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XXI.
Die Hefe des Volkes

Wir dürfen gegen Lukas Delmege nicht so ungerecht sein, anzunehmen, selbst nicht auf die Anspielung seines guten Pfarrers hin, er kümmere sich um die erste Verpflichtung eines katholischen Priesters – die Sorge um die Armen – gar nicht. Im Gegenteil, er tat sich sogar etwas zu gute darauf, daß er imstande war, mit gleichem Eifer vom Salon zur Küche und vom Schloß zur Hütte zu gehen. Seine Gestalt war den Bewohnern der Primrosegasse wohl bekannt. Denn hier war eine kleine Kolonie Irländer und Italiener bei einander; und hier war die düstere Monotonie englischen Lebens von den malerischen Farben und der dramatischen Abwechslung unterbrochen, die das Erbe katholischer Rassen zu sein scheinen. Manchmal fühlte sich Lukas, bei seiner Bewunderung englischer Sitte und Art, von Unregelmäßigkeiten, die die englische Religion mit dem Banne belegt, freilich nicht wenig abgestoßen. Die großen heidnischen Tugenden der Reinlichkeit und Sparsamkeit wurden da ständig beiseite gesetzt. An ihre Stelle traten Glauben und Frömmigkeit, Begeisterung und Idealismus, die für die prosaische Nachbarschaft rundherum ganz unverständlich waren.

»Eine Familie irischer Hausierer und eine Familie italienischer Orgeldreher,« war die Antwort einer würdevollen Dame auf Lukas' Fragen. »Sie sind sehr schlampig und unordentlich in ihren Gewohnheiten.«

»Die Engländer, Ew. Hochwürden, das sind reine Heiden. Sie gehen in keine Kirche, in keine Messe, keine Versammlung. Sie denken an nichts als ans Essen und Trinken.«

Diese beiden Aeußerungen geben hübsch den Inhalt der Kontroversen zwischen den beiden Rassen wieder, mit denen Sozialpolitiker nicht nur dicke Bände, sondern ganze Bibliotheken angefüllt haben.

Lukas fühlte sich zu der Zeit ganz geschmeichelt, wenn man ihn als Engländer betrachtete; und wenn sein Vaterland verschrieen ward, dann fuhr er nicht mehr in der alten leidenschaftlichen Weise auf, sondern gab die Vorwürfe höflich zu. Und doch liebte er sein Volk aufrichtig und konnte von Mrs. Mulcahy eine Prise Schnupftabak nehmen, und das Banacht Dia beten – das schöne Gebet für die Verstorbenen, das bei einer solchen Gelegenheit in Irland nie vergessen wird. Und er liebte auch seine kleinen Italiener – ihre seltsamen, grotesken Gesten, ihre schöne, flüssige Sprache; er ging sogar so weit, daß er die Bambinos unterhielt und liebkoste und selbst ihren Leierkastenmelodieen Geschmack abgewann. Und ihn schauderte gelegentlich, wenn er eine Schar englischer Mädchen mit ihren weißen, bleichen Gesichtern durchschreiten mußte oder die frechen, musternden Blicke englischer Arbeiter auszuhalten hatte. Im Anfang hatte er auch gelegentliche Spöttereien auszuhalten. – »Ich bekenne Gott dem Allmächtigen« oder »Vater unser«, wenn eine Rotte junger Briten vorbeiging; aber nach und nach wurde er bekannt und diese Flegeleien hörten auf. Aber im Grafschaftsgefängnis wurde er mit dem »untersten Zehntel« recht genau bekannt und gewann viele neue Erfahrungen.

Ein festes Anziehen der Hausglocke, ein höflicher Gruß des Beamten, ein Schlüsselklirren, die mönchische Stille der weiten Halle, die durch eisernes Gitterwerk mit den Stiegen verbunden war, die zu den Gängen führten, von denen aus hinwiederum die Grabestore der Lebenden sich öffneten und schlossen – die Nerven beben bei dem Gedanken, bis sie an die Probe gewöhnt sind. Dann ohne viel Umstände ein Aufschließen der Zellen und Zurückschieben der Riegel – ein ebenso formloses Zuschlagen der schweren Eisentüre, und Lukas ist allein mit dem Gefangenen. Er ist in braunen Baumwollstoff gekleidet und trägt sonst nur noch ein loses Leinentuch um seinen Hals. Sein Name?

