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XXXVI.
Die Folgen einer Prahlerei

Im kühlen grauen Dämmer seines Wohnzimmers sah Lukas die Dinge etwas anders an als in ihrem bunten Farbenspiel unter den Gaslampen. Das Händeschütteln, die erregten Gesichter und die Schmeicheleien waren entschwunden; es blieb nur die quälende Erinnerung, daß er zum dritten oder vierten Male des Kokettierens mit der Häresie beschuldigt worden war. Bei seinen klaren Anschauungen in der Theologie wußte er recht wohl, daß dieser Verdacht keinen Augenblick aufrecht erhalten werden konnte. Und er war sich seiner eigenen tiefen Anhänglichkeit an jedes Jota und Tüpfelchen der Lehren der Kirche so bewußt, daß er nach und nach über die schändliche Annahme ganz erbittert wurde. Aller Beifall, alle Begeisterung war vergessen.

»Ich glaube nicht, daß das Spiel die Kerze wert ist,« sagte Lukas zu sich selber. »Ich will mal die Sache genau berechnen.«

Und seine Berechnung, die er niederschrieb, lautete folgendermaßen:

Ausgaben: Einnahmen:
1. Viel Angst und Nachdenken über Vortrag, Gegenstand usw. 1. Ein wenig Schmeichelei.
2. Sechs Wochen lang harte Arbeit in Enzyklopädien, Büchern, Zeitschriften usw. 2. Ein wenig Beifall.
3. Drei Wochen harte Arbeit, um dreißig Manuskriptseiten zu schreiben, zu korrigieren und durchzusehen. 3. Viele Kritik, meist ungerechte und unverständige.
4. Ausgaben für Maschinenschreiben des Manuskripts. 4. Anklage auf Häresie.
5. Ausgaben und Unbequemlichkeiten auf der Reise, im Hotel, Rechnungen usw. 5. Eine kleine Notiz in einem Lokalblatt.
6. Nervöse Aufregung beim Vortrag. 6. Vergessen.

Und Lukas machte einen Strich unter die Rechnung und zog die Bilanz: »Das Spiel ist die Kerze nicht wert.«

Und er sagte zu seiner Seele: »Schlafe jetzt und gönne dir Ruhe!«

So zurückgestoßen und wieder von der Welt mißkannt, war es ein Glück für Lukas, daß gerade jetzt alle Blumen menschlicher Achtung und Liebe in der Wärme und dem Sonnenschein seines eigenen Lächelns ihre herrlichen Kelche öffneten. Und die folgenden paar Jahre – die Jahre voller Manneskraft und Stärke, und ach! auch des Verfalles, denn sein Haar begann sich bereits silbern zu färben und die Linien um seinen Mund wurden schärfer – verflossen sehr glücklich, und die großen Lebensrätsel berührten ihn nicht mehr zu persönlich. Seine Erleuchtung war aber noch nicht vollkommen, und noch einmal weckte ihn sein großer Meister mit der Spitze des Schwertes der Heimsuchung auf. Aber diese Jahre mittleren Lebens verflossen äußerst ruhig und friedlich.

