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XXIV.
Die Halle von Eblis

Vater Sheldon war betrübt, regelrecht betrübt um seinen Freund und Mitbruder Lukas Delmege. Als guter Brite durfte er jedoch seine Betrübnis in keiner Weise nach außen hin zeigen. Aber er hatte seinen Bischof wieder und wieder gebeten, den genialen jungen Mann nicht aus der Diözese zu lassen. Der alte Generalvikar hatte diese Bemühungen redlich unterstützt, obschon keiner von des andern Mithilfe wußte. Aber der Bischof urteilte anders; und wenn er je seinem eigenen Urteil mißtraute, so bestärkte ihn die Ansicht Dr. Drysdales in seinem Glauben, daß die Bekehrung Englands ohne die Hilfe des hochwürdigen Herrn Lukas Delmege vollendet werden müsse.

»Ich kann die Ansicht Drysdales nicht teilen,« sagte der Generalvikar zum Bischofe, als ihm dieser die vielen Briefe des ersteren zeigte. »Er gehört zur alten Schule, ist ängstlich, furchtsam und konservativ. Wir brauchen die jungen, die auf keine Konsequenzen schauen, solange es das große Ziel zu erreichen gilt.«

Aber es half nichts. Der Bischof entschied sich, Lukas ziehen zu lassen, und Vater Sheldon war sehr traurig. Das war auch der Grund, warum er an einem düsteren Septemberabend das Haupt schwer auf seine Hände lehnte, kurz nachdem Lukas von seiner Reise zurückgekehrt war. Er hatte vergessen, das Gas anzuzünden. Er saß im Zwielicht und war traurig. Es ging schon auf Essenszeit, als das Hausmädchen eintrat, und ihm sagte, eine Dame wünsche ihn zu sprechen.

Er erhob sich sofort und fand unten im Sprechsaal Barbara Wilson vor. In der Helle der Gasflamme sah er, daß sie weinte und in höchster Angst war.

»Vater,« rief sie ihm entgegen, »ich bin in schrecklicher Lage. Louis ist fort.«

»Tot?« fragte Vater Sheldon etwas erschrocken.

»Nein, nicht tot; aber er ist entlaufen, fortgegangen, ich weiß nicht, wohin. Ich ließ ihn heute abend einen Augenblick mit einem Schulfreunde, der ihn besuchen wollte, allein; und jetzt ist er verschwunden, und o Vater, Vater, ich fürchte schreckliche Dinge!«

»Haben Sie keine Spur? Sein Aussehen mußte doch auffallen.«

»Nicht die geringste. Ich habe schon mit allen Polizisten der Umgegend gesprochen, aber keine Spur entdecken können. O Gott! Es ist der Fluß, der Fluß, den ich so fürchte!«

Die Glocke rief zum Abendessen, aber Vater Sheldon hörte sie nicht.

»Ich muß Sie begleiten,« sagte er. Dann ging er rasch in die Kirche hinüber und sprach ein kurzes Gebet. Schnell holte er noch Stock und Hut, und fort ging's auf die wilde Jagd. Aber wohin? Nach allen Richtungen der Windrose dehnte sich das Straßengewirr vor ihnen aus.

»Niemand als Gott kann uns führen!« sagte er. »Gehen wir voran und beten wir! Haben Sie nicht den leisesten Verdacht?«

»Nur, daß er in ein Theater, zu Mrs. Wenham oder in eine Opiumhöhle gegangen sein könnte. O Gott, o Gott, und seine Seele war eben gerettet!«

»Sie ist noch nicht verloren,« gab Vater Sheldon im Vorwärtseilen zurück; »und Sie allein können sie noch retten.«

Sie nahmen eine Droschke und fuhren zum Criterium, zum Alhambra, zum Gaiety, lauter Variété-Theatern, die Louis früher zu besuchen pflegte. In tiefem, weitem Strom drängten die Leute hinein. Der wachehaltende Polizist hatte aber niemand gesehen, der der Beschreibung von Louis entsprach. Die Angestellten waren zu beschäftigt, um mehr als ein lakonisches Nein! zur Antwort zu geben. Und die Beiden kehrten wieder zurück durch die menschenerfüllten Straßen auf ihrer hoffnungslosen Suche nach Seele und Leib, Barbara weinend und leise betend, ihr Gefährte überall herumblickend, ob er nicht einen Kopf mit einer Fülle weißer Haare erspähen könnte. Auf und nieder, hinauf und hinab wandelten sie die schrecklichen Straßen der Stadt der schrecklichen Nächte.