»Casabianca. Ist so unschuldig wie ein neugeborenes Kind. War in der französischen Marine. Schiemann. Jawohl. Sah fremden Dienst. Hat ein Weib. (Weint bitterlich.) Und kleine Kinder. (Weint hellauf.) Ist Katholik. Kennt seine Religion gut. Stirbt vor Hunger. Alles ist so gemein. Tat nichts. Wurde eingesperrt, weiß aber nicht, warum; hat sechs Monate Gefängnis.«

Später fand Lukas, daß er nicht ganz so unschuldig war. Er erteilte Lukas viele Lehren im Gefängnisleben; er zeigte ihm, wie man den Hahn herausnimmt, wenn das Wasser in den Röhren abgesperrt ist und wie man durch die leeren Röhren dann eine telephonische Verbindung mit seinem Nachbar herstellt; er zeigte ihm ein neues Telegraphiersystem, indem man mit den Knöcheln an die Wand pocht; er verriet ihm auch verschiedene Schliche, wie man verbotene Werkzeuge versteckt.

Doch gehen wir! Die Glocke ertönt, und Lukas wird in eine andere Zelle geführt. Hier sitzt ein stämmiger Ire, der seiner Verurteilung dafür entgegensieht, daß er in der Trunkenheit ein paar Stiefel sich aneignete, die außen am Laden eines Zeughändlers hingen.

»Sie werden drei Monate dafür bekommen!« sagte ihm Lukas.

»Wahrscheinlich, Hochwürden. Ich kann auch zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt werden. Es ist mein zweites Vergehen, und wenn sie sehen, daß ich ein Ire bin, werde ich sicher zu Zwangsarbeit verdammt.«

»Unmöglich! Das ist ja Unsinn!« erklärte Lukas.

Der Gefangene erhielt wirklich sieben Jahre. Sein kleines Weib aus Kerry fiel in Ohnmacht.

Hier gab es auch Matrosen von Glasgow, Prisley und Liverpool, die sich weigerten, in lecken Schiffen in See zu gehen und ihr Leben mit drei Monaten Gefängnis erkauften.

Lukas war darüber sehr aufgebracht. Der vollendete Mechanismus englischen Vorgehens fing an, ihn zu ekeln. Das war so still, so sanft, so tödlich, so gleichgültig. Er hatte eine heftige Auseinandersetzung mit seinem Pfarrer über die Sache. Und bei den Lefevrils sagte er:

»Ich weiß, es ist Zivilisation, aber es fehlt etwas dabei. Was ist es?«

John Godfrey gegenüber gab er seinen Gefühlen in nachdrücklicher Sprache Ausdruck. John, der sonst so phlegmatisch war, fuhr auf:

»Das Volk muß aber doch geschützt sein, und was schützt denn das Volk, wenn nicht das Gesetz?«

»Aber sieben Jahre Zwangsarbeit für ein Vergehen, das in der Trunkenheit begangen wurde! Verstehen Sie das? Können Sie sich den Schrecken, die Verlassenheit, das Elend, die Verzweiflung dieser sieben Höllenjahre vorstellen?«

»Das ist ja alles recht. Aber das Gesetz – das Gesetz!«

Das Gesetz war der Fetisch. Man durfte sich mit keinem Gedanken dagegen auflehnen. Und das war nicht das göttliche Gesetz, sondern das menschliche.

»Ihr Irländer,« behauptete der Pfarrer, »seid von Natur aus gegen Gesetz und Ordnung. Ihr sympathisiert mit dem Verbrechen –«

»Ich bitte um Entschuldigung,« gab Lukas zurück. »Wir erklären Verbrecher für schuldig und verdammen das Verbrechen.«

»Aber warum begeht ihr dann Verbrechen?« fragte der Pfarrer.

»Wir? Verbrechen begehen? Irland ist dasjenige Land der Welt, in dem die wenigsten Verbrechen begangen werden,« erwiderte Lukas.

