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Photini

Schon an meiner Kleidung sehen Sie, daß ich über keinerlei Vermögen verfüge. Mein Vater ist ein durch die Eisenbahnen ruinierter Herbergswirt, der sich in den guten Jahren von Brot und in den schlechten von Kartoffeln ernährt; dazu kommt noch, daß wir sechs mit guten Zähnen bewaffnete Kinder sind. Der Tag, an dem ich durch einen Wettbewerb einen Forschungsauftrag vom Botanischen Garten erhielt, wurde in der Familie als Festtag gefeiert, weil meine Abreise nicht nur den Anteil jedes meiner Geschwister an der mageren Kost erhöhte, sondern weil ich außerdem noch zweihundertfünfzig Francs im Monat verdienen sollte zuzüglich einer einmaligen Zahlung von fünfhundert Francs als Zuschuß zu den Reiseunkosten. Das war ein Vermögen. Von diesem Augenblick an verlor man die Gewohnheit, mich »Herr Doktor« zu nennen, man nannte mich nur noch »den Viehhändler«, so reich erschien ich allen. Meine Geschwister rechneten fest damit, daß man mich nach meiner Rückkehr aus Athen zum Universitätsprofessor ernennen würde. Mein Vater allerdings hatte eine andere Idee, er hoffte, ich würde verheiratet wiederkommen. In seinem Beruf als Herbergswirt hatte er so manchen Roman miterlebt und war überzeugt, daß einem Mann nur noch auf den Landstraßen köstliche Abenteuer zustoßen. Als Beweis dafür führte er mindestens dreimal wöchentlich die Heirat der Prinzessin Ypsoff mit dem Lieutenant Reynauld an. Die Prinzessin bewohnte in unserem Haus mit ihren zwei Kammerfrauen und einem Kurier das Appartement No. 1 und bezahlte dafür täglich zwanzig Gulden. Der französische Leutnant hauste auf No. 17 unter dem Dache und bezahlte, Verpflegung miteinbegriffen, ganze anderthalb Gulden; dessenungeachtet war er nach einmonatigem Aufenthalt mit der russischen Dame in der Postkutsche abgereist. Zu welchem anderen Zwecke wohl, als ihn zu heiraten, sollte eine Prinzessin einen Leutnant in ihrer Kutsche entführen? Den väterlichen Augen erschien ich viel schöner und eleganter als der Leutnant Reynauld, und er zweifelte keinen Augenblick daran, daß ich früher oder später die Prinzessin finden würde, die uns alle reich machen sollte. Wenn ich sie nicht an der Table d'hôte fände, würde ich sie in der Eisenbahn sehen; sollten mir aber die Eisenbahnen nicht günstig sein, dann blieben uns immer noch die Dampfschiffe übrig. Am Abend der Abreise tranken wir eine Flasche alten Rheinweins, wobei der Zufall es fügte, daß der letzte Tropfen in mein Glas fiel, worüber mein Vater Freudentränen vergoß, denn das war für ihn ein sicheres Zeichen, daß mich nichts daran hindern könnte, im Laufe des Jahres zu heiraten. Ich nahm Rücksicht auf seine Illusionen und hütete mich, ihm zu sagen, daß große Damen nicht in der dritten Klasse zu reisen pflegen. Was die Unterkunft betrifft, so verdammte mich mein magerer Geldbeutel dazu, bescheidene Herbergen zu wählen, wo Prinzessinnen nicht absteigen. Tatsache ist, daß ich im Piräus an Land ging, ohne auch nur den Schimmer eines kleinsten Romans erlebt zu haben.

Durch die Besatzungstruppen war in Athen alles teuer geworden. Doch der Kanzleichef der Preußischen Gesandtschaft, für den ich einen Empfehlungsbrief mitgebracht hatte, war so liebenswürdig, mir eine Wohnung zu suchen. Er brachte mich zu einem Konditor namens Christodulos an der Ecke der Rue d'Hermès und der Place du Palais; dort fand ich Unterkunft und Verpflegung für monatlich hundert Francs. Christodulos ist ein ehemaliger Pallikare, also Soldat, der in Erinnerung an den Unabhängigkeitskrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wurde. Er ist Leutnant der Phalanx, der seinen Sold hinter der Theke einstreicht. Er trägt das Nationalkostüm, nämlich eine rote Mütze mit blauer Troddel, silbriges Wams, weißen Faltenrock und goldverzierte Gamaschen; derartig kostümiert verkauft er die Kuchen und sein Speiseeis. Sein Eheweib Maroula ist enorm wie alle über fünfzig Jahre alten Griechinnen. Ihr Ehemann hat sie seinerzeit, als der Krieg seinen Höhepunkt erreicht hatte und das schwache Geschlecht hoch im Kurs stand, für achtzig Piaster gekauft. Sie ist auf der Insel Hydra geboren, kleidet sich aber nach Athener Mode: schwarzes Sammetjäckchen, hellfarbigen Rock, einen Foulard um das Haar geknotet. Weder Christodulos noch seine Frau verstehen ein Wort Deutsch, während ihr Sohn Dimitri, der Fremdenführer ist, alle Mundarten Europas versteht und stümperhaft spricht.

