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Das wartende Automobil entführte Windmüller allein nach seinem Hause während Don Gian den kurzen Weg nach seiner Wohnung zu Fuß zurücklegte, noch einige Sachen packte, auf den Bahnhof fuhr und dort, nachdem er sein Gepäck aufgegeben und die Fahrkarten für sich und Windmüller besorgt hatte, auf den letzteren, wie verabredet, am Eingang bei dem Zeitungsverkauf wartete.

Die Zeit drängte nicht gerade, aber sie schritt doch merklich vor, und Don Gian fing an besorgt zu werden, ob sein Begleiter auch noch rechtzeitig eintreffen würde. Um das Warten abzukürzen, kaufte er die neuesten Zeitungen, und als er sich damit umwendete, stand er dem russischen Kammerdiener seiner Schwägerin gegenüber, der eben in die Eingangshalle getreten war und beim plötzlichen Anblick des jungen Diplomaten zwar sofort den Hut zog, aber den Ausdruck seiner Überraschung über diese unerwartete Begegnung nicht verbergen konnte.

Der Herr Marchese wollen die Frau Marchesa auch empfangen?« fragte er zwar respektvoll, aber doch so dringlich, daß Don Gian den Mann etwas hochmütig musterte, ehe er, ganz auf der Hut, nach einer kleinen Pause antwortete: »Erwarten denn Sie die Frau Marchesa jetzt?«

Der Kammerdiener räusperte sich. »Durchlaucht haben zwar nicht befohlen, aber ich denke doch, sie werden mit dem Expreßzug jetzt eintreffen, und daher wollte ich nicht ermangeln, auf alle Fälle zur Stelle zu sein.«

»Sehr richtig«, murmelte Don Gian scheinbar uninteressiert, indem er sich mit einem Kopfnicken abwandte und Windmüller langsam folgte, der, während Iwan sprach, hinter ihm in die Halle getreten war und seinem Reisegefährten ein Zeichen gemacht hatte, das dieser nicht mißverstand.

Der vorausgehende Detektiv hatte sich inzwischen schon mit dem Mann an der Bahnsteigsperre verständigt und war, als Don Gian diesem die beiden Fahrkarten vorwies, samt seiner Reisetasche, die er selbst trug, schon weit vorausgeeilt und in ein leeres Abteil erster Klasse gestiegen.

»Tun Sie, als ob Sie nicht zu mir gehörten«, sagte er hastig, als Don Gian sich gleichfalls anschickte, einzusteigen. »Gehen Sie in ein anderes Abteil und kommen Sie erst während der Fahrt hier herein. Iwan dürfte seine Bahnsteigkarte schon haben, aber ich glaube nicht, daß er mich gesehen hat.«

Don Gian tat, als ob er sich eines anderen besonnen hätte, und schlenderte zum nächsten Wagen, aber ein rascher Blick nach dem Eingang hatte ihn davon überzeugt, daß Iwan in der Tat den Bahnsteig schon betreten hatte. Die Absicht war klar, denn da der Eilzug Venedig-Mailand auf einem anderen Gleis einlief, so war es nicht schwer zu erraten, daß er zu wissen wünschte, ob der Schwager seiner Herrin mit diesem Zuge abreisen oder jemand Abreisenden sehen wolle.

Da es nun unvermeidlich schien, dem Manne diese Gewißheit zu verschaffen, so blieb Don Gian nichts übrig, als in den Zug zu steigen, aber er lehnte sich, scheinbar das Publikum betrachtend, aus dem Fenster, um sich zu vergewissern, ob Iwan sonst noch die Reisenden zu beobachten die Absicht hatte. Natürlich wußte er, daß Windmüller nur auf den Gang auf der dem Bahnsteig abgekehrten Seite des Wagens zu treten brauchte, um sich dem Blick des Kammerdieners zu entziehen, aber es war doch immer gut, zu wissen, ob er von dem letzteren vorher gesehen worden war. Es schien ja nichts darauf zu deuten, indes wollte das noch nichts sagen.

»Ich glaube nicht, daß er mich gesehen, wenigstens nicht, daß er mich beachtet hat«, war Windmüllers erstes Wort, als Don Gian, nachdem der Zug den Bahnhof verlassen, herüber in sein Abteil gekommen war. »Ich sah ihn dermaßen in Ihren Anblick versenkt, daß ich, wie ich denke, unbeachtet an ihm vorbeihasten konnte. Was wollte denn der Mensch von Ihnen?«

»Iwan war so überrascht, mich auf dem Bahnhof zu finden, daß er sich so weit vergaß, mich zu fragen, ob ich die Frau Marchesa auch zu empfangen käme. Demnach ist sie nicht nur nicht inzwischen eingetroffen, sondern man weiß im Hauptquartier auch noch nicht, wo sie ist. Noch nicht!«

»Ich möchte danach prophezeien, daß ›man‹ darüber auch noch einige Zeit in Ungewißheit bleiben wird«, meinte Windmüller nachdenklich. »Die Sache fängt nun nachgerade an, ein ernstes Gesicht anzunehmen. Die Möglichkeit, daß Ihrer Schwägerin etwas zugestoßen ist, tritt vor der Annahme, sie könnte mit dem Dokument eigene Zwecke verfolgt haben, stärker in den Vordergrund. In beiden Fällen aber scheint es fast sicher, daß jemand anderes dem Dokument nachgestellt hat, um es wahrscheinlich für seinen eigenen Nutzen zu verwerten, entweder also es den Absendern zum Rückkauf oder den Interessenten für einen Phantasiepreis anzubieten. Natürlich ist damit noch nicht gesagt, daß eine Mitwirkung von Donna Xenia ausgeschlossen ist, obwohl ich persönlich diese Annahme ausschalten möchte. Ich kenne die Dame nicht, kann also für ihre Integrität nicht eintreten, aber wenn sie so klug ist, wie sie sein muß, um von jener Seite politisch beschäftigt zu werden, so wird sie wissen, daß die Gefährlichkeit eines solchen Spieles mit dem Einsatz in keinem Verhältnis steht.«

Don Gian zuckte die Achseln. »Meine Schwägerin posiert als ›kapriziöse Frau‹ aber sie ist dreimal so klug, als sie launisch und unberechenbar ist. Sie wird sicher ihren Hals nicht in eine Schlinge legen, die sich zuziehen könnte. Ich habe keine anderen Sympathien für sie, als daß sie meines Bruders Witwe ist, aber aus diesem letzteren Grunde und rein menschlich gesprochen, hoffe ich von Herzen, daß ihr nichts – zugestoßen ist, wie Sie eben sagten.«

»Es deutet alles darauf hin, Herr Marchese«, erwiderte Windmüller ernst. »Damit brauchen wir freilich noch nicht gleich das Schlimmste anzunehmen.«

»Aber man läßt die Leute doch heutzutage in einem Kulturstaate nicht mehr einfach verschwinden!« fiel Don Gian ein.

»Hm – meinen Sie?« fragte Windmüller trocken. »Wir müssen jedenfalls auch mit dieser Möglichkeit rechnen, und wenn sie Wirklichkeit ist, so werden wir sehr bald darüber hören. Wie die Sachen sich bis zur Stunde entwickelt haben, dürfen Sie aber nicht unbedingt darauf rechnen, daß ich das Rätsel werde lösen können. Einer kürzlich veröffentlichten Statistik zufolge verschwinden jährlich ungefähr zweitausend Personen so spurlos, als ob die Erde sie verschlungen hätte. Freilich besteht der größte Prozentsatz dieser Vermißten aus Vergnügungsreisenden. Ich gebe jedenfalls keine Schlacht für verloren, ehe ich mich nicht geschlagen fühle, und das tue ich im Falle der Donna Xenia durchaus noch nicht. Ich bezweifle zunächst, daß die Marchesa mit dem Zuge, der den unseren eben gekreuzt hat, in Rom eintrifft; wir werden es in Florenz, wohin ich mir eine Depesche bestellt habe, erfahren. Aber ich zweifle nicht, daß man, dank dem Herrn Iwan, in seinem Hauptquartier jetzt schon weiß, daß Sie mit diesem Zuge abgereist sind; daß ich mit Ihnen in der Wohnung der Marchesa war, weiß man seit Stunden schon, denn Cesarina, diese Perle, wird mit ihrer Personalbeschreibung vor dem Kammerdiener ebenso beredt gewesen sein, wie ich selbst sie gefunden, besonders wenn – was ich annehme – der Herr Iwan diese Beredsamkeit gut bezahlt hat.«

Wie Windmüller es vorausgesehen, enthielt das ihn in Florenz erwartende Telegramm die Nachricht, daß Donna Xenia in Rom wiederum nicht eingetroffen war, und damit begann Don Gian eigentlich zum ersten Male eine gewisse Beunruhigung in bezug auf seine Schwägerin zu empfinden. »Es muß ihr in der Tat etwas zugestoßen sein« bemerkte er unbehaglich. »Ich fürchte es auch«, gab Windmüller lakonisch zu.