Eine neue Erfahrung, die er dabei machte, half ihm dabei viel. Voll freudiger Ueberraschung hatte er bemerkt, daß die Dorfkinder von Roßmore im Betragen, in Anstand und Ausdrucksweise sich ganz und gar von allen anderen Kindern unterschieden, die er bis jetzt kennen gelernt hatte. Er war aber so sehr von seinen eigenen Gedanken abgezogen und eingenommen gewesen, daß es mehrere Monate dauerte, ehe er sich des Kontrastes und dessen Ursache bewußt wurde. Dann merkte er plötzlich, daß die ehrerbietige, bescheidene Haltung der Kinder, ihre Andacht in der Kirche, ihre dienstfertige Höflichkeit und Aufmerksamkeit gegen die Alten und Schwachen, so ganz der stürmischen und lärmenden Ausgelassenheit der Jugend widersprach. Die Ursache selber blieb ihm noch länger unbekannt. Dann kam er einmal zu einer unerwarteten Zeit in die Schule und sah zu seiner Ueberraschung die Kinder an der Wand entlang in verschiedenen Abstufungen der Aufmerksamkeit und Ehrfurcht stehen. Das Schweigen war so tief und die Hingebung der Kinder so groß, daß Lukas' Eintritt unbeachtet blieb. Eben sagte der Lehrer, ein ernster Mann in mittleren Jahren, zu den Kindern: »Ehrfurcht ist das Geheimnis aller Religion und alles Glückes. Ohne Ehrfurcht gibt es keinen Glauben, keine Hoffnung, keine Liebe. Ehrfurcht ist die Grundlage eines jeden der zehn Gebote auf dem Sinai: Ehrfurcht vor Gott, Ehrfurcht vor dem Nächsten, Ehrfurcht vor uns selbst. Sie begründet die Demut, bewahrt die Frömmigkeit und schirmt die Reinheit. Ehrfurcht vor Gott und allem, was mit ihm zusammenhängt, vor seinen Dienern, seinem Tempel und seinem Dienste – das ist Religion; Ehrfurcht vor unserm Nächsten, seinen Gütern, seiner Person, seiner Habe – das ist Ehrlichkeit. Ehrfurcht vor uns selbst – reine Körper und fleckenlose Seelen – das ist Keuschheit. Satan ist Satan, weil er keine Ehrfurcht kennt. Jeder Ungläubige war noch unehrerbietig und ein Spötter. Der Spaßmacher, der laute Lacher und Verächter, haben keinen Teil am Himmelreiche. Selbst die Stellungen, die ihr jetzt einnehmt, bezeugen Ehrfurcht. Sie sind die Symbole von etwas Tieferem und Höherem –«

Jetzt erblickte er Lukas, obgleich die Augen der Kinder ihn nicht leiteten; und ohne seine Stimme zu ändern, sagte er: »Kinder, der Priester ist hier.«

Die Kinder hoben ihre Köpfe und verbeugten sich vor Lukas, während ihre Arme immer noch über der Brust gekreuzt waren.

»Jetzt,« sagte der Lehrer, »geht ihr in eure Schulbänke und singt das Lied: Im Sonnenschein, im Schatten.«

Die Kinder taten, wie ihnen geheißen, und sangen das Lied, nicht laut, doch lieblich; der Lehrer aber wandte sich Lukas zu. Er war ein ernster, schweigsamer Mann, dessen ganze Haltung ebenfalls Ehrerbietung bewies. Er stand schon in vorgeschrittenem Alter, denn sein spitzer Bart war von weißen Haaren durchzogen. Dabei war er hochgewachsen und eckig von Aussehen; aber seine ganze Art war unterwürfig, nicht aus Furcht oder Wachsamkeit, sondern aus einem höflichen und gedankenvollen Wesen heraus. Auch war er ein Geheimnis, was ihn für Lukas nur um so anziehender machte. Er hatte eine einzige Tochter, ein Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren, die bei ihm lebte; aber sein Vorleben war nur dem Pfarrer bekannt, der ihn irgendwo entdeckt und nach Roßmore gebracht hatte, um seine kleine Schule zu übernehmen. Soviel hatte Lukas gehört; dann hatte er den Gegenstand fallen lassen. Weiter zu fragen, wäre ihm als trivial und gewöhnlich erschienen. Bei seinen früheren Besuchen hatte er auch nichts Bemerkenswertes wahrgenommen, wohl weil er zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war.

»Wo haben Sie denn das Material zu diesem herrlichen Vortrage gefunden?« fragte Lukas.

»In meiner eigenen Erfahrung«, entgegnete Mr. Hennessy.

»Wie haben Sie denn die Kinder so schön heranbilden können in der beschränkten Zeit, die Ihnen zur Verfügung steht?«

»Es wäre unmöglich, wenn ich nicht den Abend zu Hilfe nähme.«

»Den Abend?« fragte Lukas erstaunt. »Ich glaubte, Abendschulen seien ein überwundener Standpunkt.«

»Wir heißen es auch nicht Schule. Aber vielleicht würde es Sie interessieren, Sir, mal abends zu uns zu kommen und zu sehen, was wir tun.«

»Freue mich sehr darauf. Aber reden Sie öfters in der Art zu den Kindern, wie ich es vorhin gehört habe?«