Meine Wirtsleute waren brave Menschen, wie man deren immerhin mehr als drei in der Stadt antrifft. Sie gaben mir ein kleines, weißgekalktes Zimmer, einen Tisch aus weißem Holz, zwei Strohstühle, eine verdammt dünne Matratze, eine Decke und baumwollene Bettwäsche. Eine hölzerne Bettstelle ist ein Luxus, auf den die Griechen gern verzichten, und wir lebten ja à la grecque. Mein Frühstück bestand aus einer Tasse Salepwurzelaufguß, zu Mittag aß ich ein Fleischgericht mit Oliven und Dörrfisch, und das Nachtmahl bestand aus Gemüse, Honig und Kuchen. Es gab oft und viel Konfitüre in diesem Hause, und von Zeit zu Zeit beschwor ich die Erinnerung an meine Heimat dadurch herauf, daß ich mir eine Hammelkeule mit Konfitüre zu Gemüte führte. Unnötig, Ihnen zu sagen, daß ich meine Pfeife bei mir hatte und daß der Tabak in Athen besser ist als der Ihre. Was aber besonders dazu beitrug, mich im Hause Christodulos heimisch werden zu lassen, das war ein Weinchen aus Santorin, das er, ich weiß nicht wo, herholte. Ich bin kein Feinschmecker, und die Erziehung meines Gaumens ist leider vernachlässigt worden. Doch glaube ich versichern zu können, daß dieser Wein an der Tafel eines Königs hochgeschätzt sein würde, denn er ist gelb wie Gold, durchsichtig wie Topas, strahlend wie die Sonne und freundlich wie das Lächeln eines Kindes. Jetzt noch glaube ich ihn vor mir zu sehen in einer weitbauchigen Karaffe mitten auf dem Stück Wachstuch, das uns als Tafeltuch diente. Er erhellte den ganzen Tisch, mein lieber Herr, und wir hätten ohne jegliche weitere Beleuchtung nachtmahlen können. Da er berauschend war, trank ich niemals viel und zitierte dennoch gegen Ende der Mahlzeit anakreontische Verse und entdeckte auf dem Vollmondgesicht der dicken Maroula Reste einstiger Schönheit.

Ich aß im Familienkreis mit Christodulos und den Pensionären des Hauses. Im ersten Stockwerk des Hauses lagen vier Zimmer, deren bestes von einem französischen Archäologen, Monsieur Hypolite Mérinay, bewohnt wurde. Sollten übrigens alle Franzosen ihm ähnlich sein, so würden sie eine ziemlich schofle Nation abgeben. Es war ein Männchen, so zwischen achtzehn und fünfundvierzig Jahren, sehr rothaarig, sehr sanft, recht geschwätzig und mit zwei schlaffen, feuchten Händen behaftet, die seinen Gesprächspartner nicht wieder freigaben. Seine zwei ihn beherrschenden Leidenschaften waren die Archäologie und die Philanthropie, und so war er denn auch Mitglied mehrerer gelehrter Gesellschaften und verschiedener wohltätiger Bruderschaften. Obwohl er ein großer Wohltätigkeitsapostel war und seine Eltern ihm eine schöne Rente hinterlassen hatten, erinnere ich mich nicht, je gesehen zu haben, daß er einem Armen auch nur einen Sou geschenkt hätte. Was seine Kenntnisse der Archäologie betrifft, so veranlaßt mich alles zu glauben, daß sie ernsthafter waren als seine Liebe zur Menschheit. Er war von einer, ich weiß nicht welcher Provinzakademie wegen einer Arbeit über den Papierpreis zur Zeit des Orpheus preisgekrönt worden und hatte, durch diesen ersten Erfolg ermutigt, die Reise nach Griechenland unternommen, um das Material für eine bedeutendere Arbeit zu sammeln, und zwar handelte es sich dabei um nichts weniger als darum, die Menge Öl zu bestimmen, welche die Lampe des Demosthenes verbrauchte, während er die Zweite Philippika schrieb.

Meine beiden anderen Nachbarn waren nicht so gelehrt, und die Vergangenheit bekümmerte sie in keiner Weise. Giacomo Fondi war ein bei einem, ich weiß nicht welchem Konsulat angestellter Malteser, der monatlich hundertundfünfzig Francs mit Briefesiegeln verdiente. Jedwede andere Beschäftigung wäre angemessener für ihn gewesen; denn die Natur, welche die Insel Malta bevölkert hat, damit es dem Orient niemals an Lastträgern mangele, hatte den armen Fondi mit den Schultern, Armen und Händen eines Milon von Kroton ausgestattet. Er war dazu geboren, die Keule zu handhaben, und nicht, Siegellackstangen zu schmelzen. Nichtsdestoweniger verbrauchte er deren zwei oder drei täglich, denn der Mensch ist nicht Herr seines Geschickes. Nur um die Essenszeit kehrte dieser deklassierte Insulaner in sein Element zurück. Er aß wie ein Kriegsheld der Ilias, und nie werde ich das Knirschen seines mächtigen Gebisses, seine geblähten Nüstern, seine strahlenden Augen, die Weiße seiner zweiunddreißig Zähne vergessen, diese furchtbaren Mühlsteine, deren Mühle er war. Ich muß gestehen, daß seine Unterhaltung wenig Erinnerungen bei mir hinterlassen hat; leicht stieß man auf die Schranken, die seiner Intelligenz gesetzt waren, nie jedoch hat man die Grenzen seines Appetits festgestellt. Christodulos hat wahrhaftig nichts daran verdient, daß er ihn vier Jahre hindurch beherbergte, obwohl er ihn monatlich zehn Francs zusätzlich für die Beköstigung zahlen ließ. Der unersättliche Malteser verputzte täglich eine mächtige Schüssel Nüsse, welche er leichthin mit den Fingern knackte. Christodulos, alter Kriegsheld, der er war, aber sonst durchaus Tatsachenmensch, verfolgte diese Fingerübung mit einer aus Schrecken und Bewunderung gemischten Aufmerksamkeit, denn er zitterte für sein Dessert, fühlte sich hinwiederum dennoch geschmeichelt, an seinem Tische einen so erstaunlichen Nußknacker zu sehen. Übrigens wäre Giacomos Gesicht in einer der Vexierschachteln, die kleinen Kindern solchen Schrecken einjagen, durchaus nicht fehl am Platze gewesen. Er war weißer als ein Neger; doch ist das eine Frage der Nuance. Sein dichtes Haar wuchs ihm wie eine Mütze bis fast zu den Augenbrauen hinunter. Im wunderlichen Gegensatz dazu besaß dieser Caliban den zierlichsten Fuß, das feinste Gelenk und das wohlgeformteste und eleganteste Bein, das man einem Bildhauer als Modell hätte darbieten können; doch sind das alles Einzelheiten, die uns nicht weiter auffielen. Wer ihn je hat essen sehen, für den begann seine Person erst in Höhe der Tischplatte; der Rest zählte nicht.