In Bologna stieg er aus, um beim Bahnhofvorsteher ein zweites und drittes Telegramm, die dort auf ihn warteten, in Empfang zu nehmen. Er gab beide Don Gian zu lesen. Das erste war von dem Minister und teilte mit, daß keinerlei Anzeichen gemeldet worden wären, die darauf schließen ließen, daß das bewußte Dokument in den Händen oder zur Kenntnis der türkischen Regierung gelangt sei.

»Gott sei Lob und Dank dafür!« kam es Don Gian dabei aus vollster Seele. »Und doch kann die nächste Stunde schon das Befürchtete bringen. Und ich bin die mittelbare Ursache dazu!«

»Wie der Blitzableiter, den man vergessen hat zu vergolden, und trotz welchem es nun in der Kirche einschlägt«, bemerkte Windmüller und setzte scharf hinzu: »Verrennen Sie sich nicht in diese Vorstellung, Herr Marchese! Sie sind an der ganzen Sache so schuldlos wie ein neugeborenes Kind, und solange Ihr Gewissen Sie von der kleinsten Nachlässigkeit freispricht, dürfen und sollen Sie eine solche Last nicht auf sich laden!«

Don Gian seufzte und las das zweite Telegramm, das Windmüller ihm reichte. Es kam von einem Agenten und berichtete, daß in Rom die Unruhe und Besorgnis über das Ausbleiben Donna Xenias im Zunehmen begriffen sei, um so mehr, als die Rückkehr des Marchese Terraferma und seine neue Abreise, namentlich aber sein Besuch in früher Morgenstunde in der Wohnung seiner Schwägerin als ein Beweis, daß auch er nichts über den Verbleib der Dame wüßte, geradezu Bestürzung hervorgerufen habe.

Beide Herren schwiegen und lehnten sich in schweren Gedanken in ihre Ecken zurück. Gian wurden die Augen schwer; sie brannten ihm vor Übermüdung, aber die Gedanken hielten ihn wach, alle Nerven in ihm bebten – freilich war ja der Verdacht von ihm genommen, ein Landesverräter zu sein, aber noch schwebte das Damoklesschwert unberechenbarer Folgen über seinem Vaterlande, falls das Dokument nicht wiedergefunden wurde, und ein Mitglied seiner Familie war es, das den Verrat ausgeübt, sich für ihn hatte – bezahlen lassen! Darüber kam er nicht weg: seines eigenen geliebten und betrauerten Bruders Witwe eine bezahlte Spionin gegen das Land, dem sie gesetzlich angehörte! Die alte Marchesa hatte schon recht: diese ausländischen Heiraten brachten keinen Segen! Und das früher bestandene Verbot, nach dem ein Diplomat keine Ausländerin heiraten durfte, war ein sehr richtiges. Natürlich, da der verstorbene Marchese Terraferma nicht in der diplomatischen Laufbahn sich befunden, war diese Betrachtung auch nicht zur Sache gehörig. Don Gian aber hatte damit einen Rückblick verbunden, indem er vor Jahr und Tag selbst drauf und dran gewesen war, eine sehr hübsche und steinreiche Amerikanerin aus gutem Hause zu heiraten. Sie hatte unverhohlen mit ihm geflirtet und ihm dadurch ebenso unverhohlen geschmeichelt, doch als er so weit mit sich im reinen war, das entscheidende Wort zu sprechen, teilte sie ihm freundlicherweise selbst mit, daß sie sich mit einem englischen Herzog verlobt habe.

Dieses Erlebnis hatte Don Gian – wie der Mensch nun einmal ist – im Zusammentreffen mit der ihm so unsympathischen Schwägerin gegen das Ausländertum im allgemeinen und gegen seine weiblichen Vertreterinnen im besonderen ungünstig beeinflußt. Nicht, daß sein Herz sonderlich beteiligt gewesen wäre. Er hatte die hübsche, muntere Amerikanerin durchaus schick gefunden und fest geglaubt, auch ohne jenes tiefere Gefühl, das man die Liebe nennt, die Reise durchs Leben machen zu können und auf dem Fuße einer ausgezeichneten Kameradschaft mit ihr das berühmte ›große Los‹ zu ziehen – das war alles auf dem Hintergrunde ihres Reichtums, der ihm für seine Laufbahn recht wünschenswert erschien. Was also bei dieser Angelegenheit ihn traf, war die Verletzung seiner Eitelkeit und Eigenliebe, denn auch der beste Mensch ist nicht frei davon.

Don Gians Gedanken gingen immer weiter spazieren, und endlich schloß er die schmerzenden, brennenden Augen und zwang sein Sinnen auf lauter nichtige, unwesentliche Dinge und Personen. Aber sobald er sich eine solche recht deutlich vorgestellt, verwandelte sie sich in die kleine, elfenhafte Gestalt seiner Schwägerin mit ihren gleitenden Bewegungen, die ihn immer an die einer Schlange erinnerten; er sah ihr kleines, feines, blasses Gesichtchen mit den übergroßen Augen vor sich – sie schienen ihn flehend anzublicken, der süße Mund öffnete sich, um zu sprechen – und mit einem Schrei fuhr er in die Höhe. Er war eingeschlafen und hatte geträumt.

Es war lange nach Mitternacht, als der Zug in Venedig anlangte. Da Don Gian seine und Windmüllers Ankunft telegraphisch gemeldet, so erwartete sie die Gondel der alten Marchesa, und die beiden Ruderer brachten das lange, schlanke Fahrzeug durch die jetzt ganz stillen und verlassenen Kanäle rasch vor den Palazzo Terraferma dalla Luna, in dessen Portal Agostino, der Portier, der Kammerdiener sowie ein Lakai wartend standen, um das Gepäck in Empfang zu nehmen und die Herren in ihre Zimmer zu führen.

»Ihre Exzellenz die Frau Marchesa und Donna Loredana sind auf den Wunsch des Herrn Marchese schlafen gegangen und haben nicht gewartet«, meldete Sebastiano, der Kammerdiener, in dem diskreten Ton des Dieners eines großen Hauses. »Ein kalter Imbiß für die Herren steht in ihren Zimmern serviert.«

»Das ist gut«, erwiderte Don Gian. »Sonst nichts Neues? Die Signora Principessa ist nicht wiedergekommen?«

»Nein, Herr Marchese. Es ist auch keine Order gekommen, ob und wohin der Koffer von Altezza zu senden ist«, erwiderte Sebastiano, indem er zur Treppe vorausschritt.

Don Gian sah Windmüller an, aber dieser schien in den Anblick der riesigen Halle versenkt, in die sie direkt aus der Gondel eingetreten waren, eine Halle, wie sie nur ein venezianischer Palast haben kann, mit Marmorfliesen, einer Decke von vergoldeten und bemalten Balken, von der schmiedeeiserne Laternen in riesigen Dimensionen herabhingen, und wenn das elektrische Licht sich auch darin als ein Zeichen der Neuzeit eingeschlichen hatte, so konnte auch dieses nur einen gewissen Radius durchdringen, und in all den entfernteren Ecken und Winkeln schliefen die Schatten der Vergangenheit und hüllten sie in tiefes, geheimnisvolles Dunkel, während in dem Hofe der uralte Brunnen über der längst geschlossenen Zisterne von dem darüber stehenden goldenen Monde phantastisch beleuchtet wurde, um die den Hof umgebenden Säulenhallen in um so tieferer, fast samtschwarzer Finsternis erscheinen zu lassen.