»Ich fürchte, unsere Suche ist hoffnungslos,« sagte endlich Vater Sheldon. »Erlauben Sie mir, Miß Wilson, Sie heim zu begleiten und die Sache einem Detektiv zu übergeben!«

»Nein, Nein!« Das leidet eine Schwesterliebe für eines Bruders Seele nicht. Sie dankte dem guten Priester herzlich, bestand aber darauf, daß er jetzt heimgehen solle. Die nächtliche Suche und nächtliche Sorge wollte sie allein übernehmen.

»Ich will's noch einmal versuchen, bevor ich Sie dem lieben Herrgott überlasse. Kennen Sie den Namen und die Adresse jenes – Weibes?«

Zurück ging's wieder durch schmutzige Straßen, hinein und hinaus, bis sie in ein ruhigeres, vornehmeres Viertel kamen. Ja, hier stand das Haus, strahlend erleuchtet; und Barbara trat in die weite Vorhalle, eine verlorene Seele zu suchen. Diener in roter Livree gingen an ihr vorbei, blickten sie an und gingen weiter. Türen öffneten und schlossen sich und enthüllten die Pracht herrlich dekorierter Räume. Der Lärm der Unterhaltung drang bis heraus. Und das bleiche, schöne Mädchen stand wie eine Statue in der Halle – halb verzweifelnd. Was sollte ein gebückter, gebrochener, kranker Mensch an solchem Orte? Man führte sie in ein kleines Sprechzimmer neben dem Salon. Kurz darauf trat Mrs. Wenham ein, blickte ärgerlich drein, trat näher und fragte in einem Tone eisiger Verachtung: »Nun?«

Sie war in Balltoilette und mit all dem Raffinement, der Eleganz und dem Geschmack gekleidet, die die Gesellschaft von ihren Auserwählten verlangt. Sie war ebenso schlank, wie Barbara, und wünschte, sie wäre ebenso schön. Aber nein! Eine Anmut und unbewußte Süße lag über dem Mädchen, das all den buhlerischen Glanz des andern Weibes in den Schatten stellte. Und die Weltdame sah es, und es gefiel ihr nicht.

»Kennen Sie mich noch, Mrs. Wenham?« stotterte Barbara. »Wir lernten uns vor einigen Jahren in Dublin kennen, und Sie waren so gütig damals.«

Das kalte, strenge Gesicht änderte sich nicht im geringsten. Barbara fühlte, hier war keine Hoffnung.

»Ich hörte, daß mein Bruder Louis manchmal –«

Wie sollte das arme Kind ihre wilden Gedanken in der Sprache der vornehmen Welt ausdrücken können!

»Daß Ihr Bruder Louis – manchmal?« wiederholte Mrs. Wenham langsam.

»Er verkehrte hier manchmal,« meinte Barbara, »dank Ihrer großen Güte. Und er ist verloren – er ist verloren – o, liebe, gute Mrs. Wenham, er ist verloren! Er ist heute abend ausgegangen, und wir wissen nicht wohin. Ach! Wenn Sie mir sagen könnten – – er ist so krank, so nahe dem Tode; ach, und seine Seele, seine Seele! Er ist nicht vorbereitet auf das Gericht.«

Die Weltdame wurde bleich. Sie hatte dieses Mädchen hochmütig, ärgerlich und verächtlich wieder wegschicken wollen. Aber diese Worte machten ihren Entschluß irre. Solche Worte hatte sie noch nie gehört. Diese schrecklichen Dinge wurden von ihr ferngehalten wie ansteckende Krankheiten. Was hatte sie auch damit zu tun? Die waren für die Armen und Gemeinen – für die Hausmagd oder den Diener, aber nicht für sie. Die waren für das Proletariat, für die Arbeiter und Bauern, zum gerechten Lohn für ihre Missetaten; nicht aber für die parfümierten und frisierten Lieblinge Fortunas. Und dieses junge Mädchen da mit dem bleichen, schönen Gesichte, der runden, ruhigen Stirne und den seelenvollen Augen maßte sich an, diese greulichen Gespenster heraufzubeschwören.

»Ich weiß nichts von Ihrem Bruder, mein liebes Mädchen, und muß Ihnen Gute Nacht sagen.«

Und sie klingelte. Barbara verschwand in der Dunkelheit, aber die Gespenster blieben. Und während die vornehme Dame im Ballzimmer herumtanzte, stöhnte die abscheuliche Musik, besonders das tiefe, feierliche Cello, in einem fort: Tod! Gericht! Tod! Gericht! Es war ein neuer Walzer, frisch importiert aus dem Reiche der Ewigkeit.

