sehr hart für uns alle! Und dann der notwendige Bruch mit dem Hause Crespolo, der Affront, der dem armen Mädchen zugefügt wurde, denn wer hätte sich entschlossen, die in letzter Stunde verschmähte Braut noch heimzuführen? Ein deutscher Diplomat, Graf Meldeck, hatte mehrere Jahre später diesen Mut, sich über den Flecken auf dem Leben des jungen Mädchens hinwegzusetzen – «

»Nonna!« unterbrach Don Gian die alte Dame. »Wie kannst du von einem ›Flecken‹ auf ihrem Namen reden – ich meine, der fiele doch auf den, der ihr sein Wort gebrochen hat!«

»Ah, Giannino, so urteilt die Welt nicht! Eine verschmähte Braut ist gebrandmarkt nach unseren Begriffen – «

»Die sich gottlob stark geändert haben, Nonna. Ich tadle meinen Vater nicht, der den Mut hatte, für sein Glück ein Band zu zerreißen, in letzter Stunde zu zerreißen, das nicht er geknüpft hatte, sondern das ihm durch die Überlieferung aufgedrängt worden war. Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Ich kann aber auch nicht finden, daß der verlassenen Braut damit ein ›Flecken‹ angeheftet worden ist. Vielleicht ist ihr die größte Wohltat ihres Lebens erwiesen worden – da sie wohl meinen Vater ebensowenig geliebt haben wird, wie er sie.«

»Gian!« machte die Marchesa mit einer abwehrenden Bewegung, die aber von einem Blick begleitet war, den man bei einer jungen Dame schelmisch genannt hätte. »Gian, ich bitte dich! Ein junges Mädchen unseres Standes hat fraglos den Mann zu lieben, den ihre Eltern für sie gewählt haben!«

Don Gian lachte. »Nonna, Nonna«, sagte er neckend, »mir ist, als ob ich gehört, von dir selbst gehört hätte, daß du zu diesen Gliederpuppen auch nicht zu zählen warst, sondern mit großer Energie für deine Liebe, meinen Großvater, eingetreten bist! Va bene, ich finde, daß Graf Meldeck ein sehr vernünftiger Mann war, als er sich den Teufel um die sogenannten ›Flecken‹ auf dem Dasein der Donna Fiorenzia Crespolo scherte, und ich finde ferner, daß wir für diesen selben ›Flecken‹ ihrer Tochter eine Genugtuung schulden. Findest du nicht auch?«

Die alte Dame schlug die Hände zusammen. »Gian!« rief sie, ihren Enkelsohn zärtlich ansehend. »Gian! Du – du – «

»Ja, Nonna, ich wäre eigentlich dazu berufen, diese Genugtuung zu leisten. Und noch dazu mit vollster Begeisterung, sicher deiner Zustimmung.«

Die Marchesa antwortete nicht gleich. »Fiore Meldeck ist nicht nur ein sehr reizendes, sondern auch, was mehr ist, ein sehr, sehr liebes Wesen«, sagte sie dann zögernd. »Mehr noch, ich glaube, daß sie dich und du sie glücklich machen würdest. Aber sie ist ein armes Mädchen und wir – wir könnten zur Abwechslung einmal eine reiche Marchesa Terraerma ganz gut brauchen.«

Don Gian lachte glücklich und leichtherzig. »Wir könnten's, das ist sicher, aber ich denke und hoffe, es wird auch so gehen. Ich wenigstens fühle, daß – daß es gehen wird. Es kommt eben alles auf die Person an, Nonna. Vorgestern noch dachte ich nur eine reiche Frau heiraten zu können, und heute ist der Mammon für mich eine Sache, die mir so fern liegt wie der Wunsch, auf dem Himalaja sitzen zu müssen. Ich weiß überhaupt gar nicht mehr, wie ich dazu kam, das Geld mit dem Gedanken an meine zukünftige Frau zu verquicken. Ich weiß nur eines noch: daß ich der unglücklichste Mensch wäre, wenn Fiore Meldeck mich nicht mag, mich nicht lieben könnte!«

»Nun, dann wird sie wohl die Rechte für dich sein«, rief die alte Dame mit strahlenden Augen, die den leisen Seufzer, mit dem sie ihre Worte eingeleitet, glorreich überstimmten. »Glückauf zur Werbung, mein Junge! Ich für mein Teil bin ja eine viel zu unverbesserliche Idealistin, als daß ich Geld und Gut über das Glück des Herzens stellen könnte, wennschon die Güter dieses Lebens nicht zu verachten sind.«