»Erzählen Sie das einem Dümmeren!« lachte der Pfarrer. Lukas schwieg. Er wußte, daß bei Behandlung gewisser Dinge der Engländer alle Merkmale unheilbarer Geisteskrankheit zeigt – die idée fixe Charcots.

Er dachte, das wäre wieder so ein hübsches Gesprächsthema für den »Salon«. Solche sozialen Probleme wurden oft debattiert, und theoretisiert wurde so viel wie im Parlament. Er schnitt die Sache so zart als möglich an und besprach – die entsetzliche Ungleichheit der Strafen unter dem englischen Gesetz. Sie knirschten mit den Zähnen, denn er hatte ihren Gott gelästert.

»Ihre Landsleute sympathisieren auffällig mit dem Verbrechen.«

»In England werden an einem Tage, ja in einer Stunde mehr Verbrechen begangen, als in Irland in einem Jahrhundert begangen würden,« erwiderte Lukas, indem er die gewöhnliche Formel wiederholte.

»Ach ja, vielleicht! Aber die Iren sind eine gesetzlose Rasse!«

»Sie übertreten Gottes Gebote nicht,« erklärte Lukas.

»Gott,« erwiderte Amiel, »ist nur ein anderer Name für Ordnung – Kosmos, wie Satan der Name für Unordnung – Chaos ist. Es ist das allgemeine Gesetz der Natur, daß jede Abweichung von ihren Regeln unerbittlich ihre Strafe nach sich ziehen muß. Das englische Gesetz ist der Ausleger, der Interpret der Natur, die – Gott ist!«

Lukas verbeugte sich, aber er vermeinte irgendwo das Knurren eines wilden Tieres zu hören. Er meinte mißtrauisch:

»Es scheint mir, daß Carlyle und nicht Christus der Prophet des englischen Volkes ist.«

»Christus, erklärt von Carlyle,« sagte Amiel.

»Ich habe aber Christi Namen in allen zweiundzwanzig Bänden der Carlyleschen Werke nicht gefunden,« erwiderte Lukas.

Aber späterhin konnte er, wenn er neugierig die schwachen, scheuen, halb unterdrückten Anzeichen von Zuneigung in den Familien, in denen er Aufnahme fand und die ihm ihre innersten Geheimnisse enthüllten, beobachtet hatte, den Gedanken, der sich in seiner Phantasie festgesetzt hatte, an die Löwin und ihre Jungen,

die ihr Kind im ersten Kuß verschlingt,

nicht mehr los werden.

Aber diese schreckliche, unbeugsame, vergeltende Gerechtigkeit – dieser Appell an die Brutalität der Natur – machte ihn erschaudern, während er ihn faszinierte. Es war das furchtbare Mahlen der blinden Maschine, das ihn stets verfolgte – die Stimme einer seelenlosen Schöpfung.

Eines Tages wurde Lukas gebeten, in Seathorpe, einem fashionablen Seebad der Südküste, das eben in Mode gekommen war, den Sonntagsgottesdienst zu halten. Er mußte vierzig Meilen auf der Eisenbahn zurücklegen und erreichte den Ort gerade noch vor Nacht. Man wies ihn nach einem alleinstehenden Hause am Strand, das Abukir Mansion hieß. Hier wurde er vom unvermeidlichen Iren und dessen Frau empfangen, und warme Hände, die in Nevada Silber gegraben und in den Schanzen vor Sebastopol die Muskete gehalten hatten, streckten sich ihm entgegen. Und er brauchte hier auch ein bißchen Wärme, in diesem großen, geräumigen Hause, das nur ganz notdürftig möbliert und von der Art war, daß Dickens hier einen geheimnisvollen Mord hätte geschehen lassen, von dem selbst die Wände redeten. Am andern Morgen, um zehn Uhr, bekam Lukas seine Gemeinde zu sehen. Sie bestand aus sechs Dienstboten, dem Herrn des Hauses, und einem prachtvollen Bernhardinerhund. Die letzteren zwei befanden sich im Heiligtum, wie es ihrer Würde gebührte; die ersteren waren draußen. Die Kapelle war das alte Eßzimmer; aber der Altar hatte einst den Ehrenplatz in einem berühmten Kapuzinerkloster an der adriatischen Küste eingenommen.

