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XXV.
Altruismus

Doktor Wilson befand sich am folgenden Morgen in seinem Studierzimmer, als ein Besuch angemeldet wurde.

»Ein Geistlicher?«

Doktor Wilson zuckte die Achseln. »Führen Sie ihn herein!«

Als Lukas das Zimmer in einer ruhigen, ungezwungenen Weise betrat, begann folgendes Verhör mit ihm. Man bat ihn nicht einmal, Platz zu nehmen.

»Ihr Name, bitte?«

Lukas nannte ihn langsam und deutlich.

»Pfarrer oder Kaplan?«

»Keines von beiden.«

»Weltgeistlicher oder Ordensmann?«

»Ich habe Sie nicht aufgesucht, um Ihre ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen,« antwortete jetzt Lukas. »Ich bin eben aus England angekommen. Wenn ich Ihre Dienste brauchen würde, bezahlte ich sie und ließe mich nicht so ausfragen.«

»O, bitte um Entschuldigung. Ich wußte wirklich nicht – wollen Sie sich nicht setzen, bitte?«

»Ich kannte Mr. Wilson und seine Schwester oberflächlich in England. Wir reisten miteinander von der Schweiz nach London, und hatten vereinbart, gestern zusammen Euston-Station zu verlassen. Die beiden haben nun die Verabredung nicht eingehalten, und ich spreche jetzt bei Ihnen vor, um mich zu vergewissern, ob sie nichts von Wichtigkeit verhindert hat, mitzukommen.«

»Dann wissen Sie also weiter nichts?« fragte der Doktor, Lukas scharf beobachtend.

»Absolut gar nichts.«

»Ich erinnere mich jetzt, daß Ihr Name häufig in Barbaras Briefen erwähnt war, namentlich in den letzten. Dann wissen Sie also noch nicht, daß mein Sohn tot ist?«

Lukas schrak zusammen, obgleich er es hatte erwarten können.

»Ja,« fuhr der Doktor fort, »mein Sohn ist tot. Und seine Schwester hat uns geschrieben, daß auch sie für uns und die Welt tot ist – daß sie in ein Kloster getreten ist.«

»Sie überraschen mich sehr. Wie ich hörte, sollten ja beide zurückkehren und bei ihrem Onkel, Kanonikus Murray, bleiben. Ich dachte, wenigstens Miß Wilson würde heimkehren –«

»Natürlich, Sir. Und nach dem gewöhnlichen und natürlichen Laufe der Dinge sollte sie auch zurückgekommen sein. Und ich sage Ihnen, Sir, die unnatürliche und ungehörige Trennung der Familienbande ist es, die so viele Leute gegen die Kirche einnimmt.«

»Ich bin nicht der Wächter von Miß Wilsons Gewissen. Sie hat jedenfalls ihre guten Gründe für ihre Handlungsweise. Sie schien mir wenigstens eines der liebreichsten und aufopferndsten Wesen zu sein, die ich je sah.«

»Das ist ja das Betrübende an der Sache. Wenn sie wertlos wäre, oder zur Last fallen könnte, würden die Klöster nichts von ihr wissen wollen.«

»Ich will diese Frage nicht näher erörtern. Es gibt viele Umstände im Leben, die junge Leute zum religiösen Leben hinleiten. In welches Kloster oder welchen Orden ist denn Miß Wilson eingetreten?«

»Das weiß ich nicht. Sie darf das nicht einmal ihrem Vater sagen. Sie schreibt einfach, sie sei tot für die Welt und wünsche, vergessen zu sein. Das ist alles.«

»Das heißt, sie ist wohl Klarissin oder Karmeliterin geworden. Das sind strenge Orden und beobachten die schärfste Abschließung von der Welt.«

»Ich weiß es nicht. Sie haben ihr jedenfalls gesagt, so an mich zu schreiben. Sie fürchteten von meiner väterlichen Autorität, ich möchte sie wieder zurückholen. Und beim Himmel!« schrie der Doktor und schlug mit der Hand auf den Tisch, »ich will es auch.«

Dann brach der starke Mann zusammen.

