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Der Fluchtversuch

Während wir nun voneinander Abschied nahmen, verbreitete sich rings um uns ein knoblauchgeschwängerter Geruch, der mir die Kehle zuschnürte. Er kam von der Kammerfrau der Damen, die man herbeigebracht hatte, um sie der Großmut von Mme. Simons zu empfehlen. Diese Kreatur war weit unbequemer als nützlich gewesen, so daß man sie seit zwei Tagen von jeglicher Dienstleistung entbunden hatte. Mme. Simons bedauerte, nichts für sie tun zu können und bat mich, dem König zu erzählen, wie man sie um ihr Geld bestohlen hatte. Hadgi-Stavros schien weder überrascht noch ärgerlich. Er zuckte lediglich die Schultern und sagte zwischen den Zähnen: »Dieser Perikles ... schlechte Erziehung ... die Stadt ... der Hof ... ich hätte damit rechnen müssen.« Laut fügte er hinzu: »Bitten Sie die Damen, sich um nichts Sorge zu machen. Ich war es, der ihnen die Dienerin gestellt hat, und ich muß diese auch bezahlen. Sagen Sie den Damen, wenn sie, um in die Stadt zurückzukehren, etwas Geld benötigen, so steht meine Börse ganz zu Ihrer Verfügung. Ich gebe ihnen bis zum Fuße des Gebirges eine Eskorte mit, obwohl sie keinerlei Gefahr laufen. Die Polizei ist weniger zu fürchten, als man gemeinhin annimmt. Im Dorf Castia finden sie ein Frühstück vor, Pferde und einen Führer; alles ist vorgesehen und auch bezahlt. Glauben Sie, daß mir die Damen das Vergnügen machen werden, mir zum Zeichen der Versöhnung die Hand zu geben?«

Mme. Simons ließ sich lange bitten, aber ihre Tochter streckte dem alten Pallikaren resolut die Hand hin. Sie sagte mit scherzender Eulenspiegelei auf englisch: »Sie tun uns da wirklich allerhand Ehre an, mein höchst interessanter Herr, denn in diesem Augenblick sind wir die Diebe, und Sie sind das Opfer.«

Der König antwortete in gutem Glauben: »Merci, Mademoiselle, Sie sind zu gütig.«

Mary-Anns entzückende Hand war sonnengebräunt, wie ein Stück rosa Satin, das während der Sommermonate im Schaufenster liegen geblieben war. Doch glauben Sie mir bitte ohne weiteres, daß ich mich nicht bitten ließ, meine Lippen auf sie zu drücken. »Seien Sie guten Muts, Monsieur!« schrie Mme. Simons, während sie sich entfernte. Mary-Ann sagte nichts, dafür warf sie mir einen Blick zu, der eine Armee elektrisiert hätte.

Als der letzte Mann der Eskorte verschwunden war, nahm Hadgi-Stavros mich beiseite und sagte: »Wir haben eine Ungeschicklichkeit begangen?«

»Hélas. Ja! Wir sind nicht geschickt gewesen.«

»Ihr Lösegeld ist nicht bezahlt worden, und es sah doch so aus, als ob die Engländerinnen in bestem Einvernehmen mit Ihnen stünden.«

»Seien Sie ganz beruhigt, noch vor Ablauf von drei Tagen werde ich auf und davon sein.«

»Na, um so besser! Ich habe, wie Sie wissen, Geld sehr nötig. Die Verluste vom Montag werden unser Budget sehr belasten, Personal und Material müssen ergänzt werden.«

»Nun, Sie haben keinen Grund sich zu beklagen, nachdem Sie soeben auf einen Schlag 100 000 Francs eingestrichen haben.«

»Nicht doch, nur 90 000; der Mönch hat seinen Zehent bereits abgezogen. Von dieser Summe, die Ihnen so enorm erscheint, bleiben für mich knappe 20 000 Francs. Unsere Unkosten sind gewaltig, es lastet allerhand auf uns. Was soll das aber erst werden, wenn die Vollversammlung der Aktionäre beschließt, ein Krankenhaus zu bauen? Davon hat man bereits gesprochen. Es fehlt nur noch, daß wir den Witwen und Waisen der Räuberei Pensionen aussetzen! Da das Fieber und die Flintenschüsse uns jährlich an die 30 Mann kosten, sehen Sie recht gut, wo uns das hinführen würde. Unsere Unkosten würden kaum noch gedeckt, und ich müßte zusetzen, mon cher monsieur!«

»Haben Sie noch nie an einer Sache verloren?«

»Ein einziges Mal. Ich hatte 50 000 Francs auf Rechnung der Gesellschaft eingezogen. Einer meiner Sekretäre, den ich inzwischen aufgehängt habe, floh mit der Kasse nach Thessalien, und ich mußte das Defizit ersetzen, denn ich trage ja die Verantwortung. Mein Anteil betrug 7000 und ich habe daher bei der Geschichte 43 000 eingebüßt. Aber der Schlingel, der mich bestohlen hat, hat das teuer bezahlt. Ich habe ihn auf persische Art bestraft. Bevor man ihn hängte, hat man ihm sämtliche Zähne ausgerissen und sie ihm dann mit Hammerschlägen wieder in den Kopf eingepflanzt ... als gutes Beispiel, verstehen Sie? Ich bin nicht bösartig, doch dulde ich keineswegs, daß man mir ins Gehege kommt.«

Ich hatte einen Mordsspaß bei dem Gedanken, daß der Pallikare, der übrigens nicht bösartig war, an dem Lösegeld für Mme. Simons 80 000 Francs verlieren, die Nachricht aber erst erhalten würde, wenn mein Schädel und meine Zähne außerhalb seiner Reichweite sein würden. Er faßte mich unter den Arm und sagte familiär:

»Was gedenken Sie zu tun, um sich die Zeit bis zu Ihrem Weggang zu vertreiben? Sie werden die Damen vermissen, und das ›Haus‹ wird Ihnen weitläufig vorkommen. Wollen Sie einen Blick in die Zeitungen aus Athen werfen? Der Mönch hat sie mitgebracht. Ich selber lese sie fast nie. Ich weiß ganz genau, was Zeitungsartikel wert sind, ich bezahle sie ja. Arme Abonnenten! Ich lasse Sie jetzt allein. Wenn Sie etwas Kurioses finden, werden Sie es mir ja erzählen.«

L'Espérance, französisch redigiert und dazu bestimmt, Europa Sand in die Augen zu streuen, hatte dem Dementi der letzten Nachrichten über das Räuberunwesen einen langen Artikel gewidmet. Sie spottete geistreich über die naiven Reisenden, die in jedem zerlumpten Bauern gleich einen Dieb sahen, in jeder Staubwolke eine bewaffnete Bande und jeden Busch, der sie am Rockärmel aufhielt, um Gnade anflehten. Dieses wahrheitsliebende Blättchen rühmte die Sicherheit der Wege, feierte die Uneigennützigkeit der Landesbewohner, pries die Stille und Sammlung, die man in allen Gebirgen des Königreiches zu finden sicher sein kann.

In der Gazette officielle las man:

»Am Sonntag, dem Dritten des Monats, ist um fünf Uhr abends die Militärkasse, die man mit einer Summe von 20 000 Francs nach Argos gesandt hatte, durch die Bande Hadgi-Stavros', bekannt unter dem Namen »König der Berge«, überfallen worden. Die Banditen sind in einer Zahl von drei- oder vierhundert Mann mit unglaublicher Wut über die Eskorte hergefallen. Aber die beiden ersten Kompanien des 2. Bataillons des vierten Linienregiments haben unter der Führung des tapferen Majors Nicolaïdis heldenhaften Widerstand geleistet. Die wilden Angreifer sind mit dem blanken Bajonette zurückgewiesen worden und haben das Schlachtfeld, mit ihren Toten bedeckt, verlassen. Hadgi-Stavros ist, wie man sagt, schwer verletzt. Unsere Verluste sind unbedeutend.«

»An demselben Tage, zur selben Stunde, trugen zehn Meilen von dort entfernt die Truppen Seiner Majestät einen anderen Sieg davon. Denn auf dem Gipfel des Parnis, vier Stadien von Castia, zerschlug die 2. Kompanie des ersten Gendarmeriebataillons die Bande Hadgi-Stavros'. Einem Rapport des tapferen Kapitäns Perikles zufolge hat auch da der König der Berge eine Schußwunde erhalten. Leider mußte dieser Erfolg teuer bezahlt werden. Durch Felsen und Büsche geschützt, haben die Briganten zehn Polizisten schwer verwundet oder getötet. M. Spiro, ein junger hoffnungsvoller Offizier, der eben die Schule von Evelpides verlassen hatte, hat auf dem Schlachtfelde einen ruhmvollen Tod gefunden. Bei solch großem Unglück gewährt der Gedanke, daß auch da, wie überall, das Gesetz Herr der Lage geblieben ist, nur einen mittelmäßigen Trost.«

Die Zeitung La Caricature aber enthielt eine schlecht gezeichnete Lithographie, auf der ich dennoch die Porträts des Kapitäns Perikles und des Königs der Berge wiedererkannte. Patenkind und Pate hielten sich eng umschlungen. Unter diesem Bild hatte der Künstler geschrieben: »Wie sie sich schlagen!«

»Es scheint«, sagte ich zu mir selbst, »ich bin nicht der einzige, der um die Geschichte weiß, und das Geheimnis des Perikles wird bald dem Geheimnis Polichinelles gleichen.«