»Es hilft alles nichts, Vater! Ich muß Louis jetzt allein suchen.«

»Ich kann Sie doch nicht hier auf den Londoner Straßen lassen,« erwiderte Vater Sheldon entschieden.

Aber sie bestand darauf. Und die Droschke rollte weg und ließ Barbara allein auf dem Pflaster zurück. Sie blickte um sich auf dem öden Platze, der um so verlassener schien, je mehr er beleuchtet war. Aller Glanz, alle Schönheit, alles Licht und alle Bequemlichkeit taten ihr weh in diesem Augenblick. Sie warf einen Blick nach oben und seufzte: »Wohin nun, o mein Gott?«

Es war schrecklich. Es war ein Nachtgang durch die Hölle. Dunkle Gestalten tauchten aus der Finsternis auf, starrten sie an, murmelten etwas und verschwanden wieder. Rohe Männer pfiffen ihr ins Gesicht und riefen ihr Dinge zu, die schrecklich sein mußten, die sie aber, gottlob! nicht verstand. Wieder und wieder leuchtete ihr ein Polizist mit der Laterne ins Gesicht und murmelte etwas vor sich hin. Und weiter, immer weiter, taumelte sie, denn sie wurde jetzt schwach und mußte sich von Zeit zu Zeit an einen Laternenpfahl lehnen, um nicht hinzusinken. Dann ging es wieder weiter in die Dunkelheit hinein, wieder in die Helle einer Gaslampe, dann wieder in die Dunkelheit. Ein paarmal hatte sie Vorübergehende angeredet und gefragt, ob sie Louis nicht gesehen hätten; als man ihr aber stets in rauhem Tone und mit Flüchen antwortete, stellte sie auch keine Fragen mehr. Und weiter, immer weiter ging sie, in der unbestimmten Hoffnung, Louis sei irgendwo in der Nähe, und sie müsse ihn finden. Aber die Natur forderte ihr Recht, und sie mußte sich zuletzt auf einen Randstein setzen, um auszuruhen. Sie verfiel in einen unruhigen Schlaf, in dem sie plötzlich ihren Namen rufen hörte. Sie horchte in die Nacht hinaus und schaute um sich. Sie hörte einen mächtigen Fluß in der Finsternis unter ihr dahinrauschen und auf seinen Wogen eine dunkle Gestalt mitreißen. Sie streckte ihre Hände hilflos in die trüben Wasser und ein Schimmer weißer Haare floß auf die Wellen zurück. Noch einmal erklang aus der Nacht ihr Name, dann erwachte sie, ganz steif vor Kälte. Sie erhob sich und taumelte weiter. Ihre Hände suchten nach Hilfe. Sie faßte nach dem eisernen Gitter, das an einem großen Gebäude entlang lief und griff sich von Eisenstange zu Eisenstange ihren Weg. So kam sie zu einem Eingang. Er stand offen. Und hoch zum sternenerhellten Himmel ragten die Doppeltürme einer Kirche. Sie taumelte gegen eine Tür und drückte. Sie öffnete sich nach innen, und Barbara war in der Kirche. Ein schwacher Duft von Weihrauch belebte sie wieder etwas. Dann setzte sie sich nieder, vorn, unter dem ewigen Licht. Ach! Es war nicht die Ruhe, die sie so lange Jahre in der unaussprechlichen Gegenwart des Allerhöchsten verkostet! Nein, es war eine große Krisis in ihrem Leben; und die Stimme rief wieder aus dem Dunkel der Nacht. Sie erhob sich und trat zum Altar unserer lieben Frau und betete da für ihres Bruders Seele, wie sie nie noch gebetet. Und wie sie flehte, da traf sie ein Licht – ein Gedanke so schrecklich, so abstoßend, daß sie vor der entsetzlichen Eingebung zurückbebte. Der Unsichtbare hatte sie aufgefordert, für die geliebte Seele ein Opfer zu bringen. Aber solch ein Opfer, großer Gott! Es war zu schrecklich! Sie bebte voll des Entsetzens davor zurück. Aber die Stimme rief immer noch aus dem Schoße der Nacht. Eine Seele, die Seele des geliebten Bruders stand auf dem Spiele! Wieder betete sie. Und wieder sprach der Unsichtbare. Und wieder weigerte sich die arme Seele. Alles andere, alles andere, nur nicht das! Aber die Stimme aus der Nacht rief drängender. Da gab es keine Zeit mehr zu verlieren. Sie erhob sich und bereitete sich zum Opfer vor; dann trat sie vor den Hochaltar und seinen Tabernakel. Einmal, zweimal versuchte sie ihr Gelübde auszusprechen und es gelang ihr nicht. Das schwache Fleisch protestierte immer noch gegen eine göttliche Eingebung und einen göttlichen Beschluß. Aber jetzt war jeder Augenblick kostbar. Und in einer plötzlichen Aufwallung göttlicher Selbstverleugnung breitete sie ihre Arme aus und sprach die inhaltsschweren Worte, die ihre Verurteilung und die Erlösung ihres Bruders in sich schlossen. Kaum jemals noch war ein solches Gelübde höchster Selbstaufopferung über menschliche Lippen gedrungen.

