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Rabindranath Tagores »Sadhâna«

1921

 

Der jüngere Schriftsteller (bei seinem Freunde eintretend): Ich hoffe dich nicht zu stören.

Der ältere Schriftsteller (ein Buch weglegend): Durchaus nicht.

Der Jüngere: Was ist das für ein Buch?

Der Ältere: Rabindranath Tagores philosophisches Werk »Sadhâna« (»Der Weg zur Vollendung«), das eben bei Kurt Wolff deutsch erschienen ist.

Der Jüngere: Und das hast du jetzt Lust zu lesen? Ich verstehe dich nicht.

Der Ältere: Warum sollte ich das neue Buch Tagores zu lesen nicht den Wunsch und sogar Eile haben? Und wieso ist dir dieses Bedürfnis mit einem Male so unbegreiflich? Es ist doch erst zwei Monate her, da saßen wir hier beisammen in diesem Zimmer, lasen die »Stray Birds«, und du warst wie ich hingerissen von der kristallenen Einfachheit dieser Verse, von der hohen und in einem reinen Sinn einfältigen dichterischen Bindung, die aus ihrer Fremdheit sich selbst eine neue Melodie schuf. Wir waren beide beglückt, daß gleichsam in eine Pause der dichterischen Offenbarung in Europa dieser neue Rhythmus trat und, wenn ich nicht irre, warst du es selbst, der in diesen Versen eine ahnende Ankündigung neuer Religiosität erblicken wollte.

Der Jüngere: Ja, das ist richtig, ich habe damals Rabindranath Tagore wirklich wie eine Art Offenbarung empfunden, und in einem Jahr oder in zwei Jahren werde ich ihn wahrscheinlich wieder lesen können, nur jetzt, gerade in diesem Augenblick, ist es mir unmöglich, gegen ihn ganz gerecht zu sein. Ich kann im Augenblick seinen Namen nicht aussprechen hören, ich mache einen Bogen um jede Buchhandlung, um dort nicht vierzigfach auf jedem Umschlag immer wieder dasselbe Gesicht des indischen Magiers mir besonnt entgegenlächeln zu sehen, es ist mir gräßlich, in einen Tramwaywagen, in eine Bahn einzusteigen, weil gewiß dort irgendein Bürgermädchen oder ein Jüngling – in der Bahn! – seine Verse liest, und ich mußte mich geradezu bezwingen, um nicht mich über die Darmstädter Idolatrie, die feierliche Erhebung zum Weltpoeten, in bösartigster Weise lustig zu machen. Ich vertrage es eben nicht, wenn das, was ich einmal für mich liebte, zur Sensation und zum Tangopausengespräch, wenn irgendwo mit einem Dichter, den ich verehre, ein Rummel schausüchtig inszeniert wird. So lange biege ich um die Ecke und lege seine Bücher in das unterste Schubfach.

Der Ältere: Du machst also ein Werk für seine Wirkung, einen Dichter für seine Bewunderer verantwortlich. Du hättest also vor hundertfünfzig Jahren nur aus dem Grunde, weil die Modeaffen sich àla Werther kostümierten, keine Zeile von Goethe mehr gelesen oder Lord Byron, als er der Löwe der Londoner Gesellschaft wurde, ein Jahrzehnt gegrollt? Ich weiß, es ist in Deutschland Sitte, einen Autor sofort, wenn er zehn Auflagen hat, für einen Dummkopf oder einen Schwindler zu erklären, aber ich tue da nicht mit. Wenn ich einmal einem Dichter Vertrauen aus eigenem Kunstbewußtsein in klarem Gefühl gewährt habe, so mißtraue ich ihm auch nicht im Erfolg.

Der Jüngere: Ich mißtraue auch nicht ihm, sondern ich mißtraue eigentlich mir selbst und frage, ob ich damals in einer ersten Hitze, vom Neuartigen seiner Erscheinung überrascht, ihn nicht zu hoch eingestellt habe. Denn wenn ein Dichter von einem Gedichtband in Deutschland 700 00 Exemplare innerhalb eines Jahres verkauft, so ist das für mich immer eine Warnung, diesem Dichter schärfer auf die Finger zu passen, denn nur das Verdünnte rinnt immer über ins Breite. Von Goethes »Westöstlichem Divan« waren nach fünfzig Jahren nicht soviel Exemplare verkauft wie nach fünf Monaten von dem ärmlichen Nachguß Bodenstedts »Mirza Schaffy«, und so frage ich mich, ob das Indische in Rabindranath Tagore, das mich zuerst bezauberte, nicht auch eine solche dünne Dosierung ist, ein gezuckertes Destillat, weil es so vielen in Deutschland so ausgezeichnet mundet. Du wirst mir doch zugeben, daß die plötzliche buddhistische Neigung in Deutschland nicht gerade ein Erfreuliches ist.

