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Abschied von Schloß Guckaus.

Als Sidsel Langröckchen das nächste Mal nach Hoël kam, da kam sie nicht allein, und da kam sie, um für immer dort zu bleiben.

Alles war ganz, ganz anders gekommen, als sie sich gedacht hatte. Aber sie hatte gewissermaßen keine Zeit gehabt, sich die Sache eher richtig klar zu machen, als gerade in dem Augenblick, da sie jetzt aus dem Gattertor des Guckausschlosses heraustrat – so vielerlei war in der letzten Zeit auf sie eingestürmt, so viel Neues hatte es zu sehen und zu hören gegeben, daß sie nicht einmal Ruhe gefunden, sich richtig auszuweinen, obschon sie immer wie mit einem Tränenkloß im Halse herumgegangen war; als sie jetzt aber halt machte und sich umsah, da brachte das Bild, das sie sah, aus einmal ihr alles klar und traurig deutlich ins Gedächtnis zurück. Nun war etwas vorbei, etwas, das niemals wiederkommen konnte; nie wieder sollte sie nach Guckaus zurückkehren, höchstens als Fremde, sie hatte niemand – nirgends ein Heim mehr.

Und da begann sie zu weinen, so bitterlich, daß alle, die erst gemeint hatten, sie hätte alles so ruhig und vernünftig hingenommen, unwillkürlich stehen blieben und sie ganz verwundert ansahen.

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Die letzten paar Wintermonate waren für Sidsel oben auf Schloß Guckaus so schnell vergangen, sie wußte gar nicht, wo sie geblieben waren. Und das kam nicht zum geringsten Teil daher, daß sie zu all dem übrigen die letzte Zeit unglaublich viel im Kuhstall zu tun bekommen hatte.

Krummhorn war nun gewissermaßen ihre Kuh geworden, und es war selbstverständlich, daß Sidsel sie warten mußte; denn Bliros gab deutlich zu verstehen, daß sie es höchst ungnädig aufgenommen hätte, wenn Rönnaug selber sich mit der Wartung einer ärmlichen Ziege hätte abgeben wollen, gerade als ob diese eine ebenso wichtige Person im Kuhstall wäre wie sie selber – denn der Kuhstall gehörte nun doch ihr allein – dies andre Tier war da bloß geduldet.

Und deshalb wartete Sidsel Krummhorn genau so, wie sie die Mutter Bliros warten sah; ja, sie bekam sogar noch mehr als die Mutter im Stalle zu tun. Denn sie lernte bald die Ziege selber melken, und Bliros, Mutters Kuh, melkte ja überhaupt nicht mehr.

Ob Krummhorn Milch gab? Oh, sie mußte sie oft dreimal am Tage melken! Nun war an Kaffeemilch oder Milchbrei kein Mangel mehr, es blieb sogar mitunter genug übrig, um noch Waffeln zu backen.

Dann kam der Frühling, und der kam oben auf Schloß Guckaus immer zeitig. Das Heideland, das mitten in der Sonne lag, guckte immer zu allererst im ganzen Tal aus dem Schnee hervor.

Und da ging Sidsel hin und untersuchte den Boden – es war ein so wunderliches Gefühl, wieder die bloße Erde unter den Füßen zu fühlen; und Tag für Tag beobachtete sie genau, wie die einzelnen Flecken größer und größer wurden, wie der Schnee allmählich abwärts glitt, ganz langsam, genau wie ihr langer Rock an ihr selber hinabglitt, wenn sie das Gürtelband löste und ihn fallen ließ, so daß er zuletzt wie ein großer, bauschiger Ring um ihre Füße herum liegen blieb. Denn wenn erst der Schnee bis zu dem großen Steine hinabgeglitten war, wo sie und Jakob ihren eigenen Kuhstall zu haben und Tannenzapfen als Futter für ihre Kühe und Schafe aufzubewahren pflegten – dann fingen auch die äußersten Knospen an den Bäumen an, dick zu werden und aufzuschwellen, fertig zum Aufspringen, das wußte sie noch vom vorigen Jahre – und auch danach sah sie nun jeden Tag – und dann, dann kam endlich der große, ereignisvolle Tag heran, wo Krummhorn ins Freie gelassen werden sollte, das hatte die Mutter gesagt.

Das war es, worauf sie wartete. Nicht allein deshalb, weil es so lustig war, nein auch, weil die Ziegen nie so kräftige, fette Milch gaben, als wenn sie im Frühling die ersten Knospen zu fressen bekamen.

Die Mutter war seit dem Tage, da Sidsel zum erstenmal auf Hoël gewesen war, nicht mehr recht wohl und munter gewesen; wenn aber Krummhorn nur erst ihre Knospen zu knabbern bekam, dann würde sie schon wieder gesund werden.

Obwohl sie listig etwas Sand darauf gestreut hatte, damit der Schnee rascher wegschmelzen sollte, lag an dem Tage, da Sidsel Langröckchen in den Stall ging, Krummhorn losband und ins Freie führte, freilich noch immer ein winziger Streifen Schnee oben auf dem Steine.