»Darf ich bitten, Herr Doktor?« lud Don Gian seinen Gast ein, ihm voranzugehen. – »Oh, und ehe ich's vergesse«, setzte er, zu dem Majordomo gewendet, hinzu, »ich sah beim Kommen von der Gondel aus oben im ersten Stock ein Fenster offen stehen, ein Fenster des Rosazimmers. Es ist wohl vergessen worden, beim Aufräumen zu schließen?«

»Nein, Herr Marchese«, erwiderte Sebastiano mit sichtlicher Verlegenheit. »Die – die fremden Herrschaften sind heute nachmittag im Piano nobile eingezogen und – «

»Die fremden Herrschaften?« wiederholte Don Gian stehenbleibend. »Welche fremden Herrschaften?«

»Herr Marchese haben also den Brief Ihrer Exzellenz doch nicht mehr erhalten! Ich sagte es gleich, als das Telegramm des Herrn Marchese heute mittag eintraf – «

»Einen Brief? Nein, ich habe keinen Brief mehr erhalten. Der liegt jedenfalls ruhig im Briefkasten meiner Wohnung – ich habe in der Eile vergessen, nachzusehen. Also, wer ist angekommen und wohnt im Piano nobile?«

»Herr Marchese halten zu Gnaden, aber den fremden Namen habe ich noch nicht aussprechen gelernt«, erwiderte der Kammerdiener kopfschüttelnd. »Die Frau Gräfin von Candiani kamen, kaum daß Herr Marchese vorgestern abgereist waren, mit den Herrschaften her, und diese haben das Piano nobile, das heißt den eingerichteten Teil, gemietet und sind heute nachmittag eingezogen!«

»Das Piano nobile also vermietet!« murmelte Don Gian bestürzt. Die Vermietung war ja verabredet und beschlossen und doch berührte ihn die Tatsache wie etwas Wehes, Widerstrebendes, etwas, das ihm auf die Nerven ging und ihm das Herz zusammenzog. »So, so!« sagte er laut. »Und meine Tante Candiani hat die Herrschaften selbst hergebracht? Also müssen es doch Bekannte von ihr sein, eh?«

»Gewiß, Herr Marchese«, bestätigte Sebastiano, aber ohne sonderliche Begeisterung. »Die Frau Gräfin reisen so viel im Auslande und kennen so viele, viele Leute. Sie empfangen immer wieder neue.« –

Don Gian kannte diese Manie seiner Tante, aber er wußte auch, daß sie trotzdem wählerisch war. Darin lag eine gewisse Garantie. Sie würde sicherlich nicht eine beliebige ›Rotte Korah‹ in sein Haus gebracht haben. »Sind es viele Personen?« fragte er, den unterbrochenen Weg wieder aufnehmend.

»Nur drei. Ein alter Herr, eine alte und eine junge Dame – Deutsche«, berichtete Sebastiano, sichtlich über die geringe Zahl befriedigt. »Und eine Kammerzofe«, setzte er hinzu.

Don Gian war nicht neugierig; da seine Großmutter für gut befunden hatte, diesen Leuten das Piano nobile zu vermieten, so mußten ihre Referenzen auch befriedigende sein. Der Name war dabei gleichgültig.

»Die Hauptsache ist, daß Ihnen, Herr Doktor, damit der Weg zu den Zimmern abgeschnitten ist, die meine Schwägerin hier zuletzt bewohnt hat«, wandte er sich in französischer Sprache an seinen Gast.

»Durchaus nicht«, erwiderte Windmüller gleichmütig. »Auf derartige kleine Hindernisse muß ich immer gefaßt sein. Sie sind nicht der Rede wert!«

»Va bene!« murmelte Don Gian nicht ganz überzeugt, denn er konnte sich nicht gut vorstellen, wie man fremden Leuten ohne weiteres und doch sicherlich ohne genügende Begründung ›auf die Bude‹ rücken wollte.

»Die Begründung liegt ganz auf der Hand«, beantwortete Windmüller diesen Gedanken, als ob Don Gian ihn ausgesprochen hätte. »Übrigens, ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß ich der Architekt bin, den Sie sich mitgebracht haben, um in diesem Hause einige Änderungen zu begutachten. Was war es doch, das Sie längst beabsichtigten hier machen zu lassen?«

»Einen Personenaufzug!« erwiderte Don Gian prompt. Er hatte begriffen.

»Richtig. Ich werde also wegen des Personenaufzugs morgen den Palast gründlich besichtigen«, sagte Windmüller italienisch zur Befriedigung Sebastianos, der aber still für sich den Kopf schüttelte. Denn wozu ein Aufzug, wenn doch das Piano nobile vermietet wurde? Freilich, der alten Exzellenz wurden die Treppen schon recht sauer, aber die Ausgabe, das schwere, schöne Geld, das solch ein Aufzug kostete! Und Sebastiano seufzte schwer, denn die Ausgaben und finanziellen Schwierigkeiten des Hauses Terraferma gingen dem treuen alten Diener und Vertrauten aller dieser Sorgen sehr zu Herzen.

Inzwischen waren die Angekommenen oben im zweiten Stockwerk angelangt, und Don Gian führte seinen Gast in die ihm bestimmten Fremdenzimmer, die unmittelbar an sein eigenes Schlafzimmer anstießen, wünschte ihm eine gute Nacht und zog sich in seine Wohnung zurück. Dort fiel sein erster Blick mit einem Schauder des Entsetzens auf die zurechtgestellte Flasche mit Fruchtsaft, die ihm die im Nebenzimmer in tiefem, unnatürlichem Schlafe verbrachte Nacht so lebhaft wieder ins Gedächtnis zurückführte, daß es ihm schien, als wollte die Luft in den geschlossenen Räumen ihn ersticken.

Er machte das eine der Fenster auf, und den Riegel des Ladens zurückstoßend, wollte er diesen eben heftig zurückschlagen, um der Nachtluft, der schönen, reinen, salzgetränkten Nachtluft Venedigs Eingang zu verschaffen, als er sich erinnerte, daß ja das Zimmer, das Rosazimmer, unter ihm bewohnt war und er ein Fenster drunten offen gesehen hatte. Um also den Inhaber dieses Zimmers nicht in seinem Schlafe zu stören, legte er die Läden leise und vorsichtig zurück und lehnte sich dann selbst hinaus, um Luft zu schöpfen.

Der Mond stand hoch am dunkelblauen, sternengestickten Himmel und streute Tausende von schimmernden Goldflittern auf das dunkle, von der Nachtbrise leichtgekräuselte Wasser der Kanäle, die sich an der Ecke des Palastes kreuzten. Kein Ton, kein Klang unterbrach die Stille der weit vorgerückten Nacht, nur das leise, leise Plätschern der steigenden Flut, wenn das Wasser sich an den Ecken der Häuser brach oder gegen die Marmorstufen vor den Wassertoren schlug, gab Zeugnis davon, daß nicht alles Leben erstorben war, machte die tiefe, tiefe Stille nicht lastend. Don Gians müde, übernächtige Augen folgten dem flimmernden Spiel des Mondlichtes auf dem Wasser in dem Sackkanal unter sich, und im selben Augenblick zog sich sein Kopf mit einem Ruck zurück. Er hatte unter sich einen anderen Kopf gesehen, der aus dem Fenster des Rosazimmers herausschaute.

Einen Kopf, den Ströme von lichtem Haar umflossen, das im Mondschein wie flüssiges Platina aussah.