»Das wollen und sollen wir auch nicht, Nonna, aber ich habe einsehen gelernt, daß sie Götzen sind, die auf tönernen Füßen stehen. Und ich meine, daß ich damit eine große Lebensweisheit errungen habe!«

*

Vor seiner Tür traf Don Gian Windmüller an, der gerade vergeblich bei ihm angeklopft hatte, und als nun die beiden Herren in das Zimmer eintreten wollten, kam einer der Diener von unten herauf und übergab dem Marchese eine Visitenkarte mit der Meldung, der Herr frage an, ob er trotz der frühen Stunde seine Aufwartung machen dürfe.

Don Gian warf einen prüfenden Blick auf die Karte, zögerte einen Augenblick und reichte sie dann Windmüller.

»Mahmud Reschid Bey, Attache a l'Ambassade de Turquie«, las der und gab die Karte zurück.

»Ich lasse den Herrn bitten«, sagte Don Gian nach abermaligem, kurzem Zögern, und nachdem der Diener sich entfernt, sah er Windmüller fragend an. »Mir scheint«, sagte er dann, brach aber kurz ab und zuckte mit den Achseln.

»Hm – mir scheint auch«, murmelte Windmüller trocken.

»Liegt Ihnen daran, diesen Besuch mit mir zu empfangen?« fragte der Marchese.

»Sehr viel liegt mir daran«, gab Windmüller unumwunden zu. »So viel, daß ich sogar den Posten eines ›Lauschers an der Wand‹ nicht verschmähen würde. Aber eine unmittelbare Gegenwart ist besser.«

»Darf ich fragen, inwiefern?«

»Erlassen Sie mir die Antwort bis nachher – ja? Ich möchte nämlich nicht gern eine Voreingenommenheit schaffen, und da Sie die Güte hatten, mich zu dem Besuche einzuladen, so bin ich ja da, um etwaigen Überraschungen zu begegnen.«

Don Gian fragte nicht weiter, und nach wenigen Minuten des Wartens wurde der Besuch, ein eleganter, noch junger Mann mit sorgfältig gepflegtem, dunklem Bart und einem Monokel im rechten Auge, tadellos besuchsmäßig gekleidet, in das Wohnzimmer des Marchese eingeführt.

»Das ist eine Überraschung, aber eine angenehme Überraschung, Sie hier in meinen vier Pfählen begrüßen zu dürfen«, trat Don Gian dem Türken verbindlich entgegen. »Gestatten Sie mir, Sie mit meinem derzeitigen Gast, Herrn Doktor Windmüller, bekannt zu machen – «

»Oh, wir sind alte Bekannte«, fiel Windmüller ein. »Wir sind uns gesellschaftlich und – geschäftlich schon oft begegnet.«

»In der Tat – ganz außerordentlich erfreut, Sie hier zu treffen, lieber Herr Doktor«, murmelte Mahmud Bey, dem Detektiv die Hand reichend, der mit seinem liebenswürdigsten Lächeln zur Notiz nahm, was Don Gian entgangen – nämlich, daß seine, Windmüllers Gegenwart dem fremdländischen Diplomaten eine Überraschung war, mit der er sicherlich nicht gerechnet hatte.

»Sie sind wohl auf der Durchreise in Venedig – oder auf Urlaub?« fragte Don Gian, nachdem die Herren Platz genommen. »Woher wußten Sie, daß ich gerade auch daheim bin?«

»Ah, ich suchte Sie in Rom auf und hörte dort, daß Sie Urlaub genommen haben«, erwiderte der Diplomat leicht. »Und weil ich gern eine Auskunft von Ihnen erbitten wollte, so benützte ich das schöne Wetter – et me voila! Daß ich den Herrn Doktor hier antreffen würde, ist in der Tat eine angenehme Überraschung für mich, denn ich hatte auch an ihn einen Auftrag oder eine Frage meines Chefs zu bestellen und suchte ihn vergeblich auf, ohne erfahren zu können, wohin er seine Schritte gelenkt.«

»Sehr begreiflich«, meinte Windmüller wohlwollend. »Wer von meinem Stabe verrät, wo ich mich zur Zeit befinde, darf sich getrost zur selben Stunde nach einer anderen Beschäftigung umsehen.«

»Sehr begreiflich – sehr begreiflich«, wiederholte der türkische Diplomat.