Ich faltete die Zeitungen wieder zusammen und überdachte, während ich die Rückkunft des Königs erwartete, die Lage, in der Mme. Simons mich gelassen hatte. Gewiß, es war ruhmvoll, meine Freiheit nur mir selbst zu verdanken, und mehr wert, aus dem Gefängnis durch eine Mutprobe als durch einen Lausbubenstreich zu entkommen. Ich konnte von einem Tag zum anderen in das Gewand eines Romanhelden schlüpfen und Gegenstand der Bewunderung aller jungen Damen Europas werden. Kein Zweifel, daß Mary-Ann sich nur dann dazu herablassen würde, mich anzubeten, wenn sie mich nach einer gefahrvollen Flucht gesund und mit heiler Haut wiedersehen würde. Leider aber konnte mir der Fuß bei dieser formidablen Schlidderpartie ausgleiten. Würde Mary-Ann, wenn ich einen Arm oder ein Bein bräche, einen hinkenden oder einarmigen Helden wohlwollend betrachten? Außerdem mußte ich darauf rechnen, Tag und Nacht bewacht zu werden. Mein Plan, so geschickt er auch ersonnen war, konnte nur nach Beseitigung meines Wächters durchgeführt werden. Und einen Menschen zu töten, ist selbst für einen Naturforscher keine kleine Sache. Nur so mit Worten, da bedeutet das freilich nichts, besonders wenn man zu einer Frau spricht, die man anbetet. Aber seit dem Fortgang Mary-Anns war mein Kopf nicht mehr so verdreht. Es erschien mir weniger leicht, mir eine Waffe zu besorgen, und noch weniger bequem, mich ihrer zu bedienen. Ein Stoß mit dem Dolch ist eine chirurgische Operation, die jedem anständigen Manne eine Gänsehaut verursachen muß. Ich jedenfalls dachte, meine zukünftige Schwiegermutter wäre etwas leichtfertig mit ihrem in Aussicht stehenden Schwiegersohn verfahren. Es kostete sie nicht viel, mir 15 000 Francs für das Lösegeld zu schicken, wobei es ihr noch freistand, sie sofort auf die Mitgift Mary-Anns anzurechnen. Am Tage unserer Hochzeit wären 15 000 Francs eine Kleinigkeit für mich. Viel war das nur in der Lage, in der ich mich gerade befand, kurz bevor ich einen Mann umbringen und etliche hundert Meter auf einer stufenlosen Leiter hinabsteigen sollte. So kam ich dazu, Mme. Simons ebenso von Herzen zu verfluchen, wie die Mehrzahl aller Schwiegersöhne in allen zivilisierten Ländern ihre Schwiegermütter verfluchen. Da ich Verfluchungen sozusagen zum Verhökern hatte, richtete ich einige aus meinem Vorrat auch gegen meinen Freund John Harris, der mich meinem Lose überließ. Ich sagte mir, ich hätte ihn, wenn er an meiner und ich an seiner Stelle säße, nicht acht Tage ohne Nachrichten gelassen. Das mochte noch hingehen für Lobster, der zu jung, oder für Giacomo, der nichts weiter als ein bärenstarker Hohlkopf war, und für Monsieur Mérinay, dessen ausgeprägten Egoismus ich kannte. Denn den Egoisten verzeiht man leicht einen Verrat, da man sich daran gewöhnt hat, keineswegs auf sie zu zählen. Aber Harris, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um eine alte Negerin in Boston zu retten! War ich denn nicht einmal soviel wert wie eine Negerin?

Da änderte plötzlich Hadgi-Stavros die Richtung meiner Gedanken, indem er mir ein weit einfacheres und weniger gefährliches Mittel zum Entweichen anbot. Dazu bedurfte es nichts weiter als guter Beine, und das ist, Gott sei Dank, ein Gut, mit dem ich wohl versehen bin. Der König überraschte mich dabei, als ich gerade wie das niedrigste aller Tiere gähnte.

»Sie langweilen sich?« sagte er zu mir. »Das macht die Lektüre. Ich habe niemals ein Buch ohne Gefahr für meine Kinnbacken öffnen können. Ich sehe voller Vergnügen, daß die Doktoren ihnen nicht besser widerstehen als ich. Warum aber benützen Sie die Zeit, die Ihnen bleibt, nicht besser? Sie waren hergekommen, um Gebirgspflanzen zu pflücken; Ihre Büchse scheint sich in diesen acht Tagen nicht gefüllt zu haben. Wollen Sie, daß ich Sie unter der Bewachung von zwei Mann spazierengehen lasse? Ich bin ein zu guter Fürst, um Ihnen diese kleine Gunst zu verweigern. Jeder muß auf dieser niedrigen Welt sein Handwerk ausüben. Für Sie die Kräuter, für mich das Geld. Sie können dann denen, die Sie hierhergeschickt haben, erzählen: ›Das hier sind die Pflanzen, die im Königreich Hadgi-Stavros' gesammelt sind!‹ Sollten Sie eine finden, die ganz besonders schön und merkwürdig ist und von der man in ihrem Lande noch nie etwas gehört hat, dann müssen Sie ihr meinen Namen geben und sie die Königin der Berge nennen.«

Tatsächlich! dachte ich, befände ich mich eine Meile von hier entfernt zwischen zwei Räubern, wäre es nicht zu schwierig, schneller als die beiden zu sein. Die Gefahr würde meine Kräfte verdoppeln, daran ist durchaus nicht zu zweifeln. Der, welcher das größte Interesse hat, zu laufen, ist auch der, welcher schneller läuft. Warum ist der Hase das schnellste aller Tiere? Weil er der Bedrohteste ist.

Ich nahm daher das Angebot des Königs an, und auf der Stelle gab er mir zwei Leibwächter bei. Er gab ihnen weiter keine genauen Anweisungen, er sagte ganz einfach zu ihnen:

»Das ist ein Mylord, der seine 15 000 Francs wert ist; wenn ihr ihn verliert, müßt ihr ihn bezahlen oder ersetzen.«

Meine Begleiter hatten keineswegs das Aussehen von Invaliden. Sie wiesen weder eine Wunde noch einen Bruch, nein, überhaupt keine Verletzung irgendwelcher Art auf. Die Sehnen ihrer Knie waren wie aus Stahl, und man konnte nicht damit rechnen, daß ihre Füße durch ihr Schuhwerk behindert wurden, denn sie trugen bequeme Mokassins. Als ich sie musterte, bemerkte ich nicht ohne Bedauern ihre Pistolen. Ich verlor indessen nicht den Mut. Gewöhnt, in schlechter Gesellschaft zu leben, war mir das Kugelpfeifen vertraut geworden. Ich schulterte meine Botanisiertrommel und zog los.

»Recht viel Vergnügen!« schrie der König mir nach.

»Adieu, Sire!«

»Nicht doch! Auf Wiedersehen! Bitte!«

Ich zog meine Begleiter mit mir in Richtung Athen fort, damit hatte ich schon einen Vorteil über meine Feinde gewonnen. Sie leisteten keinen Widerstand, sie erlaubten mir zu gehen, wo ich nur immer hinwollte. Diese Briganten, sehr viel besser erzogen als die vier Gendarmen des Perikles, ließen meinen Schritten alle wünschenswerte Freiheit. Auch sie sammelten Kräuter, und zwar für ihr Abendessen. Was mich betraf, so war ich äußerst verbissen bei meinem Werk; rechts und links vom Wege riß ich Grasstücke, die doch nichts dafür konnten, mit beiden Händen los, dann tat ich so, als ob ich aus der Masse einen Grashalm auswählte und legte ihn dann vorsichtig in meine Botanisiertrommel, sehr darauf bedacht, diese nicht zu beschweren, denn ich hatte sowieso zuviel zu schleppen.

Dann kam mir der Gedanke, den Banditen eine ernsthafte Beschäftigung zu geben. Wir befanden uns gerade auf einem engen Pfade, der offensichtlich nach Athen führte. Links von mir sichtete ich einen schönen Buschen Ginster, den die Vorsehung auf einem Felsen hatte wachsen lassen. Ich tat so, als ob ich größtes Verlangen nach ihm hätte. Ich versuchte immer wieder die steile Böschung zu nehmen, stellte mich aber derart an, daß einer meiner Wächter sich meiner vergeblichen Mühe erbarmte und sich anbot, mir als Leiter zu dienen. Das war nun nicht gerade das, was ich wollte. Jedoch mußte ich wohl oder übel seine Dienste annehmen. Als ich mich aber auf seine Schultern schwang, mißhandelte ich ihn mit einem Fußtritt meiner eisenbenagelten Schuhe derartig, daß er mich mit gewaltigem Schmerzensgeheul zur Erde fallen ließ. Sein Kamerad, interessiert am Ausgang des Unternehmens, sagte zu ihm: »Wart mal! Ich werde für Mylord den Ginster holen, ich habe ja keine Nägel unter den Schuhen. Gesagt, getan! Er schwingt sich hinauf, greift nach den Zweigen, lockert den Strauch, reißt ihn aus und stößt einen Schrei aus. Ich, ohne rückwärts zu blicken, rase bereits davon. Ihre Verdutztheit schenkte mir gute zehn Sekunden Vorsprung. Sie jedoch verloren ihre Zeit nicht etwa mit gegenseitigen Vorwürfen, denn bereits hörte ich ihre Schritte hinter mir, sie folgten mir. Ich verdoppelte meine Schnelligkeit. Der Weg war schön, gleichmäßig, wie für mich gemacht. Wir sausten einen jähen Abhang hinab. Ich rannte wie außer mir, die Arme an den Körper gepreßt, ohne die Steine zu fühlen, die unter meinen Hacken fortrollten, ohne hinzusehen, wo ich meine Füße hinsetzte. Der Raum unter mir flog nur so fort; Felsen und Büsche schienen an den beiden Seiten des Weges in entgegengesetzter Richtung davonzulaufen; ich war leichtfüßig, ich war rasch, mein Körper wog nichts; ich besaß Flügel. Aber dieses Geräusch der vier Füße marterte meine Ohren. Plötzlich halten sie inne, ich höre nichts mehr. Sollten sie es leid geworden sein, mich zu verfolgen? Zehn Schritte von mir erhebt sich ein kleines Staubwölkchen. Etwas weiter entfernt erscheint plötzlich auf einem grauen Felsen ein kleiner weißer Fleck. Gleichzeitig hallen zwei Detonationen wider. Die Briganten hatten ihre Pistolen abgefeuert, ich war dem feindlichen Feuer ausgesetzt, rannte aber dennoch weiter. Die Verfolgung wird wieder aufgenommen. Ich höre keuchende Stimmen »Halt! Halt!« schreien. Doch ich halte nicht an. Ich komme vom Wege ab und renne immerfort, ohne zu wissen, wohin. Da tut sich, breit wie ein Fluß, ein Graben vor mir auf. Doch ich war zu sehr in Fahrt, um den Abstand schätzen zu können. Ich springe. Ich bin gerettet. Meine Hosenträger reißen, ich bin verloren!