Vom kleinen William Lobster spreche ich lediglich, um ihn erwähnt zu haben. Das war ein zwanzigjähriger blonder, rosiger, pausbäckiger Engel, freilich ein Engel aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Das Haus Lobster & Sons aus New York hatte ihn, um den Exporthandel zu studieren, nach dem Orient geschickt. Tagsüber arbeitete er bei Gebrüder Philipp, abends las er Emerson, morgens, zur Stunde, da die Sonne flimmernd aufgeht, ging er in das Haus des Sokrates, um Pistole zu schießen.

Die interessanteste Persönlichkeit unserer Kolonie war unstreitig John Harris, des kleinen Lobster Onkel mütterlicherseits. Gleich beim ersten Male, als ich mit diesem seltsamen Burschen zu Mittag aß, habe ich Amerika begriffen. John Harris stammt aus Vandalia in Illinois, von Geburt an hat er die Luft der Neuen Welt eingeatmet, diese Luft, die so belebend, so schäumend und jung ist, daß sie wie Champagner zu Kopfe steigt und daß man beschwipst wird, wenn man sie nur einatmet. Ich weiß nicht, ob die Familie Harris reich oder arm ist, ob sie ihren Sohn ins College geschickt hat oder ob sie es ihm überlassen hat, sich selbst um seine Erziehung zu kümmern. Sicher ist, daß er mit siebenundzwanzig Jahren nur auf sich selbst steht, nur von sich etwas erwartet, sich über nichts wundert, nichts für unmöglich hält, niemals zurückweicht, alles glaubt, alles erhofft, alles versucht, über alles triumphiert, sich wieder erhebt, wenn er fällt, wiederbeginnt, wenn etwas schief geht, nie rastet, niemals den Mut verliert und, ein Liedlein pfeifend, immer geradeaus geht. Er ist Landwirt, Schulmeister, Rechtssachverständiger, Journalist, Goldgräber, Industrieller und Kaufmann gewesen; er hat alles gelesen, alles gesehen, alles betrieben und mehr als die Hälfte des Erdballs durchstreift. Als ich ihn kennenlernte, befehligte er im Piräus einen kleinen Kreuzer mit sechzig Mann Besatzung und vier Kanonen an Bord, schrieb in der Revue de Boston über die Orientfrage, machte Geschäfte mit einem Haus in Kalkutta, das mit Indigo handelte, und fand noch Zeit, drei- oder viermal wöchentlich mit seinem Neffen Lobster und uns zu speisen.

Ein einziger Zug unter tausenden wird Ihnen den Charakter Harris' zeigen. Im Jahre 1853 war er Teilhaber eines Hauses in Philadelphia. Sein damals siebzehn Jahre alter Neffe besuchte ihn dort und traf ihn auf dem Washingtonplatz, wie er, die Hände in den Taschen, vor einem brennenden Hause stand. William klopfte ihm auf die Schulter, worauf er sich umdrehte.

»Ah, du bist's?« sagte er zu ihm. »Guten Tag, Bill, du kommst ungelegen, mein Junge. Das Feuer da richtet mich zugrunde, denn ich hatte vierzigtausend Dollar in dem Hause, und wir werden nicht einmal ein Streichholz retten.«

»Was wirst du tun?« fragte der junge Mensch niedergeschmettert.

»Was ich tun werde? Nun, es ist jetzt elf Uhr, und ich habe Hunger. Es bleibt mir gerade noch ein Goldfuchs im Beutel, ich werde dich also zum Frühstück einladen.«

Harris ist einer der schlanksten und elegantesten Männer, denen ich je begegnet bin. Mit seiner hohen Stirn und den klaren, stolzen Augen sieht er sehr männlich aus. Für ihn empfand ich Freundschaft. Sein offenes Gesicht, seine einfachen Manieren, seine Rauhbeinigkeit, welche die Sanftheit dennoch nicht ausschloß, sein aufbrausender und gleichzeitig ritterlicher Charakter, die Wunderlichkeiten seiner Launen, die Heftigkeit seiner Gefühle, all das zog mich um so mehr an, als ich weder leidenschaftlich noch aufbrausend bin. Wir lieben außerhalb unser das, was wir in uns selbst nicht finden. Giacomo kleidet sich weiß, weil er schwarz ist; ich bete die Amerikaner an, weil ich Deutscher bin.

Was die Griechen betrifft, so kannte ich nach vier Monaten Aufenthalt in Griechenland deren sehr wenige. Nichts ist leichter, als in Athen zu leben, ohne mit den Landeseingeborenen in Berührung zu kommen. Ich ging nicht ins Café, ich las weder die Pandora noch die Minerva, sondern überhaupt keine einheimische Zeitung; ich besuchte kein Theater, weil ich ein empfindliches Ohr besitze und ein falscher Ton mich grausamer verletzt als ein Faustschlag; ich lebte zu Hause mit meinen Wirtsleuten, meinem Herbarium und mit John Harris. Dank meines Diplomatenpasses und meines offiziellen Titels hätte ich mich bei Hofe vorstellen lassen können. Ich hatte auch beim Zeremonienmeister und der Ersten Palastdame meine Karte abgegeben und durfte auf eine Einladung zum ersten Hofball rechnen. Für diese Gelegenheit hielt ich einen schönen roten, silberbestickten Rock bereit, den meine Tante Rosenthaler mir am Vorabend meiner Abreise gebracht hatte. Es war dies die Uniform ihres seligen Gatten, weiland naturgeschichtlicher Präparator des Philomathischen Instituts, das heißt des Vereins der Lernbegierigen in Minden.