»Ich kümmerte mich nicht darum, was diesem Jungen passierte – jetzt ist er ja tot – aber mein Herz hing an dem Mädchen. Und denken müssen – sie habe mir in meinem Alter den Rücken gewendet –«

»Es ist das gewöhnliche Los der Familien, getrennt zu werden,« entgegnete Lukas gütig. »Miß Wilson könnte geheiratet haben und nach Indien gegangen sein, und Sie hätten sie niemals wiedersehen können.«

»Wohl! Wohl! Doch verlassen wir den Gegenstand. Wollen Sie Lady Wilson sprechen? Sie wird alles über die letzte Reise in die Schweiz hören wollen.«

Lukas blieb lange im Salon der Lady Wilson und mußte jede Kleinigkeit berichten, um die Gefühle der Mutter zu beruhigen. Aber immer wieder, wenn er die Tugenden der Schwester loben wollte, unterbrach ihn die ungeduldige Mutter und ließ ihn seine Abschweifung nicht vollenden. Louis! Louis! Nur von ihm allein wollte sie etwas hören.

Der entzückende Altruismus des irischen Charakters drängte sich ihm plötzlich beim Lunch im Frühstückssaal des Montrouge-Hotels auf. Während er seine Hände im anstoßenden Raume wusch, redete ihn ein großer, schlanker, bärtiger Mann an, der in Hemdsärmeln seine Waschungen sehr demonstrativ vornahm.

»Schöner Tag heute. Nicht, Sir?«

»Jawohl. Nur etwas kalt für Oktober.«

»Ah! Ich sehe, Sie kommen über den Kanal herüber. Ich habe die größte Achtung vor dem englischen Charakter, Sir! Ich sage immer, wir haben viel von unsern Nachbarn zu lernen. Sie kommen wohl, um Irland kennen zu lernen? Sie werden entzückt und enttäuscht sein. Sie gehen natürlich nach Süden, nach Killarney?«

»Jawohl. Ich gehe nach Süden,« erwiderte Lukas, den diese Vertraulichkeit verletzte. »Ich bin irischer Priester.«

»O, ich bitte Ew. Hochwürden um Verzeihung,« erwiderte der andere und verfiel sofort in den heimischen Dialekt. »Begor, wir kennen unsere Priester nicht von den anglikanischen Pfarrern auseinander. Sie tragen alle die gleiche Kleidung.«

»Ein Ire hält sie immer auseinander,« bemerkte Lukas.

»Sicher! Sicher! Nun, so oft ich nach England komme, gehe ich stets nach Sandringham. Ich habe eine ständige Einladung vom Prinzen von Wales, bei ihm einzukehren, so oft ich nach England komme. ›Drahte mir, Fitzgerald‹, sagte er, ›und ich werde dich mit meinem Wagen abholen lassen. Nur keine Umstände! Eine Gefälligkeit ist der andern wert.‹ Wollen Sie hier das Lunch einnehmen, Hochwürden? Sie bekommen es so gut, wie nur irgendwo in der Stadt. Aber verlangen Sie den Anschnitt des Lendenbratens. Sagen Sie nur, Fitzgerald habe es Ihnen empfohlen.«

Lukas war verschwunden. Er fürchtete, die stehende Einladung möchte von ihm selbst erwartet werden.

»Was kann ich zum Lunch haben?« fragte er den Kellner.

Der Kellner schnellte die Serviette über die linke Schulter, stützte seine beiden Hände auf den Tisch und fragte vertraulich:

»Nun, und was möchten Ew. Hochwürden essen? Ich denke, Sie reisen zum Besten Ihrer Gesundheit und wollen etwas Gutes haben?«

»Gewiß. Dann bringen Sie mir also ein Stück Roastbeef, aber den Anschnitt, nicht wahr?«

»Begor, das ist uns gerade ausgegangen. Vor einigen Minuten war eine Gesellschaft Herren da, die nur mehr die Knochen übrig ließ.«

»Nun gut, also etwas anderes. Haben Sie Hammelbraten oder Geflügel?«

»Das hatten wir gestern. Heute ist der Tag für Roastbeef.«

»Das merke ich. Ich muß mich aber beeilen, damit ich den Zug rechtzeitig erreiche. Bringen Sie mir sonst etwas Gebratenes.«

»Ganz recht. Also sagen wir Cotelettes. Eins oder zwei?«

»Zwei. Und etwas Gemüse.«

»Und was wollen Sie dazu trinken?«

»Wasser!«

Der Kellner richtete sich in die Höhe, rieb sein Kinn und starrte Lukas nachdenklich an. Dann ging er in die Küche.

»Kann ich noch einen zweiten Gang haben?« fragte Lukas.