»Jawohl,« entgegnete der Lehrer, obgleich das die Anmaßung eines höheren Rechtes bedeutete. »Ich halte die sittliche Bildung der Kinder für den notwendigsten Bestandteil der Erziehung. Die Schulbehörde sorgt für das geistige Gebiet, und die Mittagsstunde ist für die doktrinäre und katechetische Unterweisung bestimmt. Aber die Schulung der Jugend in moralischer Bildung muß dem Lehrer überlassen bleiben; und in meiner bescheidenen Weise suche ich mich dieser Pflicht zu entledigen.«

»Mit Ihrer Erlaubnis komme ich heute abend herauf,« sagte Lukas. »Um welche Stunde?«

»Wir haben unsere kleinen Soiréen,« erwiderte der Lehrer lächelnd, »denn mit diesem Namen zeichnen wir sie aus, von sieben bis neun Uhr.«

»Ich werde pünktlich da sein.«

Als Lukas abends in das Schulzimmer trat, war es hell erleuchtet; und es machte einen recht freundlichen Eindruck auf die, die eben aus dem Düster des Abends getreten waren. Die Bänke waren an ihrem alten Platze; nur das Schulharmonium war offen. Da und dort im Saale dufteten vollerblühte Chrysanthemen. Alle Dorfkinder waren erschienen; nur die Landkinder fehlten. Der Lehrer berührte ein Metallbecken, als Lukas eintrat; die Kinder erhoben sich ehrerbietig. Und während des Lehrers Tochter am Harmonium begleitete, sangen sie ein hübsches Lied – eine Komposition des Lehrers. Als sie sich wieder gesetzt hatten, las ihnen der Lehrer ein Gedicht: »Das Haus des Hasses« vor. Dann nahmen die Kinder ihre Aufgaben für den folgenden Tag vor, während des Lehrers Tochter von Bank zu Bank ging und die jungen Hände und Herzen leitete. Unterdessen befanden sich Lukas und der Lehrer in eifrigem Gespräche. Das ganze System sprach Lukas mächtig an. Hier endlich fand er praktische, positive Arbeit. Kein Wort des Tadels oder Bedauerns; kein Theoretisieren über große politische Möglichkeiten; keine Strafen; und was Lukas am meisten fühlte, weil es seine eigene große Schwäche war, kein Sich-abquälen mit Rätseln; sondern ruhige, positive Arbeit, die nur durch den Beweggrund geadelt war und die großen Möglichkeiten, die sie wachrief. Und es war ruhige, bescheidene Arbeit, die von der Welt nicht anerkannt und nicht beachtet wurde – die Arbeit eines großen Grundsatzes und eines reinen, idealdenkenden Herzens.

»Warum legen Sie so großen Nachdruck auf Ehrfurcht?« fragte Lukas. »Sie scheint mir der Endreim all Ihres Unterrichts zu sein.«

»Weil ich glaube, daß sie das Geheimnis aller Religion ist und deshalb auch alles Edelsinnes.«

»Und halten Sie sie für notwendig?«

»Ich halte nichts anderes für unsere Rasse wie für unsere Zeit gleich notwendig.«

»Für unsere Rasse?« fragte Lukas und riß die Augen auf.

»Ja, Sir! Wir schwanken in Irland immer zwischen Ehrerbietung und ihrem Gegenteil hin und her. Unsere Literatur und unsere Sprache sind ebenso voll von Sarkasmen wie von großen Ideen. Und zwar von Sarkasmen über die heiligsten Dinge. Genie und Irrsinn sind nahe verwandt; in gleicher Weise Genie und Gottlosigkeit.«

»Aber bei all unserem glänzenden Idealismus kann dabei doch nicht viel Gefahr sein?«

»Nein, ausgenommen, daß ein Ideal das andere ersetzt und zerstört. Alle Ideale sind einander entgegengesetzt. Wenigstens,« sagte er bescheiden, »habe ich es irgendwo so gelesen. Wollen Sie vielleicht so gut sein, Sir, und ein Wort an die Kinder richten?« bat er, als das Metallbecken wieder klang.

»Gewiß,« erwiderte Lukas. Und er tat es aus vollem Herzen. Es war ja Arbeit, Arbeit mit einem edlen Zweck.