Neue, wunderbare Kraft durchströmte sie jetzt. Sie zog ruhig ihre Handschuhe an, und ohne Zittern hob sie ruhig ihren Rosenkranz und Schirm auf, beugte ruhig ihre Kniee und trat wieder in die Nacht hinaus. In der Dunkelheit stieß sie an eine Person und bat demütig um Verzeihung.

»Yerra, das ist nicht nötig,« sagte eine Stimme in unverkennbar irischem Dialekt, »Sie haben mir nicht sehr wehe getan.«

»Gott sei Dank,« gab Barbara zurück. »Sie sind gewiß ein Irländer.«

»Muß wohl so sein, denn mein Vater und meine Mutter waren's schon vor mir. Aber, Begor, ich glaube allmählich, daß ich ein Mixtum compositum aller verschrobenen Leute der Welt bin, und das will viel heißen.«

»Gott und die heilige Jungfrau haben Sie mir gesandt,« entgegnete Barbara, die fühlte, daß er das Werkzeug des Allerhöchsten in der Vollführung seines Teiles des Versprochenen war.

»Seit langem habe ich dies Wort nicht mehr gehört,« erwiderte der Polizist und nahm seinen Helm ab. »Was haben Sie denn auf dem Herzen?«

Barbara erzählte ihm sofort ohne Umschweife ihre ganze Geschichte.

Sie klang so wunderbar, so unglaublich, daß seine Zweifel wach wurden. Er hielt viel auf seine Erfahrungen als Detektiv und wollte sich nicht so leicht fangen lassen.

»Kommen Sie näher her zum Laternenlicht,« sagte er, sie sanft, aber fest am Arm haltend.

Doch etwas in dem lieblichen Antlitze des Mädchens zerstreute rasch seine Befürchtung. Er ließ Barbaras Arm hastig los, setzte seinen Helm auf und meinte unterwürfig: »Ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung, Miß. Ich wußte nicht, daß Sie eine Dame seien.«

»Macht nichts. Aber bitte, helfen Sie mir. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Gott hat Sie mir gesandt.«

Er setzte sein Pfeifchen an den Mund, und auf die schrille Aufforderung erschien sofort ein zweiter Polizist. Diesem flüsterte er ein paar Worte zu und forderte dann Barbara auf: »Kommen Sie!«

Er führte sie durch eine Hauptstraße in ein kleines Gäßchen, das zur Themse hinabführte, denn ein kalter Luftzug zog herauf und kühlte Barbaras brennende Stirne. Dann nochmals eine Straßenbiegung, und sie traten in ein Polizeiamt.

Der Inspektor saß stumm an einem Schreibtisch und brütete über einer Masse von Papieren. Eine Gaslampe flammte über ihm. Er blickte schweigend dem Polizisten entgegen, und hörte dann dessen umständlichen Bericht an. Im Flüstertone schloß der, damit Barbara es nicht hören konnte: »Begor, das ist aber, als ob man eine Stecknadel in einem Strohbündel suchte.«

»Broderick, Sie sind ein Narr,« sagte der Inspektor zu seinem Landsmann, denn er war auch aus dem grünen Eiland: »Gehen Sie in die Küche und holen Sie der Dame etwas Tee, und zwar rasch.«

Als Barbara sich erfrischt hatte, war sie sicher, daß Gott sein Versprechen getreulich erfülle, wenn er auch einen solch fürchterlichen Preis von ihr verlangt hatte. Der Inspektor wartete bereits in Hut und Handschuhen auf sie, und eine Droschke hielt vor der Türe. Er hob Barbara sanft hinein und folgte dann selber.

»Wohin fahren wir?« fragte Barbara.

