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Die Gondel lag bereit vor dem offenen Hauptportal des Palastes, als Windmüller und sein Gastgeber die Treppe in die Halle hinabstiegen. Ersterer blieb darin stehen, scheinbar in den Anblick der malerischen Schönheit der Architektur dieses königlichen Raumes versenkt, während der letztere dem Portal zuschritt.

Agostino, der Portier, trat aus seiner Loge heraus und blieb halbwegs stehen in dem Gefühl, daß er dem Gast des Hauses die Ehre zu erweisen hatte. Er hatte nichts gegen den Gast einzuwenden; dieser fremde Herr war schon frühzeitig herabgekommen, hatte sich mit ihm über die Frau Principessa unterhalten und ganz seine Ansicht über den sonderbaren Fall geteilt. Er hatte ihm auch ein schönes, sehr schönes Trinkgeld dafür gegeben, weil er die letzte Nacht so lange seinetwegen hatte aufbleiben müssen.

Windmüller grüßte den Portier freundlich, fast vertraulich. »Ein hübscher Mensch, der Gondoliere«, bemerkte er, auf die schlanke Gestalt im weißen Matrosenanzug und blauer Schärpe deutend, der, das Ruder in der Hand, mit abgezogenem Strohhut auf der Poppa des Fahrzeugs stand.

»Er ist mein Sohn, Signore«, erwiderte Agostino mit einem stolzen Blick auf den schmucken Burschen.

»Ich hatte es mir gedacht, der Ähnlichkeit nach«, meinte Windmüller treuherzig. »Hm, ja! Er hat wohl die Frau Principessa vom Bahnhof abgeholt, als sie vor ein paar Tagen hier ankam?«

»O nein! Es wußte ja niemand, daß die Frau Principessa kommen würde. Altezza hatten sich eine Gondel am Bahnhof genommen.«

»Natürlich. Haben Sie zufällig – ganz zufällig bemerkt, welche Nummer die Gondel hatte?«

»Die Nummer? Dio mio, nein, darauf habe ich nicht geachtet«, machte Agostino bedauernd. »Aber ich kann sie leicht erfahren«, setzte er dienstfertig hinzu, »denn der Inhaber ist der Sohn von dem Obsthändler in der Ruga vecchia, dicht neben San Giovanni Elemosenario. Er hat sie noch nicht lange, die Gondel, der Mario – aus zweiter Hand gekauft, nicht neu, aber schön hergerichtet. Und mächtig stolz ist er darauf, gerade als ob das Ding für ihn gebaut worden wäre!«

»Nun ja, die erste eigene Gondel – das ist zu verstehen!« sagte Windmüller verständnisvoll. »Nein, es ist nicht nötig, nach der Nummer zu fragen. Es war nur so eine Idee von mir.«

»Er hat den Dienst jetzt an der Stazione, der Mario Spezier – ein guter Posten, Signor«, berichtete Agostino, »manche Leute haben eben Glück, aber der Mario wird auch nicht alle Tage eine Principessa zu fahren bekommen, die ihn mit Gold für die paar Ruderschläge von der Stazione bis hierher bezahlt!«

»Mit Gold?« wiederholte Windmüller mit gutgespieltem Staunen.

»Mit Gold«, bestätigte Agostino die unbegreifliche Angabe. »Ich hab's gesehen. Ich wollte die Gondel bezahlen, als die Frau Principessa damit angefahren kam, und dem Gondoliere das Trinkgeld geben, das immer dafür ausgelegt wird, aber Altezza hatten schon ihre Börse zur Hand und gaben dem Mario ein Goldstück. Ich hab's gesehen – ein gelbes Goldstück! Als ob der Mario das wechseln könnte, dachte ich mir. Aber der Mario dachte gar nicht daran, es zu wechseln! Er stecke es einfach in die Tasche und sagte: ›Mille grazie Eccelenza!‹ Er hätte das nicht gesagt, wenn Altezza sich vergriffen und ihm einen blanken Soldo gegeben hätte! Dann hätte er gewartet, bis Altezza im Hause war, und ich hätte ihm den Rest nachgezahlt. Aber er wartete nicht, sondern fuhr gleich davon, als Altezza kaum im Hause waren. Ein Goldstück für die Fahrt vom Bahnhof hierher! Natürlich hat er gemacht, daß er fortkam, ehe man ihm das Sündengeld wieder abjagen konnte!«

»Nun, zu verdenken ist's ihm nicht, wenn er den guten Fang behalten wollte«, meinte Windmüller, indem er dem Portal zuschritt, unter dem Don Gian wartend stand. Er stieg in die Gondel und sagte mit einem Blick auf die Uhr: »Wenn es Ihnen recht ist, Herr Marchese, möchte ich doch lieber zuerst zum Palazzo Labia, um die Fresken von Tiepolo zu sehen.«

Don Gian sah seinen Gast fast fassungslos an, ehe er dem Gondoliere: »Also – Palazzo Labia!« zurief und dann neben Windmüller Platz nahm mit der Miene eines Menschen, der den dringendsten Verdacht hat, neben einem Übergeschnappten zu sitzen.

»Ich hoffe, so weit ist es noch nicht mit mir«, beantwortete Windmüller laut diesen Gedanken mit einem leisen Schmunzeln. »Natürlich sage ich das nur mit dem Vorbehalt, den die mangelhafte Selbsterkenntnis jedem Menschen auferlegen sollte. Und zu Ihrer größeren Beruhigung; ich glaube auf dem Wege zur ersten Spur zu sein. Mehr kann ich jetzt nicht sagen und muß Sie auf später vertrösten; denn nachdem Sie mich am Palazzo Labia abgesetzt haben werden, muß ich Sie bitten, nach Ihrem Hause allein zurückzukehren. Ihre Gegenwart würde bloß ein Hindernis sein bei dem Gange, den ich vorhabe. – Mir kam nämlich beim Anblick Ihrer Gondel ein Gedanke, der mir eigentlich schon früher hätte kommen sollen. Aber was wollen Sie? Der Mensch ist ein Bündel von Unvollkommenheiten. Ich habe wieder einmal die Lehre erhalten, daß man sich nie auf Voraussetzungen verlassen darf. Man sollte überhaupt nichts voraussetzen, lieber Herr Marchese, ohne sich gleich zu vergewissern, ob das Konkrete mit dem Abstrakten übereinstimmt. Diese Betrachtung gilt natürlich nicht Ihnen, sondern ist nur ein Memorandum für mich.«

»Man wird ihm die allgemeine Nützlichkeit nicht abstreiten können«, erwiderte Don Gian ergeben. »Mein Verstand mag durch die Ereignisse etwas gelitten haben, Herr Doktor, denn wenn Sie mich totschlagen, so kann ich mir nicht vorstellen, inwiefern die Fresken Tiepolos im Palazzo Labia Sie auf eine Spur bringen können!«

»Ah!« machte Windmüller mit behaglichem Lachen. »Sie wollen mir schmeicheln, denn ich glaube bestimmt, daß Sie längst durchschaut haben, daß der Palazzo Labia nur ein Vorwand zum Benefiz Ihres Personals ist. Ein so großer Verehrer Tiepolos ich auch bin – heute habe ich leider nicht die Muße, eines seiner virtuosesten Werke zu bewundern. Ihr Gondoliere und sein würdiger Herr Vater brauchen aber nicht gleich zu wissen, was ich vorhabe, trotzdem ich dem letzteren den Hinweis auf die Spur verdanke, die sich hoffentlich als eine solche erweist.

»Capisco!« machte, Don Gian, sichtlich über den geistigen Zustand seines Gastes beruhigt. »Und ich? Was tue ich indessen?«

»Ah, Sie, lieber Herr Marchese, kehren in Ihrer Gondel in Ihr Haus zurück und sagen Ihren Verwandten dort guten Tag. Empfehlen Sie mich inzwischen der Frau Marchesa, der ich meine Aufwartung machen werde, sobald ich meine Geschäfte erledigt habe.«

»Die Collazione Collazione Frühstück wird um ein Uhr serviert«, erwiderte Don Gian mit förmlicher Höflichkeit. »Ich hoffe daran teilnehmen zu können, bitte aber nicht auf mich zu warten, falls ich nicht pünktlich da bin. Vielleicht finde ich die Persönlichkeit, nach der ich fahnde, gleich – vielleicht erst nach langem Suchen. Doch da mir sehr viel daran liegt, sie zu finden, so darf ich mir eine Rast auf der Jagd nicht gönnen. Das ist in meinem Berufe Gewohnheitssache. – Ah, dort grüßt der Palazzo Labia ja schon herüber!«

In der Tat glitt die Gondel eben aus dem Seitenkanal heraus auf den Canale Grande, kreuzte ihn schräg rechts, bog in den breiten Kanal des Canareggio ein und legte, in zwei Minuten die Fondamenta von San Geremia passierend, vor der stolzen Front des eleganten Palazzo Labia an, in dessen seit Jahren unbewohnten zahllosen Räumen die berühmten Kleopatrafresken Tiepolos langsam aber sicher ihrem völligen Ruin entgegengehen.

Hier stieg Windmüller aus, nachdem er sich von Don Gian verabschiedet, sah, auf dem Trottoir vor dem Palaste stehend, wie einer, den die Zeit nicht drängt, zu, wie die Gondel wieder zurückgewendet wurde, und als sie um die Ecke bei San Geremia verschwunden war, ging er mit einem abermaligen Blick auf die Uhr rechts um den Palast herum, überschritt, geradeaus bleibend, den dahinterliegenden Platz und ging ohne Hast, aber doch stetig fürbaß schreitend, die Lista di Spagna hinab. Diese Straße, ein im achtzehnten Jahrhundert zugeschütteter Kanal, führt vom Palazzo Labia aus in kurzer Zeit vorüber an dem ehemaligen Palast der spanischen Gesandtschaft, die ihn von der alten Patrizierfamilie Zeno kaufte. Jetzt ist das große Gebäude ein Erziehungsinstitut. Rechts von ihm liegt noch der alte Torweg zum Garten des Palazzo Morosini, der von den Österreichern als Kaserne benützt und dadurch dermaßen ruiniert wurde, daß er abgerissen werden mußte. So verschwand die berühmte, von Pordenone bemalte Fassade für immer aus der Reihe der Paläste am Canale Grande.

Bald stand Windmüller vor dem Ausgang des häßlichen Bahnhofs, für den aber der Kanal selbst mit der jenseitigen Reihe schöner Paläste, der hochragenden grünen Kuppel von San Simeone Piccolo und dem großen, prächtigen Garten der Grafen Papadopoli eine Entschädigung bietet. Wo in anderen Städten die Droschken stehen, liegen hier die Gondeln zur Beförderung der ankommenden Reisenden bereit, und da in wenigen Minuten ein Schnellzug fällig war, so waren die Gondeln auch in großer Zahl vorhanden.

Windmüller ging langsam den Kai entlang und musterte die mehr oder minder eleganten, mehr oder minder sorgfältig gehaltenen Fahrzeuge und ihre Lenker mit scharfem Blick, bis er darunter eine Gondel entdeckte, deren Hellebarde und die messingnen Seepferde Halter für die Schnur, die als Armlehne dient in der Sonne nur so funkelten, deren Kissen und Teppich noch fast neu erschienen. Mehr noch, der auf der Poppa hockende Gondoliere war ein junger Mann, der noch nicht lange der Gilde angehören konnte.

»Mario – Mario Spezier?« fragte Windmüller.

Zehn Stimmen erwiderten gleichzeitig: »Eccolo! Da ist er!«

Der junge Gondoliere, den Windmüller darauf taxiert hatte, der Gesuchte sein zu können, erhob sich sofort und brachte sein Fahrzeug an die Stufen. Windmüller stieg ein, machte eine Handbewegung nach der Brücke zu, und bald hatte sich die Gondel aus dem Gewirr geschickt und, ohne auch nur eines der vielen anderen Fahrzeuge zu streifen, herausgewunden.