»Gewiß, Hochwürden! Alles, was Sie wollen!«

»Haben Sie eingedünstete Früchte?«

»Soviel Sie wollen, Ew. Hochwürden! Aber wünschen Sie wirklich nichts zu trinken? Es ist kalt heute, und Sie haben doch eine lange Reise vor Ihnen?«

»Ich will eine Tasse Kaffee nach dem Essen haben. Ist das das Obst?«

»Jawohl, hochwürdiger Herr! Gerade fertig gedünstet.«

»Was ist das für Obst?«

»Meiner Treu, Hochwürden, das weiß ich selber nicht recht. Ich will einmal den Koch fragen.«

»Lassen Sie nur gehen! Es ist schon recht.«

Aber der gute Kellner bestand darauf und kam in einigen Minuten mit einer mächtigen Portion Reispudding wieder.

»Da, Hochwürden!« rief er. »Essen Sie das! Ich habe dem Koch etwas geschmeichelt und ihn herumgekriegt. Das ist etwas Gutes für Sie. Lassen Sie die Dinger gehen!«

Und er nahm das Eingedünstete verächtlich weg. Lukas gab ihm ein Pfund Sterling in Gold. Er fiel fast in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, trat er ans Fenster, wo Lukas ihn ruhig beobachtete, und hielt das Goldstück ans Licht. Dann schielte er mißtrauisch zu Lukas hin. Nochmals untersuchte er die Münze und warf sie dann auf die Tischplatte hin. Dann biß er sie und warf sie wieder hin. Schließlich verschwand er in die Küche.

»Sie haben wohl an der Echtheit des Goldstücks gezweifelt?« fragte Lukas, als der Kellner mit dem gewechselten Gelde wieder auftauchte.

»Ich, Hochwürden? Der Teufel soll zweifeln! Ich einen Priester bezweifeln? Nein, Hochwürden! Ich bin zwar ein armer Mann, aber ich kenne meine Religion.«

»Warum haben Sie die Münze aber untersucht, hingeworfen und gebissen?«

»Habe ich das, Hochwürden? O nein! Da sei Gott davor, daß ich mich in der Gegenwart eines Priesters vergesse!«

»Aber ich habe es ja gesehen, wie Sie es taten,« erklärte Lukas, der völlig entschlossen war, eine solche Unaufrichtigkeit nicht ohne Tadel hingehen zu lassen.

»Ach, das ist so eine Untugend, die ich an mir habe,« erwiderte der Kellner. »Sie versuchen zwar immer, sie mir abzugewöhnen, aber sie bringen's nicht fertig. Ich habe sie von meinem Vater – möge der Herr seiner Seele gnädig sein!«

»Amen! Gehen Sie und besorgen Sie mir eine Droschke!«

Lukas saß kaum in einem Wagen zweiter Klasse, als ein reisender Kaufmann einstieg, geschäftig einen Platz aussuchte, große Haufen Gepäckes überall unterbrachte, sich niedersetzte, in eine Reisedecke wickelte und dann eine Zeitung aus der Tasche zog. In wenigen Minuten starrte er über den Rand seines Blattes auf Lukas hinüber. Der aber war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt – Heimweh nach Aylesburgh, Erinnerung an kleine Aufmerksamkeiten, die man ihm erwiesen, schwere Trennungen und kleine Abschiedsgeschenke. Er hob die weiche Reisedecke. Sie war ein Geschenk der Schulkinder. Dann blickte er in die düstere Landschaft hinaus und gedachte seiner Zukunft. Nun, wenigstens würde sein neues Leben den Reiz der Neuheit haben. Und dann war er ja in englischen geistlichen Kreisen nicht gern aufgenommen.

»Guten Abend, Sir! Fahren Sie nach dem Süden?«

Der arme Mann konnte nicht mehr an sich halten. Er hatte Lukas' Aufmerksamkeit in verschiedener Art und Weise auf sich zu lenken gesucht; doch vergebens. Er mußte einen kühnen Versuch machen. Nichts hätte aber Lukas Delmege so ärgern können. Er brauchte Ruhe, um über hundert Dinge nachzudenken; er war an Schweigsamkeit gewöhnt gewesen. Das schroffe Wesen des Dubliner Doktors hatte ihn erregt, ebenso das Benehmen des Kellners. Er hatte in England nichts dergleichen angetroffen; dort war alles glatt, höflich, mechanisch; und da gab es auch keine plötzlichen, unvermittelten Abweichungen von anerkannten Regeln.

Er erwiderte kalt; der Reisende war beleidigt, wickelte sich fester in seine Decke und verdammte die Priester im allgemeinen.

Doch gerade jetzt zeigte sich jene schöne Seite irischer Selbstlosigkeit, die weder Eitelkeit noch Neugierde ist. Eine Dame brachte zwei Kinder in das Coupé und überließ sie auf ihrer langen Fahrt bis ans äußerste Ende von Kerry der Obhut des Schaffners und dem Wohlwollen des Publikums. Das kleine Mädchen, ein Kind von fünf Jahren, streichelte ihre Puppe und schaute auf ihre Mitreisenden. Ihr Bruder legte sich auf die Polster und schlief ein.

