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Daheim im Schloß Guckaus.

Spät abends kam Sidsel am Sonnabend über die Berghöhen nach Hoël angewandert – die Sennerin hatte ihr Urlaub nach Hause gegeben und Erlaubnis, bis Montag abend fort zu bleiben.

Sie war heute zeitig aufgestanden; es konnte ja keine Rede davon sein, daß sie die Senne verließ, ehe sie ihre Morgenarbeit verrichtet, die Ziegen gemolken und die Kühe losgebunden hatte. Und das mußte zeitig geschehen, nicht bloß weil es für sie eilte, fortzukommen, sondern auch weil sie wußte, dort würde es sicher nicht verschlafen, er, der so hartnäckig darauf bestanden, daß er jedenfalls den ersten Tag für sie hüten wollte; und sie war denn auch kaum fertig, als er bereits ankam. Peter hatte er nicht mit, aber sie hatte noch gestern abend spät mit Peter gesprochen, und er war ganz damit zufrieden gewesen, daß er den Sonntag für sich allein haben sollte; dagegen sollten sie am Montag sich darein teilen. Und Jon war heute ganz bescheiden und feierlich gewesen, hatte ihr die Hand gegeben und sie gebeten, Jakob von ihm zu grüßen und ihm zu sagen, er, Jon Hogseth, würde diese Tage nicht weiter rechnen, da Jakob gern mit seiner Schwester reden wollte. Er wußte freilich nicht, daß Peter gestern abend genau dasselbe gesagt hatte.

Und dann hatte sie ihm ihr Vieh übergeben und ihre lange Reise über das Gebirge angetreten. Sie ging und ging, Stunde auf Stunde – sie war diesen Sennenweg nun schon oft gegangen, noch niemals aber hatte sie beachtet, daß er so lang war. Sie ruhte an einem Bache aus, zog ihr Frühstück hervor, aß und trank Wasser dazu und setzte darauf ihren Weg fort. Um zu vergessen, daß die Zeit langsam ging, begann sie ihre Schritte zu zählen, erst bis 10, dann bis 100, und jedesmal, wenn sie fertig war, sah sie zurück, um zu sehen, wie weit sie gekommen war; aber das half nicht das geringste; nun wollte sie bis 1000 zählen, aber als sie damit beinahe fertig war, wußte sie nicht mehr genau, ob sie bis 800 oder 900 gekommen war, und da zählte sie lieber 400 mehr, um ganz sicher zu sein, daß sie sich nicht verrechnet hatte.

Indessen ging es deswegen nicht schneller, und es war schon Sonnenuntergangszeit im Tale, als sie endlich soweit gekommen war, daß sie über und in das Tal hinunterblicken konnte; der Schatten hatte bereits begonnen, auf der andern Seite hinaufzukriechen, während oberhalb der scharfen Schattenlinie die ganze Seite des Tals noch in rötlicher Abendsonne daneben lag; aber der Schatten fraß sich fest und sicher weiter nach oben.

Da vergaß Sidsel, ihre Schritte zu zählen – es wäre spaßig gewesen zu versuchen, ob sie nicht die Sonne wieder erreichen könnte, bevor diese an Hoël, das drüben aus der andern Seite lag und in der Abendsonne leuchtete, vorbeigegangen war.

Sie begann die Halde hinunter zu laufen, aber es kostete doch Zeit – als sie in den Talgrund hinunter gekommen war und den Aufstieg über die Anhöhen begann, war die Sonne verschwunden; sie sah bloß noch den letzten Schimmer in den obersten Tannenwipfeln und ein kleines kurzes Blinken in dem Augenblick, als die Sonne oben am Fensterchen von Schloß Guckaus vorbeischlüpfte.

Da blieb sie stehen und holte Atem; es war so still und warm, förmlich schwül hier unten im Tal – ganz anders als oben im Gebirge; die Erde atmete gleichsam aus, sobald die Sonne untergegangen war; es herrschte ein so seltsam drückender Duft, daß sie sich auf einmal ganz ängstlich und beklommen fühlte; ihr war, als ob sie irgend ein Unrecht begangen hätte, auf das sie sich nicht besinnen konnte. Da fiel ihr plötzlich ein, sie hätte einen Boten voraussenden sollen; die Leute unten im Tal fürchten immer, wenn eins von der Senne unerwartet herunterkommt, es könnte etwas passiert sein, und das wäre doch zu dumm, wenn jemand käme und Kjersti Hoël erschreckte.