Sie lachen, Monsieur. Ich möchte Sie mal laufen sehen, ohne Hosenträger, und gezwungen, den Bund ihrer Hose mit beiden Händen festzuhalten. Fünf Minuten später, Monsieur, hatten die Räuber mich wieder eingefangen. Sie beschlossen, mir Handschellen an die Gelenke zu legen, Spannstricke an die Beine, und trieben mich unter harten Stockhieben zum Lager Hadgi-Stavros' zurück.

Der König empfing mich wie einen Bankrotteur, der ihn um 15 000 Francs geprellt hat. »Monsieur«, sagte er zu mir, »ich hatte eine bessere Meinung von Ihnen. Ich glaubte, mich in den Menschen auszukennen; Ihre Physiognomie hat mich arg getäuscht. Niemals hätte ich geglaubt, Sie wären fähig, uns zu schaden, besonders nach der Behandlung, die ich Ihnen zuteil werden ließ. Wundern Sie sich nicht, wenn ich von jetzt ab strenge Maßnahmen ergreife; Sie selbst sind es, der mich dazu zwingt. Bis auf neue Anordnung werden Sie in Ihrem Zimmer interniert. Einer meiner Offiziere wird Ihnen in Ihrem Zelt Gesellschaft leisten. Das ist nichts weiter als eine Vorsichtsmaßnahme. Im Falle, daß Sie rückfällig werden, müssen Sie sich auf eine Bestrafung gefaßt machen. Vasile, dir vertraue ich die Bewachung Monsieurs an.«

Vasile grüßte mich mit seiner gewohnten Höflichkeit.

Ah! Verdammter Bursche! dachte ich bei mir, du hast Mary-Ann um die Hüften gefaßt! Du hast mich am Himmelfahrtstage erdolchen wollen! Ausgezeichnet! Lieber will ich es mit dir als einem anderen zu tun haben.

Ich erspare Ihnen die Schilderung der drei Tage, die ich in meinem Zimmer in der Gesellschaft Vasiles verbrachte. Dieser Lümmel hat mir da eine Dosis Langeweile verpaßt, die ich mit niemandem teilen möchte. Er war mir durchaus nicht böse, er fühlte sogar eine gewisse Sympathie für mich. Ich glaube sogar, er hätte mich, wenn er mich auf eigene Rechnung zum Gefangenen gemacht hätte, ohne Lösegeld laufen lassen. Mein Gesicht hatte ihm vom ersten Augenblick an gefallen. Ich erinnerte ihn an einen jüngeren Bruder, den er durch ein Schwurgericht verloren hatte. Aber seine Freundschaftsbezeugungen störten mich mehr als die ärgsten Mißhandlungen. Er wartete nicht einmal den Sonnenaufgang ab, um mir einen guten Tag zu wünschen; bei Anbruch der Nacht verfehlte er niemals, mir alle Glücksfälle zu wünschen, deren Liste entsetzlich lang war. Er rüttelte mich mitten im tiefsten Schlaf auf, um sich zu vergewissern, ob ich auch gut zugedeckt wäre. Bei Tisch bediente er mich wie ein guter Diener; zum Nachtisch erzählte er mir seine Geschichten und bat mich um meine Gegengabe. Und immer mit ausgestreckter Pfote, um mir die Hand zu drücken. Ich setzte seinem guten Willen einen hartnäckigen Widerstand entgegen. Ich war keineswegs begierig, die Hand eines Mannes zu drücken, dessen Tod ich beschlossen hatte. Mein Gewissen erlaubt es mir ohne weiteres, ihn zu töten. Befand ich mich nicht im Zustande berechtigter Selbstverteidigung? Doch hätte es mir Gewissensbisse verursacht, ihn hinterrücks zu töten; wenigstens mußte ich ihn durch meine feindliche und drohende Haltung warnen. Während ich seine Annäherungsversuche zurückwies, seine Höflichkeitsbezeugungen keiner Beachtung würdigte, seine Aufmerksamkeiten barsch übersah, lauerte ich auf eine Gelegenheit zu entwischen; aber seine Freundschaft, wachsamer als der Haß, ließ mich nicht einen Augenblick aus der Sicht. Als ich mich über die Kaskade beugte, um meinem Gedächtnis die Bodenbeschaffenheit einzuprägen, entriß mich Vasile meiner Betrachtung mit mütterlicher Besorgtheit: »Nimm dich in acht!« sagte er zu mir und zog mich an den Füßen zurück. »Wenn du da 'runterfällst, würde ich mir mein Leben lang Vorwürfe machen.« Sobald ich nachts mal versuchte, mich heimlich zu erheben, sprang er sofort von seinem Bett auf und fragte mich, ob ich etwas nötig hätte. Niemals habe ich einen wacheren Kerl gesehen. Er kreiste um mich wie ein Eichhörnchen im Käfig.

Was mich über alle Maßen zum Verzweifeln brachte, war sein Vertrauen um mich. Eines Tages äußerte ich den Wunsch, seine Waffen zu untersuchen. Er gab mir seinen Dolch in die Hand. Es war ein mit Gold und Silber eingelegter russischer Dolch aus Tula. Ich zog die Klinge aus der Scheide, probierte die Spitze mit dem Finger und richtete sie gegen seine Brust, wobei ich den Platz zwischen der vierten und fünften Rippe wählte. Lächelnd sagte er zu mir: »Drück nicht zu, du würdest mich töten.« Ganz gewiß, Monsieur, mit einem leichten Druck hätte ich ihn gerichtet, aber irgend etwas hielt meinen Arm zurück. Es ist bedauerlich, daß die anständigen Leute solch großes Widerstreben empfinden, Mörder zu töten, die ihrerseits so wenig davon aufbringen, wenn es gilt, anständige Menschen zu morden. Ich steckte den Dolch in die Scheide zurück. Vasile reichte mir nun auch noch seine Pistole hin, die zu nehmen indes ich mich weigerte, da meine Neugier angeblich befriedigt war. Worauf er den Hahn spannte, mich das Zündhütchen sehen ließ, den Lauf auf seinen eigenen Schädel richtete und sagte:

»Dann hättest du keinen Wächter mehr!«

Keinen Wächter mehr! Ah! Verflucht! Das war ja alles, was ich wollte. Doch die Gelegenheit war allzu schön, und der Heimtücker selbst lähmte mich. Hätte ich ihn in einem solchen Augenblick getötet, ich würde seinen letzten Blick ganz einfach nicht ausgehalten haben. Es war besser, meinen Coup nachts auszuführen. Zu allem Unglück legte er noch, anstatt seine Waffen zu verbergen, diese ganz offen zwischen sein und mein Bett.

Endlich fand ich das Mittel zur Flucht, ohne ihn zu wecken und ohne ihn umbringen zu müssen. Diese Idee kam mir am Sonntag, dem 11. Mai, um sechs Uhr. Am Himmelfahrtstage hatte ich bemerkt, daß Vasile gern trank und den Wein schlecht vertrug. Ich lud ihn ein, mit mir zu essen. Dieser Freundschaftsbeweis stieg ihm zu Kopfe; der Äginawein tat das übrige. Hadgi-Stavros, der, seit ich seine Achtung nicht mehr besaß, mich nicht mehr mit seinem Besuche beehrt hatte, zeigte sich immer noch als generöser Gastgeber. Meine Tafel war besser versehen als die seinige. Ich hätte einen Schlauch Wein und eine Tonne Rhaki trinken können. Als Vasile nun zugelassen war, seinen Anteil an diesen Herrlichkeiten zu nehmen, begann er die Mahlzeit mit rührend unterwürfiger Bescheidenheit. Er hielt sich in drei Fuß Abstand vom Tisch wie ein von seinem Herrn eingeladener Bauer. Ganz allmählich aber verminderte der Wein diesen Abstand. Um acht Uhr setzte mir mein Wächter seinen Charakter auseinander. Um neun Uhr erzählte er mir stammelnd seine Jugendabenteuer und eine Reihe von Heldentaten, bei denen sich selbst einem Untersuchungsrichter die Haare gesträubt hätten. Um zehn Uhr verfiel er auf die Philanthropie. Dieses Herz aus gehärtetem Stahl löste sich im Rhaki auf, wie die Perle Kleopatras im Essig. Er schwur mir, er habe nur aus Liebe zur Menschheit den Beruf eines Räubers ergriffen, denn er wolle sich in zehn Jahren ein Vermögen machen, um mit seinen Ersparnissen ein Hospital zu gründen und sich in ein Kloster auf dem Berge Athos zurückzuziehen. Er versprach mir, mich in seinen Gebeten nicht zu vergessen. Ich benutzte diese gute Stimmung, um ihn einen enormen Becher Rhaki trinken zu lassen. Ich hätte ihm auch brennendes Pech anbieten können; er war schon zu sehr mit mir befreundet, um mir etwas abschlagen zu können. Bald verlor er die Stimme, sein Kopf neigte sich mit der Regelmäßigkeit einer Waage bald von links nach rechts, bald von rechts nach links. Er streckte mir seine Hand hin, fand dabei einen Bratenrest, drückte diesen ans Herz, ließ sich nach hintenüber fallen und verfiel in den Schlaf der ägyptischen Sphinxen, die bekanntlich selbst die französischen Kanonen nicht aufgeweckt haben.