Der Ältere: Kein Erfreuliches, aber ein sehr Erklärliches. Ich muß von mir selbst sagen, daß ich mich seit einigen Jahren um die indischen Dichter und Philosophen sehr intensiv gekümmert habe, die früher meinem Gedankenkreis absolut ferngestanden sind. Und das scheint mir davon zu kommen, daß die drei wesentlichsten Probleme, die uns durch den Krieg eindringlich in das Bewußtsein gedrängt worden sind, das Problem der Gewalt, das der Macht und das des Besitzes, von keiner Nation so eigenartig, so tief und so menschlich betrachtet worden sind wie von den Indern. Hier finden wir unsere aktuelle Problematik mit einer ganz selbstverständlichen Entschiedenheit beantwortet, und der ganze Wahnsinn unserer Betriebsamkeit und Organisation, unserer Kriegswut und unseres Nationalismus wird erst recht klar, wenn wir ihn gleichsam von außen, aus der Hemisphäre eines andern Denkens und Fühlens übersichtlich betrachten. Darum wirkt Rabindranath Tagore, der als Lebendiger die Gültigkeit dieser alten Erkenntnis bezeugt und erneut, so unwiderstehlich verlockend auf die Massen wie auf den einzelnen.

Der Jüngere: Gegen diese ideelle Einstellung habe auch ich keinen Einspruch. Im Gegenteil: ich halte die Wirkung Tagores, die Verneinung seines Nationalismus, die Höhe ethischer Kraft, die von seinem Wesen ausgeht und endlich einem Dichter wieder nicht-literatenhafte Macht zurückgibt, für einen der wenigen geistigen Glücksfälle unserer an moralischen Persönlichkeiten so armen Epoche. Mein Mißtrauen wendet sich ja nur gegen das Dichterische in ihm, und eben um des Erfolges willen. Du wirst mir doch nicht ableugnen wollen, daß das Kunsturteil der Masse immer das Elementare verneint und einzig das Epigonische begrüßt. Wo das Publikum ja sagt, ist im Dichter immer etwas verdächtig.

Der Ältere: Ich leugne auch durchaus nicht, daß das Kunsturteil des großen Publikums immer mit unfehlbarer Sicherheit sich für das Zweitklassige entscheidet. Es liebt das Halbechte, das Bequeme, das Rosenfarbene, das Imitative zu allen Zeiten und in allen Epochen. Aber in einem dürfen wir die große Masse doch niemals unterschätzen, nämlich in ihrem Instinkt. Die Menschen haben ein wundervolles Gefühl dafür, welcher Dichter für sie dichtet, zu ihrem Nutz und Frommen, welcher Dichter ihnen helfen will und bei jeder Zeile, die er schreibt, an die Menschlichkeit denkt. Und dieser sehr natürliche Instinkt läßt die Menge kalt sein gegen die andern Künstler, die eigentlich nur für sich selbst schaffen oder für den höchst imaginären Begriff der Kunst und der Kunstvollendung. So wie die Hunde plötzlich auf der Straße einem Menschen zulaufen, der Hunde liebt, ohne daß es durch irgendein äußerliches Zeichen erkenntlich wäre, so strömen die Menschen mit ihrem Vertrauen unbewußt dem Dichter entgegen, der mit jeder Zeile, die er schreibt, nicht an sich, sondern einzig an sie denkt. Die ungeheure Wirkung Tolstois und jene Rollands (denen du doch gewiß höchste moralische Qualitäten zubilligen wirst) ist nur daraus zu erklären, daß die Menschen in diesen Dichtern einen Willen zur Hilfe, ein Zu-ihnen-Sprechen mit einem dumpfen Instinkt urmächtig spüren.

Der Jüngere: Und wie wäre das – du verzeihst, wenn ich dich unterbreche –, dann bei der Courths-Mahler, bei Hermann Sudermann und Otto Ernst?

Der Ältere: Auch hier ist es in gewissem Sinn der gleiche Fall, auch diese Dichter schreiben für die Menschen, allerdings nicht im hohen Sinn, um ihnen geistig zu helfen, sondern um sie zu unterhalten, um ihnen das Leben so darzustellen, wie sie es gerne sehen möchten, und nicht, wie es wirklich ist. Auch diese Dichter schreiben – natürlich nicht aus einem Willen, sondern aus irgendeiner Impotenz des Persönlichen – nicht aus ihrem eigenen Optimismus heraus, sondern aus jenem der Menge. Sie schämen sich nicht, sich gemein zu machen, und auch diese Gemeinsamkeit ist eine Bindung, die zu leugnen vergeblich wäre.