»Palazzo Terraferma dalla Luna!« sagte Windmüller, sich auf seinem Sitze umwendend, und der Ausdruck, den er bei dieser Adressenangabe über das hübsche, gebräunte Gesicht des Gondoliere fliegen sah, belehrte ihn, daß er sich nicht verrechnet hatte, als er hier eine mögliche Spur zu suchen kam. Aber dieser Ausdruck gab ihm zu raten – es war mehr wie Ärger, der sich am Ende auf die zu kurze Fahrt, die den Mann um einen besseren Verdienst brachte, beziehen lassen konnte; die Röte, die dem Gondoliere ins Gesicht gestiegen, war eine unleugbare Zornesröte, die das Aufblitzen der Augen unterstützte.

Windmüller hatte nicht viel Zeit übrig, zu reden und zu überlegen; er mußte sich, wie so oft in seinem Beruf, auf seinen Witz verlassen, namentlich aber auf seinen feinen, hochgradig entwickelten Instinkt, dem er zum größten Teil seine Erfolge verdankte.

Als die Gondel vom Canale Grande rechts in den Seitenkanal abbog, drehte er sich um. »Rudern Sie langsam, Mario – ich habe mit Ihnen zu reden«, sagte er in dem Tone vertrauenerweckender Selbstverständlichkeit, der ihm so oft schon gute Dienste geleistet, und den er der vor ihm befindlichen Person entsprechend so ungemein überzeugend modulieren konnte. »Va bene, Signor!« erwiderte der Gondoliere, sein Ruder einziehend. »Ich dachte es mir, daß der Signor mir etwas zu sagen hatte. Warum hätte er sonst gerade mit mir fahren wollen?«

»Altro!« machte Windmüller trocken und setzte lachend hinzu: »Warum machten Sie dann aber ein so böses Gesicht, als ich Ihnen sagte, Sie sollten mich zum Palazzo Terraferma fahren?«

Mario zuckte mit den Achseln, antwortete aber nicht, sondern sah seinen Fahrgast nur erwartungsvoll an.

Diesem wären ein paar Worte, die ihm einen Anhalt für die nachfolgende Unterhaltung gegeben hätten, lieber gewesen; da Mario aber offenbar dem diplomatischen Grundsatz huldigte, daß man das erste Wort immer von der anderen Seite erwarten müsse, so blieb Windmüller nichts übrig, als einen Fühler auszustrecken. Er zog seine Geldtasche und sagte vertraulich: »Die Frau Principessa ist Ihnen etwas schuldig geblieben – nicht wahr?«

Mario zuckte wieder mit den Achseln und legte den Beweis ab, daß er wirklich diplomatisches Talent hatte. »Der Signor sind beauftragt, mit mir darüber zu sprechen?« fragte er vorsichtig.

»Gewiß!« versicherte Windmüller ohne Zögern, wozu er auch volles Recht hatte, denn sein Auftrag lautete, das verschwundene Dokument zu suchen. Dazu mußte er natürlich erst die Principessa finden, und zu diesem Ende durfte kein Weg unversucht bleiben. Daß dieser kein Holzweg sein konnte, war schon jetzt ziemlich zweifellos geworden. »Die Frau Principessa hatte Sie beauftragt, sie zu einer bestimmten Stunde am Palazzo Terraferma abzuholen. So war es doch?«

Jetzt gab Mario seine abwartende Rolle auf. Er trat von der Poppa herunter und dicht hinter den Doppelsessel der Gondel, auf dem Windmüller saß, halb nach rückwärts gekehrt.

»So war es«, bestätigte er halblaut. »Die Frau Principessa hatte mir das Versprechen abgenommen, nicht darüber zu sprechen, wenigstens nicht für die nächsten Tage, und ich habe mein Versprechen gehalten. Warum auch nicht? Was geht's mich an, was geht es die Leute an, was sie tut? Es ist ihre Sache. Und wie es sich gemacht hat, liegt mir auch gar nichts daran, daß die Leute sich schadenfroh erzählen können: der Mario hat im September einen Aprilfisch gefangen. Va bene! Und weil ich doch glauben mußte, daß die Frau Principessa mich angeführt, so hat der Name des Palazzo Terraferma eben gemacht, daß ich ein wenig böse aussah. Daß der Signor es bemerkte, war nicht meine Absicht. Ich überlegte mir auch gleich, daß der Signor nicht umsonst nach meiner Gondel gefragt hatte.«

»Das war gescheit«, lobte Windmüller, dem die Unterhaltung nun sehr interessant wurde. »Die Frau Principessa hatte natürlich nicht die Absicht, Sie in den April zu schicken – das versteht sich von selbst. Man ist in einem Hause, in dem man nicht der Herr ist, nicht immer imstande, die Zeit einzuhalten. Es kommt dieses und jenes dazwischen, man bekommt Besuche – «

»Die Frau Principessa hatte mich nachts um zwei Uhr bestellt. Da wird sie wohl keine Besuche mehr bekommen haben«, fiel Mario ein.

Das hatte Windmüller aber nur wissen wollen. »Vielleicht nicht«, gab er zu. »Nun, auf alle Fälle war die Frau Principessa verhindert, sich zu der vorgesehenen Zeit nach Fu- nach Giu-«

»San Giuliano, Signor.«

Richtig – nach San Giuliano rudern zu lassen«, bestätigte Windmüller, indem er sich den Kopf zerbrach, wo in aller Welt dieser Ort liegen konnte, und was die Principessa dort gewollt.

Eine kleine Erleuchtung über diesen Punkt, die aber zur befriedigenden Erhellung nicht hinreichte, erhielt er durch den Gondoliere ungefragt. »Signor, das ist alles ganz gut und schön«, sagte Mario lebhaft, »aber schließlich, einen kleinen Wink hätte die Signora Principessa einem schon geben können! Ich will ja nicht davon reden, daß ich fast zwei Stunden an der Lastra auf sie gewartet habe, ohne daß ich vom Palazzo aus ein Zeichen erhalten hätte. Es gibt ja doch Fenster im Palazzo, Signor, durch die man den Leuten draußen einen Wink geben kann! Und sie hatte mich doch auch am Nachmittag schon nach San Giuliano geschickt, um im Albergo della Scimia das Zimmer für sie zu bestellen. Der Padrone hat auch natürlich umsonst gewartet, aber das war schließlich sein einziger Verlust. Mir aber wollte die Frau Principessa die verlorene Zeit am Nachmittag bezahlen und die Fahrt in der Nacht natürlich extra – – eh, per Bacco, Signor, wenn man denkt, um den hübschen Verdienst genarrt worden zu sein, da kann's einem kein Mensch verargen, wenn man ein Gesicht schneidet!«

»Nein, mein guter Mario, das verargt Ihnen kein Mensch!« rief Windmüller, den Geldbeutel wieder einsteckend und seine Brieftasche hervorholend, denn hier handelte es sich nicht mehr um ein paar Silberstücke, sondern um Banknoten. Ob diese auf die Kostenrechnung seines Auftraggebers oder auf das Konto des Hauses Terraferma oder aber am Ende auf das der Principessa fallen würden, kam im Augenblick nicht in Betracht: der arme Teufel von Gondoliere durfte nicht um sein redlich verdientes Geld gebracht werden. Es war ja nicht Marios Schuld, wenn er die Arbeit dafür nicht verrichten konnte.

Mario war aber ein redlicher Mensch. Nicht, daß er sich ein Gewissen daraus gemacht hätte, einen Fremden zu überfordern: wer zu seinem Vergnügen reist, der soll auch dafür bezahlen, das war seine Meinung. »Ich will ja«, sagte er eifrig, »nicht von den hundert Lire reden, die die Frau Principessa wir versprochen hatte. Wenn ich nur die Entschädigung für die verlorene Zeit, wo ich am Nachmittag mit dem Dampfer nach San Giuliano fuhr, um mit dem Padrone der ›Scimia‹ zu sprechen, und für das unnötige Warten in der Nacht bekomme, dann will ich schon zufrieden sein!«

Windmüller nahm eine Banknote aus seiner Brieftasche und gab sie dem Gondoliere. »Geschäft ist Geschäft«, sagte er ernsthaft. »Es ist nicht Ihre Schuld, daß Sie die beanspruchte Zeit nicht rudern, sondern warten mußten. Und hier sind auch noch zehn Lire für den Padrone der ›Scimia‹, die Sie ihm gelegentlich geben können. – So, und jetzt zum Palazzo Terraferma!«

Mario bedankte sich mit strahlendem Gesichte, aber mit Anstand und keineswegs servil, und zu seiner Poppa zurückkehrend, ließ er die Gondel den Rest des Weges so rasch zurücklegen, als es die zu nehmenden Ecken des schmalen Kanals nur eben erlaubten.

Dicht vor dem Sackkanal an der östlichen Ecke des Palastes angelangt, wendete sich Windmüller um. »Zeigen Sie mir die Lastra, bei der Sie auf die Frau Principessa warten sollten«, sagte er zu dem Gondoliere.

»Va bene! Der Signor kann am Ostportal auch aussteigen«, erwiderte Mario, indem er in den Kanal hineinlenkte. »Ecco la lastra!«

Es war eine etwa mannshohe Platte von Marmor, auf die er hinwies, die dicht über der Fluthöhe des Kanals, umgeben von einem Rahmen von bearbeitetem weißem Marmor, zwischen dem zweiten und dritten Fenster des darüberliegenden Geschosses in die Backsteinmauer eingelassen war und eine Inschrift trug, die die Erbauung des Palastes behandelte und diesen als Geburtsstätte des Dogen aus dem Hause Terraferma feierte. Die Wassermarke von der letzten Flut war noch deutlich am Fuße der Steinplatte sichtbar: sie reichte gerade bis an den unteren Teil des Rahmens der Platte, die am äußeren Rande das gezahnte gotische Muster der Fensterumrahmungen und der Ecken des Palastes zeigte.

Windmüller betrachtete diese Lastra mit einem Interesse, das Mario zu der innerlichen Bemerkung veranlaßte, sein Fahrgast könnte am Ende doch ein Fremder sein. Aber das archäologische Interesse Windmüllers, das ihm zunächst die Frage aufgedrängt, warum diese Gedenktafel nicht an der Front des Palastes angebracht worden war, trat sehr in den Hintergrund vor gewissen Berechnungen, die er anstellte.

»War es gerade die Zeit der Flut, als Sie hier warteten, Mario?« fragte er dann lebhaft.

»Si, Signor – Hochflut« erwiderte der Gondoliere und setzte auch seinerseits lebhafter hinzu: »Ich erinnere mich, daß die Signora Principessa mich fragte, wann in nächster Nacht die Flut einträte. Ich war nicht ganz sicher und sagte nur, das würde gegen zwei Uhr sein, und dann bestimmte die Signora, ich sollte um zwei Uhr hier an der Lastra sein. Es geht mich nichts an, Signor, aber man macht sich doch seine Gedanken, und darum habe ich mich auch gefragt, warum ich an der Lastra warten sollte und nicht lieber gleich dort am Ostportal, da sie doch wahrscheinlich in die Gondel steigen wollte!«

»Ja, vermutlich«, gab Windmüller zu. »Nun rudern Sie mich jetzt dorthin.«

Die enorme Tiefe des Palastes wurde etwa in der Mitte durch das genannte Portal unterbrochen, zog sich dann bis zum Ende des Kanals und ein Stückchen über diesen hinaus auf der Fondamenta hin und zeigte keinerlei weitere Unterbrechung der wetterfesten Backsteinmauer im Erdgeschoß als hie und da unregelmäßig angebrachte, stark vergitterte quadratische Fenster, welche die unteren Räume jedenfalls nur schwach erleuchteten, selbst wenn Staub und Spinnweben gefehlt hätten.