Ich hatte keinen Augenblick zu verlieren, die Minuten waren kostbar wie Gold. Ich nahm ihm seine Pistole fort und warf sie in die Schlucht. Ich ergriff seinen Dolch und wollte ihn gerade in derselben Richtung fortschleudern, als ich überlegte, er könnte mir zum Abschneiden der Rasenstücke dienen. Meine dicke Zwiebel zeigte elf Uhr. Ich löschte die beiden Feuer aus harzigem Holz, die unsere Tafel erleuchteten; das Licht konnte die Aufmerksamkeit des Königs auf sich ziehen. Es war schönes Wetter. Nicht mehr als eine Handvoll Mondschein, dafür Sterne in Unmengen; es war durchaus die Nacht, die ich brauchte. Der Rasen, den ich in langen Bändern abschnitt, ließ sich wie ein Stück Stoff abheben. Mein Material lag nach Verlauf einer Stunde fertig vor. Als ich die Stücke zur Quelle schleppte, stieß ich mit dem Fuß gegen Vasile, der sich schwerfällig etwas aufrichtete und mich gewohnheitsmäßig fragte, ob ich etwas nötig hätte. Ich ließ meine Bürde hinfallen, hockte neben dem Betrunkenen nieder und bat ihn, noch einen Becher auf meine Gesundheit zu trinken. »Gern«, sagte er, »ich habe Durst.« Ich schenkte ihm zum letzten Male den Kupferbecher voll. Er leerte ihn halb, vergoß den Rest über sein Kinn und seinen Hals, versuchte sich zu erheben, fiel aufs Gesicht, streckte die Arme nach vorn und rührte sich nicht mehr. Ich rannte zu meinem Deich, und, mochte ich auch ein noch so großer Neuling sein, in fünfundvierzig Minuten war das Bächlein fest eingedämmt. Es war inzwischen Viertel eins geworden. Auf das Geräusch des Plätscherns der Kaskade folgte nun ein tiefes Schweigen. Furcht ergriff mich. Ich überlegte, daß der König wie alle Greise einen leichten Schlaf haben müsse und daher diese ungewohnte Stille ihn höchstwahrscheinlich aufwecken würde. In diesem Tumult der Gedanken, der meinen Geist wirbeln machte, erinnerte ich mich einer Szene aus dem Barbier von Sevilla, wo Bartholo aufwacht, sobald er das Piano nicht mehr hört. Ich glitt längs der Bäume bis zur Treppe und durchforschte mit den Augen das Kabinett Hadgi-Stavros'. Der König schlummerte friedlich an der Seite seiner Wache. Ich pirschte mich bis auf zwanzig Schritt an seine Tanne heran, ich spitzte die Ohren: alles schlief. Darauf kehrte ich durch eine Pfütze eisigen Wassers, das mir bereits bis zu den Knöcheln reichte, zu meinem Deich zurück und beugte mich über den Abgrund.

Die Flanke des Berges schillerte unmerklich. Hie und da bemerkte man einige Vertiefungen, wo das Wasser stehengeblieben war. Diese prägte ich mir gut ein, denn es war jedesmal etwas Platz, wo ich den Fuß aufsetzen konnte. Nun ging ich zu meinem Zelt zurück, nahm meine Botanisiertrommel, die über dem Bett hing, und hängte sie mir über die Schulter. Als ich an der Stelle vorüberkam, wo wir gesessen hatten, nahm ich ein Viertel Brot und ein Stückchen Fleisch auf, die das Wasser noch nicht durchfeuchtet hatte, und quetschte diese Vorräte als Frühstück für den nächsten Tag in meine Trommel. Der Deich hielt stand, die leichte Brise mußte inzwischen meinen Weg getrocknet haben. Es war fast zwei Uhr. Gern hätte ich ja für den Fall einer unangenehmen Begegnung Vasiles Dolch mitgenommen. Der aber lag im Wasser, und ich vergeudete meine Zeit nicht damit, ihn zu suchen. Ich zog meine Schuhe aus, knotete sie mit den Schuhbändern zusammen und hängte sie an den Riemen meiner Trommel. Nachdem ich nochmals alles überdacht, einen letzten Blick auf meine Erdarbeiten geworfen, die Erinnerung an mein väterliches Haus heraufbeschworen, eine Kußhand in der Richtung nach Athen und an Mary-Ann geworfen hatte, streckte ich ein Bein über die Brüstung, klammerte mich mit beiden Händen an einen Busch, der über dem Abgrund hing, und begann unter Gottes Schutz die Reise.

Das war eine harte Aufgabe, viel härter, als ich es mir von oben her vorgestellt hatte. Die kaum getrocknete Felswand verursachte mir das Gefühl feuchter Kälte wie die Berührung einer Schlange. Dann hatte ich die Entfernungen schlecht geschätzt, und die Stützpunkte waren viel seltener, als ich gehofft hatte. Zweimal kam ich vom Wege ab, indem ich mich nach links wandte. Nach unglaublichen Schwierigkeiten gelang es mir, zurückzuklettern. Mehr als einmal verlor ich die Hoffnung, nie aber den Mut. Ich tat einen Fehltritt; ich hielt einen Schatten für einen Felsvorsprung und stürzte; ich klammerte mich mit meinen Händen und dem ganzen Körper an die Bergflanke, ohne etwas zu finden, woran ich mich halten konnte. Die Wurzel eines Feigenbaumes hielt mich, hier sehen Sie noch die Spuren, am Ärmel meines Mantels zurück. Ein Stückchen weiter wischte ein Vogel, der in einem Loche gehockt hatte, so plötzlich zwischen meinen Beinen hindurch, daß der Schrecken darüber mich fast auf den Rücken fallen ließ. Ich kroch auf Händen und Füßen, besonders auf den Händen. Meine Arme waren wie zerbrochen, und meine Sehnen zitterten wie die Saiten einer Harfe. Meine Nägel schmerzten so grausam, daß ich sie schließlich nicht mehr fühlte. Wäre es mir möglich gewesen, den Weg, den ich noch zurückzulegen hatte, abzuschätzen, so hätte ich vielleicht mehr Kraft gespürt, so aber ergriff mich, als ich versuchte, den Kopf rückwärts zu wenden, fast ein Schwindel, und ich fühlte mich versucht, mich gehen zu lassen. Um meinen Mut aufrecht zu halten, ermahnte ich mich selber; zwischen den aufeinandergepreßten Zähnen sprach ich laut mit mir selber. Ich sagte zu mir: »Noch einen Schritt für meinen Vater! Noch einen Schritt für Mary-Ann! Noch einen Schritt für die Verwirrung unter den Banditen und die Wut Hadgi-Stavros'!«

Endlich faßte ich auf einer breiteren Plattform Fuß. Der Boden schien mir seine Farbe gewechselt zu haben. Ich ging in die Knie, ich setzte mich und wandte furchtsam den Kopf. Ich war nur noch zehn Fuß vom Bach entfernt. Ich war auf dem roten Felsen angekommen. Eine waagerechte, von kleinen Löchern, in denen noch das Wasser stand, durchsetzte Oberfläche erlaubte mir, Atem zu schöpfen und mich etwas auszuruhen. Ich zog meine Uhr hervor; es war erst halb drei. Dabei schien mir die Reise schon drei Nächte zu dauern. Ich betastete Arme und Beine. Bei dieser Art von Expeditionen weiß man zwar, was hinter einem liegt, nicht aber, was noch kommen mag. Ich hatte Glück gehabt, denn ich war mit etlichen Quetschungen und zwei oder drei Schrammen davongekommen. Ich hob die Augen, um mich zu vergewissern, daß sich an meinem alten Aufenthaltsort nichts rührte. Ich hörte nichts weiter als ein paar Wassertropfen, die durch meinen Deich sickerten. Alles ging gut; im Rücken war ich demnach gesichert; ich wußte, wo ich Athen zu suchen hatte: Leb wohl also, König der Berge!

Gerade wollte ich auf den Boden der Schlucht hinabspringen, als sich eine weißliche Form vor mir aufrichtete und ich das wütendste Gebelle vernahm, das jemals zu solcher Stunde das Echo geweckt hat. Hélas, Monsieur, ich hatte die Rechnung ohne die Hunde meines Gastfreundes gemacht. Diese Feinde des Menschen streiften zu jeglicher Stunde um das Lager, und einer von ihnen hatte mich gewittert. Unmöglich zu sagen, was ich bei dieser Begegnung an Wut und Haß empfand; man verabscheut ein unvernünftiges Wesen nicht bis zu diesem Punkt. Ich hätte es vorgezogen, mich Auge in Auge mit einem Wolf, einem Tiger oder einem Eisbären zu befinden, noble Bestien, die mich ohne viel Worte gefressen, aber nicht denunziert hätten. Die wilden Tiere gehen für sich selber auf Jagd; was aber soll man von diesem schrecklichen Hunde denken, der mich unter großem Lärm zerfleischen wollte, um den alten Hadgi-Stavros zu hofieren? Ich durchlöcherte ihn mit Injurien; ich ließ die abscheulichsten Namen über ihn regnen; aber es half alles nichts, er sprach lauter als ich. Ich änderte den Ton, ich rief ihn sanft auf griechisch an, in der Sprache seiner Väter; er aber wußte nur eine einzige Antwort auf all meine Vorschläge, und seine Antwort erschütterte das Gebirge. Ich verstummte, das war eine Idee; er verstummte ebenfalls. Ich legte mich zwischen den Wasserpfützen nieder, er kuschte laut knurrend am Fuße des Felsens. Ich tat, als ob ich schlief; er schlief ebenfalls. Ich ließ mich kaum bemerkbar zum Bache gleiten, sofort war er aufgesprungen, und ich hatte gerade noch Zeit, mich wieder auf mein Piedestal zu verziehen. Mein Hut blieb zwischen den Händen, vielmehr zwischen den Zähnen des Feindes, und war einen Augenblick später nichts weiter als eine Paste, eine Marmelade, ein Mus von einem Hut! Armer Hut! Ich bedauerte ihn, ich versetzte mich an seine Stelle. Hätte ich mich mit ein paar Bissen aus der Affäre ziehen können, ich hätte es so genau gar nicht genommen, ich hätte dem Hunde sein Teil zukommen lassen. Aber diese Monstren dort geben sich ja nicht damit zufrieden zu beißen, sie fressen ihren Feind auf!

Ich dachte daran, daß er unzweifelhaft Hunger hatte, daß, wenn ich etwas fände, ihm das Maul zu stopfen, er vielleicht immer noch beißen, mich aber nicht mehr auffressen würde. Ich hatte einige Vorräte, und ich opferte sie. Ich bedauerte lediglich, nicht hundertmal mehr davon zu haben. Ich warf ihm die Hälfte meines Brotes hin; er verschlang es wie ein Strudel; stellen Sie sich einen Stein vor, der in ein Brunnenloch fällt. Mit jämmerlicher Miene betrachtete ich das Wenige, was mir verblieb, um es ihm anzubieten, als ich auf dem Grunde meiner Büchse ein weißes Paketchen entdeckte, das mich auf einen Gedanken brachte. Es war dies ein kleiner Vorrat an Arsenik, das für meine zoologischen Präparate bestimmt war. Ich bediente mich seiner, um Vögel auszustopfen, und kein Gesetz verbot es mir, einige Gramm davon in die Hülle eines Hundes gelangen zu lassen. Mein Gesprächspartner, der nun auf den Geschmack gekommen war, wünschte nichts sehnlicher, als seine Mahlzeit fortzusetzen. »Wart ein bißchen«, sagte ich zu ihm, »ich will dir jetzt ein Gericht meiner Küche vorsetzen! ...« Das Paket enthielt ungefähr 35 Gramm dieses hübsch weiß schimmernden Pulvers. Ich schüttete fünf oder sechs Gramm davon in eine kleine Lache klaren Wassers und steckte den Rest wieder in die Tasche. Den Teil für das Vieh verdünnte ich sorgfältig und wartete ab, daß die Arsensäure gut aufgelöst war, und tauchte dann ein Stück Brot in die Flüssigkeit, das alles, wie ein Schwamm, aufsaugte. Der Hund stürzte sich gierig darauf und verschlang den Tod mit einem Bissen.