»Sie wollen doch wohl nicht sagen,« wandte sich Lukas an den Schaffner, »daß die Mutter dieser Kinder sie ohne Schutz auf eine so weite Reise schickte?«

»O gewiß, Ew. Hochwürden! Sie sind hier so sicher wie in einer Wiege. Sie sind protestantisch,« flüsterte er, wie zur Vorsicht.

Und es war wirklich entzückend, die kleinen Szenen zu beobachten, die sich auf den Stationen abspielten, auf denen der Zug einen Augenblick in seinem raschen Laufe nach dem Süden hielt. Bei jedem Anhalten steckte er seine Mütze und sein bärtiges Gesicht herein, um nach seinen hübschen Pflegebefohlenen zu sehen.

»Nun, wie geht es euch?«

»Sehr gut, danke,« konnte das Kind dann mit lieber Stimme und gewinnendem Lächeln antworten.

»Und wie geht's der Puppe?«

»Sehr gut, danke.«

»Wie heißt sie denn gleich wieder? Ich vergesse immer alles.«

»Bessie Luise. Das ist meine jüngste Puppe, wissen Sie!«

»Natürlich, natürlich! Und es geht euch nichts ab?«

»Nichts, danke!«

»Gut! In Limerick gibt's dann Tee.«

Zwanzig Minuten später begann dasselbe Zwiegespräch wieder von vorne.

»Nun, wie geht's euch?«

»Danke, sehr gut.«

»Und wie geht's der Puppe?«

»Danke, sehr gut.«

»Heißt sie nicht Maria Johanna?«

»Nein! Nein! Das ist Bessie Luise.«

»Natürlich – Bessie Luise! Wo hab' ich doch nur meinen Verstand gehabt? Und hat sie denn geschlafen?«

»Jawohl. Sie schlief den ganzen Weg.«

»Gut. Und euch fehlt nichts?«

»Nichts, danke.«

»Recht. In Limerick bekommen wir dann Tee.«

Aber das Wohlwollen beschränkte sich nicht auf den Schaffner. O nein! Jeder im Coupé, das jetzt voll besetzt war, wurde zum selbsternannten Vormunde der Kinder. Der Knabe muß bei seiner Ankunft daheim vierzehn Tage lang krank gewesen sein, so wurde er mit Kuchen und Obst vollgestopft. Selbst Lukas taute aus seinen eisigen englischen Umgangsformen etwas auf und setzte sich neben das kleine Mädchen. Sie berichtete ihm wunderbare Dinge über die kleine Puppe und zeigte ihm ihre ganze Ausstattung mit Einschluß eines Spitzenrockes, den, wie sie sagte, Papa in seinen Kindertagen trug. Sie nannte ihm die Namen von Blumen am Wege und legte den Ponys, die vor dem heranbrausenden Zuge ausrissen, seltsame Namen bei. Er war halb eifersüchtig, als der struppige Schaffner erschien und das Kind ihren Freund anlächelte. Und dann ging es wieder da capo:

»Wie geht es euch?«

»Sehr gut, danke.«

»Und wie geht's der Puppe?«

»Sehr gut, danke.«

»Sie heißt Marianna Katharina, nicht wahr?«

»O nein! nein! nein! Bessie Luise!«

»Natürlich, natürlich! Und es fehlt euch nichts?«

»Nichts, danke!«

»Gut. Wir haben Tee in Limerick bestellt.«

Dieser »Tee in Limerick« war eine wundervolle Zeremonie. Jeder – Schaffner, Dienstmänner, Reisende – nahm Interesse daran. Und als der junge Kellner, in enganliegender brauner Uniform und mit einer Reihe glänzender Metallknöpfe vom Kopf bis zu den Füßen, das Teebrett mit seinem dampfenden Inhalt brachte, da gab es fast einen Jubelschrei. Niemals gab es in den Vorzimmern der Großen soviel freiwillige, improvisierte Amateur-Aufwärter wie hier. Ein Gutsbesitzer, der ein Stück Kieselstein statt des Herzens in der Brust trug, ein militärischer Eisenfresser, der Hunderte von Feinden im Himalaya schon niedergesäbelt hatte – sogar ein Advokat boten freiwillig ihre Dienste an. Lukas wurde von der jungen Kaiserin erwählt; doch ließ er an seinem Ehrenamt auch andere teilnehmen und erlaubte dem Gutsbesitzer, Butter aufs Brot zu streichen, und dem Advokaten, den Tee auszugießen. Dem kühnen sabreur aber gab er Bessie Luise in Verwahrung. Und weiter ging der Zug, und das Kind aß und lachte, und lächelte über diese Verehrer ihrer unbewußten Reize, bis sie zur nächsten Umsteigestation kamen, wo sie sie mit königlicher Huld entließ.