Deshalb kam sie die Anhöhe nach Hoël ganz langsam hinauf. Sie vermutete, daß man sie bemerken ober daß wenigstens Bär bellen würde, und dann sollten sie sehen, daß sie keine Eile hatte und nicht mit schlechten Nachrichten kam.

Aber niemand schien sie zu bemerken; sie konnte auf dem Hofe keinerlei Unruhe und Bewegung wahrnehmen und so mußte sie doch hineingehen.

Kjersti Hoël wurde freilich ganz aufgeregt, als Sidsel hereintrat – sie nahm sich nicht einmal Zeit zu grüßen und rief:

In Jesu Namen. Es ist doch wohl nichts auf der Senne passiert?

Worauf Sidsel sich beeilte zu antworten:

O nein! Ich soll von der Sennerin grüßen und sagen, du sollst nicht ängstlich werden, wenn du mich hier siehst; es geht allen sehr gut, Vieh und Volk. Ich bekam bloß Erlaubnis, nach Hause zu gehen und mich mit meinem Bruder Jakob zu treffen.

Na, Gott sei Dank, sagte Kjersti – ja, dann sei herzlich willkommen.

Da war es, als ob die Beklommenheit auf einmal verschwand, und Sidsel ward es plötzlich so feierlich zu Mute und sie fühlte sich so glücklich darüber, daß sie wieder einmal zu Hause war. Und Kjersti war heute in besonders guter Laune, sie bewirtete sie und behandelte sie so ausgesucht liebenswürdig, als wäre sie die Sennerin selber, und als sie zu Bett gehen wollte, folgte Kjersti ihr sogar in die Gangkammer, die genau so nett und sauber war, wie sie sie verlassen, und sie blieb lange bei ihr auf der Bettkante sitzen und fragte sie über jedes einzelne der Tiere aus – Kjersti hatte keins vergessen. Und Sidsel erzählte – bloß eine Sache war so schrecklich peinlich, aber es konnte nichts helfen, sie mußte doch heraus damit, und es ließ sich auch auf die Länge nicht verheimlichen. Und das war die Geschichte mit dem Kalbe, das sie voriges Jahr Morskol (Mutters Hornlose) getauft hatte. Der Name paßte nicht, »Mutters Hornlose« fing nämlich an, Hörner zu kriegen, obgleich Sidsel Salz darauf gestreut hatte, damit sie nicht wachsen sollten.

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Sidsel fand, der Sonntag fing gut an; er begann nämlich damit, daß Kjersti Hoël selber mit einem großen Kaffeebrett und Kuchen in die Kammer hereinkam und sie im Bette damit bewirtete; so großen Staat hatte niemand bisher mit Sidsel gemacht, so weit sie sich erinnern konnte; und sie glaubte kaum, daß so etwas selbst der Sennerin je passiert war; und was noch mehr war, als sie in ihren langen Rock hineinschlüpfte, da sagte Kjersti, sie solle sich beeilen und wachsen, sie solle einen neuen Rock bekommen, wenn der ihre nicht weiter als bis an die Kniee reiche; und obgleich sie gar nicht erzählt hatte, wo sie Jakob treffen wollte, mußte Kjersti das auch erraten haben; denn sie richtete ein Bündel mit ganz unglaublich feiner Wegzehrung für sie her und sagte, sie solle damit den Jakob bewirten, denn der müßte wohl zum Abend wieder auf die Nordrumsenne zurück und hätte keine Zeit, heute nach Hoël herunterzukommen. Aber Kjersti trieb sie nicht weiter zur Eile – sie glaubte wohl, Jakob könne nicht allzu zeitig kommen, da er ja heute den langen Weg von der Senne zu gehen hatte – Sidsel mußte ihr schließlich den Brief zeigen, in dem ausdrücklich stand: »Man wird ersucht, sich rechtzeitig einzufinden« – da begriff auch sie, daß es Eile hatte.

Bald darauf war Sidsel auf dem Wege – Bär folgte ihr ein langes Stück aufwärts bis dahin, wo die Birkenhalde begann – dort kehrte er um und trottete heimwärts mit dem sanftmütigsten und feinsten Sonntagsringel im Schwanze.