Tief in das immer verwickelter werdende Rätsel der Principessa Terraferma versenkt, stieg Windmüller die Treppe des Palastes hinauf, nachdem er sich freundschaftlich von Mario verabschiedet und ihm den Rat gegeben hatte, möglichst reinen Mund über die nicht stattgefundene nächtliche Fahrt zu halten. Er hatte das nur im Interesse der Familie getan nicht, weil es sonstwie darauf angekommen wäre.

Unten beim Portier, der ihm zuflüsterte, daß der Gondoliere, der ihn eben hergeführt, der nämliche sei, dem die Frau Principessa die Fahrt vom Bahnhofe mit einem Goldstück bezahlt, hatte er sich den Fahrplan der Schiffskurse für die Umgebung Venedigs geben lassen und darauf gefunden, was er gesucht: den Ort San Giuliano, der am nördlichen Ufer des Festlandes liegt, durch einen vom Rialto abfahrenden Dampfer mit Venedig und durch eine Straßenbahn mit Mestre verbunden. Daß die Principessa die letztere benützen wollte, um ungesehen dort den Zug nach Rom erreichen zu können, und zwar den Schnellzug, der in Venedig um acht Uhr abgeht, und nicht den Frühzug um fünf Uhr, war ganz klar, denn die Straßenbahn von San Giuliano ging natürlich um diese Zeit noch gar nicht. Sie wollte also im Albergo della Scimia mit Ruhe den für den Achtuhrzug passenden Wagen in San Giuliano abwarten. Auf keinen Fall hatte es die Principessa für geraten gefunden, im Palazzo Terraferma zu bleiben, und ihr Plan, sich auf dem kleinen Umwege beizeiten mit ihrem Raube zu entfernen, war, von ihrem Standpunkte aus betrachtet, durchaus wohl erwogen und klug. Es war auch zu verstehen, daß sie sich mit ihrem Koffer keinen Ballast aufladen wollte, der sie dazu gezwungen hätte, ihre Aufmerksamkeit zwischen diesem für eine Tagereise entbehrlichen Gepäck und ihrer Handtasche zu teilen, die jedenfalls das geraubte Gut enthielt. Sie hatte an alles gedacht und es sehr sorgfältig erwogen, wie es von der geheimen Agentin einer Großmacht zu erwarten war – hier aber setzte das noch ungelöste Rätsel ein, denn es stand nun fest, daß sie die bestellte Gondel nach San Giuliano nicht benützt hatte. Der Mann hatte nach seiner Angabe vergeblich auf die Principessa gewartet und war dann davongefahren, ohne ein Zeichen, eine Weisung erhalten zu haben.

Wie und auf welchem Wege hatte sie sich nun aus dem Palaste entfernt, den sie doch unbedingt verlassen haben mußte? Welchen Zweck hatte sie mit der Wahl des Rosazimmers für ihren kurzen Aufenthalt gehabt? Warum mußte die Gondel, statt an einem der Wassertore, gerade an der Mauer vor der Lastra warten? Wo war sie mitsamt dem Dokumente hingekommen? Wo sollte man sie suchen, wenn sie keine Spuren hinterlassen?

Wenn der Majordomo behauptet hatte, daß sie durch die Luft nicht gut verschwunden sein konnte, so traf das für unsere Tage nicht mehr zu, denn jeder Mensch kann sich heut mit einem Aeroplan entfernen. Aber auch dazu muß man das Haus erst auf dem ordentlichen Wege verlassen, sintemalen eine Flugmaschine genötigt ist, sich auf einem entsprechenden Platze niederzulassen, um einen Passagier aufzunehmen. Windmüller zweifelte daran, daß das Dach des Palazzo Terraferma der geeignete Platz dafür sein konnte. Ferner fliegt ein Aeroplan nicht lautlos, sondern seine Propeller machen Lärm genug, um selbst Leute mit festem Schlaf aufzuwecken; die ganze Nachbarschaft wäre sofort auf den Beinen gewesen, von den Bewohnern des Palazzo ganz zu schweigen.

Natürlich war diese Möglichkeit nur ein Phantasiesprung, der überhaupt nicht ernstlich in Betracht kommen konnte, schon weil Flugmaschinen noch nicht als Luftdroschken anzusehen sind. Auch hätte sich die Principessa keine Gondel bestellt, wenn sie eine derartige Abholung beabsichtige oder vermutete.

Windmüller hielt es gleich jedem guten Feldherrn für keine Schande, von einem ebenbürtigen Gegner geschlagen zu werden. Während er die Treppe des Palazzo Terraferma hinaufstieg, hatte er jedoch das sonderbare Gefühl, daß sein Gegner, dem er einen Raub von völkerbewegender Wichtigkeit entreißen solle, ein Schatten war, durch den seine sonst so sichere Hand durchgriff – ins Leere. Nicht, weil die ganze Sache keinen Präzedenzfall hatte – nein, weil die Spuren so plötzlich aufhörten, wie die eines Vogels im Sande, der sich plötzlich in die Luft erhebt und davonfliegt. Dieser Vergleich war es, der Windmüller an den Aeroplan denken ließ. Die Principessa Terraferma hätte ihre Spuren gar nicht erfolgreicher plötzlich unterbrechen können, als ein davonfliegender Vogel. Da sie aber keiner war –

In seine Gedanken versunken, hatte Windmüller gar nicht bemerkt oder wenigstens nicht darauf geachtet, daß jemand vor ihm die Treppe hinaufging und an der Biegung sogar stehen blieb, um ihn mit ein Paar großen, veilchenblauen Augen unverhohlen zu betrachten. Dieser Jemand war eine junge Dame in einem weißen, sehr schick gearbeiteten Leinenkleide, einem weißen Strohhut mit einfachem, schwarzem Bande darum, aber darunter einer Haarpracht von der seltenen Farbe, die wie Platina in den höchsten Lichtern metallisch glänzt und tiefgoldene Schatten hat. Und zu diesem Haar gehörte naturgemäß ein Teint wie eine Malmaisonrose, der obendrein noch zu einem jungen Gesicht gehörte, das, ohne geradezu schön zu sein, so lebhafte, charakteristische Züge und eine so unwiderstehliche Anmut hatte, das sicher neun von zehn Personen ihnen den Vorzug vor jedem Schönheitsideal gegeben hätten.

verkörperte Göttin der Jugend blieb auf der obersten Treppenstufe des Piano nobile stehen und wartete es ab, bis der in seine Gedanken Versunkene auch oben war.

»Herr Doktor Windmüller?« fragte sie mit einem reizenden Lächeln auf deutsch.

»Zu Befehl! Aber mit wem – «

»Also habe ich mich doch verändert!« rief sie lebhaft. »Und die Leute sagen alle – nein, nun raten Sie mal, Herr Doktor! Besinnen Sie sich noch vor – na, vor einigen Jahren zum Besuch auf dem Gute des Freiherrn von Rittersbach gewesen zu sein?«

»Ich besinne mich sehr gut darauf«, erwiderte Windmüller trocken, denn dieser Besuch hatte der Entdeckung einer hochgestellten Dame gegolten, die an ›Kleptomanie‹ litt und Diamanten zu ihrer Spezialität gemacht hatte.

»Schön! Besinnen Sie sich ferner darauf, unter den zahlreichen Gästen des Hauses einen Botschaftsrat Graf Meldeck gesehen zu haben – «

»Natürlich!« fiel Windmüller ein. »Er hatte eine Tochter mit sich, ein halberwachsenes Ding, das mit lang herabhängenden blonden Haaren auf einem langmähnigen und langgeschwänzten, halbwilden Pony herumritt und mich mit ihrer Freundschaft beehrte – und diese junge Walküre wollen Sie doch nicht etwa sein?«

»Ob ich will oder nicht – ich bin's!« rief sie mit einem wundervoll graziösen Knicks. »Wegen der aufgedrängten Freundschaft bitte ich um Entschuldigung, aber wenn man als Backfisch mal für jemand schwärmt, dann wehe dem armen Opfer! Sie hätten mich aber fast von dieser Krankheit geheilt, denn als ich Sie damals, wie ich Sie allein in der Bibliothek fand, selig über diesen Zufall, unterhalten wollte, schickten Sie mich einfach fort, indem Sie mir vorflunkerten, Papa suche mich wie eine Stecknadel! Hübsch war das nicht von Ihnen, und es hat mir damals fast das Herz gebrochen – faktisch!«

»Nein, hübsch war's nicht«, entgegnete Windmüller schmunzelnd. »Aber was wollte ich machen? Ich wartete damals auf eine höchst dramatische Schlußszene mit einer höchst rabiaten Person, und da kamen Sie und fragten mich, ob ich gern kandierte Veilchen esse! Ich habe Ihnen übrigens nach meiner Abreise welche zum Trost und als Friedenspfeife sozusagen geschickt – «

»In einem Beutel von Goldbrokat! – Und das waren Sie! Ich hab' ihn noch – den Beutel nämlich, ohne zu ahnen, daß diese fürstliche Überraschung von Ihnen, meinem ›Schwarm‹, kam! Sie waren mir damals ganz furchtbar interessant!«

»Ich werde mich bemühen, diesen Zustand zu erhalten«, sagte Windmüller, angeregt und erfrischt durch die Natürlichkeit dieses jungen Wesens. »Aber wie kommt es, daß ich Sie hier treffe? Oh, ich verstehe – Ihr Herr Vater ist der Mieter, der gestern hier eingezogen ist!«

»Ach du lieber Himmel! Papa wäre viel zu arm gewesen, um diese Wohnung zu mieten«, rief sie mit größter Aufrichtigkeit, und mit plötzlich umflorten Augen setzte sie leiser hinzu: »Mein Vater starb schon ein halbes Jahr nach unserem Besuche bei Rittersbachs.«

Windmüller ergriff bewegt ihre Hand und drückte sie stumm, denn er hatte den Toten gekannt und geschätzt und wußte, daß seine Tochter nun eine doppelte Waise war.

»Papa hatte zu meinem Vormund einen Jugendfreund bestimmt«, fuhr Komtesse Meldeck nach einer Pause vertraulich fort. »Aber der konnte mich bei sich nicht aufnehmen – er hatte keinen Platz. Da ging ich zu einer Patin, einer wunderlichen alten Dame – sie hatte sicher etwas von Aschenbrödels Patenfee an sich – und blieb bei ihr, bis auch sie unlängst starb. Nun hatte mein Vormund Platz für mich, und trotzdem ich eigentlich – eigentlich lieber in die weite Welt gegangen wäre, ließ ich mich doch überreden und zog zu ihnen. Aber mein erstes war, den Onkel ›Kumm‹ und die Tante ›Wenn‹ zu einer Reise nach Venedig breitzuschlagen, und hier trafen wir zufällig die Gräfin Candiani, die ich von Rom her kannte, und als ich ihr meine Sehnsucht vortrug, in einem richtigen alten venezianischen Palast zu wohnen, in dem es rechtschaffen spukt und der voll von historischen Erinnerungen ist, da sagte sie, mir könnte geholfen werden, brachte uns selbst hierher – und da sind wir!«

»Und da sind Sie – mit allerhand Hochachtung vor einem Vormund, der so willig auf die Wünsche seines Mündels eingeht.«

»Ja – 's ist die Menschenmöglichkeit«, sagte Komtesse Meldeck trocken – so trocken, daß Windmüller aufhorchte: »Vielleicht kennen Sie ihn – wenigstens dem Namen nach, denn er ist ein bedeutender Heraldiker – Freiherr von Krähenhausen.«

»Hm, ja – mir scheint, als hätte ich von ihm gehört. Nannten Sie nicht vorher einen anderen Namen? Onkel Krumm?«

Sie lachte lustig auf. »Nicht Krumm, sondern Kumm! Das ist nur ein Spitzname, den ich ihm gegeben habe. Er leidet nämlich an chronischem Stockschnupfen, der Gute, und wenn ihm der in den Weg tritt, dann erleichtert er sein Riechorgan durch einen Stoß, den die Silbe ›Kumm!‹ begleitet. Und weil seine Frau für alles und jedes in dieser schönen Welt eine Verbesserung weiß und diese immer mit einem ›Wenn‹ einleitet, so habe ich sie ›Tante Wenn‹ getauft. Sie haben auch einen Sohn, der ausgerechnet Wiwigenz heißt und Professor der Geschichte ist, und – ich kenne ihn zwar noch nicht – ein gräßlicher Kerl sein muß, denn seine Eltern loben und preisen seinen Geist, sein Wissen, seine Schönheit und die Erhabenheit seines Charakters bei jedem Quark, den wir miteinander sprechen. Ein solcher Ausbund muß fürchterlich für einen gewöhnlichen Sterblichen zu ertragen sein – nicht?«

»Es kommt darauf an. Wenn er sich selbst für einen Ausbund hält, dann gebe ich Ihnen recht, Komtesse«, erwiderte Windmüller, indem er sich fragte, ob diese Loblieder einzig und allein das Resultat einer Affenliebe waren oder sonst noch einen Zweck verfolgten, was ja nicht unmöglich schien, wenn diese Leute so reich waren, daß es nicht darauf ankam, ob ihr Sohn ein armes Mädchen heiratete – falls er nicht schon verheiratet war. »Hoffentlich ist seine Frau derselben Ansicht wie seine Eltern«, setzte er gewohnheitsmäßig sondierend hinzu.