Krummhorn ging ruhig und würdevoll, bis sie vor die Stalltüre gekommen waren. Da blieb sie stehen, sah sich um und schnupperte gegen die Sonne. Sidsel zog an der Leine, sie wollte zu dem Heideflecken hinunter ziehen, wo sie die Birke stehen hatte, deren Knospen am weitesten vorgeschritten waren.

Krummhorn blieb unbeweglich stehen, als ob gar nichts los wäre; sie war so stark, daß sie nicht einmal den Hals reckte, so krampfhaft Sidsel auch an der Leine ziehen mochte. Sidsel ging da näher heran, um die Leine kürzer zu nehmen, aber da machte Krummhorn eine kurze Bewegung mit dem Kopf, stieß so heftig mit den Hörnern nach Sidsel, daß diese hinterrücks zu Boden fiel, und tänzelte dann gleichgültig davon.

Sidsel kam rasch wieder auf die Beine und setzte der Ziege nach. Als sie ihr aber endlich so nahe gekommen war, daß sie eben nach der Leine am Boden greifen wollte, da begann Krummhorn zu traben; sie galoppierte nicht, wie Ziegen zu tun pflegen, sie trabte wie eine Kuh oder ein Elch, trabte am Hause vorüber und schlug die Richtung nach Svehaugen ein. Sidsel ihr nach; aber so sehr sie auch lief, holte sie sie doch nicht ein. Schließlich stolperte sie über einen Stein, fiel hin, so lang sie war, und hatte gerade noch Zeit, die Augen aufzuschlagen und Krummhorn im Trabe über die Anhöhe verschwinden zu sehen.

Nun blieb ihr nichts andres übrig, als heimzulaufen und die Mutter zu holen, und dann setzten sie beide der Ziege nach. Aber das wurde ein langes Wettlaufen; erst dicht am Gatter von Svehaugen holten sie Krummhorn ein. Dort stand sie und sah gelassen durch die Zaunpfähle; sie dünkte sich offenbar zu gut, um, wie andre Ziegen, über den Zaun hinwegzusetzen, sie, die sich einbildete, sie wäre eine Kuh.

Rönnaug war von dem langen Laufen ganz warm geworden und in Schweiß gebadet, und am Abend, als sie zu Bett gegangen waren, sagte die Mutter, sie friere so erbärmlich. Das schien Sidsel sonderbar; denn als sie ihr Gesicht an den Hals der Mutter legte, war der so heiß wie ein glühender Ofen.

Am nächsten Morgen weckte die Mutter Sidsel und bat sie, zu Kari Svehaugen hinüberzugehen und sie zu bitten, sie möge zu ihr kommen und nach ihr sehen, sie fühle sich ganz elend und werde gewiß nicht aufstehen können.

Das kam Sidsel wieder seltsam vor; denn sie hatte die Mutter noch nie mit so geröteten Wangen und mit so lebhaften Augen gesehen. Aber auf einmal kam ihr alles so verwunderlich vor, daß sie kein Wort hervorbrachte, sondern sofort aufstand, sich eilig ankleidete und davonstürzte.

Nun kamen seltsame Tage oben im Guckausschloß. Wenn Sidsel Langröckchen späterhin an die Zeit zurückdachte, war es ihr, als sei es wie ein einziger schrecklich langer Tag gewesen, an dem so vielerlei geschehen war, was sie sich gar nicht recht klar machen und auseinanderhalten konnte. Alle Erinnerungen an diese Zeit waren wie Schatten, die in einem gelblich flammenden, bösartigen Licht vorüberdrängten und sich jagten, und durch all dies Gewirr hindurch hörte sie wie ein unablässiges Sausen ein schweres, wehes Atemholen.

Ihr war, als könne sie in der Ferne Kari Svehaugen erkennen, die still herumging und im Hause und im Kuhstall alles besorgte, und sie selbst hatte gewiß mehrere Male oben im Geäst einer Birke gesessen und Knospen gepflückt. Auch Lars Svehaugen glitt rasch an ihrem Auge vorüber, als hätte er es furchtbar eilig. Und dann war einer gefahren gekommen, im Pelz und mit großen, schweren Stiefeln, den alle umringten und dessen Worten sie lauschten; und mit ihm kam ein eigentümlicher Geruch, der gleichsam die ganze Stube ausfüllte, auch noch lange, nachdem er schon wieder fort war.

Ihr war auch, als hätte sie Kjersti Hoël auf einem Stuhle sitzen und allerhand gute Sachen aus einem großen Korbe auspacken sehen, und Jakob stand daneben und hatte ein großes Stück Rosinenkuchen in der Hand, an dem er kaute, immerfort kaute, als wäre es ihm unmöglich, den Rosinenkuchen hinunterzuwürgen. Am deutlichsten sah sie seine Augen, sie waren so groß und seltsam glänzend.

Dann war sie eines Morgens in blendend grauem Tageslicht erwacht. Und von da ab sah sie alles und konnte sich auf alles ganz deutlich besinnen. Sie lag in dem kleinen Kinderbette, in dem Jakob zu liegen pflegte, als er noch zu Hause war – sie mochte wohl alle diese Nächte darin gelegen haben – und Kari Svehaugen beugte sich über sie und sah auf sie herab. Es war ganz still; das schwere, wehe Atemholen konnte sie jetzt nicht mehr hören; es knisterte bloß im Feuer auf dem Herd, und ein warmer Luftstrom drang von dort herein.