Das Tal lag im stillen Sonntagmorgen friedlich vor ihr, kein Mensch war zu sehen, weder auf den Wegen, noch auf den Feldern, nur hie und da in den Gehöften stand ein Mann, behäbig gegen die Türpfoste gelehnt, barhaupt und in schlohweißen, flatternden Hemdsärmeln, und aus allen Schornsteinen stieg der Rauch langsam in die stille Luft empor. Unwillkürlich mußte sie nach Schloß Guckaus hinaufsehen, dort sah es so einsam und verlassen aus, dort stieg kein Rauch aus der Esse auf, und sein Auge, das über das Tal hinaussah – jetzt, wo die Sonne noch auf der andern Seite stand, und sich also nicht in dem Fensterchen spiegelte, war es gewissermaßen blind; sie mußte wirklich in dem Augenblick an einen Blinden denken, den sie einmal gesehen, und seine sonderbaren, leeren Augen, die sie damals erschreckten; jetzt hatte sie genau denselben Eindruck, deshalb und ging sie nicht mehr so schnell, es lag ihr nicht daran, hinaufzukommen, ehe Jakob angelangt war.

Als sie zum Guckausschloß hinaufkam, war das erste, was sie sah, das Tannenreisig, das damals, als sie das letzte Mal oben war, auf den Gatterpfosten festgenagelt worden war; die Büsche staken dort noch immer da, aber nun waren sie vertrocknet und die Nadeln abgefallen; unwillkürlich mußte sie zur Tür hinsehen, ja richtig, dort waren sie ebenfalls noch genau so. In der Türklinke aber stak ein frischer Tannenzweig, es mußte also doch jemand später im Hause gewesen sein. Der Weg, der vom Gattertor dicht an der Haustür vorüber nach der Kuhstalltür geführt hatte, war verschwunden, das Gras war darüber gewachsen; auch die Stalltür war verschwunden, und an der Türschwelle waren hohe Brennesseln aufgeschossen; es war keine Spur von Menschen- oder Viehtritten zu sehen.

Sidsel hatte sich darauf gefreut, wieder hierher zu kommen, sie hatte es sich nicht anders denken können, als daß Schloß Guckaus der gemütlichste Platz in der ganzen Welt sei. Nun fühlte sie sich im Gegenteil auf einmal hier so schrecklich einsam, einsamer, als irgendwo hoch oben im Gebirge oder im Walde; sie empfand es, wie wenn man im Finstern geht und sich vor dem Dunkel fürchtet, so daß man nur vorsichtig vorwärts schreitet, damit es nicht irgendwo knacken und knarren soll. Unwillkürlich ging sie in weitem Bogen an der Hütte und dem Stall vorüber; sie wollte lieber zu dem großen Stein am Bache gehen, wo sie und Jakob als Kinder zusammen gespielt hatten, vielleicht daß es dort nicht gar so einsam und verlassen war.

Als sie zu dem Heidekrautflecken kam, sah sie Jakob, der bereits dort auf dem Steine saß. Da kam auf einmal Leben in all die Öde, sie wurde so froh, daß sie anfing zu laufen; aber sogleich besann sie sich, daß sich das bei einer so feierlichen Begegnung nicht schickte, und es war ja auch so lange her, seit sie Jakob gesehen hatte, daß er ihr beinahe fremd war. Als er ihrer ansichtig wurde, sprang er auch vom Steine herab und begann, seine grauen Hosen abzubürsten und setzte seine Mütze zurecht – er hatte heute sogar eine Schirmmütze auf und keinen Halmhut wie sie. Beide wurden ganz verlegen, als wären sie wildfremd; sie konnten sich nicht in die Augen sehen, als sie sich die Hand zum Gruße reichten, und er machte eine tiefe Verbeugung mit dem Kopfe, während sie so tief knixte, daß ihr Rock bis auf die Erde kam. Sie ließen rasch die Hände wieder los, und dann blieben sie lange verlegen stehen und schauten in's Tal hinab – es war nicht so einfach, gleich die rechten Worte zu finden, obwohl sie beide gedacht hatten, sie müßten sich gar vielerlei zu erzählen haben. Endlich fiel Jakob etwas ein – er schaute bedächtig umher, und daraus sagte er, wie nach einer langen, gründlichen Überlegung:

Es ist herrliches Wetter heute.

Ja, prachtvoll.

Ja, wenn es sich so noch vierzehn Tage hält, dann hat's wohl keine Gefahr mit dem Heuwetter.

Nein, das hat's wohl nicht.

Aber das ist wohl kaum zu erwarten.

Ach nein, wohl kaum.

Wieder wurde es still; denn viel mehr war hierüber nicht zu sagen. Sidsel sah verstohlen nach Jakob hin; sie überlegte, ob sie etwas davon sagen sollte, daß er so groß geworden sei, aber dann dachte sie, das ginge wohl nicht an, denn er war ja der Älteste. Ihr Blick fiel zufällig auf das Bündel mit den Eßwaren – da hatte sie einen Anfang.