»Hoffentlich findet er eine, die's tut – meinen Segen hat sie«, versicherte Komtesse Meldeck. »Und wie sind Sie zufrieden mit Ihrem Quartier?« fragte Windmüller, ein anderes Ziel verfolgend, nachdem seine berufsmäßige Wißbegier auf diesem Seitensprunge befriedigt war.

»Oh, der Palast – mindestens was wir davon haben – ist wunderbar!« ging sie mit vollem Enthusiasmus auf dieses Thema ein. »Kennen Sie ihn schon lange? – Erst seit gestern? Dann müssen Sie unsere Wohnung sehen – sie ist ein Traum, ein richtiger Traum von Venedig! – Haben Sie jetzt Zeit? Onkel Kumm und Tante Wenn sind noch auswärts – ich habe sie schnöde verlassen, als sie auch San Marco mit Weihrauchwolken für ihren Wiwigenz füllen wollten. Das war mir zu viel – ich schützte Müdigkeit vor und habe dadurch – Sie getroffen, angefallen dürfen wir schon ruhig sagen, denn sonst hätte ich dieses Wiedersehen wohl kaum feiern dürfen!«

Windmüller bestritt das sofort. »Ganz im Gegenteil – dies Wiedersehen wäre für Sie unvermeidlich gewesen, Komtesse. Ich hatte nämlich die für mich noch namenlosen Bewohner des Piano nobile bitten wollen – durch die Vermittlung des Marchese Terraferma wohlverstanden – ihre Wohnung besichtigen zu dürfen. Es soll hier ein Aufzug angelegt werden, und ich als der dazu berufene Architekt – «

»Architekt?« unterbrach sie ihn verwundert. »Seit wann sind Sie denn – Architekt geworden? Noch dazu einer, der Aufzüge in die Häuser baut?«

»Das ist doch ein sehr nützlicher Beruf, Komtesse«, erwiderte Windmüller unschuldig.

»Sehr!« wiederholte sie lachend. »Aujust, merkst du was? Also, als Architekt sind Sie hier! Bei Rittersbachs waren Sie als ›Privatgelehrter‹, was mir furchtbar imponierte. Papa hat mir aber dann verraten, wer Sie eigentlich sind – eben der Große Windmüller, und das hat mir nicht nur noch mehr imponiert, sondern mir geradezu Ehrfurcht, vermischt mit angenehmem Gruseln, eingeflößt!«

»Nun«, meinte er, gleichfalls lachend, »dann brauche ich mich vor Ihnen ja nicht erst mit technischen Gemeinplätzen anzustrengen! Möglicherweise wissen aber Ihr Herr Vormund und seine Gattin nichts vom ›Großen Windmüller‹, und da wäre es mir ganz lieb, wenn Sie es beim Architekten bewenden ließen!«

Jetzt machte Komtesse Meldeck noch größere Augen.

»Oh – Sie sind also im Berufe hier!« flüsterte sie, unbewußt und unwillkürlich die Stimme dämpfend. »Nein, wie interessant!«

»Nun, was das betrifft, so fürchte ich, ›es zahlt sich net aus‹, wie ein Bekannter von mir zu allem sagt, was enttäuschend auf ihn wirkt. Ich will in diesem Hause keinen Räuber, Mörder oder gemeinen Dieb abfassen – es ist für mich nur ein Absteigequartier in Venedig, und vielleicht bin ich in wenigen Stunden schon über alle Berge. Mein Interesse am Piano nobile hier ist wirklich nur ein rein – architektonisches und richtet sich hauptsächlich auf ein gewisses Rosazimmer und – seine nächste Umgebung.«

Windmüller fand es etwas schwer, diese halben Wahrheiten unter dem Blick der auf ihn gerichteten blauen Augen glaubwürdig vorzutragen, denn diese Augen waren nicht nur außergewöhnlich intelligent, sondern auch so klar und rein wie ein Bergsee – das köstliche »Blauseeli« im Kandertal kam ihm unwillkürlich in den Sinn bei diesen Augen, die ihn schon vor nun fast fünf Jahren einmal fast »aus dem Text« gebracht hatten. Sie waren noch geradeso wie damals: man konnte bei ihnen, wie beim »Blauseeli«, bis auf den Grund sehen, und auf diesem erblickte er hier eine ganze Herde von Schelmen, die sich königlich über seine »Erklärung« amüsierten.

»Das trifft sich herrlich, denn das Rosazimmer und seine nächste Umgebung bewohne ich!« rief Komtesse Meldeck triumphierend. »Mein Vormund und Frau von Krähenhausen haben auf der Westseite sieben Zimmer zu ihrer werten Verfügung – sie können darin Verstecken spielen, wenn sie wollen. Dann kommt als neutraler Boden der Saal und an diesen stößt mein Reich – in das ich Sie hiermit feierlich einlade.«

Windmüller versprach sich zwar nicht viel von einer jetzt notgedrungen nur sehr flüchtigen Besichtigung der Räume, aus denen die Prinzessin Xenia Terraferma auf einem bisher noch unerklärten Wege aus dem Palast entschwunden war, indes durfte er die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, um wenigstens einen Überblick davon zu erhalten, und so folgte er seiner reizenden jungen Führerin durch den von der Loggia begrenzten Vorsaal, in dem sie bisher gestanden, zunächst in den mit verschwenderischer Pracht ausgestatteten Saal. Den ursprünglichen gotischen Stil hatte eine Restauration des sechzehnten Jahrhunderts verdrängt – an die Stelle der alten Balkendecke war eine von vergoldeter Holzschnitzerei getreten, wie wir sie im Dogenpalast ob ihres Reichtums bewundern können. In ihrem zum Rahmen sich formenden Zentrum hatte Paul Veroneses Pinsel ein Deckenbild von unvergänglichem Farbenzauber geschaffen, den historischen Moment verherrlichend, in der Admiral Angelo Terraferma der thronenden Venezia die eroberten Türkenfahnen mit dem Halbmond überreicht. Die Wände des Saales bedeckten Paneele von vielscheibigem Spiegelglas, in holzgeschnitzte, vergoldete Rahmen gefaßt, zwischen denen Streifen einer Tapete von Seidendamast sichtbar wurden, von jenem zarten Gelblichgrün, dessen Färbung zu den verlorenen Tönen gehört oder durch die Zeit geschaffen ist. Die Polstermöbel überspannte derselbe Stoff, der auch von der durch schlanke Säulen getrennten gotischen Fensterreihe als Vorhänge in reichen Falten herabhing.

»Das ist ein königlicher Saal«, bemerkte Windmüller mit der andächtigen Bewunderung des Kenners. »Stören Sie vielleicht die gotischen Fenster, Komtesse? Mich nicht! Die Künstler jener Zeit, die doch heute noch maßgebend sind, scheuten die Mischung der Stilarten keineswegs, und sie hatten recht damit. Sie haben damit wunderbar malerische Effekte erreicht.«

»Es ist ein wonniger Saal!« bestätigte Komtesse Meldeck, über den glatten Marmorboden hinschassierend. »Ich war in ihn verliebt, ehe das Rosazimmer mich einfach verzaubert hat. Ob Paul Veronese im grünen Wams und Mantel und in der spitzenbesetzten Halskrause, wie er sich selbst auf dem Bilde des ›Gastmahls‹ in der Akademie gemalt, hier herumgewandelt ist? Gewiß! Ich kann ihn förmlich drüben in der Tür stehen sehen. Ich kann überhaupt vieles sehen, was andere nicht sehen. – Droben in der zweiten Etage ist der Saal in zwei Räume geteilt – einer davon ist der Salon der famosen alten Marchesa – sieht sie nicht aus wie ein aus dem Rahmen gestiegenes Ahnenbild? – So, und nun kommen wir hier links in das Eckzimmer, die Stanza del' Brustoloni genannt, weil dieser Meister die Ebenholzmöbel darin geschnitzt hat. Es ist mein ›Empfangszimmer‹, denn um darin zu wohnen, sind diese Möbel weniger geschaffen. Man stößt sich Schienbeine und Knie an den Füßen der Tische zuschanden und schlägt sich Löcher in den Kopf, wenn man sich in den Sesseln und auf dem Sofa bequem anlehnen will. Sonst aber sind's ja Wunderwerke – nicht wahr?«

Windmüller konnte seiner Führerin nur recht geben: die figürliche Plastik, aus dem eisenharten, bleischweren Material des glänzend schwarzen Ebenholzes geformt, war bewunderungswürdig in ihrer Kühnheit und in ihrem Reichtum; jeder Sessel, jeder Tisch war ein Schaustück, aber sicherlich nicht zum täglichen Gebrauch bestimmt. Die goldfarbenen Damastbezüge und Tapeten hoben das tiefe Schwarz zu künstlerischer Wirkung, und auch der Mantel des Kamins war von schwarzem, mit nur wenig weißen Adern durchzogenem Marmor. An den Wänden hingen Porträte – Familienbilder von Tizian, Tintoretto, Giorgione und Pordenone gemalt, Kunstschätze, die das Auge des Fremden in Venedig nicht einmal ahnt, geschweige denn zu sehen bekommt.

»Und nun – › sieh her und bleibe deiner Sinne Meister!« zitierte Komtesse Meldeck, indem sie die Türflügel zu dem folgenden Zimmer, das nach Windmüllers Berechnung unter dem Schlafzimmer des Marchese lag, öffnete und eine einladende Handbewegung machte. »Dies ist das berühmte Rosazimmer. Es wurde für den Besuch der Königin von Polen und Kurfürstin von Sachsen, Maria Josepha von Österreich, des Kaisers Joseph I. Tochter, hergerichtet, und, wie Sie sehen, nicht daran gespart. Es war damals Sitte, daß die großen Patrizierfamilien die fremden Souveräne, die nach Venedig kamen, bei sich aufnahmen, und daß sie sich dabei nicht lumpen ließen, dafür bürgte der Glanz der Meereskönigin. Es kam bei solchen Gelegenheiten gar nicht darauf an, was es kostete; wurde doch beim Besuch Kaiser Friedrichs III. im Jahre 1452 die Rialtobrücke einfach abgerissen, um den ›Bucintoro‹ durchzulassen, mit welchem Staatsschiff der Doge seinen hohen Gast von Mestre abgeholt hatte.«

Während Komtesse Meldeck mit enthusiastischer Lebhaftigkeit also plauderte, hatte Windmüller festgestellt – was er übrigens auch erwartet hatte – , daß die Verbindungsmauer zwischen dem Eck- und dem Rosazimmer ebenso auffallend tief war, wie oben, vielleicht sogar noch etwas tiefer. Aber das war nur eine Annahme nach dem Augenmaß. Nähertretend sagte er dann das erwartete: »Ah – wie schön!« mit voller Überzeugung.