Leise beugte er sich von neuem hinaus, um dieses krause, metallisch schimmernde Haar noch einmal zu sehen, weil ihm ein ähnliches noch nie im Leben vorgekommen war und ihm das Bild der auf der Weltkugel thronenden Venezia von Paul Veronese im Dogenpalaste dabei in den Sinn kam, das auch solche Haare hatte.

In der kleinen Pause aber, die zwischen seinem ersten und zweiten Herauslehnen aus dem Fenster lag, hatte sich das Bild unter ihm verändert: zwei weißbekleidete Arme hatten sich mit ineinandergeschlungenen schlanken, weißen Händen über die Fensterbrüstung gestreckt, und der Kopf mit der Flut metallisch schimmernden Blondhaares hatte sich müde darauf gestützt. Das Haar, auf das der Mond gerade schien, legte sich wie ein Mantel halb über die rechte Schulter seiner Besitzerin, so daß von oben von ihrem Profil nichts zu sehen war; aber Don Gian fürchtete, daß durch einen Blick unter dem schimmernden Schleier zu ihm selbst heraufgesehen werden könnte, und lautlos zog er sich wieder zurück.

»Solches Haar! Ich hätte nie geglaubt, daß es solches Haar geben könnte, das Haar der ›Venezia‹ des Veronese!« dachte er lächelnd – zum ersten Male lächelnd seit – seit er mit seiner Schwester gesprochen. Ob's dieses Lächeln war, ob ein Zauber von diesem mondlichtbeleuchteten Haar ausging, das den eisernen Bann brach, der ihm Herz und Seele umklammert hielt, – er wußte es nicht und fragte auch nicht danach. Ohne den im Nebenzimmer bereitstehenden Imbiß zu berühren, kleidete er sich rasch aus, legte sich zu Bett, und der Schlaf völligster Erschöpfung rettete ihn in das traumlose Land der zur dringenden Notwendigkeit gewordenen Erholung hinüber.

*

Als Gian die Augen wieder aufschlug mit dem Unterbewußtsein, daß irgendeine gegenwärtige Person wegen irgendeiner Pflicht ihn geweckt, war es heller Tag, aber spät konnte es noch nicht sein, denn die Sonne war noch nicht über das gegenüberliegende Gebäude gestiegen.

»Eh?« machte er erstaunt, als seine noch halb geschlossenen Augen von dem offenen Fenster an das Fußende seines Bettes glitten, denn dort auf dem davorstehenden Stuhl saß Doktor Windmüller, die Hände überm Knie gefaltet, und sah ihn wohlwollend an.

»Es tut mir sehr leid, lieber Herr Marchese, Ihnen den so notwendigen Schlaf verkürzen zu müssen«, sagte er mit seinem wohlmodulierten Organ, das auch ein Vorrecht oder eine Errungenschaft der Bildung ist. »Da Sie aber die schlechte Gewohnheit haben, bei offenen Türen zu schlafen – «

»Warum hätte ich sie denn zuschließen sollen?« unterbrach ihn Don Gian, im Bette aufsitzend. »Ich habe ja heute nichts bei mir, was mir hätte gestohlen werden können! Schlimm genug, daß ich für eine Nacht in meinem eigenen Hause das Gefühl der Notwendigkeit hatte, mich gegen eine eigene Verwandte verrammeln zu müssen – mit welchem Erfolge, wissen Sie ja! Ich hätte ebensogut, vielleicht sicherer, auf offener Straße schlafen können.«

»Vermutlich sicherer im Eisenbahnwagen«, gab Windmüller unumwunden zu. »Aber die Gewohnheit des Schlafens bei offenen Türen ist doch eine schlechte, selbst im eigenen Hause. Besonders in Ihrem Falle. Indes, das war nur eine Nebenbemerkung, eine pädagogische Abschweifung. Also, ich fand Ihre Tür offen – sie war nicht einmal eingeklinkt – und trat ein, um Sie zu wecken. Es ist noch früh am Tage, wenigstens für Leute, die nichts zu tun haben; weil wir aber in Geschäften hier sind, die uns über die notwendigste Rast nicht erlauben hinauszugehen, so mußte ich mir die Freiheit schon nehmen – Der anstoßende Raum ist Ihr Wohnzimmer, nicht wahr? Und vor dem großen runden Tisch schliefen Sie Ihren verhängnisvollen Schlaf, wenn mir recht ist. Hm. Zeit ist nicht nur Geld, lieber Herr Marchese, sondern auch Wissen. Während Sie sich also anziehen, werde ich die Topographie Ihres Wohnzimmers studieren – die des Vorraums für Ihr Schlafzimmer habe ich schon, allerdings nur oberflächlich, in Augenschein genommen. – Nein, bemühen Sie den Diener nicht, ich werde die Fensterläden selbst öffnen. – Übrigens sind diese Patenttürsperrer, deren Sie sich bedienten, noch verbesserungsfähig, denn sie haben, wie ich wenigstens an der Tür dort sehe, das Holz leicht verkratzt.«

»Ich war wohl beim Abnehmen ein wenig hastig in der Aufregung – es ist meine Schuld«, murmelte Don Gian, der sich durch seinen Gast etwas geniert fühlte, nachdem er heroisch einen inneren Protest über dessen ungeniertes Eindringen in sein Schlafzimmer unterdrückt hatte.

»Ah ja, natürlich – Sie mußten ja selbst die Dinger wieder entfernen, die sonst entschieden einen Einbrecher stark aufgehalten hätten«, meinte Windmüller, der inzwischen aufgestanden war und die Augen in dem Schlafzimmer herumschweifen ließ. »Die Bettstelle ist schwer – sie ließe sich selbst von einer kräftigen Frau nicht ohne Anstrengung und Geräusch abrücken, weil die Füße, die sehr niedrig sind, keine Rollen haben«, bemerkte er, das Möbel prüfend ansehend.

Don Gian machte eine abwehrende Bewegung. »Ich habe das Bett abrücken lassen, um nachzusehen, ob darunter, dahinter oder daneben jemand eindringen könnte«, versicherte er lebhaft. »Ich fand nur glatten, undurchbrochenen Steinboden, solide Wände, glatt mit der Tapete bespannt, die Sie im ganzen Zimmer sehen. Nichts – nichts was auch nur den Verdacht, hier möchte eine verborgene Tür sein, erwecken könnte.«

»Und die Tür, die in mein Schlafzimmer geht, trägt, wie ich sehe, noch den Patentsperrer«, sagte Windmüller, der den verhüllenden Vorhang zurückgeschlagen hatte. »Überdies habe ich schon von meiner Seite festgestellt, daß die Tür sehr lange nicht mehr geöffnet worden ist«, fuhr er fort. »Es liegt Staub auf der Schwelle jenseits der geschlossenen Flügel, alter, unberührter Staub. O ja, mangelhaft aufräumende Stubenmädchen haben schon oft geholfen, solch wichtige Dinge zweifellos festzustellen. Auch fand ich an der ganzen Wand nichts, was darauf schließen lassen könnte, daß sie vielleicht den Vermittler gespielt. Aha, und dort steht auch die Saftflasche, deren Sie erwähnten – diesmal unberührt, wie ich sehe. Ich vermute, es wird Zeit brauchen, bis Sie sich wieder überwinden werden können, Saft aus solch einer Flasche in Ihr Sodawasser zu gießen – so etwas bleibt lange an einem hängen, kann einem den unschuldigsten Genuß gründlich verleiden. – Ah, was haben wir denn da?« unterbrach er seine Betrachtung, die dem armen jungen Diplomaten die ganze Bitterkeit seines Erlebnisses zurückbrachte.