Warum nur hatte ich mich nicht mit ein wenig Strychnin versehen oder sonst einem guten Gift, das blitzartiger wirkte als das Arsen? Es war nach drei, und der Erfolg meines Versuches ließ zum Verzweifeln lange auf sich warten. Gegen halb vier begann der Hund aus Leibeskräften zu heulen. Ich gewann dabei nicht gerade viel, denn Gebelle oder Geheule, Wut- oder Angstschreie gingen immer zu demselben Ziel, nämlich zu den Ohren Hadgi-Stavros'. Bald wand sich das Tier in den schrecklichsten Krämpfen, Schaum trat vor das Maul, er mußte erbrechen, machte heftige Anstrengungen, um das Gift, das ihn innerlich zerfraß, wieder loszuwerden. Das war ein süßes Schauspiel für mich, und ich genoß das köstliche Vergnügen der Götter; aber nur der Tod des Feindes konnte mich retten, und der Tod ließ auf sich warten. Ich hoffte, er würde, von den Schmerzen überwältigt, mir den Weg endlich freigeben, aber er war aufs äußerste erbittert gegen mich, zeigte mir sein geiferndes, blutiges Maul, wie um mir meine Geschenke vorzuwerfen und mir zu sagen, er stürbe nicht, ohne sich zu rächen. Ich warf ihm mein Taschentuch hin, das er ebenso wütend zerriß wie meinen Hut. Der Himmel begann sich zu lichten, und ich ahnte wohl, daß ich einen unnützen Mord begangen hatte. Eine Stunde noch, und ich würde die Briganten auf dem Halse haben. Ich hob den Kopf zu dem verfluchten Zimmer hinauf, das ich ohne den Gedanken an eine Rückkehr verlassen hatte und wohin die Macht eines Hundes mich zurückzukehren zwingen sollte. Da warf ein fürchterlicher Wasserschwall mich mit dem Gesicht zur Erde. Rasenstücke, Steine, Felsbrocken rollten mit einem Strom eisigkalten Wassers über mich hin. Der Deich war gebrochen, und der ganze See entleerte sich über meinen Kopf. Mich überkam ein Zittern; jeder Wasserguß, der über mich hinwegbrauste, nahm einige Grade meiner animalischen Wärme mit sich fort, und mein Blut wurde genauso kalt wie das eines Fisches. Meine Augen suchten den Hund; er befand sich immer noch am Fuße meines Felsens und kämpfte gegen den Tod, gegen die Strömung, gegen alles, mit offenem Maule, die Augen auf mich gerichtet. Damit mußte Schluß gemacht werden. Ich entledigte mich meiner Botanisiertrommel, faßte sie bei den beiden Tragriemen und hieb mit solcher Wut auf diesen widerlichen Schädel, daß der Feind mir das Schlachtfeld überließ. Die Strömung faßte ihn von der Flanke her, drehte ihn zwei-dreimal um sich selbst und trug ihn fort, ich weiß nicht, wohin.

Ich springe ins Wasser, das mir bis zum halben Leib ging; ich klammere mich an die Uferfelsen, entkomme der Strömung, erklettere das Ufer, schüttele das Wasser ab und brülle: »Hurra! Für Mary-Ann!«

Wie aus dem Erdboden gezaubert stehen vier Räuber vor mir, packen mich am Kragen und sagen: »Da haben wir dich, du Mörder! Kommt alle her! Wir haben ihn! Der König wird zufrieden sein! Vasile wird gerächt werden!«

Es schien, daß ich, ohne es zu wissen, meinen Freund Vasile ersäuft hatte.

Bis zu diesem Zeitpunkt, Monsieur, hatte ich noch nie einen Menschen getötet. Vasile war der erste und sein Ende war das Resultat einer unschuldigen Unvorsichtigkeit. Trotzdem – kein Mörder, den die Polizei entdeckt und den man von Polizeiwache zu Polizeiwache bis zum Schauplatz seines Verbrechens zurückführt, ließ den Kopf demütiger hängen als ich. Ich wagte es nicht, die Augen zu diesen braven Leuten zu erheben, die mich arretiert hatten. Ich fühlte nicht die Kraft in mir, ihre tadelnden Blicke auszuhalten. Ich ahnte zitternd eine fürchterliche Prüfung voraus; ich war sicher, vor meinem Richter zu erscheinen und meinem Opfer gegenübergestellt zu werden. Wie dem König der Berge vor die Augen treten, nach dem, was ich getan? Wie, ohne vor Scham zu sterben, den entseelten Leib des armen Vasile wiedersehen? Mehr als einmal brachen meine Knie unter mir zusammen, und ich wäre ohne die Fußtritte, die man mir von hinten verabfolgte, auf dem Wege liegengeblieben.

Ich kam durch das verlassene Lager, das jetzt von einigen Verwundeten bewohnte Kabinett des Königs und stieg oder vielmehr ich stürzte bis zu dem Treppenabsatz meines Zimmers hinunter. Das Wasser hatte sich verlaufen und Schlammflecke an allen Wänden und Bäumen zurückgelassen. Eine letzte Pfütze verblieb noch an dem Platz, wo ich den Rasen losgerissen hatte. Die Räuber, der König und der Mönch standen im Kreise um ein graues und schlammiges Etwas, bei dessen Anblick mir die Haare zu Berge standen; es war Vasile. Der Himmel bewahre Sie, Monsieur, je einen Leichnam zu sehen, an dem Sie schuld sind! Das Wasser und der Schlamm hatten, als sie sich zurückzogen, auf ihm und rings um ihn einen scheußlichen Belag zurückgelassen. Haben Sie einmal eine dicke Fliege gesehen, die sich seit drei oder vier Tagen in dem Netz einer Spinne verfangen hat? Die Webkünstlerin hüllt sie, da sie einen derartigen Gast nicht wieder loswerden kann, in ein Knäuel graufarbener Fäden ein und verwandelt ihn so in eine unförmige und nicht erkennbare Masse; genauso sah Vasile einige Stunden, nachdem er mit mir gespeist hatte, aus. Ich fand ihn zehn Schritte von dem Platz entfernt wieder, an dem ich ihm Adieu gesagt hatte. Ich weiß nicht, ob die Räuber seine Lage verändert hatten oder ob er sich selber in den Zuckungen seiner Agonie dorthin gewälzt hatte; doch bin ich geneigt zu glauben, daß sein Tod sanft gewesen ist. Voll von Wein, wie ich ihn verlassen hatte, muß er ohne Todeskampf an einem barmherzigen Gehirnschlag verschieden sein.

Ein unheilverkündendes Knurren begrüßte meine Ankunft. Hadgi-Stavros trat bleich und mit gerunzelter Stirn auf mich zu, packte mich am linken Handgelenk und riß mich so heftig zu sich hin, daß wenig daran fehlte, und er hätte mir den Arm ausgerenkt. Er stieß mich mit derartiger Wucht in die Mitte des Kreises, daß ich befürchtete, mit den Füßen auf dem Leibe meines Opfers zu landen, und warf mich mit aller Kraft rückwärts.

»Sehen Sie!« brüllte er mich mit donnernder Stimme an; »sehen Sie, was Sie getan haben! Genießen Sie Ihr Werk! Ergötzen Sie sich am Anblick Ihres Verbrechens. Unglückswurm! Wo werden Sie haltmachen? Wer hätte mir am Tage, als ich Sie hier empfing, wohl gesagt, daß ich meine Türe einem Mörder öffnete?«

Ich stammelte etliche Entschuldigungen; ich versuchte dem Richter zu zeigen, daß ich nur durch Fahrlässigkeit schuldig geworden war. Ich klagte mich aufrichtig selber an, meinen Wächter betrunken gemacht zu haben, um seiner Wachsamkeit zu entgehen und ohne Behinderung meinem Gefängnis zu entfliehen.

»Mindestens«, begann der König von neuem, »gestehen Sie ein, daß Ihre Unvorsichtigkeit höchst egoistisch und höchst schuldhaft ist! Da Ihr Leben nicht bedroht war, da man Sie hier nur einer Summe Geldes wegen zurückhielt, sind Sie lediglich aus Geiz geflohen; an nichts anderes haben Sie gedacht, als daran, Ihre paar Dukaten zu ersparen, und haben sich nicht im geringsten um diesen armen Teufel geschert, den Sie sterbend zurückließen! Sie haben sich auch nicht um mich gekümmert, um mich, dem Sie einen unentbehrlichen Gehilfen raubten. Und welchen Augenblick haben Sie gewählt, um mich zu verraten? Just den Tag, an dem alles Unglück gleichzeitig über mich hereinbricht, wo ich gerade eine Niederlage habe einstecken müssen, wo ich meine besten Soldaten eingebüßt habe, wo Sophoclis verwundet ist und der Corfiote im Sterben liegt, wo der junge Spiro, auf den ich so zählte, das Leben verloren hat und alle meine Leute matt und mutlos sind. Und gerade in diesem Augenblick haben Sie das Herz gehabt, mir meinen Vasile zu rauben! Haben Sie denn gar keine menschlichen Gefühle? Wäre es denn nicht hundertmal besser gewesen, ehrlich und honett Ihr Lösegeld zu zahlen, wie es sich für einen guten Gefangenen geziemt, als sich nachsagen lassen zu müssen, daß Sie für 15 000 Francs das Leben eines Mannes geopfert haben?«