Der Jüngere: Ich könnte dir darauf ausführlich erwidern, denn mir scheint diese Zusammenstellung des Reinsten und Kleinsten in der Kunst etwas gefährlich, aber ich möchte nicht abweichen von dem Fall Tagore. Das Buch, das du da vor dir liegen hast, ist, wenn ich nicht irre, ein philosophisches. Da ist für mich nun die erste Frage, ob es irgendwelche neuen Ideen zum Ausdruck bringt und nicht, ob diese Ideen irgendwelchen stimulativen oder beruhigenden Effekt auf den Menschen ausüben.

Der Ältere: Mir ist nicht ganz klar, was du «neue« Ideen nennst. Die Gedanken, die Rabindranath Tagore in der »Sadhâna« entwickelt, sind natürlich alt, ja sogar uralt, sind die ewig alten Ideen, die du überall findest, in jedem ganz großgeistigen Menschen, in jeder Religion und in jedem Dichter. Es sind etwa die Gedanken, daß der Mensch nicht an Besitz und Macht arbeiten solle, sondern an seinem ganzen innern Ich, an seinem wahren Ich, durch das er mit der Gottheit verbunden ist. Bei solchen Urideen, wenn ich sie so nennen darf, kommt es einzig nur auf die Form, den Ausdruck, die Deutlichkeit und die dichterische Formulierung an, und die scheint mir in diesem Buch einen wirklich ganz hervorragenden Grad erreicht zu haben. Der Begriff des Gottes, des Alls, des Ich ist hier gleichsam aus einem andern Material herausgearbeitet als bei den antiken und neuzeitlichen geistigen Bildern, und in der Sprache waltet eine so wohltuende Wärme und doch leidenschaftslose Sinnlichkeit, daß auch der einfachste, der primitivste Mensch sie seelisch zu durchdringen vermag, was doch, wie du mir zugeben wirst, einen ganz ungeheuren Gegenwert bedeutet gegen unsere philosophischen Werke, die im eigenen Jargon abgefaßt sind und ihre Sprachunkraft hinter einer lateinisch-griechischen Terminologie priesterlich verstecken. Die Klarheit von Tagores dichterischer Diktion wäre allein schon ein vorbildlicher Gewinn für unsere ganze philosophische Generation.

Der Jüngere: Aber führt diese Klarheit nicht auch – ich kann den Verdacht nicht verschweigen – zu einer gewissen Banalität? Ich finde es furchtbar gefährlich, wenn jemand über die Welträtsel und die letzten Dinge so unbefangen sprechen kann. Ich habe das Gefühl, daß das Letzte solch einer Erkenntnis sich niemals in das Wort kristallisiert, sondern irgendwie, wie bei den deutschen Mystikern, in einem herrlichen chaotischen Zustand verharrt, mehr ahnend zu begreifen, als mit dem common sense, dem allgemeinen Sinn, zu erfassen. Der wirkliche Philosoph hat doch nicht die Klarheit a priori, sondern man ringt schaffend erst um sie.

Der Ältere: Dein Einwand ist ganz richtig, und wenn mich etwas stört in dem Buche Tagores, so ist es auch die gewisse Mühelosigkeit, die Taschenspielerei, mit der er die schwierigsten Begriffe, an denen die Menschheit seit der Stunde ihrer Schöpfung ringt, freundlich heiter, ganz ohne Qual und Denkaffekte erledigt. Tod und Übel, die schlimmen Instinkte streicht er mit einer gewissen milden Handbewegung zur Seite, und ich muß dir nochmals recht geben in dem, was du richtig ahnend spürst, daß hier in diesem Buch sich nicht das wundervollste Schauspiel der Welt auftut, nämlich das, wie der chaotische, ungewisse Mensch mit Fieber und Verzweiflung in denkender Not um ein Gesetz, eine Harmonie ringt. Sondern diese Harmonie ist in Tagore gewissermaßen schon von Anfang da, sie ist mit einer gewissen Lauheit des Blutes, mit der indischen Weichheit ihm von je eingeboren, und er gibt dieses harmonische Gefühl einfach nur an seine Schüler und an die Menschen weiter.