Mit Verwunderung sah er dem berühmten Manne zu, wie dieser sich neben dem Tischchen, auf dem das Tablett mit den Flaschen und dem Glase, der Zuckerschale und der diesmal nicht fehlenden Zitrone stand, auf die Knie niederließ und den Boden von glatter, bunter Breccia, dem zusammengesetzten Marmorguß, aus dem die Fußböden hergestellt werden, mit tief herabgebeugtem Kopfe betrachtete, denn der große, türkische Teppich, der das Zimmer bedeckte, ließ rings an den Wänden einen fast meterbreiten Streifen frei, auf dem die Kastenmöbel und eben der erwähnte Tisch standen. Don Gian konnte um die Welt nicht sehen, was Doktor Windmüller dort zu betrachten fand, aber er hatte doch schon etwas über die verschiedenen Methoden von Detektiven gehört und vermutete also seinen Gast nicht mit Unrecht auf einer sogenannten ›Spur‹.

»Nein«, beantwortete der letztere laut diesen Gedanken. »Nach dem, was wir wissen, ist das keine Spur mehr, sondern einfach eine Bestätigung. Können Sie von dort aus diesen matten Fleck auf der glänzenden Breccia sehen? Er ist etwa so groß und rund wie ein Lirastück. Gut. Nun, wenn wir noch nicht wüßten, daß Ihnen in jener Nach mit dem Fruchtsaft ein Schlaftrunk beigebracht worden ist, wenn noch ein Zweifel darüber wäre, dann würde dieser Flecken uns helfen. So wird er uns jedenfalls sagen können, womit man Sie unschädlich gemacht hat. Der Fleck hier ist ein Tropfen, ein großer, reichlicher Tropfen, der unbeachtet beim Einfüllen des Schlafmittels daneben gefallen und später beim Reinigen des Zimmers unbeachtet geblieben ist. Zimmermädchen, lieber Herr Marchese, beachten gemeinhin nur das, was sie nichts angeht. Der Tropfen ist ziemlich dick an den Rändern und nach der Mitte konkav, also besteht er aus einer dickflüssigen Masse, die, wie ich sehe, noch nicht ganz trocken, sondern noch ziemlich zähe ist.«

Windmüller zog ein Taschenmesser mit vielen Klingen hervor, klappte von diesen eine lange, sehr dünne auf, hob damit den Tropfen von dem glatten Grunde ab, strich die Masse auf ein Stückchen weißes Pergamentpapier, das er aus seiner Brieftasche nahm, faltete das Papier sorgfältig zusammen und steckte es zu sich.

»Ich vermute, es ist eine sirupartige Chlorallösung, was ja auch der brennende Geschmack, dessen Sie erwähnten, bestätigen würde«, sagte er, das Messer mit dem Taschentuche reinigend. »Viel Wert, es zu erfahren, hat das ja nicht mehr, indessen – wer weiß? Man soll den Pfennig, den man am Wege findet, nicht liegen lassen, denn er fehlt dann am Ende, um den Taler voll zu machen. – So, und nun verlasse ich Sie, damit Sie aufstehen können. Was das für eine auffallend dicke Wand zwischen Ihren beiden Zimmern ist! Ich meine, sie sei viel dicker als die, die Ihr Schlafzimmer von dem meinen trennt.«

»Glauben Sie?« fragte Don Gian zweifelnd »Mir ist in – in jener Nacht eigentlich zum ersten Male diese tiefe Türnische aufgefallen – «

»Ja – sie ist tiefer wie zum Beispiel jene, die in das jenseitige Zimmer führt«, bestätigte Windmüller. »Ich schätze natürlich nur nach dem Augenmaß. Also entweder ist diese enorm dicke Wand eine architektonisch-technische Notwendigkeit gewesen oder – sie hat einen anderen Zweck – «

»Das war auch meine Idee«, fiel Don Gian ein. »Aber dann würde sie oder die Holzverschalung des Türdurchbruchs hohl klingen. Ich habe überall versucht – es ist alles solides Mauerwerk!«

»Es scheint so«, bemerkte Windmüller, mit dem Taschenmesser die hölzernen, mit schönster Intarsiaarbeit verzierten Paneele zwischen den Türrahmen beklopfend, mit geübten Fingern Ritzen befühlend und dem eingelegten Muster folgend, hie und da auch fest darauf drückend. »Es scheint wirklich alles in Richtigkeit, womit natürlich das letzte Wort noch nicht gesprochen sein soll. Wir wollen später darauf zurückkommen. Und jetzt lasse ich Sie allein.«

Don Gian beeilte sich mit seiner Toilette und trat nach ihrer Beendung in sein Wohnzimmer, in dem er Windmüller am offenen Fenster stehend vorfand.

»Oh«, machte er mit einem Blick auf den unberührt auf dem Tisch stehenden Imbiß, »da haben Sie bei meiner verschmähten Mahlzeit von gestern Abend sein müssen! Wie ekelhaft das kalte Fleisch doch gleich aussieht, wenn es der Luft ausgesetzt war und – den Fliegen! Wollen wir zum Frühstück in den Speisesaal hinübergehen, oder wünschen Sie es hier serviert?«

»Hier, wenn es Ihnen recht ist«, erwiderte Windmüller. »Diese dicke Wand dort interessiert mich – ich hoffe noch auf eine Inspiration durch sie. Ja. Ja, und noch eines: ich möchte gern den Koffer sehen, den Ihre Frau Schwägerin hier zurückgelassen hat. Macht es Mühe, ihn hierherzubringen?«

»Durchaus nicht«, versicherte Don Gian, indem er läutete und dem alsbald erscheinenden Diener seine Befehle gab.

Während der Mann abräumte und bis das Frühstück kam, redete Windmüller nur von allgemeinen Dingen, er streifte mit einigen scheinbar unwesentlichen Fragen die Topographie des Palastes und seiner Umgebung, und aß sein Frühstück methodisch und ohne Hast. Während desselben wurden ihm zwei Telegramme übergeben, die er, nachdem er sie gelesen, seinem Wirte über den Tisch schob. Das eine von dem Minister enthielt die Mitteilung, daß über den Verbleib des Dokuments noch nichts bekannt und eine beunruhigende Nachricht nicht eingelaufen sei; das andere von Windmüllers Agenten berichtete, daß Donna Xenia in Rom immer noch nicht angekommen und man ohne jede Nachricht von ihr von ihr sei.

»Das wären nun, rund gerechnet, sechsunddreißig Stunden, seit die Botin mit ihrem Raube fällig ist – die Zeit ungerechnet, die sie zur Reise gebraucht hätte«, beantwortete Windmüller den beunruhigten Blick des Diplomaten. »Die Annahme, daß noch etwas mit dem Dokument beabsichtigt und in Vorbereitung ist, wird damit noch nicht hinfällig, denn es können ja unerwartete Gründe zu der Verzögerung eingetreten sein. Anderseits ist es aber auch möglich, daß eine Attacke auf die Agentin insofern mißglückt ist, als diese vielleicht noch in der Lage war, das kostbare Schriftstück zu verbergen oder – zu vernichten, ehe sie das Opfer eines Anschlages darauf wurde. Das sind aber alles nur Theorien, Herr Marchese. – Ah«, unterbrach er sich, »da kommt der Koffer. Ja, lassen Sie ihn nur auf den ersten besten Stuhl stellen!«

Windmüller hielt sich bei seinem Frühstück nicht mehr auf, nachdem der Diener den eleganten Handkoffer von dunkelrotem Juchtenleder niedergestellt und sich entfernt hatte. Hastig trank er seine Tasse aus, zog den Stuhl, darauf das Kofferchen niedergestellt war, neben den seinen und prüfte das Schloß.

»Zugeschlossen!« stellte er fest. »Den Schlüssel hat die Besitzerin mitgenommen, setze ich voraus. Ganz richtig, sie hat den Koffer gepackt, ehe sie sich entfernt – und Sie haben ihn so vorgefunden, wie er hier ist. Hm. Das Schloß ist gut, aber zum Glück nicht unüberwindlich. Ordentliche Handarbeit – dieser Koffer. Russische Arbeit schätze ich.«

Damit zog er aus der Westentasche einen kleinen, flachen Haken, schob ihn in den schmalen Schlüsselritz des Patentschlosses ein und klappte im nächsten Augenblick den Koffer auseinander, aus dem der feine und doch so schwere, schwüle, exotische Duft von Gardenien herausstieg und fast das ganze Zimmer erfüllte

»Per Bacco! War das nötig?« fuhr Don Gian auf.