»Ja, verdammt noch mal!« schrie ich meinerseits, »Sie haben noch viel mehr getötet, und noch für viel weniger.« Worauf er würdevoll entgegnete: »Das ist ja auch mein Handwerk, und nicht das ihrige. Ich bin Brigant, und Sie sind ein Gelehrter. Ich bin Grieche und Sie sind Deutscher.«

Darauf allerdings wußte ich nichts zu erwidern. Ich fühlte es wohl am Erzittern meines Herzens, daß ich zum Berufe eines Menschenmörders weder geboren noch auch erzogen war. Der König, durch mein Schweigen bestärkt, erhob seine Stimme und fuhr folgendermaßen fort:

»Unglückseliger junger Mann, wissen Sie überhaupt, wer dieses vortreffliche Wesen war, dessen Tod Sie verursacht haben? Er stammt von den heroischen Briganten von Souli ab, die so harte Kriege für die Religion und das Vaterland gegen Ali von Tébélen, den Pascha von Janina geführt haben. Seit vier Generationen sind alle seine Vorfahren aufgehängt oder enthauptet worden, nicht einer ist in seinem Bette gestorben. Es ist noch keine sechs Jahre her, daß sein leiblicher Bruder im Epirus umgekommen ist. Er war zum Tode verurteilt, weil er einen Moslem getötet hatte. Frömmigkeit und Mut sind erblich in seiner Familie. Niemals hat Vasile seine religiösen Pflichten versäumt. Er spendete der Kirche, er spendete den Armen. Am Ostertage zündete er eine viel dickere Kerze als alle anderen an. Lieber hätte er sich totschlagen lassen, ehe er die Fastengesetze verletzt oder an einem Fastentage Fleisch gegessen hätte. Er sparte, um sich in ein Kloster am Berge Athos zurückzuziehen. Wußten Sie das?«

Zerknirscht gestand ich, daß ich es wußte.

»Wußten Sie, daß er der entschlossenste aller meiner Kumpane war? Ich will die Verdienste der Männer, die hier zuhören, nicht verkleinern, aber Vasile war von einer blinden Ergebenheit, von furchtlosem Gehorsam, einem Eifer, der unter allen Umständen erprobt war. Keine Aufgabe war zu schwer für seinen zu allem willigen Mut; keine Hinrichtung widerstrebte seiner Treue. Er hätte das ganze Königreich umgebracht, falls ich es ihm zu tun befohlen hätte. Und gerade ihn haben Sie mir getötet! Armer Vasile! Wer wird dich ersetzen?«

Durch diese Leichenrede elektrisiert, sprangen alle Briganten auf und brüllten einstimmig: »Wir! Wir!« Hadgi-Stavros zügelte ihren Enthusiasmus und fuhr fort:

»Tröste dich, Vasile, du bleibst nicht ungerächt. Hörte ich nur auf meinen Schmerz, so brächte ich den Kopf deines Mörders deinen Manen dar, aber der ist 15 000 Francs wert, und dieser Gedanke hält mich zurück. Du selbst, wenn du noch das Wort ergreifen könntest wie ehemals bei unseren Beratungen, du würdest mich bitten, sein Leben zu schonen, du würdest eine derart kostspielige Rache zurückweisen. Die Umstände, unter denen uns dein Tod zurückgelassen hat, sind nicht derart, daß es ratsam wäre, Dummheiten zu begehen und das Geld aus den Fenstern zu werfen.«

Er hielt einen Augenblick inne. Ich atmete auf.

 

»Jedoch werde ich«, begann der König von neuem, »das Interesse und die Justiz auf einen Nenner zu bringen wissen. Ich werde den Schuldigen züchtigen, ohne das Kapital einer Gefahr auszusetzen. Seine Bestrafung wird die höchste Zier deiner Totenfeier sein; und du wirst aus der Höhe deines jetzigen Aufenthaltsortes, wohin deine Seele davongeflogen ist, mit Freude eine Sühne mit ansehen, die uns nicht einen Sou kostet.«

Dieser Schluß der Rede riß die Hörerschaft mit sich fort. Alle waren entzückt, ausgenommen ich. Ich zergrübelte mir das Hirn, um zu erraten, was der König mit mir vorhatte, und war so wenig beruhigt, daß mir die Zähne klapperten. Gewiß, ich mußte mich glücklich schätzen, das Leben gerettet zu haben, und die Bewahrung meines Kopfes schien mir kein kleiner Vorteil, doch kannte ich die erfinderische Einbildungskraft der Hellenen der Landstraße. Hadgi-Stavros konnte, ohne mich zu töten, mir eine derartige Züchtigung erteilen, die mir das Leben verhaßt machen konnte. Der alte Verbrecher weigerte sich mir mitzuteilen, welche Qualen er mir zudachte. So wenig Mitgefühl zeigte er mit meinen Ängsten, daß er mich zwang, dem Leichenbegängnis seines Leutnants beizuwohnen.

Der Leichnam wurde entkleidet, zur Quelle getragen und mit viel Wasser gewaschen. Die Züge Vasiles waren kaum verändert; sein halbgeöffneter Mund zeigte noch das peinliche Lächeln des Säufers; seine offenen Augen bewahrten einen stupiden Blick. Die Glieder hatten nichts von ihrer Biegsamkeit verloren, denn die Leichenstarre läßt bei den Individuen, die durch Unfall sterben, lange auf sich warten.

Der Cafedgi des Königs und sein Pfeifenträger begannen mit der Toilette des Toten. Hadgi-Stavros, in seiner Eigenschaft als Universalerbe, bestritt die Unkosten. Vasile hatte keine Familie, und all sein Hab und Gut fiel dem König zu. Man bekleidete den Leichnam mit einem feinen Hemde, einem Rock aus schönem Perkal und einer silbergestickten Weste. Man ließ die feuchten Haare unter einer fast neuen roten Mütze verschwinden. Seine Beine, die nie mehr laufen würden, preßte man in rotseidene Gamaschen. Die Füße bekleidete man mit Babuschen aus russischem Leder. In seinem ganzen Leben war der arme Vasile nie so sauber und schön gewesen. Man trug Karmin auf seine Lippen und schminkte ihn rot und weiß, wie einen Ersten Liebhaber, der gleich auftreten soll. Während dieser Operation exekutierte das Brigantenorchester eine Trauerweise, die Sie mehr als einmal in den Straßen Athens gehört haben dürften. Ich beglückwünsche mich, nicht in Griechenland gestorben zu sein, denn es ist eine abscheuliche Musik, und ich würde nie darüber hinwegkommen, unter den Klängen dieser Melodie beerdigt worden zu sein.

Vier Briganten machten sich daran, in der Mitte des Zimmers, dort, wo Mme. Simons' Zelt gestanden und genau dort, wo Mary-Ann geschlafen hatte, ein Grab auszuheben. Zwei andere liefen ins Magazin, um Kerzen zu holen, die sie an die Anwesenden verteilten. Ich erhielt auch eine, wie alle Welt. Der Mönch stimmte die Totenmesse an. Hadgi-Stavros psalmodierte die Antworten mit sicherer Stimme, die mich bis ins Innerste meines Herzens bewegte. Es wehte ein leiser Wind, und das Wachs meiner Kerze fiel als glühender Regen auf meine Hand; doch was war das, hélas! sehr wenig im Vergleich zu dem, was mich erwartete. Gern hätte ich diesen Schmerz lange ertragen, wenn nur die Zeremonie nie geendet hätte.

Doch ... sie endete! Als das letzte Gebet gesagt war, näherte sich der König feierlich der Tragbahre, auf der der Leichnam niedergelegt war, und küßte ihn auf den Mund. Einer nach dem anderen befolgten die Briganten sein Beispiel. Ich bebte innerlich bei dem Gedanken, daß ich an die Reihe kommen würde. Ich verbarg mich hinter denen, die schon ihre Rolle gespielt hatten, jedoch der König bemerkte mich und sagte: »Sie sind dran. Treten Sie näher! Sie sind es ihm wohl schuldig!«

War das nun endlich die Sühne, mit der er mich bedroht hatte? Ein gerechter Mann wenigstens hätte sich damit begnügt. Ich schwöre es Ihnen, Monsieur, es ist kein Kinderspiel, den Mund eines Kadavers zu küssen, besonders wenn man sich vorwirft, ihn getötet zu haben. Ich näherte mich der Bahre und betrachtete von Angesicht zu Angesicht dieses Antlitz, dessen offene Augen über meine Verwirrung zu lachen schienen. Ich neigte den Kopf, ich berührte ganz leicht die Lippen. Ein zu Spaßen neigender Brigant preßte mir die Hand in den Nacken, so daß mein Mund sich auf dem kalten Munde plattdrückte. Ich fühlte die Berührung der eiskalten Zähne und erhob mich von Grauen gepackt und trug, ich weiß nicht welchen Todesgeschmack, mit mir davon, der mir noch in diesem Augenblick die Kehle zusammenzieht! Wie glücklich sind doch die Frauen, die sich durch eine Ohnmacht zu helfen wissen.

Dann senkte man den Leichnam in die Erde. Man warf ihm eine Handvoll Blumen, ein Brot, einen Apfel und etliche Tropfen Äginaweins hinterher. Das war gewiß das, was er am wenigsten brauchte. Das Grab schloß sich rasch über ihm, rascher, als ich es mir wünschte. Ein Brigant machte darauf aufmerksam, daß zwei Stöcke nötig wären, um ein Kreuz herzustellen. Hadgi-Stavros antwortete ihm: »Sei ruhig, man wird die Stöcke Mylords dazu verwenden.« Ich überlasse es Ihnen zu denken, ob mein Herz in meiner Brust einen Höllenlärm vollführte. Welche Stöcke? Welche Beziehung bestand zwischen den Stöcken und mir?