Lukas wollte eben mit dem Messelesen beginnen, als eine in ein geistliches Gewand gekleidete Gestalt seinen Arm anhielt und in stark näselndem Tone laut sagte: »Kommt, laßt uns anbeten!«

Lukas wollte sich schon über die Unterbrechung ungehalten zeigen, als der Mann niederkniete und feierlich anstimmte: »Kommt, laßt uns jubeln im Herrn und frohlocken in Gott, unserm Heilande; laßt uns mit Worten des Dankes vor ihn treten und mit Psalmen ihn freudig preisen.«

Und die Versammlung murmelte: »Der König, für den alle Dinge leben; kommt, laßt uns ihn anbeten.«

So wurde der herrliche Psalm zu Ende gebetet. Lukas fragte nachher, wer denn der Eindringling gewesen sei. Ein Dorfschneider war's, der vor einigen Wochen zur Kirche übergetreten.

Dann kam die Missa cantata, die der Chor sang. Nach dem Evangelium predigte Lukas dreißig Minuten. Der alte Mann schlief zwar unterdessen, beglückwünschte aber nachher Lukas von Herzen. Der Ire war in Verzückung.

»Ja, Sie sind wirklich ein Redner, Hochwürden!«

Um fünf Uhr hielt Lukas den Nachmittagsgottesdienst. Dieses Mal war eine neugierige, gaffende Menge von Dörflern erschienen, die voll Furcht und Beben zusahen, was die Papisten taten. Unter ihnen bemerkte Lukas zwei schwarzgekleidete Damen.

»Sie kommen schon seit zehn Jahren in unsere Kirche,« sagte der Sakristan.

»Dann sind sie wohl katholisch?«

»O nein! Die werden's auch nie!«

Im Salon wurde Lukas mit kühler Höflichkeit empfangen. Der alte Mann saß in seinem Lehnsessel, und sein Hund lag neben ihm. Sonst befand sich noch ein Geistlicher mit seinen vier Töchtern im Zimmer. Er war des alten Mannes Neffe und präsumtiver Erbe. Denn der Alte hatte seine irische Köchin geheiratet, die ihn zum Katholizismus bekehrte. Dann war sie gestorben, um ihre ewige Belohnung zu empfangen.

Man rief zum Diner. Der Alte blickte auf Lukas. Lukas gab den Blick ruhig zurück. Der Alte war enttäuscht; es war Pflicht des Kaplans, ihn zum Diner zu rollen. Lukas hatte das nicht verstanden, und nun trat der Neffe pflichtgemäß an seine Stelle und rollte den Alten aus dem Salon durch den Korridor gerade an den Ehrenplatz des Tisches. Der Hund blieb dem Rollstuhl immer zur Seite. Lukas durfte das Tischgebet vorsprechen. Im Verlaufe der Mahlzeit faßte der Neffe den Weinkrug und schaute auf seinen Onkel. Er war Geistlicher und zählte fünfzig Jahre.

»Darf ich mir ein Glas einschenken, Sir?«

»Ja, eins,« gab der Alte zurück.

Es war ein rührender Akt der Ehrerbietung vor dem Alter, oder war es schnöde – Geldgier?

Als die Damen sich entfernt hatten, saßen die drei Herren um den Kamin. Feierliches Schweigen. Lukas war es dabei recht unbehaglich. Sein nervöses Temperament hatte er noch nicht ganz überwunden, wenn er sich auch bereits die Kunst angeeignet hatte, zehn Minuten lang schweigen zu können; aber eine Viertelstunde war zu viel für ihn. Er wandte sich an den Alten: »Es laufen hier wohl während der Sommer- und Herbstmonate viele Jachten an?«

Der alte Mann war aber eingeschlafen.

»Haben Sie Stanley letzthin gesehen?« wandte sich Lukas nun an den Neffen.

»Stanley? Stanley?« hustete der. »Nie von ihm gehört.«

»Er ist eben von seiner Tour durch Aegypten und das heilige Land zurückgekehrt. Er begleitete den Prinz von Wales.«

»Das muß eine schöne Zeit für ihn gewesen sein. Er hatte wohl während der ganzen Reise nichts zu bezahlen?«

Lukas sah die Richtung seiner Gedanken und dachte: Der arme Mann!