»Und womit kann ich Ihnen dienen?« fiel Don Gian ein. »Sie machen mich neugierig, denn die gewünschte Auskunft muß doch eine gewisse Dringlichkeit haben, wenn Sie den Ausflug nach Venedig für geboten hielten.«

»Ah – ich schlage damit zwei Fliegen mit einer Klappe«, versicherte der Besucher mit gutgespielter Gemütlichkeit. »Erstens war es längst mein Wunsch, mich einmal ein paar Tage in Venedig von dem Wagengerassel und Autogepuste der Großstadt auszuruhen, und dazu bot sich mir diese Gelegenheit wie gerufen. Wunderbarer alter Palast, der Ihrige, Herr Marchese! Und wenn Sie gestatten, einmal wiederzukommen, dann will ich Ihnen auch meine Frage vortragen.«

»Das Wiederkommen versteht sich von selbst«, erwiderte Don Gian, einen Blick Windmüllers auffangend. »Ich werde mir dann erlauben, Sie meiner Großmutter und meiner Schwester vorzustellen. Darum mag Ihre Frage am besten gleich zur Sprache kommen – Herrn Doktor Windmüllers Gegenwart darf Sie in keiner Weise davon abhalten.«

Der Türke ließ sein Monokel aus dem Auge fallen, worauf er es sorgfältig mit einem feinen Batisttaschentuch abputzte und es sodann wieder mit der unumgänglichen Grimasse einklemmte. Die durch diese Manipulation bedingte Pause gab ihm Zeit, sich die Sache zurechtzulegen. »Also«, sagte er dann gemütlich, »wenn Doktor Windmüller gestattet – ein Geheimnis ist es schließlich nicht. Ihre Frau Schwägerin, lieber Terraferma, hat nämlich eine Erbschaft in Konstantinopel gemacht, und ich hatte den angenehmen Auftrag, sie davon zu unterrichten. Eine recht bedeutende Erbschaft von einem Verwandten ihrer Mutter – «

»Meine Schwägerin wird das allerdings als eine sehr angenehme Nachricht empfinden. Ich freue mich für sie aufrichtig darüber. Sie hat die Nachricht – bei aller gebührender Trauer über den damit leider verknüpften Todesfall gewiß mit einer gewissen Genugtuung aufgenommen?«

»Prinzeß Xenia weiß leider noch nichts davon«, rief der Besucher lebhaft. »Sie ist, wie ich hörte, vor ein paar Tagen verreist – man sagte mir, nach Venedig. Jedenfalls ist sie noch nicht nach Rom zurückgekehrt, und darum bin ich zu Ihnen gegangen, lieber Terraferma, um von Ihnen zu hören, wo sie sich eigentlich befindet, ob sie tatsächlich hier war und vielleicht noch ist, denn merkwürdigerweise konnte ich darüber nichts Sicheres erfahren.«

»Meine Schwägerin war tatsächlich vor ein paar Tagen zu einem kurzen Besuch bei meiner Großmutter unangemeldet hier und ist ohne vorherige Benachrichtigung wieder am frühen Morgen abgereist«, erwiderte Don Gian nach einer kleinen Pause. »Ein an meine Großmutter gerichtetes Billett, das sie zurückgelassen, teilte mit, daß sie nach Rom zurückkehren müsse, um bei einem Basar mitzuwirken. Daß sie in Rom aber nicht eingetroffen ist, wissen wir – wenigstens bei dem Basar war sie nicht und seitdem sind wir ohne Nachricht über sie.«

»Oh – in der Tat?« fragte Mahmud Bey gedehnt, und in seinem Ton lag so viel höfliche Ungläubigkeit, daß Don Gian das Blut in die Wangen stieg. Ein Blick von Windmüller aber hielt ein schnelles Wort von ihm zurück.

Letzterer sagte, indem er scheinbar das Teppichmuster zu seinen Füßen betrachtete: »In der Tat! Die Familie Terraferma ist begreiflicherweise in großer Sorge über das Nichteintreffen der Donna Xenia in Rom und hat mich beauftragt, die Verlorengegangene zu suchen. Sollten Sie am Ende mit dem gleichen Auftrag von Ihrem Chef zu mir gekommen sein?«

Der Besucher fuhr so heftig zurück, daß ihm das Monokel unfreiwillig aus dem Auge flog. »Herr Doktor, was immer mich im Auftrag meines Chefs zu Ihnen geführt, ist und muß eine Angelegenheit unter vier Augen bleiben«, sagte er scharf.