Der König gab seiner Wache ein Zeichen, der zu den Büros lief und mit zwei langen Stecken vom Lorbeerbaum Apollos zurückkam. Hadgi-Stavros nahm die Bahre auf und trug sie auf das Grab. Er setzte sie auf die frisch aufgewühlte Erde nieder, hob sie an einem Ende hoch, während das andere Ende den Boden berührte und sagte lächelnd zu mir: »Ich arbeite für Sie! Ziehen Sie bitte die Schuhe aus.«

Vermutlich las er in meinen Augen eine Frage voller Angst und Schrecken, denn er antwortete auf die Frage, die ich nicht an ihn zu stellen wagte:

»Ich bin durchaus nicht bösartig und habe die unnötige Härte stets verabscheut. Daher will ich Ihnen eine Züchtigung angedeihen lassen, die uns gleichzeitig einen Profit bringt, weil sie uns überhebt, Sie fürderhin zu überwachen. Sie leiden seit etlichen Tagen an einer wahren Tollheit, nämlich der, uns zu entwischen. Ich hoffe, Sie werden, nachdem Sie zwanzig Stockschläge auf die Fußsohlen bezogen haben, keinen Wächter mehr nötig haben, und Ihre Reiselust wird sich für einige Zeit beruhigen. Es ist das eine Leibesstrafe, die ich selber genau kenne; die Türken haben sie in meiner Jugend bei mir angewandt, und ich weiß aus Erfahrung, daß man an ihr nicht stirbt. Allerdings leidet man sehr durch sie; Sie werden brüllen, ich mache Sie darauf aufmerksam. Vasile wird Sie in der Tiefe seines Grabes hören, und er wird mit uns zufrieden sein.«

Bei dieser Ankündigung war mein erster Gedanke, meine Beine zu gebrauchen, solange sie mir noch zu freier Verfügung standen. Leider mußte ich einsehen, daß mein Wille sehr angekränkelt war, denn ich war unfähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Hadgi-Stavros hob mich von der Erde mit derselben Leichtigkeit auf, mit der wir ein Insekt von der Erde auflesen. Bevor ein meinem Gehirn entsprungener Gedanke die Zeit gehabt hätte, bis zu den Gliedern zu kommen, fühlte ich, wie man mich fesselte und mir die Schuhe auszog. Ich weiß weder, worauf man meine Füße stützte, noch wie man sie daran hinderte, beim ersten Stockschlag bis zu meinem Kopf zurückzuschnellen. Ich sah die beiden Stöcke vor mir wirbeln, einen rechts, den anderen links, ich kniff die Augen zu, ich wartete. Sicherlich wartete ich nicht einmal den zehnten Teil einer Sekunde und hatte dennoch in dieser so kurzen Zeitspanne Muße, meinem Vater einen Segen und Mary-Ann einen Kuß zu schicken, nicht zu vergessen mehr als hunderttausend Verwünschungen, die Mme. Simons und John Harris unter sich teilen mochten.

Nicht einen Augenblick fiel ich in Ohnmacht, denn das ist, wie ich Ihnen schon sagte, eine Fähigkeit, die mir abgeht. Nichts also ging mir verloren. Ich fühlte alle Stockschläge, einen nach dem anderen. Der erste war derart grimmig, daß ich wähnte, für die folgenden könne schon nichts mehr zu tun übrigbleiben. Er traf mich genau in der Mitte der Fußsohle, unter dieser kleinen elastischen Wölbung, die vor der Ferse liegt und den Körper des Menschen trägt. Es war nicht eigentlich der Fuß, der mich dieses Mal schmerzte, doch glaubte ich, die Knochen meiner armen Beine sprängen in tausend Stücke. Der zweite traf mich tiefer, nämlich just auf die Fersen. Er verursachte mir eine tiefe, heftige Erschütterung, die die ganze Wirbelsäule lockerte, und erfüllte mein zuckendes Gehirn sowie meinen Schädel, der nahe am Platzen war, mit einem entsetzlichen Tumult. Der dritte traf unmittelbar auf die Zehen, rief eine durchdringend stechende Empfindung hervor, die die ganze vordere Partie des Körpers sozusagen kräuselte und mich einen Augenblick glauben ließ, daß die Spitze des Stockes meine Nasenspitze aufgestülpt hätte. Zu diesem Zeitpunkt, so glaube ich wenigstens, schoß zum ersten Male das Blut hervor. Die Schläge folgten von nun an in derselben Reihenfolge, an denselben Stellen und in gleichmäßigen Abständen. Bei den beiden ersten hatte ich noch genügend Courage zu schweigen, beim dritten brüllte ich, beim vierten heulte ich, beim fünften und den folgenden wimmerte ich nur noch. Beim zehnten hatte dann das Fleisch selbst nicht mehr die Kraft, die nötig ist, zu klagen; ich schwieg. Leider verminderte der Verfall meiner körperlichen Kraft in nichts die Deutlichkeit meiner Wahrnehmungen. Ich wäre unfähig gewesen, meine Augenlider zu öffnen, und dennoch traf auch das leiseste Geräusch meine Ohren noch zu laut. Ich verlor nicht ein Wort von dem, was man um mich herum sagte. Das ist eine Beobachtung, deren ich mich auch später entsinnen will, wenn ich die Medizin ausüben werde. Die Doktoren machen sich kein Gewissen daraus, einen Kranken, der vier Schritt von ihnen entfernt in seinem Bette liegt, aufzugeben, und denken nicht daran, daß der arme Teufel vielleicht noch genügend scharf hört, um sie zu verstehen. Ich vernahm, wie ein junger Brigant zum König sagte: »Er ist tot. Wozu noch zwei Mann sich anstrengen lassen, ohne daß jemand einen Nutzen davon hat?« Hadgi-Stavros antwortete: »Hab keine Angst. Ich habe sechzig nacheinander bekommen, und tanzte zwei Tage später doch schon die Romaïque.«

»Wie hast du das angestellt?«

»Ich habe die Pomade eines italienischen Renegaten namens Luidgi-Bey angewendet ... wie weit sind wir übrigens? Wie viele Stockschläge?«

»Also noch drei, Kinderchen! Und seid besonders sorgfältig bei den letzten!«

Der Stock hatte ein leichtes Spiel. Die letzten Hiebe trafen eine blutige, aber unempfindliche Materie. Der Schmerz hatte mich fast gelähmt.

Man hob mich von der Tragbahre, knotete die Stricke auf, umwickelte meine Füße mit Kompressen kalten Wassers und gab mir, da ich Durst wie ein Verwundeter hatte, ein Glas Wein zu trinken. Ehe ich aber wieder zu Kräften kam, überfiel mich die Wut. Ich weiß nicht, ob Sie veranlagt sind wie ich, aber ich kenne nichts Erniedrigenderes als eine körperliche Züchtigung. Ich ertrage es ganz einfach nicht, daß der Herr der Welt auch nur für eine Minute der Sklave eines elenden Stockes werden kann. Im neunzehnten Jahrhundert geboren zu sein, den Dampf und die Elektrizität zu handhaben, eine gute Hälfte der Geheimnisse der Natur zu besitzen, bis auf den Grund alles, was die Wissenschaft für das Wohlergehen und die Sicherheit des Menschen erfunden hat, zu kennen, zu wissen, wie man das Fieber heilt, was man gegen die Lustseuche unternimmt, wie man die Blasensteine zertrümmert und sich nicht gegen Stockhiebe verteidigen zu können, das ist wahrhaftig zu stark! Wäre ich Soldat und körperlichen Strafen unterworfen gewesen, ich hätte meine Vorgesetzten unweigerlich getötet.

Als ich mich so auf der klebrigen Erde sitzen sah, die Füße vom Schmerz gefesselt, mit toten Händen, als ich rings um mich herum die Leute bemerkte, die mich geschlagen hatten, und die zugesehen hatten, wie ich geschlagen wurde, und den, der mich hatte schlagen lassen, da füllten Wut, Scham, das Gefühl verletzter Menschenwürde, mißachteter Gerechtigkeit, brutalisierter Intelligenz, meinen schwachen Körper mit dem überströmenden Gefühl von Haß, Revolte und Rache. Ich vergaß alles, Berechnung, Interesse, Vorsicht, Zukunft; ich ließ all den Wahrheiten, die mich erstickten, freien Lauf. Ein Sturzbach von kochenden Beleidigungen brach aus meinen Lippen hervor, während die aus den Gefäßen ausgetretene Galle als gelber Schaum bis ins Weiße meiner Augen überfloß und aufstieg. Ich bin fürwahr kein Redner, meine einsamen Studien haben mich nicht in der Anwendung des Wortes geübt, aber die Empörung, die Poeten geschaffen hat, lieh mir für eine Viertelstunde die wilde Beredsamkeit der kantabrischen Gefangenen, die ihren Geist unter Verwünschungen aufgaben und ihren letzten Seufzer den römischen Siegern ins Gesicht spuckten. Alles, was einen Mann in seinem Stolz, seiner Zärtlichkeit und teuersten Gefühlen kränken kann, all das sagte ich dem König der Berge. Ich versetzte ihn in den Rang der unsauberen Tiere, ich sprach ihm den Namen eines Menschen ab. Ich beleidigte ihn in seiner Mutter, seiner Frau, seiner Tochter und in seiner gesamten Nachkommenschaft. Ich möchte Ihnen Wort für Wort alles, was ich ihn anzuhören zwang, wiederholen, aber heute, da ich wieder meine Kaltblütigkeit besitze, fehlen mir die Worte. Ich erfand deren aller Art, wie sie in keinem Wörterbuch stehen und die man doch ohne weiteres versteht, denn die Zuhörerschaft dieser Zuchthäusler heulte unter meinen Worten auf wie eine Hundemeute unter der Peitsche der Piköre. Aber mochte ich auch das Gesicht des alten Pallikaren noch so sehr beobachten, alle Muskeln seines Antlitzes belauern und gierig in den kleinsten Falten seiner Stirn forschen, ich überraschte nicht die Spur von Erregung. Hadgi-Stavros verzog die Miene nicht mehr als eine Marmorbüste. Er antwortete auf all meine Beleidigungen mit der Unverschämtheit der Geringschätzung. Seine Haltung brachte mich bis zum Wahnsinn auf. Für einen Augenblick war ich im Delirium. Eine blutrote Wolke strich vor meinen Augen vorbei. Plötzlich springe ich auf, stehe auf meinen gemarterten Füßen, sehe eine Pistole im Gürtel eines Briganten, reiße sie an mich, spanne sie, ziele aus nächster Nähe auf den König, der Schuß geht los, und ich falle nach rückwärts und murmele: »Ich bin gerächt!«

Er war es, der mich aufhob. Ich starrte ihn mit höchstem Erstaunen an, als hätte ich ihn der Hölle entsteigen sehen. Er schien nicht bewegt und lächelte so ruhig wie ein Unsterblicher. Dabei hatte ich ihn nicht etwa verfehlt, Monsieur! Meine Kugel hatte ihn auf der Stirn, einen Zentimeter oberhalb der linken Augenbraue, getroffen, eine Blutspur war der Beweis. Aber wie dem auch immer sei, ob die Waffe schlecht geladen war, oder das Pulver schlecht, oder sei es auch, daß die Kugel am Stirnknochen abgeglitten war, mein Schuß hatte lediglich eine Hautschramme verursacht!