Jetzt mußte Windmüller lachen. »Ich meine schon, daß es nötig war, da meine Augen ja leider keine X-Strahlen sind, die den Inhalt eines Juchtenkoffers durchleuchten können! Wenn Sie mir das aber zugetraut haben, so danke ich Ihnen für diese hohe Meinung meiner Fähigkeiten.«

Pardon!« murmelte Don Gian beschämt. »Es ist nur, weil es für unsereins so ungewohnt ist, fremder Leute Eigentum zu – zu – «

»Durchstöbern«, half Windmüller ein. »Meine Privatleidenschaft ist das auch nicht, aber im Namen des Gesetzes, das mich beauftragt, darf man sich nicht mit solchen Bedenken aufhalten.«

»Glauben Sie, daß meine Schwägerin ihren Raub hier in diesem Koffer – «

»Hm, es wäre das eine kühne Idee gewesen, frei von diesem gefährlichen Schatz die Reise zu machen und sich ihn harmlos in diesem Köfferchen nachschicken zu lassen!« meinte Windmüller. »Eine kühne Idee, die ins Konversationslexikon zu kommen verdiente. – Nein, ich glaube nicht, daß wir das Dokument hier finden werden, aber vielleicht doch ein paar nützliche Winke. Lassen Sie uns nachsehen. Diese Abteilung enthält ein schwarzes Kleid, wie ich meine, ein ›Traum‹ von spinnwebdünnem Florstoff mit Pailletten gestickt.«

»Das trug sie an dem Abend, als ich in Venedig eintraf«, rief Don Gian.

»Ah so! – In dem Täschchen der Klappe des anderen Abteils ist, wie Sie sehen, Briefpapier, ein paar Bogen nur und passende Umschläge. Sonst nichts? Nein. – Gehen wir weiter. Das verschlossene Abteil enthält – was? Ein unbenütztes Nachthemd – unbenützt! Sie hatte also gar nicht die Absicht, hier zu schlafen. Kämme, Bürsten, Handspiegel von getriebenem Silber und Elfenbein – Taschentücher, davon einige benützte in die Ecken gestopft – einen Spitzenschal, seidene Strümpfe – was man so für einen kurzen Ausflug braucht. Nichts weiter. – Doch! Hier in diesem gebrauchten Taschentuch ist etwas Hartes – eine Flasche! Eine ganz gewöhnliche, leere Apothekerflasche, ohne Etikette, sogar ohne Stöpsel, Inhalt hundertfünfzig Gramm. Und ein kleiner Rest ihres ehemaligen Inhalts noch auf dem Boden – «

Windmüller ließ von dem kleinen Rest, der langsam floß, ein paar Tropfen auf seinen Handrücken fallen und kostete davon.

»Pfui Teufel!« machte er. »Wissen Sie, was das ist, Herr Marchese? Eine sehr starke Chloralhydratlösung! Glauben Sie, daß Donna Xenia die selbst gebraucht hat? Ich nicht. Chloralhydrat nimmt man, um schlafen zu können, was sie doch nicht vorhatte. Hm. Wenn die Flasche hier voll war, als sie den Inhalt in Ihre Fruchtsaftkaraffe ausleerte, dann wundert es mich nicht, daß Sie von der genossenen Portion wie ein Siebenschläfer geschlafen haben! Ein Glück nur, daß Sie nicht noch eine zweite Gabe nachstürzten, sonst hätten Sie das Aufwachen ohne Schwierigkeit ganz vergessen können! Ein recht nettes Kapitel, ›schwägerliche Fürsorge‹ betitelt. Na, dafür ist's noch gnädig abgelaufen! – So, diese Abteilung hat uns sonst weiter nichts zu sagen. Lassen Sie uns nun einmal das Kleid betrachten. Es ist ordentlich zusammengelegt. Wenn ich's so nicht wieder hineinbringe, kann ich nicht helfen. Hm. Cesarina würde dies Gebilde wohl auch einen ›Traum‹ nennen, trotzdem der Saum mitsamt dem des seidenen Untergewandes recht starke Spuren des Gebrauchs zeigt. Sehr interessante Spuren! – Wofür halten Sie diesen Schmutz, Herr Marchese?«

»Für Staub, dicken Staub«, erklärte Don Gian, der noch mit einem gewissen Übelkeitsgefühl kämpfte, das die leere Flasche und – Windmüllers Kommentar dazu in ihm wachgerufen hatten.

»Staub!« entgegnete der Detektiv energisch. »Ja, Es ist Staub, gewiß, aber vermoderter, verrotteter Staub, den kein Besen, keines Menschen Schritt seit Generationen aus seiner Ruhe gestört! Und Donna Xenia hat ihn mit ihrer eleganten, glitzernden, schwarzen Chiffonrobe mitgenommen, ehe sie sich anschickte, den Palast zu verlassen – das ist sehr verdächtig, nicht wahr? Weil es verrät, daß sie auf einem nur ihr bekannten, verborgenen Wege in Ihr Zimmer drang, wahrscheinlich in der Zeit, während Sie bei Ihrer Schwester waren, um Ihnen den Trank für die Nacht zu mischen. – Und sehen Sie das Spinngewebe, das hier in dieser Ranke der Paillettenstickerei hängen geblieben ist? Daran sind Ihre Zimmermädchen unschuldig: es ist schwer, zum dichten Stoff geworden durch denselben vermoderten Staub, den der Saum des Kleides zusammengefegt hat. – Eine sehr interessante Dame, Ihre Frau Schwägerin, und absolut skrupellos. Es wäre ganz logisch, wenn ihr ein gleich skrupelloser Gegner gegenübergetreten wäre – und ich fürchte, daß dies ihr Schicksal war!«

Don Gian sah wie im Traume zu, während Windmüller das Kleid in den Koffer hineinstopfte und diesen dann mit seinem Patentschloßdietrich wieder zuschloß. »Aber ich muß wissen, wie sie hier eingedrungen ist!« rief Don Gian, ratlos die vier Wände betrachtend.

»Das hat Zeit, Herr Marchese. Es ist jetzt viel wesentlicher, zu wissen, wie sie aus dem Hause hinausgekommen ist. Ist es Ihnen recht, wenn wir jetzt gleich einmal die Topographie des Palastes studieren? Wenn Sie aber jetzt lieber oben bleiben, kann ich das unter der Führung Ihres Majordomo auch allein besorgen.«

»Nein, nein – ich begleite Sie natürlich!« raffte Don Gian sich aus seinem Hinbrüten auf. »Ich bin als Knabe in dem großen Hause überall herumgekrochen und weiß annähernd Bescheid darin, aber ich denke, wir nehmen Sebastiano dennoch mit, denn diese alten Diener kennen die Traditionen oft besser als ihre eigene Herrschaft, die leider – wie zum Beispiel ich – den Sinn, das Gedächtnis und das Interesse für solche Dinge nicht hat. Meine Entschuldigung, wenn's dafür gelten kann, ist, daß ich ja bis vor einem Jahre der jüngere Sohn, nicht der Erbe war, früh aus dem Haus kam, um zu studieren und einen Beruf zu ergreifen. Mein Bruder kannte die Geschichte unseres Hauses nicht nur aus dem Grunde, sondern auch die des Palastes, seiner Legenden und vielleicht auch seiner Geheimnisse. Ich bin überzeugt, daß dieses alte Haus solche hat, denn alle unsere Paläste haben sie, trotzdem man das heute gern ins Reich der Märchen verweisen möchte.«

»An die die Leugner nur darum nicht glauben, weil sie nie etwas anders als die nüchterne Luft ihrer reizlosen Miethäuser eingeatmet und gekannt haben«, fiel Windmüller ein. »Die Geheimnisse der alten Paläste sind eine ganz logische Folge der Zeiten, die über sie hingegangen sind: sie waren genötigt, Geheimnisse zu haben. Manche werden von späteren Generationen entdeckt, die meisten bleiben, was sie waren – Geheimnisse. Als ob unsere Generation keine hätte! Das weiß niemand besser als ich, dessen Beruf es ist, gelegentlich eines oder das andere ans Licht zu bringen.«

Die Herren waren inzwischen hinausgetreten und die Treppe zum ersten Stockwerk hinabgestiegen, wo Sebastiano mit einem großen Schlüsselbunde bewaffnet auf den schon vorher erteilten Befehl seines Herrn hin wartete.