Um acht Uhr wurde alle Arbeit abgebrochen. Die noch verbleibende Stunde war Singübungen, namentlich der Vorbereitung von Kirchengesängen u. s. w. gewidmet; kleine Lieder und Volkssänge wurden gelegentlich eingeschoben. Kurz vor neun Uhr las der Lehrer noch ein Kapitel aus dem Johannisevangelium, betete ein Gesetzchen des Rosenkranzes vor, und die Kinder erhoben sich zum Aufbruch. Der Lehrer und seine Tochter standen an der Tür. Als die Kinder an dem Mädchen vorbeigingen, verneigten sie sich ehrerbietig. Der Lehrer selber gab jedem Kind die Hand, wenn es in die Nacht hinaustrat. Dabei war aber nicht die geringste Spur von Vertraulichkeit zu bemerken, die die Ehrfurcht zerstört.

»Ich habe etwas Aehnliches irgendwo gelesen,« monologisierte Lukas, als er heimging. »›Sittliche Bildung‹, ›Ehrerbietung‹, ›Haltung‹ – wo denn nur?«

Diese Schule blieb für ihn ein fortwährender Gegenstand des Staunens und der Anziehung während langer Jahre, bis zuletzt das große Kreuz kam und hinter ihm – die große Erleuchtung.

Der betagte Kanonikus, der alle anderen Betrübnisse und Lebensinteressen von sich abgeschüttelt hatte, behielt nur noch seine Liebe zu seiner Nichte Barbara Wilson und seinen schönen und hohen Stolz auf das Gedeihen seiner Pfarrei übrig. Das war aber in der Tat mehr als gerechtfertigt durch das Glück seines Volkes; und die Pfarrei des Kanonikus wurde der große Anschauungsunterricht für die Diözese und das ganze Land. Und hervorragende Nationalökonomen kamen von weit her, um das Sphinxproblem der irischen Zufriedenheit endlich und für immer gelöst zu sehen. Nur einer teilte den allgemeinen Enthusiasmus gar nicht – der eine Skeptiker Vater Cussen.

»Sie sind doch ein schrecklicher Unglücksrabe,« meinte einer seiner Konfratres. »Sie krächzen nur immer Verderben inmitten aller Erfolge.«

»Abwarten, mein Lieber,« bemerkte trocken Vater Cussen.

Des Kanonikus Erholung in seinem Alter, als er nicht mehr ritt und sich auch ums Kutschieren nicht mehr viel kümmerte, war es, des Abends durch das Dorf zur Postanstalt hinabzuwandern und dort mit unsagbarer Genugtuung die großen Haufen landwirtschaftlicher irischer Produkte in Augenschein zu nehmen, die jedesmal mit der Paketpost nach England abgingen. Es war ein seltener und entzückender Anblick. Da waren große Säcke mit Geflügel; viereckige Kisten voll reicher, gelber Butter; Käslaibe; große Eierkisten, in denen jedes einzelne Ei in trocknes, frisches Moos gelegt war, und sogar kleine Honigtöpfe waren zu sehen. Der kleine Postraum war bis zur Decke mit diesen Exportsachen angefüllt, so daß Miß Carey, die Postvorsteherin, immer wieder erklärte, die Regierung müsse, rein unter dem Zwange der Verhältnisse, ein neues Postgebäude errichten. Eines Abends, als der Kanonikus den Postraum wieder betrat, sah er einen jungen Mann am Schalter lehnen und mit Miß Carey plaudern. Die Unterhaltung drehte sich augenscheinlich um die großen Einnahmequellen der Pfarrei, denn der junge Mann, den der Kanonikus für einen Groom hielt, weil er einen Reitanzug trug und mit einer kurzen Peitsche auf die Schäfte seiner Stiefel klatschte, sagte eben:

»Und Sie berechnen den Reingewinn aus diesem großartigen Plan auf – wieviel sagten Sie doch gleich?«

»Der Kanonikus weiß das besser als ich,« sagte die Postvorsteherin. »Er hat den ganzen Export geschaffen.« Dabei blickte sie den Kanonikus bedeutungsvoll und warnend an; aber der beachtete das nicht.