»Ich liebe Stanley,« gestand er, »obwohl er so schlecht auf die zölibatären Geistlichen zu sprechen ist wie Kingsley –«

»Der Narr, der dumme!« murmelte der Geistliche. »Aber er hatte seine fünf- oder sechstausend im Jahre und keine Kinder.«

Der arme Mann stöhnte.

»Nun,« fuhr Lukas fort, »ich bete immer für zwei Leute – für den Papst, der das Zölibat einführte, und für den Chinesen, der den Tee erfand.«

»Ich auch! Ich auch!« fiel sein Nachbar ein. »Das heißt, was besagten Chinesen anlangt, bin ich nicht sicher; aber diesen Papst liebe ich. Gott segne ihn!«

Lukas schaute ins Feuer.

»O, es ist alles Plunder!« flüsterte der Geistliche wieder.

»Das Subjekt Ihres Satzes ist mir nicht recht klar; das Prädikat ist mir hingegen ganz verständlich.«

»All dieses Zeug um die Religion, meine ich. Jawohl, jeder kann mit tausend Pfund jährlich religiös sein. Jeder kann fromm sein mit zweitausend jährlich. Jeder kann ein Heiliger sein mit fünftausend im Jahr. So ist's nun einmal. Um ein Heiliger zu sein, müssen Sie mit aller Welt in Frieden leben. Sehr gut. Ist das aber nicht sehr einfach mit fünftausend im Jahr? Da ist's unmöglich, einen Feind zu haben. Wem fällt es ein, einem Menschen mit fünftausend jährlich, einem Palast und eigenem Wagen, auch nur ein Haar zu krümmen?«

»Ich hoffe, Ihr Onkel hat wenigstens doppelt so viel im Jahr zu verzehren!« meinte Lukas tröstend.

Aber es traf ihn ein solcher Schreckensblick, daß er dem Gespräch sofort eine andere Wendung gab.

»Das ist ein prächtiger Bernhardiner!«

»Echte Rasse! Die Mönche gaben ihn meinem Onkel.«

»Das war lieb von ihnen.«

»Sie dachten wohl, St. Bernhard würde das gern sehen. Er liebte die Engländer ja so sehr.«

»Das wußte ich noch nicht; es interessiert mich aber ungemein.«

»Ich weiß auch nicht viel über die Sachen; aber ich hörte einmal einen gelehrten Mitbruder sagen, der heilige Bernhard habe dem Papst seinerzeit einen Klaps auf die Knöchel gegeben und habe sich der Lehre von der unbefleckten Empfängnis widersetzt.«

»Wirklich? Das muß dann schon ein recht gelehrter Mitbruder gewesen sein,« gab Lukas sarkastisch zurück.

»O, gewiß! Und deshalb gehört St. Bernhard zu uns.«

»Ah, ich sehe! Jeder, der protestiert?«

»Gewiß. Jeder, der sich gegen Dinge auflehnt, die –«

»He? he?« rief der Alte und öffnete die Augen.

Der Neffe war starr vor Schrecken. Aber der Alte nickte wieder ein.

»Was wollten Sie eben sagen?«

»Pst! Nichts, ich wollte nichts sagen.«

»Nun, Sie gaben zu verstehen, daß Sie alles, Reines und Unreines, dem weiten Gebiete der Häresie zuweisen. Ich habe das schon früher bemerkt. Erst letzthin noch sagte ich zu einem Ihrer Kanoniker, daß es doch eine eigentümliche Tatsache sei, daß in der revidierten Uebersetzung des Neuen Testaments, wo jeder Rationalist und Freidenker zitiert ist, kein einziger katholischer Schriftsteller auch nur erwähnt wird.«

»Natürlich nicht! Natürlich nicht!« erwiderte der Neffe und beobachtete ängstlich seinen Onkel.

»Es ist so Tradition in Ihrer Kirche,« fuhr Lukas fort, »und die alten Leute sterben –«

»He? he? Wer hat gesagt, daß ich sterbe?« rief der Alte und sank wieder in Schlaf.