Der Jüngere: Natürlich ist diese seine Lehre durchaus weltbejahend und optimistisch: das erklärt mir auch ihren Erfolg, denn schließlich wollen die Menschen ja immer das alte Narrenwort hören, daß unsere Welt die beste aller möglichen Welten sei.

Der Ältere: Auch darin ist etwas Wahres. Die Weltanschauung Tagores ist natürlich optimistisch, aber ich zweifle ja selbst, wie ich dir sagte, ob man sie wirklich eine Weltanschauung nennen dürfe und nicht besser eine Weltpredigt. Tagore will mit seinem Buch nicht für sich die Welt ins klare bringen, sondern den Menschen, uns Europäern vor allem, die er für Abgeirrte hält, auf den Weg helfen, und diese Hilfsbereitschaft gibt seinem Buch etwas unvergleichlich Rührendes. Ich schlage dir hier zum Beispiel nur die Stelle auf, wo er über den Tod spricht, und will sie dir vorlesen:

»Wenn wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Tatsache des Todes richteten, so würde uns die Welt wie ein ungeheures Leichenhaus erscheinen, aber in der Welt des Lebens hat der Gedanke an den Tod die denkbar geringste Gewalt über unsern Geist. Nicht weil er die am wenigsten sichtbare, sondern weil er die negative Seite des Lebens ist. Das Leben als Ganzes nimmt den Tod nie ernst. Es lacht, tanzt und spielt, baut Häuser, sammelt Schätze und liebt, dem Tode zum Trotz.

Nur wenn wir einen einzigen Todesfall für sich betrachten, starrt uns seine Leere an, und wir werden von Grauen erfaßt. Wir verlieren das Ganze des Lebens, von dem der Tod nur ein Teil ist, aus dem Gesicht. Es ist, wie wenn wir ein Stück Zeug durch ein Mikroskop betrachten. Es erscheint uns wie ein Netz; wir starren auf die großen Löcher und meinen die Kälte hindurchzuspüren. Aber in Wahrheit ist der Tod nicht die letzte Wirklichkeit. Er sieht schwarz aus, wie die Luft blau aussieht; aber er gibt unsrem Dasein ebensowenig seine Farbe, wie die Luft auf den Vogel abfärbt, der sie durchfliegt.«

Ist das nicht Tröstung? Glaubst du nicht, daß, wenn irgendein Kranker oder Leidender solche erhabenen, reinen und in irgendeinem Sinn auch wahren Worte liest, er diesem Buche, diesem Menschen unendlich dankbar sein muß? Und so würdest du von Blatt zu Blatt irgendeinen Satz finden, wo eine vielleicht bestreitbare Erkenntnis in so reiner dichterischer Form, mit solcher menschlichen Durchdringung dargestellt ist, daß sie dich wohltätig anweht und du unwillkürlich in Liebe aufgehen würdest zu einem solchen Menschen, der in so hohem Maße nicht nur den Willen, sondern auch die Fähigkeit zur Tröstung hat. Es muß ja nicht alles rein literarisch gewertet sein, und gerade bei Tagore dürfen wir uns am wenigsten darum kümmern, in welchem Maße er ein Neubildner, ein Urschöpfer ist. Nehmen wir ihn, wie er ist, dankbar hinein in unsere Zeit, der er so viel wie ganz wenige gegeben durch den Adel seiner Haltung, die Harmonie seines Wortes, den reinen Atem seiner Menschlichkeit. Anderen gegenüber wollen wir wieder kritisch sein: dem Gütigen laß uns nur Dank haben. So, und nun wollen wir gehen! Du erlaubst doch wohl, daß ich das Buch mitnehme. Oder schämst du dich, mit mir zu gehen, wenn ich ebenso wie 30 000 Deutsche ein Buch Tagores heute in Händen halte?

Der Jüngere: Durchaus nicht. Nur möchte ich dich bitten, den Umschlag mit dem Photographiebild Tagores abzunehmen. Mir ist es irgendwie unangenehm, diesem reinen Antlitz, diesen gütigen Augen wie einem Odolplakat an allen Ecken und Enden zu begegnen. Zu Hause will ich es mir selbst gern aufstellen, aber im Gassenladen stört es mich immer trotz aller Dauerargumente. Und was »Sadhâna« betrifft, so will ich es gerne auch im Tagore-Jahr lesen. Du leihst mir doch hoffentlich das Buch!

Der Ältere: Nein, das nicht. Denn »Sadhâna« ist ein Buch, das schön genug ist, daß man es selbst besitzen soll, und du sollst es dir kaufen, auch wenn du damit der achtzigtausendste Deutsche wirst.


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