Unglücklicherweise wurde bei Hofe die ganze Saison hindurch nicht getanzt, und die winterlichen Vergnügen bestanden in der Blüte der Mandel-, Pfirsich- und Zitronenbäume. Zwar sprach man vage von einem großen Ball am 15. Mai, doch war das nur ein Gerücht, das in der Stadt umlief, das auch von einigen halboffiziellen Zeitungen wiedergegeben wurde, aber man konnte nicht fest darauf zählen.

Meine Studien genau wie meine Vergnügungen kamen nur langsam voran. Den Botanischen Garten Athens, der weder sehr schön noch sehr reichhaltig ist, kannte ich gründlich; das ist ein Sack, der schnell geleert ist. Der Königliche Garten dagegen bot schon mehr Möglichkeiten: dort hat ein intelligenter Franzose den ganzen Pflanzenreichtum des Landes zusammengetragen, angefangen mit den Palmen der Inseln bis zu den Steinbrecharten des Cap Sunium. Ich habe dort inmitten der Pflanzungen des Monsieur Bareaud schöne Tage verlebt. Zwar ist der Garten nur zu gewissen Stunden für das Publikum zugänglich, aber ich sprach Griechisch mit den Aufsehern, und aus Liebe zum Griechischen erlaubte man mir den Zutritt.

Täglich sammelte ich Pflanzen in der Umgebung der Stadt, durfte mich aber nicht weit hinauswagen, da ringsum Räuber kampierten. Nun bin ich kein Hasenfuß, die Fortsetzung dieser meiner Erzählung wird Ihnen das beweisen, doch hänge ich am Leben; denn es ist ein Geschenk, das ich von meinen Eltern empfangen habe und das ich zum Andenken an meinen Vater und meine Mutter möglichst lange bewahren möchte. Im April 1856 war es gefährlich, Athen zu verlassen; es war sogar schon unvorsichtig, sich dort aufzuhalten. Ich wagte mich nicht bis auf den Abhang des Lykabettos hinaus, ohne an die arme Madame X. zu denken, die dort am hellen, lichten Tage ausgeplündert wurde. Die Daphnehügel erinnerten mich an die Gefangennahme zweier französischer Offiziere. Auf der Straße nach dem Piräus dachte ich unwillkürlich an die Räuberbande, die dort wie eine Hochzeitsgesellschaft spazierengefahren war und die Vorbeikommenden durch die Wagentüren hindurch einfach abgeknallt hatte. Der Weg zum Pentelikon rief mir mahnend den Raub der Herzogin von Plaisance ins Gedächtnis zurück oder auch die Geschichte, die kürzlich erst Harris und Lobster dort zugestoßen war. Die beiden kamen auf zwei Persern von einem Spazierritt zurück und ... fallen in einen Hinterhalt. Zwei pistolenbewaffnete Räuber halten sie mitten auf der Brücke an. Sie schauen sich um und erblicken zu ihren Füßen in einer kleinen Schlucht ein Dutzend bis an die Zähne bewaffnete Schurken, die etwa fünfzig bis sechzig Gefangene bewachen. Alles, was seit Sonnenaufgang dort vorbeigekommen war, war ausgeplündert und dann geknebelt worden, damit niemand entkommen und Alarm schlagen konnte. Harris, genauso wie sein Neffe waffenlos, sagt zu ihm auf englisch: »Werfen wir ihnen unser Geld hin, man läßt sich nicht wegen zwanzig Dollar umbringen!« Ohne die Zügel der Pferde aus der Hand zu lassen, klauben die Räuber die Taler auf und zeigen dann auf die Schlucht und geben durch Zeichen zu verstehen, daß die beiden da hinunterklettern sollen. Da verliert Harris die Geduld, es ist ihm zuwider, gefesselt zu werden, denn er ist nicht aus dem Holz geschnitzt, aus dem man Bündel bindet. Er wirft einen Blick auf den kleinen Lobster, und in demselben Augenblick sausen auch schon zwei gleichgezielte Faustschläge auf die Köpfe zweier Räuber. Williams Gegner rollt rückwärts, wobei seine Pistole losgeht, während der, den Harris kräftiger durch die Luft befördert hat, über die Brüstung fliegt und mitten unter seine Spießgesellen plumpst. Harris und Lobster, die ihren Tieren die Sporen in die Weichen gebohrt hatten, waren schon ein gutes Stück entfernt, als die Bande wie ein Mann aufspringt und aus allen Waffen feuert. Die Pferde werden getötet, den Reitern jedoch gelingt es, sich freizumachen und die Gendarmerie zu benachrichtigen, die sich dann auch einen Tag später in Marsch setzte.

Unser vortrefflicher Christodulos vernahm den Tod der beiden Tiere mit aufrichtigem Kummer, fand aber auch nicht ein Wort des Tadels für die Mordbuben. »Was wollen Sie«, fragte er mit charmanter Biederkeit, »es ist nun mal ihr Beruf.« Alle Griechen sind ein wenig der Ansicht unseres Wirtes. Nicht etwa, daß die Räuber ihre Landsleute glimpflich behandeln und ihre Strenge für die Ausländer aufsparen, aber ein von seinen Brüdern ausgeplünderter Grieche sagt sich mit einer gewissen Ergebung, daß sein Geld ja in der Familie bleibt. Die Bevölkerung läßt sich von den Räubern ausplündern, wie eine Frau aus dem Volke sich von ihrem Ehemann verprügeln läßt, ihn dabei aber bewundert, vorausgesetzt, daß er nur recht fest zuschlägt.