»Zur dritten der drei Oertlichkeiten, die Ihr Bruder zu besuchen pflegte. Sagten Sie dem Narren von Polizisten nicht, es sei dies eine Opiumhöhle?«

»Gewiß,« gab Barbara zurück, die sich wunderte, daß sie nicht selber auf die Idee gekommen war.

»Und Albemarle Buildings, Viktoria Street, war Ihres Bruders Adresse?«

»Gewiß, gewiß.«

»Dann ist er nicht weit von Albemarle Buildings,« erwiderte der Beamte. Dann schwieg er. Barbara nahm ihren Rosenkranz heraus, und betete leise vor sich hin.

Sie gelangten rasch zur Viktoria-Road Station, durchfuhren ein paar enge Straßen und hielten plötzlich an. Der Beamte sprang aus dem Wagen und trat in ein großes Gebäude, kam aber sofort wieder mit einem anderen Beamten heraus. Sie berieten sich miteinander. Barbara beobachtete sie eifrig. Hierauf ein hastiger Befehl an den Kutscher, und weiter ging's. Dann, nach ein paar scharfen Wendungen, hielten sie vor einem langen, niedrigen Schuppen.

»Ihr Bruder befindet sich wahrscheinlich hier,« sagte der Inspektor; »aber wie soll ich ihn erkennen?«

»Ich werde Sie begleiten,« entgegnete Barbara.

»Nein, nein; das ist kein Ort für eine Dame. Sagen Sie mir, wie er aussieht und geben Sie mir einige Charakteristika an. Wenn er hier ist, finde ich ihn dann sicher.«

Aber Barbara fürchtete aus dem einen oder anderen Grunde für ihren geliebten Bruder und bestand darauf, mitgenommen zu werden. Der Beamte gab ihr seinen Arm bis zur Tür hin, die sehr niedrig, eng und schäbig war und sich nirgends zu öffnen schien. Er drückte und sie gab nach. In der Dunkelheit tasteten sie sich zu einem schweren Vorhange hin, der das Licht abhielt, und schoben ihn beiseite. Sie waren in der Opiumhöhle. Eine schwere Wolke, dicht beladen mit den unheilschwangeren Dünsten des Opiums, hing dick und schwarz an der Decke; und ihr Niederschlag, der zu schwer für die Atmosphäre war, strömte herab und bedeckte den Boden. Bleiche Lampen durchschienen den Raum und erhellten ihn kaum; die betäubten Opfer des tödlichen Giftes aber lagen in häßlichen und abscheulichen Stellungen auf schmutzigen Matratzen. Einige lagen da wie Holzblöcke; andere hatten noch so viel Besinnung, ihre schweren Augenlider zu heben und wie leblose Bilder auf die Eindringlinge zu starren. Manche waren erst im Begriffe, sich zu berauschen, und rauchten gemächlich. Es war ein gräßlicher Anblick, und Barbara hielt sich dicht an den Beamten, als sie die Halle durchschritten, während ihre Augen ängstlich und zugleich neugierig von einem Opfer der traurigen Leidenschaft zum andern wanderten, in der Hoffnung, sie möchte endlich den Gesuchten entdecken.

Sie waren schon ans andere Ende des Raumes gekommen und wieder umgekehrt, um die Träumer auf der andern Seite in Augenschein zu nehmen, als eine Gestalt, die unter den auf ihr liegenden Genossen fast begraben war, sich hilflos und mühsam umwandte und etwas hervormurmelte. Barbara blieb stehen, erfaßte den Arm des Beamten und zeigte auf einen der Daliegenden.

Der Inspektor schob eine oder zwei der hilflosen Gestalten zur Seite, und da lag nun in einem Zustande gänzlicher Ohnmacht – Louis Wilson. In einem Augenblick lag Barbara auf den Knien neben ihrem Bruder, streichelte und liebkoste ihn in der traurigen Furcht oder Hoffnung – lebt er noch?

»Das ist er,« sagte sie. »Wie bringen wir ihn fort?«

Sie hoben die leblose Gestalt auf und zogen sie mit großer Anstrengung zu dem Vorhang des Ausganges hin. Hier trat ihnen jemand entgegen.

»Holla, was soll das bedeuten?«

Aber der Beamte stieß den Burschen beiseite; dann folgte er ihm und nach ein paar Worten kam der Kerl wieder zurück und befreite Barbara von ihrer Last. Die beiden Männer hoben die leblose Gestalt in die Droschke, und heim ging's im Fluge.