Windmüller lehnte sich lachend zurück. »Die Indiskretion ist nicht auf meiner Seite«, sagte er heiter. »Ich habe, soviel ich weiß, von Ihnen noch keinen Auftrag erhalten. Wenn Sie also den ausgestreckten Fühler, beziehungsweise eine harmlose Frage in dieser Weise monieren, so muß ja die harmloseste Seele auf den Gedanken kommen, daß ich den Finger auf die richtige Stelle gelegt habe.«

Es gibt nur sehr wenige Menschen, die es direkt zugeben, wenn sie sich ›verhauen‹ haben. Windmüller wunderte sich auch gar nicht, daß der Türke nur überlegen mit den Achseln zuckte, ein paar Stäubchen von seinem Rocke schnippte und dann erklärte, er hätte sich nur im allgemeinen gegen ein Gespräch über Amtsgeheimnisse verwahren wollen.

»Ich habe keine berührt«, erwiderte Windmüller mit unvermindert guter Laune. »Ideenassoziation – nichts weiter! Es lag doch so nahe, den gleichen Auftrag bei Ihnen zu vermuten, denn die Familie Terraferma und Ihre Regierung haben – wenn auch in verschiedenem Sinne – das gleiche Interesse an der Wiederfindung der Donna Xenia.«

»Wieso das gleiche Interesse?«

»Nun, auf dieser Seite ist es die liebe Verwandte, die vermißt wird, auf Ihrer die werte politische Agentin«, sagte Windmüller sanft.

Jetzt war der Diplomat besser zur Attacke gerüstet. »Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte er hochmütig.

»Das nimmt mich wunder in Anbetracht dessen, daß Sie das Ressort der geheimen politischen Agenten unter sich haben«, gab Windmüller seelenruhig zurück. »Sie sehen, dies Fechten mit Worten hat keinen Zweck – ich bin vollständig im Bilde. Ich weiß auch genau, daß Sie wegen des Ausbleibens der Marchesa Xenia in großer Unruhe sind, und über ihren Verbleib gar nichts wissen, sonst wäre ich längst bei Ihnen erschienen, um Rechenschaft über den Verbleib einer so bekannten Persönlichkeit der römischen Gesellschaft zu fordern, deren Familie begreiflicherweise in schwerer Sorge um ihre Verwandte schwebt.«

Der türkische Diplomat zuckte wieder mit den Achseln, kreuzte die Arme über der Brust, nahm eine überlegene Miene an und sagte langsam und schleppend: »Sie sind der Mann, der den Ruf hat, immer recht zu haben, verehrter Herr Doktor. Nehmen wir also an, Sie haben darin recht, daß es unnütz ist, mit Worten zu fechten, daß die Prinzessin Xenia in der Tat unserer Regierung nahe steht. In diesem Falle aber bin ich es, der Rechenschaft über ihren Verbleib fordert. Sie ist eingestandenerweise in Venedig, in diesem Hause eingetroffen und seitdem verschwunden. Das ist doch, zum mindesten gesagt, sehr verdächtig, wenn man in Betracht zieht, daß – sagen wir, der Herr Marchese hier ein brennendes Interesse daran hatte, sie nicht ohne weiteres nach Rom zurückkehren zu lassen!«

»Was soll das heißen?« fuhr Don Gian blaß vor Zorn auf. »Für diese niederträchtige Verdächtigung werden Sie mir – «

»Ruhe, lieber Marchese, Ruhe!« fiel Windmüller ein. »Von einer Verdächtigung kann schon darum keine Rede sein, weil ich jederzeit bereit bin, zu erklären, daß ich von Ihnen wie von Ihrem Chef gerufen worden bin, um die Verschwundene zu suchen. Der Herr hat sich nur nicht richtig ausgedrückt – das ist alles. Das kann auch dem geschicktesten Diplomaten passieren, denn selbst ein solcher ist nicht allwissend, und wir dürfen auch nicht jedes Wort auf die Goldwage legen, das jemand in begreiflicher Erregung über den Verbleib – nicht der Person, sondern ihres Auftrags – heraussprudelt. Ich habe da zufällig – oder mit Vorbedacht, wie Sie wollen – den Brief der Donna Xenia bei mir, mit dem sie ihren, hm – französischen Abschied aus dem Palazzo Terraferma zu erklären sucht. Ich habe ferner die eingelaufenen Telegramme chronologisch nach Tag und Stunden zusammengelegt in meinem Zimmer, die den Beweis liefern, wo und wie wir die Verschwundene schon gesucht. Ich hole sie gern, während Sie die Güte haben, diesen Brief zu lesen, den ich mir nach der Lektüre aber zurück erbitte.«