Es war in der Tat ein Gemach für eine Königin, die eines Kaisers Tochter gewesen – ein raffiniert ausgedachter und angepaßter Hintergrund für die hellblonde Fürstin mit dem Teint wie Pfirsichblüte. Wie ihr bekanntes Porträt von Rosalba Carriera, der venezianischen Meisterin des Pastells, in der Dresdner Galerie, so hing auch hier eines im silbernen Rahmen und bewies, wie wunderbar Maria Josepha in dieses Zimmer gepaßt haben mußte. Die Wände waren mit rosa Brokat bespannt, in dem blassen; eigentümlichen Rosa der alten Bilder, dem Rosa Paul Veroneses. Der Brokat war mit großen, silbernen Sträußen broschiert und rauschte in schweren, knisternden, schillernden Falten als Vorhang aus einer riesigen, vergoldeten, mit Steinen besetzten Königskrone, die den Baldachin bildete, über dem Bett herab, das, gleichfalls mit einer Decke von rosa Stoff, mit Silberstickerei bedeckt, auf einem erhöhten Tritt stand. Die Bettstelle selbst war reich geschnitzt, versilbert und mit zarten Malereien bedeckt; geschnitzt, versilbert und bemalt waren die geschweiften Girandolen, der Toilettentisch mit dem Spiegel im schweren, handgetriebenen Silberrahmen, die Sitzmöbel. Nur der Mantel des Kamins zwischen den beiden Fenstern war von weißem Marmor, wie die Platten der Kastenmöbel, und über all diese von der Zeit mit einer um so reizvolleren Patina überzogenen Pracht lachte der Plafond, von Tiepolo gemalt, in unvergänglicher Farbenfrische herab: auf sonnendurchleuchteten, vom blauen Himmel durchschimmerten Wolken wand eine Schar köstlicher Amoretten Rosen zu Girlanden, schleppte sie Arme voll, Körbe voll Rosen herbei, streute Rosen herab, daß man meinte, man brauchte sie gerade nur aufzufangen.

»Es ist ein Zimmer für die Feenkönigin«, meinte Windmüller mit einem Blick auf die jetzige Inhaberin, wurde aber plötzlich aufmerksam, denn er sah in den auf ihn gerichteten, sonst so klaren blauen Augen eine Wolke – etwas, wie eine leise Beunruhigung, ein gespanntes Horchen auf – auf was? »Auf alle Fälle ist dies nicht das Spukzimmer des Palastes«, setzte er lächelnd hinzu.

»Ich weiß nicht – nein, es sieht nicht danach aus«, erwiderte Komtesse Meldeck nachdenklich. »Das Rosa ist so freundlich, das Silber so unaufdringlich und beruhigend – nicht? Und doch habe ich die erste Nacht hier nicht geschlafen, trotzdem das Bett wirklich sehr mollig ist. Ich schlafe sonst sehr gut, auch in fremder Umgebung – aber vielleicht war meine Phantasie doch etwas zu aufgeregt. Solch alter, venezianischer Palast hat eben etwas sehr Suggestives – «

»Das hat er zweifellos für Leute, die überhaupt Phantasie besitzen, die Geschichte dieser Stadt kennen und keine Philister sind«, erklärte Windmüller zustimmend. »Der Allgemeineindruck, die große Stille ferner, die in und um diese im Herzen der Stadt liegenden Häuser herrscht – das alles sind Faktoren, die bei sensitiven Naturen schlafhindernd einwirken können. Es bedarf dazu gar nicht erst eines bestimmten, sichtbaren oder fühlbaren Spezialeindrucks, der ja in Ihrem Falle auch gefehlt haben dürfte.«

»Ich weiß nicht – ja und nein«, sagte sie nach einer kleinen Pause. »Ich habe natürlich nichts Übernatürliches gesehen oder gehört. Gar nichts, Aber – «

Sie stockte und zuckte mit den Achseln.

»Dummheit!« fuhr sie dann rasch fort. »Sie werden mich ja bloß auslachen!«

»Durchaus nicht – nicht einmal in Gedanken«, rief Windmüller lebhaft. »Lieber Himmel, wenn ich zu den Leuten gehörte, die über alles lachen, was sie selbst nicht empfinden können, dann würde ich's in meinem Berufe, den ich von einer sehr psychologischen Seite auffasse, nicht so weit gebracht haben, als es tatsächlich der Fall ist. Ich gehöre auch aus Überzeugung nicht zu denen, die nur glauben, was sie selbst sehen, fühlen und hören, sondern ich gestehe anderen unbedingt die höhere Gabe zu, mehr hören und sehen zu können als der Durchschnitt. Mir ist nicht kurzweg ›Einbildung‹, woran ich selbst nicht teilnehmen kann, auch wenn ich keine sogenannte ›natürliche‹ Erklärung dafür weiß – schon weil ich eben nicht zu den Philistern gehöre, für die es kein Ding zwischen Himmel und Erde gibt, das sie sich nicht ganz leicht erklären könnten. Ich stehe also ganz auf Hamlets Seite – «

»Gerade so meine ich es«, rief Komtesse Meldeck lebhaft. »Es gibt so viele Menschen, mit denen einfach über diese Dinge nicht zu reden ist – zum Beispiel mein Vormund und seine Frau. Es war dumm von mir, zu sagen, daß Sie mich auslachen würden, denn wenn ich es nicht in Ihren Augen gesehen hätte, daß Sie mich verstehen und – und all diese Dinge ›zwischen Himmel und Erde‹, dann hätte ich überhaupt nichts davon gesagt. Nein, ich habe nichts gesehen und gehört, nur gefühlt und – gerochen!«

»Gerochen?« wiederholte Windmüller verblüfft, aber er lachte nicht dazu.

Komtesse Meldeck nickte. »Ja. Beim ersten Male, als wir kamen, die Zimmer anzusehen, habe ich nicht die geringste Empfindung irgendeines besonderen Geruches gehabt, trotzdem man die Fenster erst für uns aufsperrte. In dem ganzen Stockwerk war nur jener leise, eigentümliche Hauch, den alle unbewohnten Räume haben, zu spüren, aber doch nicht auffallend. Nun, als wir gestern hier einzogen und ich dieses Zimmer hier betrat, fiel mir auch noch nichts Sonderliches auf. Die Fenster waren geöffnet, und der frische Hauch des Wassers kam herein. Aber während ich meine Sachen einräumte, fing es an, so ausgesprochen nach Gardenien zu duften – «

»Ah – das ist leicht erklärlich!« fiel Windmüller ein. »Das Zimmer ist vor wenigen Tagen erst von einer Verwandten des Hauses – allerdings nur für einen halben Tag und eine Nacht bewohnt worden. Sie hatte ihre Sachen stark mit Gardenienduft parfümiert, der sich jedenfalls den von Ihnen geöffneten und benützten Schubfächern mitgeteilt hat und – «

Er brach kurz ab, denn es fiel ihm ein, daß die wenigen Wäsche- und Toilettegegenstände der Donna Xenia dem kleinen Reisekoffer – mit Ausnahme des Kleides – nicht entnommen worden waren, mithin auch die Fächer nicht parfümiert haben konnten.

»Ja, das dachte ich auch und habe meine Nase darum prüfend in alle Ecken gesteckt«, sagte Komtesse Meldeck. »Ich glaubte nun, daß der Geruch von draußen kam, und schloß die Fenster, weil Gardenienduft mich – ja, wie soll ich sagen? – mich nervös macht. Ich habe ihn nicht ungern, aber ich kann ihn schwer auf die Dauer ertragen. Der Duft wurde aber immer stärker und schließlich mischte sich ein anderer Geruch herein, der über dem Blumenduft dominierte – ich weiß nicht, welchen Namen ich ihm geben soll, denn ich habe noch nie ähnliches gerochen. Es wurde mir so übel davon, daß ich die Fenster wieder öffnete. Da wurde es besser – sogar wieder gut kann man sagen, obwohl der Gardenienduft blieb. Und letzte Nacht war's geradeso. Erst wurde dieser immer schwerer und schwüler, und dann mischte sich jener andere, namenlose Geruch darunter und wurde immer zudringlicher, den Duft erstickend, bis ich's nimmer ertragen konnte, aufstand, das Fenster hier aufmachte und mich davor setzte, bis mir besser wurde. Ich hab' dann auch geschlafen – bei offenem Fenster – Sie müssen die Gardenien doch auch riechen, Herr Doktor! Der Duft ist ja nicht sehr stark, weil die Luft von außen ihn gewissermaßen verdünnt, aber er ist doch merkbar, deutlich merkbar!«

Windmüller nickte. Er roch nichts, trotzdem er eine recht empfindliche Nase hatte, die wohlgeübt und wohlgeschult war wie die eines Polizeihundes, aber er verwarf deswegen die Mitteilung der jungen Dame nicht als ›Unsinn‹ oder ›Einbildung‹, eben weil er nicht zu denen gehörte, die nur gelten lassen, was sie selbst sehen und hören, fühlen und riechen können, und neben sich keinen Platz lassen für die, deren Sensitivität in einem höheren Grade entwickelt ist, die einen sogenannten sechsten Sinn besitzen.

Zudem war ja auch noch eine andere Theorie möglich.

»Sie sagten, Sie hätten auch etwas gefühlt«, erwiderte er statt einer direkten Antwort.

»Ja, aber das kann – kann vielleicht Autosuggestion sein«, sagte Komtesse Meldeck. »Ich meine, durch das Bewußtsein, sich in einem uralten venezianischen Palast zu befinden, in dem man die Geister der Vorzeit gewissermaßen erwartet. Ich wenigstens, die ich eine solch enthusiastische Liebe zu dieser wunderbaren Stadt habe! – Gefühlt? Ich fühle es eben jetzt, jeden Augenblick, den ich in diesem Zimmer bin – ein klein wenig auch nebenan, aber nicht so deutlich. Was es ist? Oh, ich denke, die Gegenwart von etwas, von jemand, um präziser zu sein, der den Raum mit mir teilt, jemand, der mich im Vorübergehen jeden Augenblick streifen kann. Das Herz schlägt mir wild bei dem Gedanken, daß es geschehen könnte, und doch wär's vielleicht ganz gut, wenn es geschähe, damit man doch weiß, was es ist!«

Windmüller antwortete nicht gleich. Sein Blick wanderte rings um das wundervolle Zimmer, jedes Detail in sich aufnehmend. »Sie sollten diese rosigsilberne Pracht mit einem anderen Raume vertauschen«, meinte er danach.