Im grauen Morgendämmer standen zwei ängstlich beobachtende Gestalten an Louis Wilsons Bett und warteten auf ein Zeichen des wiederkehrenden Bewußtseins. Der Arzt hatte ein kräftiges Belebungsmittel verordnet, das, wenn es wirkte, den Bewußtlosen nochmals teilweise zu sich bringen mußte. Aber das Herz des Kranken war zu sehr geschwächt, und es war keine Aussicht auf Besserung vorhanden. Barbara war ganz ruhig in ihrem Innern. Sie wußte, daß der Ewige sein Versprechen halten würde. Nicht so Vater Sheldon. Er wußte nichts von dem furchtbaren Pakt, den das junge Mädchen mit ihrem Gotte geschlossen hatte. Er sah nur mit menschlichen Augen und urteilte mit menschlicher Vernunft. Aber er war Priester, und die Seele da vor ihm war in Gefahr. Und so kniete er nieder und betete, saß oder spazierte auf und ab, nur auf das eine achtend, ob nicht ein schwacher Lichtstrahl die Rückkehr der Vernunft in diesen leblosen Körper andeutete. Er hatte zwar alles getan, wozu ihn die Kirche unter solchen fürchterlichen Umständen autorisierte; aber teilweise dieser unsterblichen Seele wegen, teilweise des Trostes halber, den es der frommen Schwester gewähren würde, betete und wünschte er, es möchte wenigstens ein Akt der Reue vom bewußten Verstande vollbracht werden, ehe er vor Gottes Richterstuhl stände. Das Dämmer wurde zum hellen Tage, und der Lärm des Verkehrs in den Straßen war erwacht. Barbara hatte das Zimmer auf einen Augenblick verlassen, als der Kranke erwachte – langsam erwachte, schwach und unmerklich zu sich kam, und auf das Fenster und das sich über ihn beugende Antlitz starrte.

»Barbara,« seufzte er voller Qual.

»Barbara ist hier,« sagte Vater Sheldon, »und wird entzückt sein, daß Sie zu sich gekommen sind.«

»Warum sind Sie hier?«

»Weil Sie in Gefahr sind, und ich ein Priester bin.«

»O, ich erinnere mich jetzt. Ich hatte einen Traum. Ich glaubte, ich wäre weit fort, in der Schweiz oder sonstwo. Und da sah ich eine Bühne mit Beleuchtung und eine Tragödie. Und wir kamen heim, und Sie waren so gütig.«

»Sagen Sie mir, Mr. Wilson, haben Sie etwas dagegen, Ihren Frieden mit Gott zu schließen und die Sakramente der Kirche zu empfangen?«

»Nicht das geringste. Aber Barbara muß hier sein. Ich würde ihr gerne beichten; ihr könnte ich ja alles sagen.«

Das ging aber nicht an, und so tat er das nächstbeste. Er beichtete und wurde absolviert. Und als Barbara wieder ins Zimmer trat und den Kerzenschimmer, die Stola um des Priesters Nacken, und das Licht der Vernunft in Augen aufdämmern sah, die bis jetzt in die Abgründe gespensterhafter Phantome gestarrt hatten, da warf sie sich in stummem Danke für Gottes mächtige Gnade auf ihre Knie nieder. Und dann wurde ihr Frauenherz traurig bei dem Gedanken: Ja, wahrlich verlangt er sein Opfer, wie er auch so sichtbar das Wunder seiner Liebe gewirkt hat. Ja, Herr, es sei so! Wer bin ich, um der Absicht des Allerhöchsten entgegen zu handeln?

Und so war der hochwürdige Herr Lukas Delmege schwer enttäuscht, als er bei seiner Ankunft in Euston-Station, wo er mit seinem schweren Gepäck von Büchern u. s. w. sehr pünktlich für den ½9 Uhr Zug eingetroffen war, sich allein sah. Ungeduldig schritt er am Perron auf und ab und schaute eifrig nach allen Reisenden, die einem Cab oder einer Droschke entstiegen. Da läutete es zum letztenmale für den Zug. Es blieb ihm daher nichts anderes übrig, als seinen Platz im Coupé einzunehmen. Denn ach! Der eine seiner erwarteten Mitreisenden schlief bereits ruhig im Highgate Friedhof, und die andere sollte er erst nach vielen Jahren wiedersehen.

»Es hilft alles nichts,« murmelte Lukas, »unsern Landsleuten etwas lehren zu wollen. Selbst die Besten schwingen sich nicht dazu auf, die Notwendigkeit der Pünktlichkeit zu würdigen.«


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