Das ist die Wahrheit. So war zur Zeit meiner Ankunft die Plage Attikas gerade der Held Athens. In den Salons und in den Cafés, bei den Friseuren, wo sich die kleinen Leute treffen, bei den Apothekern, wo sich die Bourgeoisie versammelt, in den schmutzstarrenden Gassen des Basars, an den staubigen Straßenecken der Belle Grèce, im Theater, während der Sonntagsmusik auf der Straße sprach man nur vom großen Hadgi-Stavros.

Eines Sonntags, als John Harris mit uns zu Mittag speiste, es war kurze Zeit nach seinem Abenteuer, veranlaßte ich den guten Christodulos, über das Kapitel Hadgi-Stavros zu sprechen. Unser Wirt hatte früher, zu Zeiten des Unabhängigkeitskrieges, öfter mit ihm zu tun gehabt.

Er leerte sein Glas Santorinwein, strich sich seinen grauen Schnurrbart und berichtete uns, daß Stavros der Sohn eines Priesters auf der Insel Tino sei. Er wurde in Gott weiß welchem Jahre geboren; die Griechen der guten alten Zeit kennen ihr Alter nicht, denn die Standesamtsregister sind eine Erfindung der Dekadenz. Sein Vater, der ihn für die kirchliche Laufbahn bestimmte, ließ ihn lesen lernen. Ungefähr im Alter von zwanzig Jahren machte er eine Wallfahrt nach Jerusalem und fügte seinem Namen den Titel eines »Hadgi«, was der »Pilger« bedeutet, hinzu. Auf der Rückfahrt wurde Hadgi-Stavros von einem Piraten gefangengenommen. Der Sieger fand ihn begabt und machte aus dem Gefangenen einen Matrosen. Auf diese Art begann er gegen die Türkenschiffe Krieg zu führen und bald gegen alle, die keine Kanonen an Bord hatten. Nach einigen Dienstjahren hatte er es satt, für andere zu arbeiten, und beschloß, sich selbständig zu machen. Da er aber weder ein Schiff besaß noch Geld, um sich ein solches zu kaufen, sah er sich gezwungen, die Piraterie auf dem Festlande auszuüben. Der Aufstand der Griechen gegen die Türkei erlaubte ihm, im trüben zu fischen. Er wußte eigentlich nie ganz genau, ob er nun nur ein Straßenräuber oder vielleicht doch ein Kämpfer für die Freiheit war, ebensowenig, ob er Diebe oder Partisanen befehligte. Auch trübte sein Haß gegen die Türken seinen Blick nie soweit, daß er etwa an einem griechischen Dorfe vorbeikam, ohne es zu bemerken und zu plündern. Jedwedes Geld schien ihm gut, ob es nun von Freunden oder Feinden, aus simplem Diebstahl oder glorreichem Kampf herrührte. Eine derart weise Unparteilichkeit ließ sein Vermögen rasch anwachsen. Die Hirten scharten sich unter seiner Fahne, als man bemerkte, daß man bei ihm gut verdienen konnte; es war sein Ruf, der ihm eine Armee schuf. Die Schutzherren der griechischen Erhebung erhielten Kenntnis von seinen Taten, dagegen nicht von seinen Ersparnissen; zu jener Zeit sah man alles in rosigem Lichte. Lord Byron widmete ihm eine Ode, und die Dichter und Redner in Paris verglichen ihn mit Epaminondas und sogar mit dem armen Aristides. Im Faubourg Saint-Germain stickte man Fahnen für ihn und schickte ihm Hilfsgelder. Er erhielt Geld aus Frankreich, aus England und sogar aus Rußland, und ich möchte mich nicht dafür verbürgen, daß er sich nicht auch von der Türkei bezahlen ließ. Er war eben ein waschechter Pallikare! Gegen Ende des Krieges sah er sich, zusammen mit den anderen Anführern, in der Akropolis von Athen belagert. Man hauste bei den Propyläen, zwischen Margaratis und Lygandas, und sie alle bewahrten ihre Schätze am Kopfende der Lagerstatt auf. In einer schönen Sommernacht stürzte das Dach über ihnen zusammen und begrub alle, ausgenommen Hadgi-Stavros, der im Freien seine türkische Wasserpfeife geraucht hatte. Er strich die Erbschaft seiner Kumpane ein, und jedermann war der Meinung, er habe sie wohl verdient. Da geschah ein von ihm nicht vorhergesehenes Unglück, das den Siegeslauf seiner Erfolge hemmte; es wurde Friede geschlossen. Hadgi-Stavros, der sich mit seinem Gelde auf das Land zurückgezogen hatte, wohnte einem seltsamen Schauspiel bei, als die Mächte, die Griechenland zur Freiheit verholfen hatten, versuchten, ein Königreich zu gründen. Häßlich tönende Worte begannen nun um die buschigen Ohren des alten Pallikaren zu summen, man sprach von einer Regierung, einer Armee, sogar von öffentlicher Ordnung. Er lachte, als man ihm mitteilte, seine Besitzungen unterstünden einer Unterpräfektur. Als sich dann aber der Beamte des Fiskus einstellte, um die Steuern des Jahres einzuziehen, da wurde er ernsthaft böse und warf den Steuereinnehmer zur Tür hinaus, nicht, ohne ihn vorher noch um das ganze Geld, das jener bei sich trug, erleichtert zu haben. Die Justizbehörde versetzte ihn in den Anklagezustand, worauf er sich in die Berge zurückzog. Übrigens langweilte er sich sowieso in seinem Hause. Bis zu einem gewissen Punkte war er damit einverstanden, ein Dach sein eigen zu nennen, aber unter der Bedingung, darauf zu schlafen.