Lukas mußte noch bleiben. Seine kleine Pflegebefohlene schrie vor Freude fast auf, als er es ihr sagte. Und dann fiel sie rasch in Schlaf. Halb träumend, halb bewußt, immer mit einem Lächeln auf den Lippen lag sie da, in die warme Reisedecke eingehüllt, die Lukas ihr umgelegt hatte. Ihr Köpfchen ruhte auf seinem Arm und er beobachtete, wie die Dämmerung stets tiefere Schatten über ihr lächelndes Antlitz warf. Ein- oder zweimal versuchte er, sein Brevier zu beten; aber er vermochte es nicht. Er legte es dann wieder weg.

»Gott wird mir nicht zürnen darob,« murmelte er. »Der Schatten seiner mächtigen Schwingen umhüllt uns, und er hat seinen Engeln befohlen, uns auf allen unsern Wegen zu behüten.«

Und Lukas schlief dann selber ein, während das Kind auf seinem Arm ruhte. Spät abends langte er zuhause an und wurde herzlich willkommen geheißen.

Am nächsten Tage sprach Lukas beim Kanonikus vor. Der gute, alte Mann schaute recht gebeugt und gealtert aus.

»Wissen Sie etwas Genaueres über – hm – Barbara, Miß Wilson?« fragte er.

»Nein, ihr Vater sagte mir, sie sei in ein Kloster eingetreten.«

»Ganz richtig! Ich zweifle nicht, daß sie es da zu einer verantwortungsvollen und – hm – geachteten Stellung bringen wird.«

»Ich denke, Miß Wilson hat Ihnen geschrieben und ihre Gründe, die sie zum Eintritt ins Kloster bewogen, des Genaueren dargelegt?«

»Hm ja! Aber sie hat sich nicht auf Details eingelassen. Ich hoffe, sie schreibt nochmals.«

Auch der Kanonikus war ärgerlich. Er konnte keine Ursache für eine solche Heimlichkeit und Hast entdecken.

»Wie ich höre, kann – hm – in England eine junge Dame, die gute Verbindungen und hohen Verstand besitzt, es zu einer – hm – sehr hohen Würde bringen?«

»Gewiß! Bei den Karmeliterinnen im alten Kloster zu Lanherne hat die ehrwürdige Mutter den Rang einer Aebtissin mit Mitra. Wenigstens,« fügte Lukas sich verbessernd hinzu, »hat sie einen Krummstab, und das soll soviel sein wie eine Mitra.«

»Dann glauben Sie mir, Sir,« entgegnete der Kanonikus, »daß die Klostergemeinde Barbara, sobald sie deren Tugenden und Fähigkeiten erkannt hat, zu der höchsten Würde erheben wird, die sie zu verleihen hat.«

Es entstand eine minutenlange Pause.

»Und Sie sind heimgekehrt, um in ihrer Heimatdiözese – hm – weiterzuwirken?« fragte der Kanonikus.

»Jawohl, Sir. Ich hoffte allerdings, meine Dienste der katholischen Sache in England widmen zu können, aber man hat anders entschieden. Ich stehe eben im Begriffe, den Bischof über meine Zukunft zu befragen.«

»Nehmen Sie dann, bitte, doch einen Brief von mir an seine Lordschaft mit. Ich würde es sehr gerne sehen, wenn ich Sie – hm – hier behalten könnte; aber Sie wissen, es könnte einen gefährlichen Präzedenzfall –«

»Ich bin Ihnen unendlich verbunden, Sir; doch hoffe ich, früher oder später, irgendwo in der Nähe eine Anstellung zu finden, damit ich Sie öfters besuchen kann.«

Der Bischof war sehr gütig gegen Lukas, als ihm dieser seine Aufwartung machte, und hätte ihn gerne in einer führenden Stellung gesehen; aber alles in Irland, am meisten Kirchenangelegenheiten, ist in eiserne Regeln gezwängt, deren härteste und unerbittlichste Gewohnheit heißt. Lukas erhielt eine Stelle auf dem Lande angewiesen.

»Sie werden sehen, Ihr Pfarrer ist zwar etwas sonderbar, aber er ist ein Heiliger,« hatte seine Lordschaft gesagt.