Mit diesen Worten reichte Windmüller dem Diplomaten den mauvefarbenen, nach Gardenien duftenden Brief, den die Marchesa an jenem verhängnisvollen Morgen in dem verlassenen Zimmer ihrer Schwiegerenkelin gefunden, stand dann auf und entfernte sich.

Der Türke las den Brief aufmerksam durch, während der Marchese seinerseits mit gekreuzten Armen dabeisaß, den Mund fest zusammengepreßt, scheinbar entschlossen, dem anderen das erste, einleitende Wort zu lassen.

Doch der Doktor kehrte mit den Depeschen in der Hand zurück, ehe der Türke den Brief zum zweiten Male durchgelesen hatte, und legte den ganz stattlichen Pack auf den Tisch.

»Es versteht sich zwar von selbst«, sagte er liebenswürdig, »aber ich möchte es trotzdem nicht unerwähnt lassen, daß ich Ihnen diesen Brief und diese Depeschen nicht aus dem Grunde zur Einsicht vorlege, um einen etwaigen unwürdigen Verdacht Ihrerseits zu entkräftigen, sondern einzig und allein nur deshalb, um Ihrer Behörde den Beweis zu geben, daß es unnütz ist, mich für die Auffindung der Donna Xenia zu gewinnen, indem ich in dieser Richtung schon für das Haus Terraferma tätig bin. Das Verschwinden der Prinzessin ist jetzt kein Geheimnis mehr, kann keines bleiben, darum ist diese Einsicht in meine Tätigkeit auch keine Indiskretion. Da Sie aber indes am besten wissen werden, wer ein Interesse daran haben konnte, sie – aufzuhalten, ihr den Weg nach Rom zurück abzuschneiden, so ist es Ihnen natürlich unbenommen, unabhängig von meinen Forschungen, die Ihrigen einer anderen Kraft anzuvertrauen. Hoffen wir, daß Donna Xenia bald in den Genuß der Erbschaft gelangen möchte, wegen der Sie sich so liebenswürdig nach Venedig bemüht haben«, schloß er salbungsvoll.

Der türkische Diplomat, welcher der Form wegen die meist chiffrierten Depeschen, zu denen er den Schlüssel nicht besaß, durchblättert hatte, erhob sich steif. »Hoffen wir's«, wiederholte er für die Allgemeinheit, und sich dann speziell an Don Gian wendend, sagte er mit Anstrengung: »Ich hoffe aber auch, lieber Terraferma, daß Sie in der Tat, wie Herr Doktor Windmüller schon vorschlug, meinen Worten nicht die Deutung geben werden, in der sie, wie ich gern einräume, im ersten Augenblick erscheinen konnten. Es kann mir selbstredend nichts ferner liegen als ein solcher Gedanke, und wenn ich mich ungeschickt ausgedrückt, so bedaure ich das am allerersten – «

»O bitte, reden wir nicht weiter davon – die Sache ist erledigt«, fiel Don Gian ohne Wärme, aber doch völlig korrekt ein, und mehr schien der Türke auch nicht erwartet zu haben, denn er machte eiligst nur noch ein paar Redensarten und empfahl sich dann – gleichfalls ohne Wärme, aber auch seinerseits durchaus korrekt.

»So, nun wissen Sie, warum ich diesem Besuche beiwohnen wollte«, sagte Windmüller, als er mit Don Gian allein war. »Es war meine volle Absicht, ihn Farbe bekennen und dann seine Verdächtigung zurückziehen – vor einem Zeugen zurückziehen zu lassen – «

»Sie nahmen also an, daß er mit einer Verdächtigung gekommen ist?« fiel Don Gian ein.