»Ich habe – hm – alle Details sorgfältig untersucht,« sagte er stolz, »und habe dabei gefunden, daß der Reingewinn aus diesen landwirtschaftlichen Ausfuhrerzeugnissen im Jahresdurchschnitt zwischen fünfzig und achtzig Pfund Sterling in der Woche beträgt.«

»Sie setzen mich ganz in Erstaunen,« erwiderte der Groom. »Ich hätte nicht geglaubt, daß so etwas anderswo als in Belgien oder in der Normandie möglich wäre.«

Das hätte dem Kanonikus zeigen können, daß der Fremde kein Groom war, und Miß Cary schaute den Kanonikus, während sie die Pakete abstempelte, in einer Weise an, die jeden anderen gelähmt oder versteinert hätte. Aber der Kanonikus fuhr fort: »Ich versichere Sie aber, daß ich unser Reineinkommen aus dieser Ausfuhr eher unterschätze als übertreibe. Meine Pfarrei hat man darum ›ein glückliches Arkadien‹ inmitten der heulenden – hm – Wüsten ringsum genannt.«

»Da muß man Ihnen aber wirklich gratulieren, Sir,« sagte der Fremde, ungeduldig mit der Reitpeitsche seine Stiefel bearbeitend. »Ein guter Bauernstand ist des Landes Stolz – oder nicht?«

»Sie haben ganz richtig zitiert, Sir. Der Bauernstand ist das Rückgrat des Landes.«

»Es ist wirklich so interessant,« sagte der Fremde und zog ein Notizbuch heraus, »und man fragt mich auf meinen Reisen so oft, wie es um die Wohlfahrt Irlands steht, daß ich mich sehr freuen würde, es schwarz auf weiß zu haben, daß eine derartige Aufstellung richtig ist. Sie sagten doch soeben, daß das Reineinkommen aus dieser Ausfuhr zwischen fünfzig und achtzig Pfund in der Woche betrage, das heißt zwischen drei- und viertausend Pfund im Jahre?«

»Gewiß! Und wie ich schon bemerkt habe, ist das eher zu niedrig als zu hoch gegriffen.«

»Das ist wirklich sehr interessant,« sagte der Fremde. »Ich bin Ihnen außerordentlich für die Auskunft verbunden. Darf ich mir noch eine Gunst erbitten! Mit wem habe ich die Ehre, zu sprechen?«

»Mit dem hiesigen Ortspfarrer, Sir,« erwiderte der Kanonikus sehr würdevoll. »Kanonikus Maurice Murray.«

»Das hätte ich wissen sollen,« entgegnete der Fremde sehr höflich. »Aber ich bin mehrere Jahre auf Reisen im Ausland gewesen und ganz unbekannt mit den hiesigen Verhältnissen, die so sehr interessant sind. Ich habe die Ehre, Ihnen guten Abend zu wünschen.«

»Guten Abend, Sir,« gab der Kanonikus den Gruß zurück und begleitete den Fremden zur Tür.

»Ein äußerst interessanter Herr,« wandte er sich an die Postvorsteherin. »Welch mächtiger Faktor in der – hm – Erziehung ist doch das Reisen geworden!«

Miß Carey antwortete nicht.

»Ist kein Brief aus Oesterreich oder Ungarn für mich da?« fragte er.

»Nein, Sir,« erwiderte sie. Zum hundertsten Male hatte sie schon nein sagen müssen. Sie weinte fast um ihren alten Pfarrer.

Einige Tage später gab es eine Szene in dem Bureau eines gewissen Agenten in Dublin. Die Schreiber sahen einen Fremden und ihren Vorstand gegenseitig Höflichkeiten austauschen; dann wurden sie barsch ersucht, das Zimmer zu verlassen und glaubten, hitzige Worte und selbst Flüche zu vernehmen; und einer behauptete sogar, er habe das Sausen einer Reitpeitsche und einen schweren Schlag und Fall gehört. Aber nein, sie täuschten sich. Denn Kapitän Vermont und sein Agent waren, wie Mr. Kiplings kanonisierte Heilige, – »Gentlemen, ein jeder«.

Als aber die Schreiber wieder ins Bureau zurückkehren durften, war der Agent verschwunden; nur der Fremde, der wie ein Groom gekleidet war, war noch da. Und er sah sehr bleich aus und zitterte vor Aufregung.

»Wer von Ihnen ist der Oberschreiber?« fragte er.

»Ich,« erwiderte ein junger Schotte, »Henry Simpson.«

»Nun, Simpson, so übernehmen Sie die Geschäfte, bis ich einen andern Agenten ernenne. Ich bin Kapitän Vermont. Und wenn Sie wieder Grundrentenzettel auf meine Güter in Limerick und Kerry hinaussenden – wann ist der nächste Termin fällig?«

»Am neunundzwanzigsten September,« erwiderte Simpson.