Ich sollte dich von Kjersti Hoël grüßen und fragen, ob du heute mit ihrer Wegzehrung vorlieb nehmen wolltest.

Ja gewiß, danke, aber ich habe auch selbst etwas zu essen mitgebracht.

Und du bist vielleicht hungrig nach dem langen Marsche, den du heute gemacht hast?

O ja, ich kann es nicht leugnen.

Dann laß uns hier auf dem Steine auftischen!

Kurz darauf hatte Sidsel all' die guten Eßwaren, die Kjersti ihr in das Bündel eingepackt hatte, aufgetischt, und nun sagte sie, wie sie gehört hatte, daß allgemeiner Brauch ist, wenn man Gäste hat:

Bitte, Jakob, nimm Platz, wenn dir's gefällig ist, und Jakob zierte sich, wie es auch gebräuchlich ist, und sagte:

Danke, aber du hättest meinethalben wirklich nicht so viel Umstände machen sollen.

Sie setzten sich. Anfangs ging es immer noch etwas feierlich zu, und Sidsel sagte in einem fort: bitte, bitte! Als aber Jakob eine Plinse gegessen hatte und eben mit der zweiten anfing, vergaß er, daß er eigentlich zu Gaste war, und sagte unwillkürlich ganz natürlich und mit Überzeugung:

Das sind aber wundervolle Plinsen.

Sie sind aber auch von Hoël, sagte Sidsel.

Da war es auf einmal, als ob sie sich wieder kannten, als ob sie erst gestern noch am Fensterchen im Guckausschlosse nebeneinander gekniet und über das Tal hinausgeschaut und überlegt hätten, wo sie am liebsten einmal dienen wollten, und gerade so, als ob sie überhaupt niemals von einander getrennt gewesen wären – einen Augenblick später waren sie im eifrigsten Streit darüber, wo es wohl am besten sei, auf Nordrum oder auf Hoël. Ganz einig konnten sie hierüber zwar nicht werden; als aber Jakob sich ordentlich satt gegessen hatte, gab er schließlich soviel zu, daß beide Höfe in ihrer Weise gut wären und jedenfalls die besten in der ganzen Gemeinde.

Und nun wollte das, was sie zu besprechen und sich zu erzählen hatten, gar kein Ende nehmen. Jakob erzählte von Nordrum und von der Nordrumsenne und den Hirten da oben, und Sidsel mußte von Jon und Peter erzählen und deren Grüße ausrichten; und sie hatte viel von ihnen zu erzählen; Jakob fand es aber sonderbar, daß sie mehr von Jon, als von Peter sprach; Jon wäre ja wohl ein ganz tüchtiger Bursche, aber er könnte doch manchmal recht flapsig sein.

Und dann sprachen sie von ihrer Zukunft. Jakob wollte auf Nordrum bleiben, bis er erwachsen wäre, und vielleicht noch länger. Der Nordrum hatte gesagt, wenn er erwachsen wäre und sich verheiratete, dann könnte er ja Guckaus als Eigengut wieder erwerben; aber das, glaubte er, war doch wohl bloß ein Spaß vom Nordrum gewesen, und außerdem war ja immer noch Zeit genug, sich das zu überlegen; denn der Nordrum fing an zu altern, er mußte wohl doch mit der Zeit einen Großknecht haben. Sidsel wollte auf Hoël bleiben; sie hatte es dort so gut, wie sie es sich überhaupt wünschen konnte; Kjersti war ja so außerordentlich lieb und gut zu ihr. Sidsel sagte kein Wort von ihrem stillen Ehrgeiz, einmal selbst Sennerin zu werden; denn das lag in so weiter Ferne, daß sie sich nicht daran zu denken traute.

Als sie sich so einigermaßen ausgeschwätzt hatten, begannen sie, sich oben umzusehen und an alle ihre Spiele und ihre Lieblingsplätze zu erinnern. Dort gleich neben der Hütte hatten sie ihren Kuhstall gehabt – nein, wirklich, lag da nicht noch der Bulle als einziges Überbleibsel? – und dort jenseits des Heidekrautfleckens war die Senne gewesen, wo sie mit ihrer Herde im Sommer viele Male hinauf und herab gezogen waren. Und dort hatte Jakob seine Sägemühle gehabt, die Sidsel nie anrühren durfte; aber weiter unten hatte sie ihre Meierei gehabt, wohin er kam, um Käse für Planken aus Möhren zu kaufen, die er in seiner Sägemühle geschnitten hatte. Es gab nicht einen einzigen Stein oder Erdhaufen den ganzen Weg entlang bis dicht unter den Großhammer, wo alle die dichten Himbeerbüsche standen, an den sich nicht die eine oder die andre Erinnerung knüpfte; und es war wie ein Fest, hier zusammen zu gehen – Sidsel fand, Jakob war so groß geworden, und dasselbe meinte Jakob in aller Heimlichkeit von Sidsel – und von den Erinnerungen zu plaudern und immer wieder zu sagen: Weißt du noch? Und in der Erinnerung wird ja alles, von dem man so schwätzt, auch so groß und herrlich.