Das unverwundbare Monstrum setzte mich sanft auf die Erde, neigte sich zu mir, zog mich am Ohr und sagte: »Warum versuchen Sie das Unmögliche, junger Mann? Ich hatte Ihnen doch vorher gesagt, daß ich einen kugelsicheren Schädel besitze, und Sie wissen doch, daß ich nie lüge. Hat man Ihnen nicht berichtet, daß Ibrahim mich durch sieben Ägypter erschießen ließ und mein Fell dennoch nicht bekam? Ich denke doch, daß Sie sich nicht etwa einbilden, stärker zu sein als sieben Ägypter! Aber wissen Sie auch, daß Sie, für einen Nordländer, eine leichte Hand besitzen? Mit Ihnen zu tun zu haben! Potztausend! Hätte meine Mutter, von der Sie soeben etwas leichthin sprachen, mich nicht so solide geboren, wäre ich jetzt ein toter Mann. Jeder andere an meiner Stelle wäre, ohne ein Dankesehr zu sagen, abgekratzt. Mich allerdings verjüngen solche Dinge. Das erinnert mich an meine guten Zeiten. In Ihrem Alter setzte ich mein Leben viermal am Tage aufs Spiel und verdaute darum nur noch besser. Los, ich bin Ihnen nicht böse, ich verzeihe Ihnen Ihre übereilte Bewegung. Da aber meine Untertanen nicht alle kugelfest sind und Sie sich leicht von neuem zu einer Unbesonnenheit hinreißen lassen könnten, wollen wir Ihren Händen dieselbe Behandlung zuteil werden lassen wie Ihren Füßen. Nichts könnte uns daran hindern, damit sofort zu beginnen, im Interesse Ihrer Gesundheit jedoch will ich bis morgen damit warten. Wie Sie sehen, ist der Stock eine ritterliche Waffe, die die Leute nicht tötet, und Sie selber haben soeben bewiesen, daß ein verprügelter Mann zwei wert ist. Die morgige Zeremonie wird Sie unterhalten. Die Gefangenen wissen nicht, womit sie sich die Zeit vertreiben sollen. Das Nichtstun hat Ihnen nur schlechte Ratschläge gegeben. Seien Sie übrigens unbesorgt: sobald Ihr Lösegeld angekommen sein wird, werde ich Ihre Schrammen heilen. Ich habe noch etwas von dem Balsam Luidgi-Beys. Nach zwei Tagen sieht man nichts mehr davon, und Sie können auf dem Hofball Walzer tanzen, ohne Ihre Tänzerinnen wissen zu lassen, daß sie in den Armen eines verprügelten Kavaliers liegen.«

Ich bin kein Grieche, bin es keineswegs, und die Beleidigungen verwundeten mich daher so tief wie die Schläge. Ich drohte dem alten Verbrecher mit der Faust und schrie aus Leibeskräften:

»Nein, du jämmerlicher Kerl, mein Lösegeld wird nie bezahlt werden! Nein! Niemals! Ich habe niemand um Geld gebeten! Du wirst nur meinen Kopf haben, der dir nichts nützt. Nimm ihn sofort, wenn es dir Spaß machen sollte. Du erweist mir einen Dienst, wie dir selber auch. Du ersparst mir zwei Wochen Martern und den Ekel, dich zu sehen, was das Schlimmste von allem ist. Du ersparst dir meine Nahrung während der vierzehn Tage. Verpaß die Gelegenheit nicht, es ist der einzige Nutzen, den du aus mir ziehen kannst!«

Er lächelte, zuckte mit den Schultern und antwortete: »Ta! Ta! Ta! Ta! Da sieht man mal wieder unsere jungen Leute! Extrem in allem! Werfen die Flinte ins Korn! Wollte ich wirklich auf Sie hören, müßte ich es in acht Tagen bedauern, Sie übrigens auch. Die Engländerinnen werden schon bezahlen. Dessen bin ich sicher. Ich kenne mich doch in den Frauen aus, obgleich ich schon recht lange zurückgezogen lebe. Was würde man wohl sagen, wenn ich Sie heute tötete, und morgen käme das Lösegeld an? Man würde das Gerücht verbreiten, ich hielte mein Wort nicht, und meine zukünftigen Gefangenen würden sich wie die Schafe die Hälse abschneiden lassen, ohne von den Verwandten einen Centime zu erbitten. Verderben Sie uns nicht das Geschäft!«

»Ach! Du glaubst also, die Engländerinnen haben dich bezahlt? Du Neunmalkluger? Gewiß, sie haben dich bezahlt, wie du es verdienst!«

»Sie sind wirklich gut!«

»Ihr Lösegeld wird dich 80 000 Francs kosten, verstehst du? 80 000 Francs aus deiner Tasche!«

»Sagen Sie doch nicht solche Sachen! Man möchte fast meinen, die Stockhiebe haben Ihnen den Kopf verdreht.«

»Ich sage bloß, was stimmt. Erinnerst du dich des Namens deiner Gefangenen?«

»Nein, aber ich habe ihn schriftlich.«

»Dann will ich deinem Gedächtnis etwas nachhelfen. Die Dame nannte sich Mme. Simons.«

»Na, und?«

»Teilhaberin des Hauses Barley in London.«

»Mein Bankier?«

»Ganz richtig.«

»Woher kennst du den Namen meines Bankiers?«

»Warum hast du deine Korrespondenz vor meinen Ohren diktiert?«

»Was liegt schon daran? Sie können mich nicht bestehlen, sie sind keine Griechen, sie sind Engländer. Die Gerichte ... ich würde klagen!«

»Und würdest verlieren. Sie haben eine Quittung.«

»Stimmt. Aber wie kam ich bloß dazu, ihnen eine Quittung zu geben?«

»Weil ich es dir geraten habe, armer Kerl!«

»Verdammter Schurke! Schlecht getaufter Hund! Schismatiker der Hölle! Du hast mich ruiniert! Du hast mich verraten! Du hast mich bestohlen! Achtzigtausend Francs! Ich bin verantwortlich. Wenn Barleys wenigstens die Bankiers der Kompanie wären. Ich würde nichts weiter als meinen Anteil verlieren. Aber sie haben nur meine Gelder, ich verliere alles. Bist du wenigstens sicher, daß sie Teilhaberin des Hauses Barley ist?«

»So sicher, wie daß ich heute sterbe.«

»Nein, du stirbst erst morgen. Du hast noch nicht genug ausgestanden. Man wird dich für achtzigtausend Francs quälen. Welche Marter erfinden? Achtzigtausend Francs! Achtzigtausend Tote wären wenig dagegen. Was hatte ich denn schon dem Verräter, der mich um vierzigtausend bestohlen hat, schon groß angetan? Bah! Ein Kinderspiel! Ein Späßchen! Er hat nur zwei Stunden geheult. Ich werde Besseres finden. Aber wenn es nun zwei Häuser desselben Namens gäbe?«

»Cavendish-Square, 31!«

»Ja, genau dort. Dummkopf! Warum hast du mir nicht einen Wink gegeben, anstatt mich zu verraten? Ich hätte das Doppelte von ihnen verlangt. Sie hätten ja bezahlt, sie haben die Mittel dazu. Ich hätte keine Quittung gegeben; ich werde nie mehr eine geben ... Nein, nein, und nochmals nein! Es war das letzte Mal ... ›Von Mme. Simons hunderttausend Francs erhalten.‹ Welch blöder Satz! War ich's wirklich, der das diktiert hat? ... Aber ich träume wohl. Ich habe das nicht unterzeichnet ... aber ja, mein Petschaft gilt als Unterschrift; sie besitzen zwanzig Briefe von mir. Warum hast du diese Quittung von mir verlangt? Was erwartetest du von diesen zwei Frauen? 15 000 Francs für dein Lösegeld ... überall dieser Egoismus! ... Du hättest dich mir eröffnen sollen. Ich hätte dich umsonst zurückgeschickt. Ich hätte dir sogar noch etwas draufgezahlt. Wenn du arm bist, wie du behauptest, mußt du doch wissen, wie gut das Geld ist. Kannst du dir überhaupt eine Summe von 80 000 Francs vorstellen? Weißt du, was das für einen Haufen in einem Zimmer abgibt? Wie viele Goldstücke dazu gehören? Und wieviel Geld man in Geschäften mit 80 000 Francs verdienen kann? Das ist ein Vermögen, du Unglückswurm! Du hast mir ein Vermögen gestohlen! Du hast meine Tochter ausgeplündert, das einzige Wesen auf der Welt, das ich liebe. Nur für sie allein arbeite ich. Aber wenn du dich in meinen Geschäften auskennst, mußt du doch wissen, daß ich mich ein ganzes Jahr lang im Gebirge herumtreiben muß, um 40 000 Francs zu verdienen. Du hast mich um zwei Jahre meines Lebens gebracht, es ist genauso, als ob ich zwei Jahre lang geschlafen hätte.«

Endlich also hatte ich seine empfindliche Seite berührt! Der alte Pallikare war ins Herz getroffen. Ich wußte jetzt, daß meine Rechnung nun aufging; ich rechnete auf keine Gnade und empfand dennoch ein bitteres Vergnügen, diese kaltblütige, unempfindliche Maske und dieses steinerne Gesicht sich verzerren zu sehen. Es behagte mir, in den Furchen seines Gesichtes die krampfhafte Bewegung des Leidens zu verfolgen, wie ein inmitten des rasenden Meeres verlorener Schiffbrüchiger von Ferne die Woge bewundert, die ihn verschlingen muß. Ich war wie das schwankende, aber denkende Schilfrohr, das sich sterbend mit dem stolzen Bewußtsein seiner Überlegenheit tröstet. Ich sagte mir voller Stolz: »Ich werde an den Martern sterben, doch bin ich der Herr meines Herrn und der Henker meines Henkers.«


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