Kari sagte ganz still:

Nun hat es deine Mutter gut, kleine Sidsel, so gut, wie sie es nie zuvor gehabt hat. Und deshalb sollst du auch nicht weinen.

Und Sidsel weinte auch nicht, sie stand bloß auf und ging ganz still umher den ersten Tag.

Und später gab es so viele Vorbereitungen zu etwas Feierlichem, daß sie kaum Zeit bekam, über die große Veränderung nachzudenken. Lars Svehaugen kam vom Krämer mit so viel feinem weißem, blankem Zeug, wie sie noch nie gesehen, und dann kam eine Frau und half der Kari, das Zeug zurechtzuschneiden und ein Kissen und ein feines, weißes Kleid daraus zu nähen, das die Mutter anhaben sollte, und auf dem weißen Kissen sollte sie liegen.

Lars Svehaugen kam wieder und begann eine neue Bettstelle für die Mutter zurecht zu zimmern; und gerade da kalbte Bliros, und das Kalb sollte geschlachtet werden. Und Lars brachte feine Tannenbüsche und hämmerte ein paar an der Tür draußen fest und andre auf die Gatterpfosten und streute Tannenreißig auf den ganzen weg bis ans Haus heran. Und allerlei Sendungen kamen, eine solche Menge guter Sachen von Kjersti Hoël und von andern, daß Sidsel noch nie so viel Gutes gekostet hatte.

Und dann kam der Tag, an dem die Mutter zur Kirche gefahren und begraben werden sollte. Es kamen viele Menschen, und Jakob kam in neuen Kleidern aus grauem Fries und strahlte förmlich; und alle wurden bewirtet, und es war so still und feierlich. Sogar der Schulmeister kam in eigener Person und sang so schön, während Lars Svehaugen und drei andre die Mutter zur Tür hinaustrugen und auf einen Schlitten setzten. Darauf zogen sie langsam von dannen, die Anhöhe hinab, der Schlitten fuhr zuerst, und alle die andern schritten still hinterdrein. Unten aber standen zwei Pferde, und sie und Jakob durften wahrhaftig neben Kjersti Hoël selber im Schlitten sitzen und fahren.

Dann kamen sie zu der weißen Kirche; die Glocken läuteten so schön oben im Turm in dem Augenblick, als sie die Mutter durch die große Pforte hineintrugen.

Das weitere sah sie nicht mehr ganz deutlich; aber dessen entsann sie sich noch, wie sie die Mutter in die Erde hinabsenkten und grüne Heidekränze über sie streuten; darauf sang der Schulmeister wieder, und alle Mannsleute nahmen die Hüte ab und hielten sie lange vors Gesicht.

Darauf gingen sie fort und fuhren wieder im Schlitten; aber diesmal fuhren sie viel schneller; es war, als liefen die Zaunpfähle in der verkehrten Richtung mit einander um die Wette, und sie und Jakob versuchten, sie zu zählen, aber es ging nicht.

Und alle kamen wieder mit heim, Kjersti Hoël auch. Daheim hatte Kari Svehaugen, die nicht mit zur Kirche gegangen war, den Tisch mit einem weißen Tischtuch gedeckt und Teller und gutes Essen aufgetragen; und alle aßen und unterhielten sich, aber niemand sprach laut. Nach dem Essen nahm Sidsel Jakob mit in den Kuhstall und zeigte ihm Krummhorn. O ja, er mußte schon zugeben, es war eine ganz schöne Ziege; aber eklig war die sicher, das konnte er an ihren Augen sehen. Sie waren auch am Bache, um nach seiner Mühle zu sehen, aber die war verfallen, seitdem er so lange nicht hier gewesen war.

Dann wurden sie ins Haus gerufen, und alle tranken Kaffee, und als sie damit fertig waren, begann Kari alles in Körbe einzupacken.

Als das getan war, sagte Kjersti Hoël:

Ja, nun sind wir wohl hier fertig. Du, Sidsel kannst Krummhorn an die Leine nehmen und mit mir gehen. Das war das letzte, was ich deiner Mutter versprochen habe.

So war es zugegangen, daß Sidsel Langröckchen zusammen mit Kjersti Hoël, Bär und Krummhorn bis zu dem Gatter gekommen war, und da geschah es, daß sie zurückblickte und dann zu weinen anfing.

Dort sah sie Kari Svehaugen einen großen Korb am Arme tragend und Bliros an der Leine nach sich ziehend auf dem einen Wege, und weiter weg auf dem andern sah sie den Rücken von Jakob, dem sie eben die Hand gegeben und Lebewohl gesagt hatte – er sah so merkwürdig klein und armselig aus der Jakob – und dort brachte Lars Svehaugen einen Tannenzweig an der Türklinke an zum Zeichen dafür, daß Schloß Guckaus nun leer stand, verschlossen und verriegelt.

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