»Ich war dessen sicher«, erwiderte Windmüller, »denn Mahmud Bey ist immer die Vertrauensperson, die von dort mit solch delikaten Aufträgen abgesandt wird, und ich habe mir längst gesagt, daß ›man‹ dort den Verdacht hegen würde, als ob Sie bei dem Raube des Dokumentes die Täterin in der begreiflichen Aufregung – beseitigt haben könnten. Der Mann kam zu Ihnen, um zu drohen, und wenn ich nicht dabei war, so hätte der Besuch höchstwahrscheinlich den Ausgang eines Zweikampfes gehabt falls er verfehlte, Sie einzuschüchtern oder zu dem beabsichtigten Geständnis zu zwingen.«

»Herr des Himmels!« rief Don Gian. »Darauf wäre ich im Leben nicht verfallen, daß man mich für das Verschwinden meiner Schwägerin verantwortlich machen könnte!«

Windmüller zuckte mit den Achseln. »Hm – ich weiß nicht. Für jemand, der nicht ahnen konnte, was wir in Erfahrung gebracht, liegt der Verdacht gar nicht so fern. Die Leute wissen nicht, welcher Mittel sich ihre Agentin bediente, um in den Besitz des Dokumentes zu gelangen; sie nahmen eben an, daß die Sache sich mit Ihrem Widerstand abgespielt – ich habe jedenfalls damit gerechnet, daß ›man‹ diesen Fühler ausstrecken würde, um in Erfahrung zu bringen, was aus dem Dokument geworden ist. Die Agentin beziehungsweise ihr Schicksal ist dabei gänzlich Nebensache. Sie wird von ihren Auftraggebern einfach fallen gelassen – nun, Sie wissen ja, daß die geheimen Agenten nur unter dieser Voraussetzung beschäftigt werden, daß das Risiko lediglich ihre Privatangelegenheit ist. Die Erbschaft – falls eine solche überhaupt existiert – war ein willkommener oder erfundener Vorwand, um zur Sache selbst zu gelangen. Also – «

»Also bin ich durch Ihre Umsicht und Vorsorge abermals einem wenig schmeichelhaften Verdachte entgangen«, fiel Don Gian ein, indem er Windmüller die Hand reichte, die dieser herzlich schüttelte.

»Ich hatte vor, Sie auf diese Möglichkeit vorzubereiten, lieber Marchese. Nun kam sie aber in unerwarteter Weise zum Austrag, und ich hatte keine Zeit, sie Ihnen auseinanderzusetzen. Unter uns: ich habe Mahmud Bey zwar deutlich unter die Nase gerieben, daß ich keinerlei Veranlassung hätte, ihm die beweisführenden Papiere zu zeigen, aber es war natürlich meine volle Absicht, es zu tun, denn er reist nun, wahrscheinlich schon mit dem nächsten Zuge, so weit überzeugt zurück, als ein Diplomat sich überhaupt überzeugen läßt. Es ist ein wahres Glück, daß ich nicht ausgegangen war! – Nun dieser Zwischenfall erledigt ist, können wir zur Tagesordnung übergehen: Donna Xenia ist heute nacht abermals hier im Hause gesehen worden. Leider nicht von mir, sondern von der Komtesse Meldeck. Natürlich sieht sie nach so langer Gefangenschaft schlecht aus. Es müssen doch sehr, sehr dringende Gründe sein, die sie zu so langer Selbstberaubung der Freiheit zwingen, aber wir müssen das Geschäft des Suchens jetzt doch energisch und systematisch betreiben, denn was immer auch ihre Schuld ist – die Menschlichkeit fordert es ja schon, die ersichtlich schwer Geängstigte aus dieser schrecklichen Lage zu befreien.«

»Wüßte man nur, wo sie sich wieder zeigen könnte, so sollte man eine Notiz so niederlegen, daß sie sie finden muß, eine Nachricht, daß sie von uns aus nichts zu fürchten hat«, sagte Don Gian, von großmütigem und ehrlichem Mitgefühl bewegt.