Seine alten Waffengefährten waren über das ganze Königreich hin zerstreut. Der Staat hatte ihnen Land geschenkt, das sie zornschnaubend bebauten, und nur mit langen Zähnen bissen sie in das bittere Brot der Arbeit. Als sie nun vernahmen, ihr Chef habe sich mit dem Gesetz überworfen, verkauften sie ihre Ländereien und beeilten sich, wieder zu ihm zu stoßen. Was ihn betraf, so begnügte er sich, seine Güter zu verpachten; wie gesagt, er besitzt viel Geschick in diesen Dingen.

Der Friede und der Müßiggang hatten ihn ganz krank gemacht, aber die Gebirgsluft verjüngte ihn derart, daß er im Jahre 1840 ans Heiraten dachte. Freilich hatte er die Fünfzig schon überschritten, doch Männer dieses Schlages haben nichts mit dem Alter zu schaffen, und der Tod selbst schaut zweimal hin, ehe er ihnen zu Leibe rückt. Er heiratete also eine reiche Erbin aus einer der besten Familien Lakoniens und war nun so mit den höchsten Persönlichkeiten des Königreiches verwandt. Seine Frau begleitete ihn überallhin, schenkte ihm eine Tochter, bekam das Fieber und starb. Er selbst erzog nun seine Tochter mit fast mütterlicher Sorgfalt. Wenn er die Kleine auf seinen Knien tanzen ließ, dann sagten seine Räuberkumpane lachend zu ihm: »Dir fehlt nur noch die Milch!«

Die Vaterliebe gab seinem Geist neue Spannkraft. Um für seine Tochter eine königliche Mitgift aufzuhäufen, studierte er die Finanzfragen, über die er bis dahin primitive Ansichten gehegt hatte. Anstatt seine Dukaten in Kisten aufzuspeichern, legte er sie an. Er kam hinter die Schliche und Finten der Börse und verfolgte den Kurs der Staatsgelder in Griechenland und dem Auslande. Man behauptet sogar, daß er, durch die Vorteile, welche die Kommanditgesellschaft bietet, überrascht, den Gedanken faßte, die Räuberei als Aktienunternehmen auszubauen. Unter der Führung eines Griechen aus Marseille, der ihm als Dolmetscher diente, hatte er mehrere Reisen durch Europa gemacht. Während seines Aufenthaltes in England wohnte er einer Wahl in ich weiß nicht welchem Drecknest in Yorkshire bei, und dieses erhebende Schauspiel flößte ihm tiefgründige Überlegungen über die konstitutionelle Regierung und ihre Vorteile ein. Heimgekehrt beschloß er, die Einrichtungen seines Vaterlandes gründlich auszubeuten und daraus eine Einnahmequelle zu machen. Im Namen der Opposition brandschatzte er eine ganze Anzahl von Dörfern und zerstörte etliche andere im Interesse der Konservativen Partei.

Man spricht viel über die Grausamkeiten Hadgi-Stavros'. Sein Freund Christodulos bewies uns aber, daß er Böses niemals zum Vergnügen tat; vielmehr ist er ein nüchterner Mensch, der sich an nichts berauscht und schon gar nicht an Blut, und wenn es ihm einmal unterläuft, die Füße eines reichen Bauern etwas zu stark zu erhitzen, so nur, um herauszubekommen, wo der Knicker seine Dukaten verborgen hält. Im allgemeinen behandelt er die Gefangenen, von denen er ein Lösegeld erhofft, mild. »Im Sommer 1854 suchte er eines Abends mit seiner Bande einen reichen Kaufmann auf der Insel Euböa heim, Herrn Voïdi, den er im Kreise seiner gesamten Familie antraf nebst einem alten Richter vom Gericht in Chalcis, der mit dem Hausherrn Karten spielte. Hadgi-Stavros bot dem Beamten an, um seine Freiheit mit ihm zu spielen, wobei Hadgi-Stavros verlor, aber gutgelaunt sich dazu bequemte, sein Wort zu halten. Herrn Voïdi, seine Tochter und seinen Sohn schleppte er mit sich fort, ließ aber die Frau zurück, damit sie sich um das Lösegeld kümmern konnte. Am Tage der Entführung litt der Kaufmann am Zipperlein, die Tochter hatte Fieber, und der kleine Junge war bleich und aufgedunsen. Zwei Monate später kamen sie zurück, alle durch die körperliche Bewegung, die frische Luft und die gute Verpflegung geheilt. Die ganze Familie erlangte ihre Gesundheit für fünfzigtausend Francs wieder. War das zu teuer bezahlt?«