»Es fällt mir nicht im Traume ein, mich auslachen zu lassen, nachdem ich mir dieses Zimmer mit solcher Begeisterung auserkoren habe!« rief sie mit einem Lachen, das nicht recht gelang. »Wenn mein Vormund, seine Frau und die Jungfer die Gardenien gerochen hätten, so würden sie ja etwas darüber gesagt haben. Oder sie halten den Duft für etwas Zugehöriges – und er ist's ja auch. Das andere ist natürlich nur Einbildung. Warum sagen Sie es denn nicht gerade heraus, Herr Doktor?«

»Wenn es nur das wäre, was Sie von mir erwarteten, so hätten Sie mir die Geschichte ja nicht erzählt«, erwiderte Windmüller fein. »Lassen Sie mich mit der Antwort noch etwas warten – sie ist gar nicht so einfach, weil ich mir einbilde, kein Philister zu sein. Aber wirklich und aufrichtig: bleiben Sie auf Kosten Ihrer Nerven nicht in diesem Zimmer. Der Preis wäre ein zu hoher im Vergleich gegen das bißchen Neckerei oder auch Schelten wegen scheinbarer Launenhaftigkeit. Die Last einer ständigen Furcht – «

»Nein, nein – ich habe keine Furcht!« fiel sie lebhaft ein. »Ich weiß ganz gewiß, daß das Klopfen meines Herzens, von dem ich eben sprach, keine Furcht im eigentlichen Sinne des Wortes ist, sondern mehr die Erwartung von etwas, das sich offenbaren will, das hinter einem Vorhang sich bewegt, ohne daß man weiß, was es ist. Verstehen Sie mich? Ich habe nicht die Empfindung, daß etwas mich bedroht, daß eine persönliche Gefahr mir nahe ist!«

»Nun, ich taxiere Sie auch nicht darauf, daß sie furchtsam sind und vor einer Gefahr davonlaufen würden«, erwiderte Windmüller mit einem freundlichen Blick auf die junge Dame, in deren klaren blauen Augen er in der Tat keine Furcht las, aber ein Etwas, das man nicht oft zu finden pflegt: die Fähigkeit, zu sehen, was den meisten unsichtbar bleibt. »Es ist keine Feigheit und auch keine Schande, die Waffen vor den Dingen ›zwischen Himmel und Erde‹ zu strecken.«

»Also meinen Sie – «

»Ah, es soll dies keine Meinung sein, sondern nur ein Vorschlag. Ich bin noch gar nicht in der Lage, eine Meinung zu äußern. Vielleicht reden wir noch einmal darüber, falls ich länger in Venedig bleiben sollte – für den Augenblick fürchte ich, daß ich mich Ihnen empfehlen muß – Dies Zimmer nebenan ist das letzte in der Flucht, die Sie bewohnen, nehme ich an. Ganz recht. Und diese schmalen Türen rechts und links von dem Bette, in dem man eigentlich königlich schlafen müßte, führen in den Vorsaal?«

»Nicht direkt. Diese rechts geht in die Garderobe, die links in das Badezimmer. Von der ersteren aus gelangt man unmittelbar in den Vorsaal und in das Treppenhaus.«

Windmüller interessierte sich sehr für beide Räume und besichtigte sie so eingehend, daß Komtesse Meldeck nur mit Mühe ein paar Fragen zurückhielt, die sich ihr aufdrängten. Aber sie hielt sich zurück und bewies damit, daß sie über ihre jungen Jahre hinaus taktvoll war.

Die Garderobe war ein geräumiges Gelaß, dem darüberliegenden, zur Wohnung des Marchese gehörigen entsprechend, und wie dieses künstlich beleuchtet. Die weißlackierten, reich mit Gold verzierten Schränke, ein mit Spitzen über Seidenfutter elegant arrangierter Toilettentisch, ein hoher Spiegel in geschnitztem und vergoldetem, verstellbarem Rahmen entsprachen ganz der Pracht des Rosazimmers. Auch das Badezimmer, in Weiß und Gold gehalten, machte den Eindruck einer Rokokobonbonniere; es hatte noch einen zweiten, maskierten Ausgang nach der Garderobe, in die es gewissermaßen eingebaut war, bot sonst aber, wie die letztere, keinen Anhalt für die Möglichkeit eines geheimen Zutritts.

Der Salon, dessen Nachbarschaft Windmüller am Morgen bei Besichtigung des unbewohnten Teils des Piano nobile für die Verhandlungen mit dem Majordomo beanstandet hatte, war von Komtesse Meldeck als Wohnzimmer erwählt worden und machte durch die mitgebrachten Bücher und Bilder, mit seinen kostbaren alten Wandteppichen und bequemen Möbeln aus der Empirezeit einen sehr behaglichen Eindruck.

Windmüller schien es zu überhören, daß Komtesse Meldeck ihn darauf aufmerksam machte, man könne von diesem Salon aus in das Vestibül gelangen, denn er nahm den Weg wieder zurück durch das Rosazimmer, das ja den Schlüssel zu dem Rätsel der Donna Xenia enthalten mußte. Wenn diese früher behauptet hatte, daß die ganz eigentümliche rosa Farbe sie nicht kleidete, so konnte er ihr, falls sie eine Brünette besonderer Art mit klarem Oliventeint war, nicht unrecht geben. Warum also diese plötzliche Vorliebe für das Rosazimmer? Warum mußte es für sie bei diesem plötzlichen, kurzen Besuch hergerichtet werden, wenn doch ihr Absteigequartier im obersten Stock immer für sie bereit gehalten wurde?

Windmüller wußte sehr gut, daß es Frauen mit ganz unberechenbaren Launen gab, in dieser aber schien doch Methode gewesen zu sein. Es war erwiesen, daß Don Gian das Dokument bei verschlossenen Türen geraubt wurde, erwiesen schien auch, daß Donna Xenia den Palast zu einer Zeit verlassen hatte, in der darin noch alles schlief. Im Rosazimmer mußte und mußte also die Lösung des Rätsels zu finden sein.

Windmüller zog auch die Möglichkeit in Betracht, daß die Bestellung des Gondoliere einfach eine Ableitung von der richtigen Spur sein konnte. Wahrscheinlich hatte sie die Absicht, den Mann später irgendwie zu entschädigen, und wenn das bisher noch nicht geschah, so war dies ein Beweis mehr, daß Donna Xenia entweder vorläufig für besser fand, ihre Spur zu verwischen, oder – daß diese von anderen verwischt worden war.

Windmüller klopfte im Vorübergehen mit dem Griff seines Stockes an die weißlackierten und mit reicher vergoldeter Schnitzerei verzierten Paneele des so auffallend tiefen Türrahmens, der das Rosazimmer von dem Eckzimmer mit den Ebenholzmöbeln trennte.

»Elegant bis ins kleinste war doch die von Stilfanatikern so gern geschmähte Rokokoepoche, für die ich eine Schwäche bekenne«, meinte er, indem er auch der linken Seite ein paar leichte Schläge gab.

»Ich auch«, erwiderte Komtesse Meldeck im gleichen Ton. »Ich habe alle diese Paneele auch sorgfältig abgeklopft, denn diese Mauer ist wirklich unvernünftig dick. Ich hatte mich schon darauf gefreut, ein mysteriöses verborgenes Gemach zu entdecken, wie es sich eigentlich in solch einen Palast gehört, aber es ist nichts damit, denn es klingt überall ganz solid. Indes gebe ich die Hoffnung noch nicht auf, denn einen Zweck muß diese eine dicke Mauer doch haben – nicht wahr? Ich nehme nämlich an, daß ihr das architektonische Interesse gilt, dessen Sie vorhin erwähnten.«

Windmüller war stehengeblieben und sah mit einem leichten Schmunzeln auf das junge Menschenkind an seiner Seite. Junge Damen, selbst wenn sie wußten, wer und was er war, pflegten seine Tätigkeit meistens nicht auf leblose Dinge zu beziehen, sondern ihn für eine Art von Floh zu halten, der von Person zu Person sprang – ängstigend, beißend, Blut saugend und hin und wieder Handschellen anlegend. Und dieses Mädchen mit den Blauseeligaugen verneinte ihm nicht nur rein architektonische Interessen, sondern fixierte ihm dieselben sogar auf einen ganz bestimmten Punkt. ›Und was der Verstand der Verständigen nicht sieht, das findet in Einfalt ein kindlich Gemüt!‹ dachte er, wennschon das Zitat nicht ganz korrekt war, denn die besagte Mauer, von Komtesse Meldeck sehr richtig ›unvernünftig dick‹ genannt, hatte ihn längst beschäftigt, und ›einfältig‹ war die Tochter des Diplomaten sicher nicht zu nennen.

Mit diesen Einschränkungen stimmte es sonst. »Es kann sein«, sagte er nach einer Pause, »daß diese ›unvernünftige‹ Mauer nichts oder – alles mit meinen architektonischen Interessen an diesem Palaste zu tun hat. Setzen Sie immerhin Ihre Forschungen fort – aber reden Sie darüber besser mit niemand und erwähnen Sie namentlich nicht, daß ich mir diese Zimmer näher angesehen habe, als sich mit der Neugierde des Amateurs verträgt. Nicht wahr, Sie verstehen mich?«

»Annähernd!« versicherte sie. »Und darüber reden? Du lieber Himmel, mit wem denn? Mit meinem Vormund und seiner Frau? Die besorgen das Reden allein, und zu den Damen Terraferma oder zu der Gräfin Candiani, die verwandt mit ihnen ist, werde ich doch sicher nicht davon anfangen.«

*

In seinem Zimmer fand Windmüller einige Depeschen vor, die ihm von Nord und Süd wiederum nur die Nachricht gaben, daß die Principessa Terraferma weder in Rom noch sonstwo aufgetaucht war, noch auch hatten sich Zeichen bemerklich gemacht, die Ursache zu einer Beunruhigung nach dieser Richtung geben konnten, während ›man‹ über das Verschwinden der Agentin selbst auf der Botschaft in Rom direkt von Unruhe in Alarm übergegangen war. Also berichtete der ›Kronleuchterputzer‹; Windmüller wußte, daß er sich auf ihn verlassen konnte.

Windmüller sah sich nun vor einer doppelten Aufgabe: erstens das Dokument zu suchen, das, selbst wenn es hinfällig geworden, nicht in unberufene Hände fallen durfte, und zweitens dem Verbleib der Donna Xenia nachzuforschen, von der er nicht mehr zweifelte, daß sie ihrem gefährlichen Berufe zum Opfer gefallen war.

In dieser Betrachtung störte ihn das erste Zeichen zur Collazione, und nach wenigen Minuten betrat er den Salon der Marchesa, die er dort mit ihren beiden Enkeln vorfand.

Die alte Dame trat dem ihr noch unbekannten Gast des Hauses nicht ohne eine leichte Befangenheit entgegen; Don Gian hatte ihr zwar versichert, daß der berühmte Detektiv ein Doktor der Jurisprudenz und ein Gentleman obendrein sei, der in Rom von ›aller Welt‹ – worunter die Dame natürlich nur einen sehr beschränkten Teil der Menschheit verstand – empfangen wurde, aber sie hatte sich den Beruf doch nicht so recht damit zusammenreimen können. Der erste Blick auf die schlanke, hohe Gestalt mit dem ausdrucksvollen Kopf ihres Gastes beruhigte sie jedoch sofort und völlig; sie erhob sich lebhaft bei seinem Eintritt und reichte ihm die immer noch schöne, schlanke Hand.

»Ich heiße Sie doppelt willkommen, Herr Doktor«, sagte sie ernst, aber in der gewinnenden Art, die ihr eigen war. »Zuerst als Gast im Hause Terraferma und dann als Retter in schwerer Not.«

Windmüller küßte die ihm gereichte Hand in vollendeter weltmännischer Weise – respektvoll, wie es dem Alter und dem Range der Dame zukam, aber nicht servil und kriechend.

»Eccellenza müssen das Wenige, das ich in dieser Angelegenheit bisher habe tun können, nicht überschätzen«, sagte er abwehrend und doch erfreut wie immer, wenn er der Unschuld zu ihrem Rechte verholfen.

Don Gian fiel ihm sofort ins Wort. »Das Wenige!« wiederholte er. »Herr Doktor, Sie haben von mir den Verdacht genommen, ein Vaterlandsverräter zu sein. Ohne Sie wäre der Beweis dafür wohl kaum jemals ans Licht gebracht worden!«

»Nein – vielleicht nicht, wenigstens nicht gleich«, gab Windmüller lachend zu und fuhr fort: »Sie haben hoffentlich auch eingestanden, Herr Marchese, daß meine Methoden dabei Ihr starkes Mißfallen erregt haben.«

»Ich nehme das feierlich zurück«, versicherte Don Gian, Windmüller die Hand reichend. »Wie stünde ich jetzt da, wenn Sie sich daran gekehrt hätten!«

»Ich kehre mich nie an die Einwände derer, die meinem Berufe nicht angehören«, versicherte Windmüller sanft und mit einer Miene, als beklage er damit einen eigenen, leider unüberwindlichen Defekt, was auf den drei Gesichtern ein flüchtiges Lächeln hervorrief. Denn was auch dem Italiener im Auge des Ausländers fehlen mag – der Humor gehört nicht zu diesem Manko.