So trieben sie es den ganzen Tag – sie waren bis dicht an den Fuß des Großhammers gegangen, und es war bereits spät am Nachmittag, als sie sich wieder Schloß Guckaus näherten. Es sah nicht aus, als ob sie Eile hätten, zurückzukommen. Beim Bache und dem Felsen machten sie lange halt und wiederholten immer von neuem: Weißt du noch? oft von ein und derselben Sache; wie als Kinder spielten sie Haschen, es war ihnen gewissermaßen darum zu tun, immer etwas Neues zu erfinden, damit keine Pause einträte, und trotzdem die Zeit möglichst in die Länge zu ziehen. Noch hatte keines von ihnen einer einzigen Erinnerung vom Kuhstall oder vom Häuschen Erwähnung getan, sie waren gar nicht in ihre Nähe gekommen, und geflissentlich hatten sie vermieden, die Mutter zu erwähnen.

Nun fühlten sie beide, daß der Augenblick immer näher kam, wo sie das nicht länger vermeiden konnten. Langsam schlenderten sie das letzte Stück Weideland hinab, sie sprachen nun noch rascher, wie im Fieber, und lachten laut und gezwungen. Auf einmal hörte ihr Lachen, wie jählings abgeschnitten, auf – sie waren zu dem Fleck dicht hinter dem Kuhstall gekommen. Es wurde ganz still, und sie standen eine Weile; dann hoben sie die Köpfe, und ihre Augen begegneten sich; die sahen nicht so aus, als ob sie eben gelacht hätten – sie waren so merkwürdig groß und glänzend. So blieben sie eine Weile stehen. Da kam plötzlich der Klang einer Kuhschelle von Svehaugen her an ihr Ohr. Jakob schüttelte energisch den Kopf, als wollte er etwas von sich abschütteln und sagte ganz gleichgültig:

Ist das nicht die Svehaugenschelle, die wir da hören?

Sidsel antwortete so gleichgültig, wie sie vermochte: Ja, das ist sie, ich erkenne sie wieder.

Was die wohl für eine Stallkuh heuer auf Svehaugen haben?

Wir könnten ja hingehen und sehen, ob es – Bliros ist.

Das war das erste Mal seit dem Tode der Mutter, daß Sidsel laut den Namen der Bliros nannte; aber das war doch immerhin noch leichter, als den Namen der Mutter zu nennen.

Kurz darauf waren Sidsel und Jakob unterwegs nach Svehaugen, sie waren außen um den Kuhstall und das Wohnhaus von Schloß Guckaus gegangen – denn es hatte keinen Sinn, das schöne Gras niederzutreten, hatte Jakob gesagt. Und ganz richtig fanden sie wirklich Bliros am Gatter von Svehaugen stehen. Sie glaubten auch fest, daß die Kuh Sidsel wiedererkannte. Sie liebkosten sie und plauderten mit ihr und über sie und gaben ihr Waffeln und Plinsen; sie hatten das Gefühl, als müßten sie gewissermaßen wieder gut machen, daß sie nicht den Mut gehabt hatten, in das Haus von Schloß Guckaus mit seinen vielen teuern Erinnerungen hineinzugehen, und Jakob verstieg sich zuletzt dazu, daß er versprach, er wolle Bliros für Sidsel zurückkaufen, sobald er erwachsen wäre.

Da konnte Sidsel sich nicht länger halten, sie schlang ihre Arme um Bliros' Hals, sah sie lange an und sagte:

Glaubst du, Jakob, daß Bliros sich noch unsrer Mutter entsinnen kann? – und nun begann sie zu weinen.

Das kam dem Jakob so unerwartet, daß er nicht gleich wußte, was er sagen sollte. Aber nach einer Weile packte es auch ihn, und mit innerlicher Überzeugung brachte er endlich hervor:

Ja, wenn sie sich überhaupt auf jemand besinnen kann, so muß es wohl die Mutter sein.

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