»Ich gebe zu«, fügte Christodulos hinzu, »daß unser Freund den säumigen Zahlern gegenüber mitleidslos ist. Ist das Lösegeld am Verfallstag nicht bezahlt, so tötet er seine Gefangenen mit kaufmännischer Pünktlichkeit; das ist sozusagen seine Art, Wechsel zu protestieren. Wie groß auch immer meine Bewunderung für ihn und die Freundschaft, die unsere beiden Familien verbindet, sein mögen, den Mord an den zwei kleinen Mädchen aus Mistra habe ich ihm nicht verziehen. Das waren vierzehnjährige Zwillingsschwestern, hübsch wie zwei Marmorfigürchen; alle beide mit zwei jungen Männern aus Leondari verlobt. Sie sahen einander derartig zum Verwechseln ähnlich, daß, wenn man sie beisammen sah, man glaubte, doppelt zu sehen, und sich die Augen rieb. Eines Morgens gingen sie zusammen Seidenraupenkokons in der Spinnerei verkaufen; gemeinsam trugen sie einen Korb und liefen leichtfüßig auf der Landstraße dahin wie zwei Tauben, die denselben Wagen zogen. Hadgi-Stavros entführte sie in die Berge und schrieb ihrer Mutter, er wolle sie gegen ein Lösegeld von zehntausend Francs, zahlbar bis Monatsende, zurückgeben. Die Mutter war eine wohlhabende Witwe, Besitzerin schöner Maulbeerbaumpflanzungen, aber knapp an Bargeld wie wir alle hier. Sie nahm also Geld auf ihre Besitzungen auf, was niemals leicht ist, nicht einmal bei zwanzig Prozent Zinsen, so daß sie sechs Wochen und mehr brauchte, um die Summe zusammenzubringen. Als sie endlich das Geld beisammen hatte, lud sie es auf ein Maultier und machte sich zu Fuß zum Lager des Hadgi-Stavros auf. Als sie aber die große ›Langada‹ des Taygetos betrat, an der Stelle, wo unter den Platanen sieben Quellen fließen, blieb das Maultier plötzlich stehen und weigerte sich, auch nur noch einen Schritt weiter vorwärts zu tun. Da sah die arme Mutter am Straßenrande ihre beiden Mädelchen liegen. Der Hals war ihnen bis zum Knochen durchgeschnitten, und die hübschen Köpfchen hingen kaum noch am Körper. Sie hob die beiden armen Geschöpfe auf, lud sie eigenhändig auf das Maultier und brachte sie nach Mistra heim. Sie konnte nicht weinen, und so wurde sie schließlich wahnsinnig und starb. Ich weiß, daß Hadgi-Stavros seine Tat bedauert hat; er glaubte die Witwe weit wohlhabender und nur nicht willens zu zahlen. Er hatte die zwei Kinder als abschreckendes Beispiel getötet.«

»Verdammtes Aas!« brüllte Giacomo auf und ließ einen Faustschlag niedersausen, der das Haus wie ein Erdbeben erschütterte. »Sollte er mir je in die Hände fallen, werde ich ihm ein Lösegeld, aus zehntausend Fausthieben bestehend, auszahlen, das ihm gestatten wird, sich von seinen Geschäften zurückzuziehen.«

»Ich«, sagte der kleine Lobster mit seinem ruhigen Lächeln, »ich wünsche nichts weiter, als ihn mal fünfzig Schritt vor meinem Revolver zu haben.«

»Darf ich meinen Ohren trauen?« warf der gute Monsieur Mérinay, dieses ausgeglichene Geschöpf, mit seiner dünnen Stimme dazwischen, »ist es denn überhaupt möglich, daß in einem Jahrhundert wie dem unsrigen derartige Greueltaten begangen werden? Besitzen Sie denn keine Gendarmerie?«

»Sicherlich!« nahm Christodulos den Faden wieder auf. »Fünfzig Offiziere, 152 Unteroffiziere und 1250 Gendarmen, davon 150 berittene. Es ist sogar nach der des Hadgi-Stavros die beste Truppe des Königreiches.«

»Was mich verwundert«, sagte ich meinerseits, »ist, daß die Tochter des alten Schurken ihn so handeln ließ.«

»Sie lebt nicht bei ihm.«

»Ah! Wo ist sie denn?«

»In einem Pensionat.«

»In Athen?«

»Da fragen Sie mich zu viel; denn soweit bin ich nicht im Bilde. Jedenfalls steht fest, daß der, der sie heiratet, eine gute Partie macht.«

Da schepperte die Ladenklingel, und mit der Magd des Hauses erschien ein junges Mädchen, das nach dem allerletzten Kupferstich des Journal des modes angezogen war. Dimitri erhob sich und sagte: »Das ist Photini!«

»Meine Herren«, sagte der Konditor, »sprechen wir bitte von etwas anderem, denn Räubergeschichten sind nichts für junge Damen.«

Christodulos stellte uns Photini als Tochter eines seiner Waffengefährten vor, nämlich des Obersten Johannes, Platzkommandanten von Nauplia.

Das junge Mädchen war häßlich wie neun Zehntel der Töchter Athens. Zwar hatte sie hübsche Zähne und schöne Haare, das war aber auch alles. Ihre starke Taille schien sich in dem Pariser Korsett unbehaglich zu fühlen. Ihre Füße, rundlich wie ein Paar Plättbolzen, standen sicherlich Höllenqualen aus, denn sie waren geschaffen, in Babuschen umherzulatschen, und nicht in Stiefelchen von Meyer eingezwängt zu werden. Das Gesicht war derartig platt, als ob eine nachlässige Amme sich unvorsichtigerweise darauf gesetzt hätte. Jede Toilette steht bekanntlich nicht allen Frauen, die arme Photini aber machte sie fast lächerlich. Das volantbesetzte, durch eine mächtige Krinoline aufgebauschte Kleid unterstrich noch ihren Mangel an Grazie. Die im Palais Royal gekauften Juwelen, mit denen sie behangen war, schienen ebensoviel Ausrufungszeichen zu sein, die auf ihre körperlichen Mängel aufmerksam machen sollten. Man hätte sie gut und gern für ein kleines, dickes Dienstmädchen halten können, das sich mit der Garderobe ihrer Herrin sonntäglich aufgeputzt hatte.

Niemand von uns fand etwas dabei, daß die Tochter eines simplen Obersten so kostspielig gekleidet war, um ihren Sonntag im Hause eines Konditors zu verbringen. Wir alle kannten das Land zur Genüge, um zu wissen, daß die Toilette die unheilbarste Wunde am Körper der griechischen Gesellschaft ist. Die Mädchen vom Lande lassen Silberstücke durchlöchern, nähen sie dann in Form von Helmen zusammen und schmücken an den Festtagen ihre Köpfe damit. Sie tragen ihre Mitgift auf ihren Häuptern. Die Mädchen aus der Stadt geben diese in den Modegeschäften aus und verteilen sie über den ganzen Körper.