»Herr Doktor, ich fürchte durch Ihre Methoden unwissentlich einen Strich gemacht zu haben, indem ich unseren Majordomo in den Zweck Ihres Kommens einweihte«, begann die Marchesa mit einer leichten Verlegenheit. »Gian hat mir wenigstens Vorwürfe darüber gemacht. Nun hat aber Sebastiano durch seine, seines Vaters und Großvaters treue Dienste längst das Vorrecht erworben, Leid und Freud mit seiner Herrschaft teilen zu dürfen, ist eingeweiht in unsere Familienangelegenheiten und hätte es als Zurücksetzung betrachtet, in dieser Sache ausgeschlossen zu werden.«

»So lange er reinen Mund hält, kann er großen Schaden ja kaum mit seiner Mitwisserschaft anrichten«, entgegnete Windmüller trocken.

»Sebastiano ist kein Schwätzer – durch ihn werden unsere Familiengeheimnisse sicher nicht an die große Glocke kommen«, sagte die Marchesa mit Würde. »Glauben Sie mir, es ist wirklich besser, wenn er weiß, was vorgeht. Verfügen Sie ganz über seine Dienste!«

»Und über meine«, fiel Donna Loredana lebhaft ein. »Meine Großmutter und mein Bruder haben zwar ganz vergessen, uns förmlich miteinander bekannt zu machen, Herr Doktor; nun, so tue ich es eben selbst. Es ist so erfrischend, einmal unkonventionell zu sein. Alles in allem genommen, hat meine Schwägerin sich doch auch über das Konventionelle hinweggesetzt und ist ihre eigenen Wege gegangen. Mögen wir diese nun richtig finden oder nicht, so dürfen wir ihr die Anerkennung nicht versagen, daß sie Mut bewiesen hat. Es ist etwas Großes um den Mut, zu tun, was man für recht findet!«

»Gewiß. Die Frage wäre nur noch die: hat Ihre Durchlaucht die Prinzessin Terraferma in der Tat das Bewußtsein gehabt, recht zu handeln?« entgegnete Windmüller scharf. »Ihr jetziges Vaterland ist das ihres verstorbenen Gatten, und ob es recht ist, dieses zu verraten und den Bruder ihres Gatten hinterlistig zu berauben und seine bürgerliche Ehre, seine Existenz damit nicht nur aufs Spiel zu setzen, sondern mit größerer Wahrscheinlichkeit ein für allemal zu vernichten – darüber dürfte das Urteil eigentlich ziemlich abgeschlossen sein!«

»Ich verteidige sie nicht – wie könnte ich's auch wohl, wenn doch mein eigener Bruder auf dem Spiele steht!« rief Donna Loredana. »Man kann aber jemandes Richtung verwerfen und doch vorurteilslos genug sein, ihm ein Ideal – sein Ideal zuzugestehen.«

»Das Ideal des Judas – die dreißig Silberlinge!« fiel Don Gian bitter ein. »Xenia hatte nicht genug, um ihre Sucht zum Luxus zu befriedigen, und da ging sie hin und – verkaufte ihres Gatten Vaterland, ihre eigene Seele! Ich – mein Leben, meine Ehre waren nur ein Zwischenfall dabei! Es ist gewiß edel von dir, daß du Xenia mit einem ›Ideal‹ zu verteidigen suchst, aber du verschwendest deine eigenen Ideale an einen Götzen mit tönernen Füßen. Warum auch nicht? Du bist ja noch jung genug dazu!«

»Xenia ist durchaus nicht mein Ideal – ich sprach nur von dem Rechte eines jeden, seine eigenen Wege zu gehen, und erkenne den Mut dazu an!« entgegnete Donna Loredana leidenschaftlich. »Ich glaube es nicht, daß sie es des Geldes wegen tat – ich glaube es einfach nicht! Laßt mir doch diesen Glauben! Besonders da ja nichts geschehen und es jetzt erwiesen ist, daß du, Gian, das Dokument nicht genommen hast!«

Windmüller hätte über diese jugendliche Logik fast gelacht, aber er unterdrückte es wohlweislich, schon um diese kleine Enthusiastin des ›eigenen Weges‹ nicht zu weiterer Opposition anzustacheln. Er nickte daher nur, murmelte ein leises ›Bravo!‹ und fügte dann hinzu: »Wir dürfen nicht übersehen, Donna Loredana, daß das Dokument verschwunden ist, und so lange es nicht wiedergefunden wird – «

Er hielt ein und zuckte mit den Achseln.

»So lange hängt diese Wolke über meiner Ehre«, vollendete Don Gian. »Natürlich, was ist dieser unbedeutende Umstand gegen Xenias Menschenrecht, ihre eigenen Wege gegangen zu sein!«

»Gian!«

Donna Loredana war rot und blaß geworden ein kurzer Kampf, und dann siegte ihre Liebe zu dem Bruder. Unbekümmert um die Anwesenheit des Fremden schlang sie die Arme um seinen Hals und küßte ihn, wie nur die Italiener ihre Verwandten küssen können, rechts und links mit erstaunlicher Energie. »Giannino mio!« schluchzte sie. »Wie konnte, wie konnte sie dir das nur antun, dir, der Nonna, uns allen – unserem Namen! Das Dokument – wir müssen das Dokument finden, ich werde es suchen – ich!«

»Nicht nötig, Lore, dazu ist ja der Herr Doktor gekommen!« erinnerte die Marchesa mit Betonung, aber Donna Loredana hatte einen anderen Ausgangspunkt für ihren Enthusiasmus gefunden und nahm mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen Besitz davon.

»Ich werde dem Herrn Doktor helfen«, erklärte sie mit dem Feuereifer, der ihre falsche erste Stellungnahme entschuldigen und gutmachen sollte.

Windmüller hatte aber, gestützt auf alte Erfahrungen, eine eingewurzelte Abneigung gegen die ›Hilfe‹ von Dilettanten, und er stand in solch einer Gefahr nicht einen Moment an, derartige Helfer geschickt und effektvoll ›kalt zu stellen‹.

»Bravo! Bravo!« rief er, mit großer Begeisterung in die Hände klatschend. »So ist es recht, Donna Loredana! Ja natürlich können Sie mir helfen! Sie haben doch ein Archiv im Haus? Natürlich – das habe ich angenommen! Nun wohl, so durchsuchen Sie es recht sorgfältig nach einem Wink über einen etwaigen geheimen Ausgang des Palastes. Sie würden uns damit einen immensen Dienst leisten!«

Donna Loredana war gleich Feuer und Flamme für eine Arbeit, die ihrer Neigung so sehr entsprach, und gelobte, gleich nach der Collazione zu beginnen.

›Die ist besorgt und aufgehoben!‹ dachte Windmüller befriedigt, und auf die Frage der Marchesa, ob er wirklich glaube, daß Donna Xenia einen solchen Ausgang benützt haben könnte, erwiderte er zur weiteren Anstachlung von Donna Loredanas Eifer, daß nach den vorliegenden Tatsachen eine derartige Annahme die einzige Möglichkeit zur Lösung des Rätsels sei.

»Und das Rosazimmer muß in irgendeinem Zusammenhang damit stehen!« rief die alte Dame. »Ich habe es hin und her überlegt – Xenias plötzliche Vorliebe für diesen Raum war mehr als eine Laune und hätte uns gleich verdächtig sein müssen. Aber wer denkt denn an solche unmöglichen Dinge? Und nun habe ich auch noch durch die Aufnahme dieser Fremden den Weg zu dem Rosazimmer abgeschnitten!«

»Aber ganz und gar nicht, Eccellenza«, sagte Windmüller beruhigend. »Ich war eben darin – es ist wirklich ein Raum, einer Königin würdig und wie geschaffen für seine jetzige Inhaberin.«

Don Gian sah seinen Gast mit einem fast drolligen Staunen an. »Wie in aller Welt« – begann er, hielt dann aber ein und setzte resigniert hinzu: »Ich glaube, Sie kommen in einen verschlossenen eisernen Kassenschrank, wenn Sie wünschen, hineinzugelangen.«

»Nichts einfacher als das!« erwiderte Windmüller lachend. »Übrigens hat mich die Inhaberin des Rosazimmers selbst und ganz freiwillig hineingeführt. Wir sind nämlich alte Bekannte. Es war also gar keine Hexerei dazu nötig. Sie sehen, Herr Marchese, daß bei einem Menschen wie mir nicht alles Geschicklichkeit und Geisteskraft, sondern auch sehr, sehr viel Glück ist, so was man im Deutschen ›Dusel‹ nennt.«

»Nein, wie interessant, daß Sie die Komtesse auch kennen!« rief Donna Loredana enthusiastisch. »Sie ist das schönste Wesen, das man sehen kann – viel schöner wie Xenia. – Ich sage dir, Gian, sie hat Haare wie – wie gesponnenes Gold? Nein, das ist noch zu gelb – wie Gold mit einem Silberschleier darüber – «

»Ja – wie Platina!« bestätigte Don Gian unter dem Eindruck einer Erinnerung. »In ganz kleinen, gerippten Wellen dahinfliegendes Platina, das oben wie poliertes Silber aussieht und tiefe, goldene Schatten hat. Solche Haare sind, glaube ich, sehr selten.«

»Ich habe sie nur einmal zuvor in meinem Leben gesehen – bei einer Florentinerin«, bemerkte die Marchesa sinnend. »Das war vor vielen, vielen Jahren. Aber dieses Mädchen hatte dunkle, fast schwarze Augen, und die junge Dame unten hat blaue – so blaue, durchsichtig blaue, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. – Sie also bewohnt das Rosazimmer? Nun ja, sie hat den weißen, alabasterartigen Teint dazu, wie ihn die Königin von Polen hatte, falls Rosalba Carriera ihr nicht schmeichelte. Dieses Rosa unten ist wirklich nur für veronesische Blondinen – «

Der Eintritt Sebastianos, der die Collazione zu melden kam, unterbrach das Gespräch, das sich natürlich in Gegenwart der Dienerschaft nur um ganz allgemeine Dinge drehen konnte.

Als Windmüller sich nach beendeter Mahlzeit von den Damen verabschiedete und der Einladung des Marchese zu einer Zigarre in dem Zimmer des letzteren folgte, fragte dieser, kaum, daß sich die Tür hinter ihnen geschlossen, ob über den Verbleib von Donna Xenia etwas in Erfahrung gebracht worden sei.

Windmüller stand nicht an, das Wenige, das er erfahren, zu erzählen. »Also entweder war die Bestellung des Gondoliere überhaupt nur eine Finte, oder Donna Xenia hat in der Zwischenzeit Nachrichten erhalten, die es wünschenswert erscheinen ließen, sich auf einem anderen Wege aus dem Palast zu entfernen. Diese Nachrichten können mit der Post gekommen sein. Es ist aber natürlich nicht ausgeschlossen, daß sie auch auf einem anderen Wege zu ihr gelangt sind – durch eine vorüberfahrende Gondel, durch mündliche Mitteilung eines Boten. Daß sie selbst während ihrer kurzen Anwesenheit im Palazzo Terraferma diesen nicht verlassen hat, scheint durch die Aussagen des Portiers erwiesen. Vielleicht fragen Sie noch einmal nach, ob Briefe, Telegramme, Botschaften irgendwelcher Art für sie eingetroffen sind. Das Verschwinden Ihrer Schwägerin wird, wenn es in den nächsten Stunden nicht aufgeklärt werden kann, vielleicht morgen schon von allen Zeitungen gemeldet und kommentiert werden – es liegt also keine Veranlassung mehr vor, offiziell ihre Privatangelegenheiten mit Diskretion zu behandeln. Im Gegenteil – jede, auch die kleinste Einzelheit kann zum wichtigen Schlußsteine werden.«

»Gut – ich werde Agostino und Sebastiano fragen. Der erstere nimmt zwar die Briefe von dem Postboten in Empfang, aber ich zweifle, daß er sich die Adressen besonders ansieht – er ist kein Schriftgelehrter. Sebastiano aber holt die Post selbst und allein vom Portier ab, der sie nur ihm auszuhändigen hat, sortiert und verteilt sie dann. – Nehmen Sie indes Platz, Herr Doktor – hier sind die Zigarren!«

»Freilich – ich bin ja nur hergekommen, um Zigarren zu rauchen«, brummte Windmüller, nachdem der Marchese das Zimmer verlassen, und gleichzeitig stand er auch schon in dem Türrahmen zwischen Wohn- und Schlafzimmer – vielmehr er kauerte sich darin nieder und betrachtete, mit dem Finger den Paneelfüllungen nachgehend, diese auf das allergenaueste.