»Da liegt der Hase im Pfeffer«, meinte Windmüller nachdenklich. »Wenn wir wüßten, wo sie sich wieder zeigen könnte, dann wäre die Sache leicht genug, und wir könnten Komtesse Meldeck einweihen beziehungsweise beauftragen, oder ich könnte selbst mit ihr die Wache im Rosazimmer übernehmen. Es ist jedoch nicht zu erwarten, daß sie diesen Raum noch einmal aufsuchen wird, nun sie weiß, daß er bewohnt ist. Die einzige Chance wäre nur die, daß Donna Xenia nicht wissen kann, ob die Benützung des Zimmers eine dauernde ist, und daß sie sich vielleicht doch noch einmal hereinwagt, um möglicherweise zu ihrem zurückgelassenen Koffer zu gelangen. Inzwischen – halt! Was ist das?«

Windmüller hatte, während er sprach, den Blick nicht von der dicken Wand zwischen dem Wohn- und Schlafzimmer, dessen Tür offen stand, abgewendet und trat nun schnell auf das die Türfüllung bekleidende Paneel an der Außenwand zu.

»Es ist merkwürdig!« sagte er, es betrachtend. »Mir war's von dem Standpunkt, den ich eben noch am Tische eingenommen, als hätte ich hier an dem Ritz etwas blitzen sehen. Da war wohl wieder einmal der Wunsch der Vater des Gedankens – «

Halb mechanisch zog er sein Taschenmesser hervor, klappte eine Klinge auf und fuhr damit in den Ritz, der an dem Pfosten entlang lief, dem Auge kaum bemerkbar. Etwa in halber Höhe blieb die Klinge stecken – sie hatte einen Widerstand gefunden! Windmüller stieß einen leisen Pfiff aus und begann an der Stelle, wo das Messer steckte, an der eingelegten Füllung herumzutasten. Das Muster der Intarsie schloß hier der Länge nach in einer Anzahl rautenförmiger Quadrate ab, welche die Bordüre bildeten. Diese versuchte Windmüller eins nach dem anderen, indem er mit dem Finger daraufdrückte. Die zweite Raute unterhalb der Messerklinge wich dem Druck nach innen, und gleichzeitig löste sich das Paneel als eine niedrige und schmale, innen mit Polsterung versehene Tür lautlos nach außen heraus und enthüllte eine schmale Wendeltreppe, die sich in leiterartigen Stufen im Innenraume der Wand nach unten verlor.

»Aha!« machte Windmüller mit blitzenden Augen, während Don Gian abwehrend die Hände mit einem lauten Ausruf in die Höhe hob. »Aha! Da hätten wir's ja vermöge einer plötzlichen Erleuchtung, die natürlich alle spitzfindigen Kombinationen schlägt. Den Seinen gibt's der Herr im Schlafe – sozusagen allerdings nur, denn ich war nie mehr wach, als in diesem Augenblick. Nun lassen Sie uns sehen, wohin wir hier gelangen. Es ist zwar keine Kunst, es zu sagen, aber Praxis geht über Theorie!«

Damit zog er eine Schachtel Wachszündhölzer hervor, setzte eines davon in Brand und schlüpfte durch die Tür auf die Treppe.

»Eng! Aber die sie benützten, hatten sie ja auch nicht als Paradetreppe beabsichtigt«, rief er zurück und verschwand alsbald in der Schneckenwindung, während Don Gian mit atemloser Spannung oben stehenblieb und die solide Polsterung der Paneeltür betrachtete, die es ebenso natürlich wie sinnreich verhinderte, daß das Holz hohl klang.

Windmüller blieb nicht lange aus; mit etlichen verstaubten Spinnweben an den Rockärmeln erschien er sehr bald wieder oben und schloß die Tür hinter sich, was fast ohne Geräusch geschah.