Die Tochter des Obersten Johannes sprach ein wenig Französisch und Englisch, doch erlaubte ihre Schüchternheit ihr nicht, im Gespräch damit zu glänzen. Später erfuhr ich, daß ihre Familie darauf rechnete, sie könne sich durch uns in den fremden Sprachen vervollkommnen. Ihr Vater hatte erfahren, daß Christodulos anständige und gebildete Europäer beherbergte, und hatte den Zuckerbäcker gebeten, seine Tochter sonntags auszuführen und als Freund der Familie sich ihrer anzunehmen. Dieses Abkommen schien Christodulos und besonders seinem Sohn Dimitri sehr zu behagen. Jedenfalls verschlang der junge Bursche die Arme mit den Augen, die ihrerseits nichts davon bemerkte.

Wir hatten geplant, alle zusammen zum Platzkonzert zu gehen. Das ist ein schönes Schauspiel, das die Athener allsonntäglich sich selbst geben. Das ganze Volk strömt, herrlich aufgeputzt, auf einen großen staubigen Platz, um dort eine Regimentsmusik Walzer und Quadrillen spielen zu hören. Die Armen begeben sich zu Fuß hin, die Reichen in Wagen, die Eleganten zu Pferde. Nicht um ein Kaiserreich würde der Hof versäumen zu erscheinen. Nach der letzten Quadrille kehrt jedermann mit staubigen Kleidern, aber frohen Herzens nach Hause zurück, und man sagt: »Wir haben uns prachtvoll amüsiert.«

Sicher ist, daß Photini darauf rechnete, sich beim Platzkonzert zu zeigen, und ihr Bewunderer Dimitri war nicht böse, dort mit ihr zu erscheinen. Unglücklicherweise begann es so dicht und fein zu regnen, daß man zu Hause bleiben mußte. Um die Zeit totzuschlagen, schlug Maroula vor, um Bonbons zu spielen; das ist eine bei den Kleinbürgern sehr beliebte Unterhaltung. Sie holte ein Bonbonglas aus dem Laden und verteilte an jeden von uns eine Handvoll der landesüblichen Bonbons, die nach Nelken, Anis, Pfeffer und Zichorie schmeckten. Dann verteilte man die Karten, und der erste, der neun von derselben Farbe in seiner Hand zusammenzubringen verstand, empfing von jedem seiner Gegenspieler drei Dragées. Der Malteser Giacomo bezeugte durch seine gespannte Aufmerksamkeit, daß ihm der Gewinn durchaus nicht gleichgültig war. Das Glück war auf seiner Seite, denn wir sahen ihn sieben oder acht Handvoll Bonbons verschlingen, die durch die Hände aller Welt und durch die Monsieur Mérinays gegangen waren.

Ich, der ich an dem Spiele weniger Anteil nahm, richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf ein merkwürdiges Phänomen, das sich zu meiner Linken zeigte. Während nämlich die Blicke des jungen Atheners ausnahmslos an der Gleichgültigkeit Photinis zerschellten, zog Harris, der sie nicht einmal anschaute, sie mit unwiderstehlicher Macht an. Er hielt seine Karten mit ziemlich zerstreuter Miene in der Hand, gähnte ab und zu mit echt amerikanischer Aufrichtigkeit oder pfiff ohne Rücksicht auf die Gesellschaft den Yankee-doodle. Ich glaube, Christodulos' Erzählung hatte Eindruck auf ihn gemacht, und sein Geist durchschweifte, auf Hadgi-Stavros' Verfolgung begriffen, die Berge. Auf alle Fälle dachte er, wenn überhaupt an etwas, sicherlich nicht an Liebe. Es mag sein, daß das junge Mädchen ebenfalls nicht daran dachte, denn die griechischen Frauen besitzen im Grunde ihres Herzens alle ein gerüttelt Maß an Gleichgültigkeit. Jedenfalls starrte sie meinen Freund Harris an wie eine Lerche einen Spiegel. Dabei kannte sie ihn gar nicht, wußte nichts von ihm, weder seinen Namen, noch sein Heimatland, noch sein Vermögen. Auch hatte sie ihn noch nicht sprechen hören, aber selbst, wenn sie ihn gehört hätte, wäre sie sicher nicht fähig gewesen, zu begreifen, ob er Geist besaß. Sie sah, daß er schön war, und das genügte.

Sie aß wenig und sprach gar nichts. Als wir beim Nachtisch angelangt waren und das Dienstmädchen davon sprach, sie wieder nach Hause zu begleiten, machte sie eine sichtbare Anstrengung und sagte mir ins Ohr:

»Ist Mister Harris verheiratet?«

Ich machte mir einen Spaß daraus, sie ein wenig in Verlegenheit zu versetzen, und antwortete:

»Gewiß, mein Fräulein; er hat die Witwe des Dogen von Venedig geheiratet.«

»Ist's möglich? Wie alt ist sie denn?«

»Sie ist uralt wie die Welt und ewig wie sie.«

»Lachen Sie mich nicht aus! Ich bin ein armes Mädchen, das Ihre europäischen Scherze nicht versteht.«

»Mit anderen Worten, mein Fräulein, er hat sich dem Meere vermählt, denn er ist Kommandant des amerikanischen Stationsschiffes ›The Fancy‹.«

Sie dankte mir mit einem derartig freudigen Aufleuchten ihrer Augen, daß ihre Häßlichkeit davon überstrahlt wurde und ich sie wenigstens eine Sekunde lang geradezu hübsch fand.


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