»Dann heben Sie den Nachlaß von fünfundzwanzig Prozent wieder auf und fordern Sie alle Rückstände ein! Und hören Sie wohl, Sie alle, ich dulde in Zukunft absolut keinen – Unsinn mehr. Beim Teufel, nein!« Und Kapitän Vermont ging.

Und so fiel auf das glückliche Arkadien, die Musterpfarrei von Lough und Ardavine, der Schatten; der Schatten, der schon so lang gedroht, den aber niemand gefürchtet hatte. Hatten sie denn nicht ihren mächtigen Samson, ihren Patriarchen und König? War es nicht Tradition in der Pfarrei, daß Landmagnaten und Agenten sich vor seinem grimmen Antlitz in Mauselöcher verkrochen? Er war empört. Der alte Löwengeist erwachte wieder in ihm, als er sein Volk in Gefahr sah. Zuerst verlachte er die Drohungen aus dem Bureau des Agenten. Alle Rückstände einfordern! Unsinn! Sie wagen es nicht. Als aber das Rollen der Riesenmaschine des britischen Gesetzes von ferne her ertönte und Gerichtsbefehle zwei oder drei der hervorragendsten Pfarrkinder zugestellt wurden, da sah der Kanonikus doch, daß die Sache ernst gemeint war. Er rief sein Volk zusammen und sagte ihm, er wolle nach Dublin gehen und die Sache ohne Aufsehen erledigen. Die Leute jubelten ihm Beifall und hielten die Schlacht für gewonnen. Nur Vater Cussen schwieg. Er rief seine Liga zusammen und verpflichtete sie feierlich, fest Schulter an Schulter zu stehen. Dann bat er sie um ihre Quittungen vom Pachtbureau. Sie brachten die schmutzigen Zettel – gelb, zerknittert, zerfetzt. Er prüfte sie genau. Richtig! Es war ganz, wie er erwartet hatte.

»Haben Sie ihren Märzpacht bezahlt?« fragte er einen Bauern.

»Gewiß, Hochwürden!« war die Antwort.

»Haben Sie eine volle Quittung darüber erhalten?«

»Gewiß habe ich das,« entgegnete der Landmann. »Sie halten sie ja in der Hand, Hochwürden.«

»Das kann doch nicht die Quittung sein,« sagte Vater Cussen. »Das ist ja fünf Jahre zurückdatiert.«

»Es ist aber die letzte Quittung, die ich bekam,« rief der Bauer ganz erschreckt.

»Ganz richtig! Und wie Sie sehen, sind Sie fünf Jahre rückständigen Pacht schuldig, was über 260 Pfund ausmacht.«

Vater Cussen prüfte ebenso alle anderen Quittungen. Eine nach der andern war zurückdatiert und bekundete in dieser Weise die schuldigen Rückstände. –

Die Glut, die so heiß in des alten Kanonikus' Brust auf seiner Fahrt nach Dublin brannte, verzehrte auch sein bißchen physische Kraft. Und es war ein gebeugter, müder Mann, der am nächsten Morgen die Stufen des Shelbourne-Hotels hinabwankte. Der Kellner half ihm auf die Straße.

»Soll ich Ihnen eine Droschke rufen, Sir?«

»O nein! Ich fühle mich stark – und – hm – kräftig genug.«

Die Aufregung, in das Bureau des Agenten treten und da die Sache seines Volkes verteidigen zu müssen, verlieh ihm ein wenig unnatürliche Kraft, als er in seiner eigenen, vornehmen Weise die Schreiber fragte, die hinter einem Abteil schrieben: »Kann ich Mr. Noble heute Vormittag sprechen?«

»Nein,« erwiderte Simpson kurz, »das können Sie nicht.«

»Wann kann ich denn die – hm – Ehre einer Unterredung mit Mr. Noble haben?«

»Ich denke, jedesmal wenn Sie ihn treffen,« gab Simpson zurück.

»Ich betrachte diese Antwort als eine Unverschämtheit, Sir,« rief der Kanonikus entrüstet.