»So«, sagte er befriedigt, »nun wissen wir, wie Donna Xenia in Ihr Zimmer gelangt ist und warum sie das Rosazimmer mit ihrer plötzlichen Vorliebe beehrt hat. Die Treppe mündet an derselben Stelle in der Türfüllung der ersten Etage und ist mit verschiedenen Pailletten von ihrer eleganten schwarzen Toilette dekoriert, wofür sie den Staub und die Spinnweben eingeheimst hat. Die Paneeltür geht auch unten ohne Geräusch auf, denn die Scharniere sind sorgsam mitsamt der schließenden Feder frisch geölt. Nur wie man unten von außen die Tür öffnet, habe ich noch nicht ergründen können, denn ich hörte die Kammerjungfer in der Garderobe herumhantieren und wollte mich darum nicht aufhalten. Komtesse Meldeck wird mir, wenn sie wieder daheim ist, schon erlauben, meine Neugierde in dieser Sache zu befriedigen. Lehrreich, wie die Entdeckung ist, tritt sie aber vor dem Wert der Frage zurück: auf welche Weise gelangt Donna Xenia bei verschlossenen Türen in das Rosazimmer und seine Umgebung und auf welchem Wege gedachte sie mit Umgehung des Portiers das Haus zu verlassen? Hoffen wir, auch dieses Rätsel bald und gründlich zu lösen. – Hm. Sagte Ihr trefflicher Majordomo nicht, im Palazzo Terraferma ginge die Sage, daß man auf einem geheimen Wege bis in das dritte Stockwerk gelangen könnte? Vielleicht gibt das gegenüberliegende Paneel dieser Türfüllung darüber Auskunft. Lassen Sie doch einmal sehen! Es ist die vierzehnte Raute, von unten gezählt, die dem Druck meines Fingers nachgab – ja! Die vierzehnte weicht auch hier dem Druck, aber schwerer – man hat hier nicht geölt. Da hätten wir's! Auch hier ist eine solch liebliche Wendeltreppe, die sich aber nach oben, nach dem dritten Stocke, emporwindet – es hat sie seit Generationen keiner mehr betreten, nach dem unberührten Staube auf den Stufen zu urteilen. – Lassen wir ihn auch ungestört sich weiter sammeln, denn es hat keinen Wert für uns, oben einzudringen.«

Windmüller schloß auch dieses Paneel, dessen Schnappschloß hier nicht geräuschlos arbeitete, klopfte den Staub von seinem Rocke ab und nickte Don Gian zu, der mit festgeschlossenen Lippen dabei gestanden.

»Ja«, beantwortete er den Blick seines Gastes. »Ich schäme mich nicht, einzugestehen, daß diese Entdeckung mein eben noch erwachtes Mitleid mit meiner Schwägerin doch wieder stark ins Wanken gebracht hat. Sie hat natürlich diesen Schleichweg längst gekannt und sich seiner bei ihrem Auftrag mit ihrer oft bewiesenen Geistesgegenwart erinnert. Die Sache war demnach wirklich ganz einfach – nur schade, daß mir die Gabe der Bewunderung dafür abgeht.«

»Hm«, machte Windmüller verständnisvoll. »Was ich aber schon gern wissen möchte, ist, ob Donna Xenia ihren Auftraggebern von den Geheimnissen dieses Hauses gelegentlich einmal etwas erzählt hat. Es möchte so scheinen, wenn man an die Tatarennachricht an Ihre Behörde denkt, die Sie dazu veranlaßte, Ihre Reise gerade in Venedig zu unterbrechen. – Es kann natürlich aber auch sein, daß ›man‹ als Terrain für die Operation Ihr eigenes Haus, in dem Sie sich natürlich besonders sicher fühlen mußten, überhaupt als besonders zweckmäßig betrachtete – was es ja zweifellos auch durch Donna Xenias Gegenwart war, während es von Ihrer Seite als hervorragend sicher galt. Nun, sei dem, wie ihm will – eine andere Macht hat rettend für Sie und Ihr Vaterland eingegriffen. Wir aber müssen nun Donna Xenia wieder ans Tageslicht bringen und werden es, wie ich hoffe, im Laufe der nächsten Stunden auch tun.«

»Es ist mir einfach unbegreiflich, wie und auf welche Weise meine Schwägerin es zuwege bringen kann, sich hier im Hause so lange zu verbergen!« rief Don Gian ungeduldig. »Es grenzt ja geradezu an das Unmögliche, und bis ich den lebendigen Beweis nicht vor mir habe, möchte ich lieber glauben, daß die Assunta von ihrer Phantasie getäuscht worden ist und Komtesse Meldeck – geträumt hat.«

»Das erstere ist möglich, das letztere wäre aber doch sehr wunderbar, wenn man bedenkt, daß Komtesse Meldeck Ihre Schwägerin nie gesehen und ihr ›Traumbild‹ auf der Photographie droben bei Donna Loredana wiedererkannt hat«, bemerkte Windmüller.

»Auch das kann Täuschung sein. Bei der Nacht, auch wenn sie noch so hell ist, sind eines Menschen Züge in einer gewissen Entfernung nie ganz deutlich zu erkennen«, widersprach Don Gian. Windmüller raffte die Depeschen, die noch auf dem Tische lagen, zusammen und ging in sein Zimmer zurück, wo er seinen Feldzugsplan trotz Don Gians Ungläubigkeit zur Reife brachte.

*


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