Lukas besuchte bei dieser Gelegenheit auch Margaret, jetzt Schwester Eulalie geheißen. Sie erschien ihrem Bruder lieblicher denn je in ihrer schönen Klostertracht, die der Herr selber einst für seinen Lieblingsorden vom guten Hirten bestimmt hatte. Margaret war ganz enthusiasmiert von ihrem geliebten Bruder.

»Aber, Lukas, du bist schrecklich verändert. Wo hast du nur diese gewählte Sprache her? Und du bist so steif, so ernst und feierlich, daß ich mich halb vor dir fürchte.«

Ja, Lukas war sehr würdig und feierlich, teils aus natürlichem Antrieb, teils hatte er sich das in England angewöhnt. Margaret erklärte zwar, sie hätte das nicht gern. Aber tief im innern Herzen liebte sie es doch. Und als eine der Schwestern ihr zuflüsterte: »Sie können stolz auf Ihren Bruder sein« – da war sie auch stolz, sehr stolz. Und ein wenig ungehalten auch. Wie konnte der Bischof ihren glorreichen Bruder in eine elende Landpfarrei hinaussenden, die in Mooren und Bergen verloren war, während hier in der Stadt Energie und Beredsamkeit so nötig waren?

»Ich weiß nicht, was über den Bischof gekommen ist,« dachte sie. »Und er sprach sich immer so günstig über Lukas aus.«

»Lieber Lukas,« sagte sie, »du mußt dir nichts daraus machen. Man hat dich dahin geschickt, um eine Zeitlang den Schein zu wahren und keine Eifersucht zu wecken. Es wird kein Jahr anstehen, bis man dich an die Kathedrale versetzt. Gelt, sag', du machst dir nichts daraus?«

»O, ganz und gar nicht,« entgegnete Lukas leichthin. »Ich habe keinen Grund gehabt, etwas Besseres zu erwarten. Wie ich mir das Bett gemacht, muß ich darauf liegen.«

»Nun, das klingt etwas unzufrieden,« sagte Margaret mit ihrer raschen Auffassungsgabe. »Mach' dir doch nichts daraus! Ich denke mir, dieser alte Pfarrherr ist wie der liebe alte Vater Meade!«

»Ist der übrigens mit seiner Londoner Schutzbefohlenen dagewesen?«

»Gewiß! Er bat um Aufnahme für das verirrte Schäflein. Alle Plätze waren aber schon besetzt. Doch er ließ sich nicht abweisen. ›Gott schickte sie,‹ sagte er, ›drum seid bedacht, daß ihr euch nicht gegen seinen Willen auflehnt‹.«

»So etwas habe ich noch nie von einem Priester gesehen,« murmelte Lukas. »Aus Irland nach London eilen und sich ohne alle Vorsicht in die Slums stürzen, um nach einer Verlorenen zu suchen!«

»Das sind aber die Männer, die Berge versetzen,« erwiderte Margaret. Lukas aber hörte das nicht gern.

Dann zog Margaret aus dem Schatz ihrer Handarbeiten verschiedene kleine Gaben – einen Monstranzbehälter, ein kleines Bündel von Korporalien und Kelchtüchern, eine Anzahl von Agnus Deis für die Armen u. s. w. hervor. Lukas nahm die Geschenke halb seufzend entgegen beim Gedanken an das neue Leben, das vor ihm lag. Dann küßte er seine kleine Schwester und nahm Abschied.

Als er ging, wurde es Schwester Eulalie doch ein wenig schwer ums Herz. Es fehlte etwas in diesem vornehmen, großen Charakter.

»Ich bin begierig, ob die Armen ihn lieben werden,« sagte sie. – – –

Lukas verbrachte eine unruhige Nacht. Ob seine Bettdecke zu schwer war, die so gar nicht an die Daunendecke in Aylesburgh gemahnte, oder ob es der dumpfe Geruch im Zimmer war, bei dem man das Gefühl hatte, als ob die Fenster lange Zeit nicht geöffnet worden wären – auf jeden Fall war er ruhelos und aufgeregt. Und als er im grauen Dämmern des Oktobermorgens einen Laut des Stöhnens im anliegenden Zimmer hörte, das sein Pfarrer bewohnte, stand er auf und klopfte in der Befürchtung, der alte Mann sei krank, leise an dessen Türe.

Auf die Antwort: »Herein!« trat er ein. Der alte Mann war vollständig angekleidet und lehnte sich über einen Betstuhl, auf welchem ein großes, schwarzes Kruzifix stand, und wo er seine Seele unter Seufzen und Weinen vor Gott ausschüttete.