»So ist's recht«, sagte Windmüller, den Mann freundlich grüßend. »Diese Schlüsselsammlung verspricht ja eine kleine Reise. Zeigen Sie uns nur alles, Signor Majordomo, ganz besonders aber verborgene Gelasse und Winkel, die man, ohne die Zimmerflucht zu stören, etwa für den – hm – Personenaufzug benützen könnte.«

»Zu Befehl, Signor«, erwiderte Sebastiano, indem er den Marchese mit einem Blick ansah, der eine Welt von Vorwurf ausdrückte. Dann räusperte er sich und sagte respektvoll, aber mit Entschlossenheit: »Wollen gnädigst entschuldigen, wenn ich mir erlaube daran zu erinnern, daß der Herr Architekt, der im vorigen Jahre wegen des Aufzuges hier war, die Nische neben der Treppe in der Halle für sehr geeignet erklärte, weil die Decken bis zum Oberstock sich auf dieser Stelle leicht durchbrechen lassen, ohne daß die Zimmer dadurch gestört werden. Es würde in jedem Stock nur ein Teil der dunklen Garderoben fortfallen. Der Herr Architekt meinten, den Aufzug in dem ganz unbewohnten Nordtrakt anzubringen, hätte wegen der damit verbundenen Unbequemlichkeit für die Herrschaft keinen Zweck.«

»Das wollen wir eben nachprüfen«, entgegnete Windmüller ruhig.

Was der letztere aber mißverstanden, hatte Don Gian aus Sebastianos Blick sofort begriffen. »Was hat dir die Marchesa, meine Großmutter, über den Besuch des Herrn hier gesagt?« fragte er, als sie das erste der aufzuschließenden Gelasse betreten hatten, indem er dem Manne die Hand auf die Schulter legte.

Über das glattrasierte Gesicht des alten Dieners ging es wie Wetterleuchten von widerstreitenden Gefühlen. »Don Gian – wollte sagen Herr Marchese«, entgegnete er nach einer Pause der Unentschlossenheit, »Ihre Exzellenz haben mir eigentlich nichts gesagt, weil sie selbst nicht wußten, was der Signor hier wollten. Aber Eccellenza haben mich oft mit Ihrem Vertrauen beehrt und ließen durchblicken, daß der Signor wahrscheinlich wegen der Abreise der Frau Principessa herkämen. Altezza seien nämlich nicht in Rom eingetroffen, geruhten Eccellenza mir vertraulich mitzuteilen. Ich habe natürlich niemand etwas davon mitgeteilt. Die Angelegenheiten meiner Herrschaft sind gut bei mir aufgehoben und Eccellenza wissen das. Bene. Als nun der Signor gestern abend bei der Ankunft sagten, er käme wegen des Aufzugs, dachte ich im Augenblick auch nichts anderes, dann aber überlegte ich mir, daß der Herr Marchese wegen dieser Sache die Reise von Rom zweimal in sechsunddreißig Stunden nicht machen würden, indem der Herr Marchese doch Ihren Beruf haben. Also, dachte ich mir, wenn ich den fremden Signor in dem Teil des Palazzo herumführen soll, wo höchstens die Ratten einen Aufzug brauchen, so werden Eccellenza wohl recht haben, und der Herr Marchese hätten dem alten Sebastiano, der ihn als Kind auf den Armen herumgetragen hat, ein klein wenig mehr Vertrauen schenken können.«

Zu Windmüllers Entsetzen umarmte Don Gian den Majordomo kurzweg und rief, ehe sein Gefährte ihm noch ein Zeichen machen konnte: »Du hast recht, mein Alter – alles Vertrauen will ich dir schenken! Ja, der Signor Dottore hier ist gekommen, um zu erfahren, was aus Donna Xenia geworden ist – «

»Pardon«, fiel Windmüller, vor Ungeduld in die Hände schlagend, ein, »meinen Sie nicht, Herr Marchese, daß wir diese – diese Dinge besser etwas leiser besprächen? Soweit ich mich orientiere, stößt dieser Raum, in dem wir stehen, direkt an die Zimmerflucht an, die gestern von stockfremden Menschen mietweise bezogen worden sind. Zum mindesten geht es diese Leute doch nichts an, was Sie und mich nach Venedig gebracht hat – nicht wahr?«

»Per bacco! An diese fremden Leute habe ich nicht mehr gedacht!« rief Don Gian überrascht aus. »Wie sollte ich auch? Sie sind eine solche Neuheit hier im Hause! Aber wie sollten sie uns hier gehört haben? Neben dem Rosazimmer liegt zwischen ihm und dem Saal, in dem wir stehen, ein ziemlich großer Raum, dessen Türen mit schweren Samtvorhängen versehen sind, die den Schall absolut dämpfen – «

»Wenn sie zugezogen sind«, murmelte Windmüller grimmig.

Und die Tür ist abgeschlossen – hier ist der Schlüssel«, sagte Sebastiano. »Ich habe alles nachgesehen und besorgt, ehe die fremden Herrschaften einzogen. Sie haben gerade die Hälfte der Räume – zehn im ganzen, aber ihr Teil ist größer, weil ja der große Saal über der Halle dabei ist. Ebbene, der Signor Dottore soll den unbewohnten Teil sehen, wie er es wünscht. Es gibt darin ein paar sehr gut und geschickt versteckte Kammern zur Aufbewahrung von Kostbarkeiten und als Verstecke, das ist richtig, aber als Ausgang kann die Signora Principessa sie nicht benutzt haben – gewiß nicht!«

»Das eben wollen wir feststellen«, erwiderte Windmüller, der inzwischen den Fußboden in dem Saal, in dem sie standen, einer genauen Prüfung unterzogen hatte. Er war, wie die Zimmer alle, von Breccia, ungewichst, jedoch ganz staubfrei. »Es ist hier unlängst ausgekehrt worden«, bemerkte er, sich in dem nur spärlich möblierten Raum umsehend, wie nebenbei.

»Ich habe reinmachen lassen, als ich gestern zusah, ob die Tür nach der vorderen Flucht auch abgeschlossen sei«, erwiderte Sebastiano und setzte achselzuckend hinzu: »Sie war natürlich zu.«

»Natürlich«, murmelte Windmüller. »Sind die anderen Zimmer auch reingemacht worden? Ich meine die nichtvermieteten.«

»Nein, Signor – wenigstens jetzt nicht«, erklärte der Majordomo bereitwilligst. »Es kommt das ganze Jahr kein Mensch hier herein«, fuhr er entschuldigend fort, »für wen sollte man da immerzu ein Heer von Leuten beschäftigen? Zwei-, dreimal im Jahre wird alles nachgesehen und geputzt und gelüftet – ja, zu Zeiten des Herrn Marchese Federigo, Don Gians Großvater, da wurden noch Feste, große Feste im Palazzo Terraferma gegeben, Feste, von denen die Leute in ganz Venedig sprachen, und da waren alle diese Zimmer und Säle offen, und man hatte alle Hände voll zu tun, um sie in Ordnung zu halten. Aber schon der Herr Marchese selig – ich meine Don Gians Vater – waren ja nur selten hier, und Don Pietro – vielmehr die Frau Principessa hat es ja länger als ein paar Tage hintereinander in Venedig nicht ausgehalten. Die fremde Herrschaft hätte diese Hälfte des Piano nobile auch noch mieten sollen, dann wäre sie bewohnt gewesen, und das ist gut gegen Mäuse, Motten und Moder.«