»Hier – rechts oder links muß der Haken unbedingt sitzen«, murmelte er. »Daß hier wie unten im Rosazimmer nichts hohl klingt, ist kein Beweis – gar keiner. Wenn man schon geheime Verbindungen oder Schlupfwinkel hergestellt hat, dann ist auch bombensicher dafür gesorgt worden, daß nicht jeder, der mit dem Ellbogen dagegenstößt, sofort heraus hat: ›Aha! Hier kannst du suchen, wenn du Lust hast!‹ Man darf auch hundert gegen eins wetten, daß die, so hier zu suchen kamen, jede Wand, jedes Paneel hübsch abgeklopft haben. Also mit Klopfen ist nichts zu holen. Suchen, suchen und wieder suchen – «

Als Don Gian nach kaum viertelstündiger Abwesenheit in sein Zimmer zurückkehrte, fand er seinen Gast der Länge lang auf dem Boden zwischen der Tür nach dem Schlafzimmer liegen, anscheinend bemüht, den Ritz zu betrachten, der zwischen Schwelle und Füllung an der rechten, der Fensterseite, deutlicher sichtbar war, als auf der gegenüberliegenden.

»Holz verhält sich ja natürlich nicht gleichmäßig; eins zieht sich mehr zusammen als das andere, je nachdem es trocken und abgelagert war, und je nachdem die von außen eindringende Feuchtigkeit es berührt«, sagte er, ohne seine Stellung zu verändern. »Dieser Ritz braucht in keiner Weise anders entstanden sein, als der da drüben. Aber er ist suggestiver. Haben Sie ein Wachszündholz bei sich, Marchese?«

Don Gian reichte Windmüller die ganze Schachtel, die auf dem Tische stand. »Es sind leider keine dicken«, sagte er bedauernd. »Darf ich fragen, was Sie da suchen? Ich meine, ist Ihnen etwas heruntergefallen?«

Windmüller hörte die Frage nicht, oder er überhörte sie. Ohne sich zu erheben, strich er ein Wachslichtchen an und leuchtete damit die Spalte ab. Dann bat er Don Gian, dasselbe für ihn zu tun, und während der venezianische Patrizier und Diplomat ohne Widerrede gleichfalls auf dem Boden lag und diese Arbeit verrichtete, führte Windmüller die lange, dünne Klinge seines Taschenmessers in den Ritz hinein und diesen entlang.

»Ich habe auch schon versucht, ob sich das Paneel mit der Messerklinge nicht heben läßt, und die Spitze dabei abgebrochen«, sagte Don Gian mehr mit der Absicht zu warnen, als Windmüller von seinem Bemühen abzubringen. »Auf der anderen Seite ist das Messer nicht so tief eingedrungen, wie hier.«

»Natürlich mußte die Spitze beim Hebenwollen abbrechen«, murrte Windmüller. »Ich habe gar nicht die Absicht, dies gute Messer einem offenbar fruchtlosen Versuche zu opfern – auch eigentlich nicht die, Ihre Spitze wieder ans Tageslicht zu befördern. Oder haben Sie zwei abgebrochen?«

Don Gian verneinte, und Windmüller kratzte und schippte mit seiner Klinge im Ritz entlang mit einem »Nun also!« den darin angesammelten und fest gewordenen Staub heraus, den er sodann abermals mittels des Messers auf ein Stückchen Papier zusammenfegte, das Don Gian ihm reichen mußte.

Hierauf richtete er sich aus seiner unbequemen Stellung auf, begab sich sodann ans Fenster und unterzog den Staub einer sehr eingehenden Untersuchung.

»Da haben Sie Ihre Messerspitze!« sagte er, das Partikelchen mit seinem Instrument herausholend. »Und hier«, fuhr er fort, auf ein kreisrundes, glänzendes Plättchen deutend, das er aus dem Staube ausgesondert, »hier haben Sie den Beweis, daß Donna Xenia an jenem Abend, in jener Nacht in Ihrem Zimmer war. Ein sehr, sehr wertvolles Stück, Herr Marchese!«

Don Gian sah den winzigen Gegenstand an, dann seinen Gast und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht – «, begann er befremdet.

Windmüller aber blies, den Finger auf die kleine Scheibe legend, den Staub zum Fenster hinaus und betrachtete dann liebevoll seinen Fund. »Es ist eine Paillette im allgemeinen, ein Stahlflitter im besonderen, und mit solchen ist das schwarze Kleid gestickt, das wir heute früh hier aus dem Koffer nahmen, das Kleid, das Donna Xenia an jenem Abend getragen und dann nebst einigen interessanten Spinngeweben eingepackt hat. Verstehen Sie nun? Die Nadel und der Faden, mit dem diese Flitterchen durch das darin bemerkbare Loch dem Stoffe aufgestickt werden, sind auch spinnwebendünn, der Rand des Loches aber ist scharf und schneidet den Faden leicht durch, und das Flitterchen fällt herab und wird zum Verräter einer Gegenwart, für die sich ein Beweis sonst schwer oder gar nicht führen ließe. Darum ist diese kleine Stahlpaillette, die im Lichte aufleuchtete, ein stummer Zeuge, der beredter ist als vielleicht zehn lebende. Ein neuer Beweis, Herr Marchese, daß man auch an seine Toilette denken muß, wenn man auf den Pfaden wandelt, die das Licht scheuen oder scheuen müssen! Freilich, wer denkt an eine Paillette, die den sie haltenden Faden durchschneidet, damit ein Unschuldiger nicht leiden muß! Glauben Sie, daß es ein ›Zufall‹ war, der diesen Faden gerade in dieser Stunde und an diesem Orte reißen ließ? Ich nicht, denn es gibt überhaupt keinen Zufall. Ein törichteres, gedankenloseres Wort als dieses ist nie gemünzt worden. Die Frage, wie diese Paillette dort in den Ritz zwischen Schwelle und Türrahmen gekommen ist, tritt mit jener, wie Donna Xenia des Nachts in Ihr Zimmer gelangte, für den Augenblick in den Hintergrund. Genug, daß die Paillette da ist, um für die Gegenwart der Dame zu zeugen. Wahrscheinlich ist der Gegenstand in den Ritz hineingefegt worden, ohne von dem reinigenden Mädchen bemerkt worden zu sein. Nun, und hat sie sich nach dem glitzernden Dinge gebückt, dann hat sie sich dabei entweder gar nichts oder allerlei gedacht. Das hängt von der geistigen Veranlagung dieser Zimmerfee ab, und Sie werden mir zugeben, daß eine Paillette von der Toilette einer Dame, im Zimmer eines Junggesellen gefunden, mindestens eines Fragezeichens wert ist. Haben Sie ein Stückchen Seidenpapier? Wir wollen diese kostbare Paillette darin sorgsam einpacken und das wichtige Beweisstück zunächst in meiner Brieftasche verwahren. – Ihre Nachfrage wegen Briefen an Donna Xenia war natürlich resultatlos?«

»Gänzlich«, erwiderte Don Gian. »Der Portier und sein Stellvertreter verneinen ferner mit Entschiedenheit, daß jemand mit einer Botschaft an meine Schwägerin dagewesen ist. Sie hat übrigens während des Nachmittags ihrer Anwesenheit hier das Haus nicht verlassen.«

»Das hatte ich schon festgestellt«, bemerkte Windmüller. »Übrigens – wer wohnt hier gegenüber in diesem großen Palaste?«

Er deutete auf den langen Seitentrakt des Renaissancegebäudes jenseits des Sackkanals, das mit seinen verschlossenen Fensterläden einen verlassenen Eindruck machte. Nur im Mezzanin Mezzanin Halbgeschoß waren ein paar Fenster geöffnet, mit Blumenstöcken besetzt und mit zum Trocknen aufgehängten kleinen Wäschegegenständen dekoriert.

»Nur der Besitzer wohnt darin, Conte Asolo« antwortete Don Gian mit leichtem Erstaunen über diesen Seitensprung. »Er ist noch auf seinem Landgut bei Padua. Die Nordseite des Palastes, der zwar fast so tief ist wie der meine, aber im Verhältnis sehr schmal, ist als Magazin vermietet, sonst hat aber Asolo – glücklicher Mensch! – sein Haus für sich behalten. – Wobei mir einfällt, daß meine Großmutter unsere Mieter heute zum Diner erwartet. Sie sagten ja, daß Sie die Leute kennen – nicht wahr?«

»Nur die junge Dame«, erwiderte Windmüller zerstreut, den Blick auf das Haus gegenüber heftend, in dessen einem offenen Fenster im Mezzanin jetzt eben eine behäbige Frau die aufgehängte Wäsche auf ihren Trockengrad prüfte.

»Ich bin ihr eben auf der Treppe begegnet«, erzählte Don Gian, ebenso zerstreut. »Meine Großmutter hat recht – ich habe auch noch nie solche eigentümliche blaue Augen gesehen, wie die ihrigen. Und solch blonde Haare«, setzte er in der Erinnerung an die Vision der vergangenen Nacht hinzu. »Und solch einen – einen muschelähnlichen Teint!« schloß er mit der Energie der Überzeugung.

»Wie?« fragte Windmüller, der nur mit einem Ohr sozusagen zugehört hatte. »Oh – Sie reden von Komtesse Meldeck! Ja, sie ist auffallend hübsch und nett, aber das ist leider heutzutage keine Mitgift. Sie hat nichts. Damit ist ihr Urteil gesprochen, es ist gewissermaßen die Warnungstafel gegen das Verlieben.«

»Es scheint so, denn Tante Candiani hat sie auch schon hier aufgestellt und selbst meine sonst ganz ideal veranlagte Nonna hat sich verpflichtet gefühlt, mir den Text gut einzuprägen«, sagte Don Gian achselzuckend. »Schon weil mein Bruder eine gänzliche Nichtachtung davor bewiesen hat. Womit wir wieder bei der brennenden Frage, meiner Schwägerin, angelangt sind. Der Fund dieser Paillette ist ja gewiß ein sehr wertvoller; denn er beweist, daß Xenia in meiner Wohnung war, aber sie kann das Ding auch verloren haben, ehe ich in jener Nacht meine Wohnung betreten, während ich droben bei meiner Schwester verweilte. Da standen ihr noch die Türen offen, durch die sie kommen und gehen konnte. Der Beweis dafür, daß sie nachts kam – auf einem geheimen Wege – , während ich im tiefen künstlichen Schlaf einfach ausgeschaltet war, ist also diese Paillette eigentlich nicht! Ich meine: nicht für jene, die für diese meine Aussage eine Erhärtung verlangen können, wollen oder – müssen.«

Windmüller nickte. »Sie haben den Finger auf den einen schwachen Punkt gelegt, der diesen kleinen und doch so großen Zeugen für Ihre Aussage angreifbar machen könnte. Daß der Einwand von Ihnen selbst erhoben wird, erfüllt mich mit neuem Eifer für Ihre Sache, denn Leute, die einen Schatten zu zerstreuen haben, pflegen sich nicht selbst vor das Licht zu stellen, das ihnen angezündet wird. So – und nun lassen Sie mich wieder an die Arbeit gehen. Ich sehe eine Möglichkeit für eine Spur und darf die Zeit, um sie zu finden, nicht vergeuden.«

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