»Ich fürchtete, Sir,« stammelte Lukas, »Sie seien krank geworden –«

»Gehen Sie wieder zu Bett, junger Mann, und bleiben Sie dort, bis ich Sie rufe.«

Lukas verließ staunend das Schlafzimmer wieder und schaute auf seine Uhr. Es war gerade fünf Uhr. Ihn schauerte. Aber als er nach dem Frühstück etwas ausging, um die Umgebung seines künftigen Lebens in Augenschein zu nehmen, da stöhnte er laut: »Gütiger Himmel! Es ist wirklich Sibirien, und ich bin ein Verbannter und Gefangener.«

Der Morgen war schön. Ein grauer Nebel hing über Feld und Tal, benetzte die welkenden Blätter und ließ die roten Mehlbeeren, mit denen die ganze Landschaft übersät war, glitzern und schimmern wie Blut. Aber der Nebel konnte die grauen, öden Felder nicht verbergen. Nur hier und dort, inmitten der Oede, waren grüne Oasen, wo ein behäbiger Bauer seinen Wohnsitz hatte; und hier allein durchbrachen ein paar verwitterte Bäume die Eintönigkeit der Landschaft.

»Es ist ein Land des Todes und der Zerstörung,« murmelte Lukas. Als er zurückkehrte, war der alte Herr gerade mit Lesen beschäftigt.

»Habe ich etwas zu tun, Sir?« fragte Lukas.

»Gewiß, ganz gewiß. Sie müssen nach den Ställen sehen, und schauen, wie es dem Pferdchen geht. Der Schlingel von Knecht spart das Armschmalz, ich wette. Und ob das Dach über dem Heu nicht schadhaft ist? Und nachmittags können Sie die Schule in Dorrha drüben besuchen. Ich fürchte, der Lehrer vergnügt sich mit seinem Gehilfen, und die Kinder sind recht vernachlässigt.«

»Wann ist der Lunch?« fragte Lukas.

»Wa–as?« rief erschreckt der Pfarrer.

»Der Lunch, Sir? Wann nimmt man den Lunch ein?«

»Ein solches Ding gibt's hier nicht, junger Mann. Sie bekommen Ihr Diner um drei Uhr und Ihren Tee um acht Uhr, wenn es Ihnen recht ist. Das ist alles.«

»Sehr gut, Sir,« erwiderte Lukas errötend. »Ich wußte das nicht. Ich wollte nur ganz sicher gehen und pünktlich sein.«

»Das braucht Ihnen nicht viel Sorgen zu machen,« sagte der alte Herr. »Wenn wir von etwas hierzulande mehr als genug haben, so ist es Zeit und Wasser.«

Lukas verließ das Zimmer und schaute nach dem Gewünschten. Es war ein trauriger Anblick. Die Mauer, die das Pfarrbesitztum umgab, war an verschiedenen Stellen eingestürzt, und die moosbewachsenen Steine lagen in Haufen am Boden. Ein paar verwitterte Hagedornbüsche, die jetzt mit roten Beeren besetzt waren, wuchsen da und dort. Der Hofraum war mit schmutzigem Stroh bestreut; Gänse, Hennen und Truthühner sprangen herum und pickten die Getreidekörner auf, die man ihnen hingestreut hatte. Im Stalle stampfte der Gaul; aber der Knecht fand sich nirgends. Doch nein, da lehnte er ja gemütlich an einer Hecke, deren Dornen er nicht beachtete, und rauchte in Seelenruhe eine kurze Tonpfeife. Er sah Lukas nicht, denn er träumte gerade. Und es mußte ein sehr schöner Traum sein, denn er nahm von Zeit zu Zeit die Pfeife aus seinem Munde und schnalzte leise. Dann wurde er wieder ernst und selbst zornig, während er die Pfeife in einer Hand wiegte, und mit der andern in der Luft herumfuhr. Mit philosophischer Ruhe rauchte er aber gleich wieder weiter. Es war zwar ewig schade, solche Träumereien zu stören, aber Lukas war unerbittlich. Er hatte die Aufgabe, den irischen Charakter seiner malerischen Unregelmäßigkeit zu entwöhnen, und an seine Stelle die mechanische Eintönigkeit Englands zu setzen. Er sprach es zwar nicht offen aus, aber er hatte die feste, tiefgewurzelte Ueberzeugung, daß in Irland nur eines fehlte, nämlich die Einführung englischer Ideen und Gewohnheiten, – namentlich englische Sparsamkeit, Pünktlichkeit, Vorsicht und Fleiß. Deshalb störte er so gründlich die Träumerei an der Hecke, daß die Pfeife dem Munde des Träumers entfiel und am Boden zerbrach.