Sebastiano war, während er mehr vor sich hin als zu den anderen redete, vorausgegangen und öffnete die Fensterläden. Das selten in diese Zimmerreihe eingelassene Tageslicht machte sie aber nicht freundlicher, sondern beleuchtete nur ihre Verlassenheit, die ihnen durchweg den Stempel aufdrückte, um so mehr als diese Flucht wohl immer nur der Repräsentation gewidmet gewesen war. Dementsprechend war die Einrichtung auch nur die, wie man sie in solchen Räumen zu sehen gewohnt ist: Sofa, Lehnstühle und Taburette an den Wänden aufgereiht, mit Marmorplatten versehene Konsoltische zwischen den Fenstern, hie und da ein kostbar eingelegter und geschnitzter Schrank, ein paar Gueridons, ein paar Postamente mit Bronze- oder Marmorbüsten darauf, an den mit gepreßten Ledertapeten oder Seidendamast bespannten Wänden große, stark nachgedunkelte Gemälde, da und dort ein Spiegel in geschliffenem Glasrahmen, und von den Decken, die noch zumeist die ursprünglichen dekorierten Balken aufwiesen, hingen Glaslüster von Murano herab. Die hohen, schmalen Spitzbogenfenster mit ihrer arabisierenden Form venezianischer Gotik, die allen liebevoll beobachtenden Freunden der Lagunenstadt so vertraut ist, ließen von Osten und Norden nur ein spärliches Licht in diese verlassenen Räume durch halberblindete Fensterscheiben fallen, und auf den teppichlosen steinernen Böden schallten die Schritte der drei Männer wie eine Entweihung der Grabesruhe und weckten allenthalben leise, geisterhafte Echos auf. Doktor Windmüller hatte nur flüchtige, wenn auch alles umfassende Blicke für die Einrichtung der Räume; er schien auch nur ein ganz geringes Interesse für die verborgenen Kämmerchen und Winkel zu haben, die Sebastiano mit Wichtigkeit zeigte – seine Aufmerksamkeit galt vor allem den steinernen Böden, auf denen wie ein ganz feiner, dünner Schleier die Staubschicht lag, die sich seit der letzten Reinigung mit dem Besen darauf angesammelt.

In Venedig gibt es den Staub der Städte nicht, in denen der Straßenverkehr die Lungen der Einwohner mit Bazillen und Bakterien füllt; man kann dort tagelang umherlaufen, ehe die Schuhe den Glanz verlieren. Aber natürlich wird auch der verrottende Kehricht in den Callen und auf den Plätzen zu Staub und der Wind trägt ihn in die Häuser, und wenn ihm Zeit gelassen wird, sich zu setzen, dann wird er zu der feinen, schleierartigen Patina, die den alten Spiegeln und Lüstern von Murano, den Vergoldungen und Skulpturen das ›cachet‹ der Zeit verleiht, das dem Auge des Liebhabers und Kenners so lieb und wert ist.

»Nein«, sagte Windmüller, als sie, aus den wenigen westlichen Zimmern zurückgekehrt, in den großen Saal traten, der den Hauptteil der Nordfront einnahm, »nein, Donna Xenia hat, welchen Ausgang sie auch gewählt, diese Zimmer dazu nicht berührt. Es ist nicht eine Stelle des Fußbodens, die darauf schließen ließe, denn der wenige Staub, der in den zwei Tagen darauf gefallen ist, würde nicht hinreichen, ihre Spuren zu verwischen. Wenigstens hier in Venedig nicht und obendrein in Räumen, die so abgeschlossen sind wie diese. Wir müssen uns also anderswo nach einem Ausgang umsehen, denn es steht außer jedem Zweifel, daß Donna Xenia einen solchen gekannt – kennt und benützt hat.«

»Mit Verlaub, Signor – warum steht das außer Zweifel, wenn die Signora Principessa doch nur den Agostino zu wecken brauchte, um durch die Tür hinauszugehen, die sie zu benützen wünschte?« fragte der Majordomo.

»Hm – da sie das aber nicht getan hat, so haben jedenfalls gute Gründe sie bewogen, diesen einfachen Weg nicht zu wählen«, erwiderte Windmüller trocken. »Und da die Signora Principessa sich auch nicht gut fast drei Tage lang ohne jede Nahrung im Hause verbergen kann, so liegt es ganz nahe, daß sie es eben auf einem nur ihr bekannten Wege verlassen hat – «

»Wozu aber auch eine Tür gehört«, warf Don Gian achselzuckend ein.

»Oder ein Fenster!«

»Signor Dottore, die Fenster im ersten Stock waren alle geschlossen, und die des Erdgeschosses sind sämtlich vergittert!« rief Sebastiano, über die Hartnäckigkeit des Gastes in seinem Innern empört. »Bleiben nur noch die Keller auf den Landseiten – doch dort kommt keine Ratte hinaus, wenn sie einmal drin ist. Proprio! Mein Großvater selig, der schon Majordomo im Palazzo Terraferma war und uns Kindern oft davon erzählte, wie herrlich es zu seiner Jugend darin zugegangen, kannte auch alle die alten Legenden und Geschehnisse aus früherer Zeit und verstand schön davon zu reden. Von geheimen Zimmern hat er gesprochen, und daß die Leute aus den drei Stockwerken zueinander gelangen konnten, ohne die Treppen zu benützen – «

»Ah!« rief Windmüller aufmerksam.

»Ja, aber er sagte nicht, wie und wo das geschehen konnte«, fuhr Sebastiano geschmeichelt fort. »Er hat es wohl selbst nicht gewußt. Er erzählte auch, daß es in dem Palaste eine Trappola geben sollte, eine Falle für – für Menschen – «

»Unsinn! Eine Oubliette hier im Hause!« fiel Don Gian ein.

»Warum Unsinn?« fragte Windmüller. »Diese menschenfreundlichen Vorrichtungen gegen unbequeme Zeitgenossen waren namentlich in der Renaissance sehr beliebt. Ich kann Ihnen in Rom wenigstens zehn Paläste nennen, wo Oublietten existiert haben, von den Bergschlössern ganz zu schweigen – «

»Gewiß, Signor!« rief Sebastiano. »Auch hier in Venedig gibt's solche Trappole! Hat man im Palazzo Candiani nicht eine gefunden, als man den Aufzug dort anlegte? Gefüllt mit Skeletten! Der Herr Marchese werden sich erinnern, welches Aufsehen der Fund machte – es sind noch keine drei Jahre her!«

»Ja, ja, ich erinnere mich!« gab Don Gian unbehaglich zu. »Aber hier im Hause! Davon müßte ich doch etwas gehört haben!«

»Wer hatte es im Palazzo Candiani gewußt, Herr Marchese? Kein Mensch. Mein Großvater selig hat's noch von seinem eigenen Großvater gehört als ein großes Geheimnis.«

»Was es meinetwegen auch bleiben darf«, sagte Windmüller. »Mich interessiert es mehr, wieso und wo die Leute hier im Hause ungesehen und ohne die Treppen zu benützen in die verschiedenen Stockwerke kommen und ebenso das Haus verlassen konnten. Ich fürchte, ich werde die fremden Herrschaften in der Rolle des Architekten doch noch inkommodieren müssen. Später. Es eilt jetzt nicht. Ich werde jetzt einmal ausgehen, und wenn Sie mich begleiten wollen, Herr Marchese, so soll's mir recht sein. Nötig ist es nicht, falls Sie etwas anderes vorhaben, Ihre Verwandten begrüßen wollen oder – «

»In der Tat – ich möchte meiner Großmutter und meiner Schwester guten Tag sagen«, erwiderte Don Gian unentschlossen. »Doch nein – das muß warten«, setzte er hinzu, seinen Gefühlen als Mensch Zwang antuend. – »Sebastiano, du sollst der Frau Marchesa und Donna Loredana sagen, daß ich mit dem Herrn Doktor ausgehen mußte. Ist die Gondel zur Stelle?«

»Ich werde sie sogleich bestellen, Signor Marchese.«

*


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