»Um Gotteswillen, hören Sie auf und schauen Sie aufs Feuer,« bat der erschreckte Neffe. »Wenn er noch etwas hört, ist alles vorbei.«

»Schon recht.«

So blickten sie denn ins Feuer, bis der Alte wieder unruhig wurde.

»Was ist denn seine schwache Seite?« flüsterte Lukas.

»Die Aussicht,« flüsterte der Neffe aufgeregt zurück.

Lukas stand auf und trat ans Fenster. Ja, darauf konnte man stolz sein. Von fast schwindelnder Höhe blickte man hinunter auf die Dächer zerstreuter Landhäuser, die in dunkelgrünem Blätterwerk sich bargen, und über das Dorf hinweg auf das schlummernde Meer, das sich in grandioser Ruhe am Horizont verlor. Aber es war der Sonntagsfriede Englands, der sich der Sinne bemächtigte und sie aus der rauhen, kalten Wirklichkeit in die Musik und den Zauber der Vergangenheit hinüberleitete. Und unwiderstehlich erstand Lisnalee und all seine Lieblichkeit vor Lukas' Seele. Das kam sonst nicht oft bei ihm vor; längst schon hatte er dieses Bild aus seinem Alltagsleben gestrichen. Nach seinem letzten Besuche, wo alles so alt und traurig ausgeschaut hatte und jede Hütte ihm wie ein Grab erschienen war, da hatte er sich schweigend eingestanden, daß es unzweifelhaft sein Beruf war, in England zu bleiben, da zu arbeiten und zu sterben, und er wartete nur auf das Ende seiner sieben Lehrlingsjahre, um seinen Bischof um das exeat zu bitten und sich in seine neue Diözese aufnehmen zu lassen.

»Was würde ich jetzt tun, wenn ich daheim geblieben wäre?« fragte er sich. »Als armer, halbverrückter Professor in einem Seminar mein Leben fristen? Oder als armer, schlechtgenährter Kaplan in einem elenden Hause in den Bergen? Was bin ich jetzt dagegen!«

Und Lukas hob seine Uhrkette und dachte an seine Größe.

»He? he?« rief der Alte wieder, endgültig erwachend. »Was sagten Sie?«

»Ich sagte,« entgegnete Lukas rasch, »daß es in der ganzen Welt, ausgenommen vielleicht in Sorrent oder Sebenico, keine solche Aussicht gibt wie hier.«

»Ha! Hast du gehört, George?« kicherte der Alte. »Hast du gehört?«

»Jawohl, Sir. Mr. Delmege hat den ganzen Abend davon geschwärmt!«

»Mr. Delmege besitzt ausgezeichneten Geschmack. George, die Damen erwarten uns zum Tee.«

Dann flüsterte er Lukas zu: »Ich wollte, der Bischof schickte Sie zu uns. Ich habe den Missionsposten hier mit hundert Pfund jährlich dotiert. Und Sie würden jeden Tag mit mir speisen. He?«

»Es wäre entzückend,« gab Lukas zurück. Und wie er langsam, Schritt für Schritt, mit dem gähnenden Bernhardiner hinter dem Rollstuhl seines Wirtes herschritt, malte er sich ein Heim in diesem entzückenden Dorfe aus, ein Heim mit Büchern, Federn und Papier, Scharen von Konvertierenden, alle Vierteljahr einen Artikel in der »Dublin Review«, feine Gesellschaft, einen gelegentlichen Ausflug nach London oder Aylesburgh, um eine glänzende Predigt zu halten, Korrespondenz mit den literati der Welt, dann kirchliche Auszeichnungen und einen schönen, ehrenvollen Lebensabend …

Am nächsten Tage griff der Alte den Gegenstand noch einmal auf. Es war ein Lieblingswunsch von ihm, beständig einen Priester in Seathorpe zu haben. Lukas verwies ihn an den Bischof, gab ihm aber deutlich zu verstehen, daß ihm selber der Vorschlag außerordentlich angenehm wäre. –

»Du lieber Himmel!« sagte er, als er mit dem Morgenzuge nach Aylesburgh zurückkehrte, »wie rasch gehen wir zu Extremen über! Es ist ein Schaukeln zwischen den ›oberen zehn‹ und den ›unteren fünf‹. Was ziehe ich da vor? Kaum eine eigentliche Frage! Und doch – wäre das Leben schöner, wenn ich nicht den Ausblick auf dieses schreckliche Gefängnis vor meiner geistigen Landschaft hätte und Primrosegasse nicht? Wer weiß?«