»Nun, sehen Sie, alter Herr,« sagte Simpson kühl, »wenn Sie Ihren Weg verfehlt und sich hier herein verirrt haben, so wird Sie der Hausdiener in Ihr Hotel oder Ihre Wohnung zurückführen.«

»Ich bin wirklich – hm – überrascht,« entfuhr es dem Kanonikus. »Das kommt so ganz unerwartet. Vielleicht wissen Sie nicht, wer ich – hm – bin.«

»Ich habe allerdings nicht die Ehre,« entgegnete Simpson, »und wenn ich sehr aufrichtig sein soll, so liegt mir auch nichts daran.«

»Ich will Ihnen diese grobe Ungehörigkeit hingehen lassen, da ich in Geschäften hier bin. Ich bin Kanonikus Maurice Murray und Pfarrer von Lough und Ardavine.«

»Also, Kanonikus Maurice Murray und Pfarrer von Lough und Ardavine, wollen Sie uns Ihre Angelegenheit so kurz wie möglich vortragen, da unsere Zeit kostbar ist?«

»Ich bin gekommen, um mich zu erkundigen, was die meinen Pfarrkindern zugefügte grobe Gewalttätigkeit bedeuten soll!«

»Von welcher Gewalttätigkeit sprechen Sie denn?« forschte Simpson.

»Ich meine das Zustellen von Gerichtsbefehlen und das Fordern eines ganz unvernünftig hohen Pachtzinses.«

»Sie wollen ein Geistlicher einer christlichen Konfession sein und nennen eine gesetzmäßige Schuldforderung, die nach Recht und Gerechtigkeit schon seit fünf Jahren hätte bezahlt werden sollen, – eine Gewalttätigkeit?«

»Ich sehe,« erwiderte der Kanonikus, der seine Kraft rasch hinschwinden fühlte, »daß es – hm – nutzlos ist, die Sache mit einem Angestellten zu besprechen. Lassen Sie mich, bitte, Kapitän Vermonts Adresse in Dublin wissen.«

»Er hat keine Stadtadresse. Seine Landadresse aber sollten Sie besser kennen als ich.«

»Ich bedaure sagen – zu – müssen – hm –, daß ich nicht die Ehre habe, Kapitän Vermont zu kennen,« erwiderte der Kanonikus, dem es schwindlig wurde.

»O, gewiß kennen Sie ihn! Wenigstens waren Sie es, der Kapitän Vermont die glückliche Auskunft gab, daß er fortwährend einer Summe von drei bis viertausend Pfund jährlich von Ihren Pfarrkindern beraubt werde.«

»Ich, Sir? Wie kommen Sie dazu, Sir? Das ist eine Verleum– – bitte, könnte – ich – – Stuhl – haben?«

Einer der Schreiber eilte herbei und fing den hinstürzenden alten Mann in einen Lehnstuhl auf.

»Jawohl,« fuhr Simpson bitter und mitleidslos fort, »und die Leute hätten auch alle richtig bezahlt, wenn sie nicht von solch pflichtvergessenen und aufwieglerischen Priestern wie Sie verführt worden wären –«

»Hören Sie doch auf, Simpson,« bat der Schreiber, der den ohnmächtigen Kanonikus auf dem Sessel aufrecht hielt. »Sehen Sie nicht, daß der Herr in Ohnmacht gefallen ist?«

»Ich, Sir – pflichtver– aufwiegl–«

»Wie heißt Ihr Hotel, bitte, damit ich eine Droschke rufen kann?«

»Shel – tel« murmelte er mit gebrochener Stimme, während die Lippe schlaff herabfiel und die rechte Hand hilflos auf der Lehne lag.

»Shelbourne Hotel!« rief ein Schreiber. »Schnell, Harris, oder wir haben einen Toten im Hause.«

Und der schwere, schlaffe Körper des Kanonikus wurde in eine Droschke gehoben und in bewußtlosem Zustande in das Mater-Spital gebracht, wo er manchen langen Monat blieb. Und Verzweiflung kehrte ein in Lough und Ardavine. Sie hatten schon Freudenfeuer vorbereitet, um des Kanonikus triumphierende Rückkehr zu feiern, und die Landliga wollte ihm eine Serenade bringen, wie es noch keine gegeben. Da traf die traurige Kunde ein. Ihr König, ihr Patriarch, ihr mächtiger Kämpe war im Kampfe geblieben. Welche Hoffnung blieb da noch übrig?


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