»Haben Sie heute morgen nichts zu tun?«

»Jawohl, Hochwürden,« gab der Knecht überrascht zurück.

»Warum geben Sie denn dem Pferde das Schmalz nicht?«

»Welches Schmalz, Hochwürden?«

»Der Pfarrer sagte mir, Sie richten seinen Gaul aus Mangel an Armschmalz zugrunde.«

Der Mann schaute Lukas keck ins Gesicht, fixierte ihn von oben bis unten und lachte im Grunde seines Herzens, wie er noch nie gelacht hatte; laut aber sagte er mit einer Miene übernatürlicher Feierlichkeit:

»Ganz recht, Hochwürden; ich werde gleich danach sehen.«

Der Pfarrer war von der ungewöhnlichen Heiterkeit, die mehrere Tage lang in der Küche herrschte, sehr überrascht; und Ellie, die Untermagd, fand es manchmal schwer, ruhig zu bleiben, wenn sie die Speisen auftrug.

Lukas besuchte auch die Schule in Dorrha. Es war eine ärmliche, kleine Bergschule mit ungefähr siebenzig Schülern. Ein paar zerfetzte Landkarten, die mit der jetzigen politischen Gestaltung der Länder schon längst nicht mehr übereinstimmten, hingen an den Wänden; die Schuluhr ging nicht mehr, und auf einer Tafel waren Hieroglyphen zu sehen, die geometrische Figuren vorstellen sollten. Der Lehrer verbeugte sich tief vor Lukas.

»Wollen Hochwürden eine Klasse vornehmen?«

»Es würde mir Vergnügen machen.«

»Welche belieben Ew. Hochwürden zu examinieren?«

»Das ist mir gleichgültig. Sagen wir einmal die sechste.«

»Die Kinder werden erschreckt sein, Hochwürden,« flüsterte der Lehrer. »Sie haben so viel von Ihnen in der Zeitung gelesen und kennen Ihre Erfolge in Maynooth.«

Hier, im lieben alten, großherzigen Irland wurde also der »erste Preisträger«, der sieben lange Jahre in Schweigen begraben lag, wieder gewürdigt.

Die Kinder schauten auch ängstlich genug drein, besonders, als Lukas ihnen sagte, sie sollten ihre Köpfe aufrecht halten. Ach, das war nicht so leicht, denn das Gewicht siebenhundertjähriger Knechtschaft lastete auf ihnen.

Dann war Lukas auch zu genau.

»Wenn ihr gut lesen wollt,« erklärte er, »so müßt ihr jeden Vokal und jeden Konsonanten deutlich aussprechen. Was hat dieses Schluß-g verbrochen, daß ihr es auslaßt? Ich sehe in diesem Wort kein h, warum sprecht ihr da eines? Setzt euch doch aufrecht hin! Schaut mir gerade ins Gesicht!« usw.

Lukas hielt die Aufgabe, die die Kinder eben zu lernen hatten, für blödsinnig. Sie handelte über politische Oekonomie und war sehr unverständlich. Er warf das Buch weg. Er wollte die Erziehung der Kinder mit einer neuen Methode beginnen.

»Wißt ihr etwas von Gesundheitslehre, Kinder?« Nein. Sie hatten noch nie etwas von der Göttin Hygieia gehört.

»Ich sehe, daß eure Zähne fast alle verdorben sind oder zu faulen anfangen. Wißt ihr, woher das kommt oder wie man das verhindern kann?«

»Vom Zuckerwerk!« erklang es im Chorus.

»Vielleicht ist das die entferntere oder sekundäre Ursache. Die direkte Ursache ist der Mangel an Phosphaten im Blut. Wißt ihr, was Phosphate sind?«

»Jawohl.«

»Nun, was sind Phosphate?«

»Guano – Kunstdünger.«

»Nicht ganz. Ihr verwechselt zwei Dinge.« Und Lukas erklärte die Ernährung der Zähne, und führte aus, daß es absolute Notwendigkeit sei, Tee zu vermeiden und sich von Phosphaten, wie Hafermehl, zu nähren. Er war aber selber ein professioneller Teetrinker.

Bevor noch die Abendglocke läutete, wußte es schon die ganze Pfarrei, daß ein »protestantischer« Pfarrer aus England die Schule besucht und den Kindern die Rückkehr zur Lebensweise der Hungerjahre empfohlen habe.


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