Er brachte am selben Abend nach dem Tee die Rede bald auf diesen Gegenstand. Der gute Kanonikus ging ungerne darauf ein, da er fürchtete, die seltsame, leicht erregbare Natur, die seiner Sorge anvertraut war, nicht richtig zu leiten. Aber darin gab er sich selber unrecht. Er hatte jede Phase von Lukas' Charakter studiert, jede Laune beobachtet und war zögernd zu dem Schlusse gekommen, daß dieser edle Geist nie weit fehl gehen, aber auch nie eine große Höhe erreichen würde. Derselbe Instinkt, der das erstere verhinderte, würde auch das letztere unmöglich machen. Und der Kanonikus glaubte, die Zeit für einen Wechsel sei jetzt gekommen. Lukas hatte einige kräftige Anstrengungen gemacht, um der Knechtschaft allzu geistreicher Gesellschaft zu entkommen; aber die Netze hielten ihn umfangen, und ein Abend zuhause oder in einem der ruhigen katholischen Häuser war unerträglich langweilig. Wo würde all dies enden? Der Kanonikus stellte sich oft diese Frage, und stellte sie auch an die Blumen, die er um seines Herrn Thron ordnete, und stellte sie an die weißen Flammen, die rings um den Altar brannten. Und manchmal hielt er in seinem Gange an, öffnete das Brevier, ohne zu beten, und stolperte über gewisse Verse:

» Homo, cum in honore esset, non intellexit.«

»Hat das auf meinen jungen Freund Bezug?«

» Decident a cogitationibus suis; secundum multitudinem impietatum eorum, expelle eos; quoniam irritaverunt te, Domine.«

»Ach nein! Ach nein! Daß Gott verhüte!«

»Wie gefiel es Ihnen in Seathorpe?« fragte Dr. Drysdale Lukas denselben Abend nach dem Souper.

»Wirklich sehr gut! Ein sonderbares altes Bauwerk ist dieses Herrenhaus, und ein sonderbarer alter Kauz der Eigentümer!«

»Die Kirche macht aber nicht viele Eroberungen da,« bemerkte der alte Pfarrer.

»Der Ort braucht eben einen ständigen Priester, einen, der all seine Zeit und Aufmerksamkeit seiner Aufgabe widmete.«

»Ja, es wäre ein hübscher Posten für einen jungen energischen Mann, der sich im Zaume halten könnte.«

»Mir scheint nicht, daß es da viel gäbe, das einen zu Verirrungen verleiten könnte.«

»Mit Ausnahme der schlimmsten Gefahr – der Einsamkeit und dem taedium vitae.«

»Gewiß. Aber wenn man seine Bücher und seine Feder hat, und seine Arbeit so klar vor sich liegen sieht –«

»Das ist alles recht, wenn man eine starke Natur ist. Aber wenn man schwach ist, so ist's eine sichere Gefahr.«

»Die Einsamkeit war aber stets die Mutter der Starken und Auserwählten.«

»Das habe ich ja gerade gesagt. Sie ist eine liebende Mutter für den Starken, aber eine heulende, gefährliche Bestie für den Schwachen.«

Lukas hatte das Gefühl, als ob die Worte seines Vorgesetzten einen Nebensinn und eine tiefere Bedeutung hätten.

»Ich würde gern dorthin gehen,« sagte er gerade heraus.

»Ah! Ich sehe, Sie sind unserer überdrüssig. Nun, wer weiß? Unterdessen wird es gut sein, wenn Sie mal morgen wieder das Gefängnis besuchen. Dienstag ist ohnehin Ihr Tag, nicht?«

»Jawohl. Ist etwas Besonderes vorgefallen?«

»Nichts Außergewöhnliches. Ein Soldat ist drin, ein Landsmann von Ihnen, der seinen Offizier in den Baracken von Dover durchs Herz geschossen hat.«

Lukas starrte noch lange in die Gasflamme, als der Pfarrer schon das Zimmer verlassen hatte.


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