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Montaigne

1941/42

 

1. Kapitel

Es gibt einige wenige Schriftsteller, die jedem aufgetan sind in jedem Alter und in jeder Epoche des Lebens – Homer, Shakespeare, Goethe, Balzac, Tolstoi – und dann wieder andere, die sich erst zu bestimmter Stunde in ihrer ganzen Bedeutung erschließen. Zu ihnen gehört Montaigne. Man darf nicht allzu jung, nicht ohne Erfahrungen und Enttäuschungen sein, um ihn richtig würdigen zu können, und am hilfreichsten wird sein freies und unbeirrbares Denken einer Generation, die, wie etwa die unsere, vom Schicksal in einen kataraktischen Aufruhr der Welt geworfen wurde. Nur wer in der eigenen erschütterten Seele eine Zeit durchleben muß, die mit Krieg, Gewalt und tyrannischen Ideologien dem Einzelnen das Leben und innerhalb seines Lebens wieder die kostbarste Substanz, die individuelle Freiheit, bedroht, nur der weiß, wieviel Mut, wieviel Ehrlichkeit und Entschlossenheit vonnöten sind, in solchen Zeiten der Herdentollheit seinem innersten Ich treu zu bleiben. Nur er weiß, daß keine Sache auf Erden schwerer und problematischer wird als innerhalb einer Massenkatastrophe sich seine geistige und moralische Unabhängigkeit unbefleckt zu bewahren. Erst wenn man selbst an der Vernunft, an der Würde der Menschheit gezweifelt und verzweifelt hat, vermag man es als Tat zu rühmen, wenn ein Einzelner inmitten eines Weltchaos sich vorbildlich aufrecht erhält.

Daß man Montaignes Weisheit und Größe erst als Erfahrener, als Geprüfter zu würdigen vermag, habe ich an mir selber erfahren. Als ich das erste Mal mit zwanzig Jahren seine »Essais«, dies einzige Buch, in dem er sich uns hinterlassen hat, zur Hand nahm, wußte ich – ehrlich gesagt – nicht viel damit anzufangen. Ich besaß zwar genug literarischen Kunstverstand, um respektvoll zu erkennen, daß sich hier eine interessante Persönlichkeit kundtat, ein besonders hellsichtiger und weitsichtiger, ein liebenswerter Mensch und überdies noch ein Künstler, der jedem Satz und jedem Diktum individuelle Prägung zu geben wußte. Aber meine Freude blieb eine literarische, eine antiquarische Freude; es fehlte die innere Zündung der leidenschaftlichen Begeisterung, das elektrische Überspringen von Seele zu Seele. Schon die Thematik der »Essais« schien mir ziemlich abwegig und zum größten Teil ohne Überschaltungsmöglichkeit in meine eigene Seele. Was gingen mich jungen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts die weiträumigen Exkurse des Sieur de Montaigne über die »Cérémonie de l'entrevue des rois« oder seine »Considérations sur Cicero« an? Wie schulmäßig und unzeitgemäß dünkte mich das schon stark von der Zeit angebräunte Französisch, das obendrein mit lateinischen Zitaten gespickt war. Und selbst zu seiner milden, temperierten Weisheit fand ich keine Beziehung. Sie kam zu früh. Denn was sollte das kluge Abmahnen Montaignes, man solle sich nicht ehrgeizig mühen, sich nicht allzu leidenschaftlich in die äußere Welt verstricken? Was konnte sein beschwichtigendes Drängen zu Temperiertheit und Toleranz einem ungestümen Alter bedeuten, das nicht desillusioniert werden will und nicht beruhigt, sondern unbewußt nur verstärkt sein mochte in seinem vitalen Auftrieb? Es liegt im Wesen der Jugend, daß sie nicht zu Milde, zur Skepsis beraten zu sein wünscht. Jeder Zweifel wird ihr zur Hemmung, weil sie Gläubigkeit und Ideale braucht zur Auslösung ihrer inneren Stoßkraft. Und selbst der radikalste, der absurdeste Wahn wird ihr, sofern er sie nur befeuert, wichtiger sein als die erhabenste Weisheit, die ihre Willenskraft schwächt.

Und dann – jene individuelle Freiheit, deren entschlossenster Herold für alle Zeiten Montaigne geworden ist, schien sie uns wirklich um 1900 noch derart hartnäckiger Verteidigung zu bedürfen? War das alles denn nicht schon längst Selbstverständlichkeit geworden, durch Gesetz und Sitte garantierter Besitz einer längst von Diktatur und Knechtschaft emanzipierten Menschheit? Selbstverständlich uns gehörig, wie der Atem unseres Mundes, der Pulsschlag unseres Herzens, schien uns das Recht auf das eigene Leben, die eigenen Gedanken und ihre ungehemmte Aussage in Wort und Schrift. Offen lag uns die Welt, Land um Land, wir waren nicht Gefangene des Staates, nicht geknechtet in Kriegsdienst, nicht Untertan der Willkür tyrannischer Ideologien. Niemand war in Gefahr, geächtet, verbannt, eingekerkert und vertrieben zu werden. So schien Montaigne unserer Generation sinnlos an Ketten zu rütteln, die wir längst zerbrochen meinten, ahnungslos, daß sie vom Schicksal uns schon neu geschmiedet wurden, härter und grausamer als je. So ehrten und respektierten wir seinen Kampf um die Freiheit der Seele als einen historischen, der für uns längst überflüssig und ohne Belang war. Denn es gehört zu den geheimnisvollen Gesetzen des Lebens, daß wir seiner wahren und wesentlichen Werte immer erst zu spät gewahr werden: der Jugend, wenn sie entschwindet, der Gesundheit, sobald sie uns verläßt, und der Freiheit, dieser kostbarsten Essenz unserer Seele, erst im Augenblick, da sie uns genommen werden soll oder schon genommen worden ist.

Es mußte also, um Montaignes Lebenskunst und Lebensweisheit zu verstehen, um die Notwendigkeit seines Kampfes um das »soi-même« als die notwendigste Auseinandersetzung unserer geistigen Welt zu begreifen, eine Situation kommen, die der seines eigenen Lebens ähnlich war. Auch wir mußten, wie er, erst einen jener entsetzlichen Rückfälle der Welt aus einem der herrlichsten Aufstiege erleben. Auch wir mußten aus unseren Hoffnungen, Erfahrungen, Erwartungen und Begeisterungen mit der Peitsche zurückgejagt werden bis auf jenen Punkt, wo man schließlich nurmehr sein nacktes Ich, seine einmalige und unwiederbringliche Existenz verteidigt. Erst in dieser Bruderschaft des Schicksals ist mir Montaigne der unentbehrliche Helfer, Tröster und Freund geworden, denn wie verzweifelt ähnlich ist sein Schicksal dem unseren! Als Michel de Montaigne ins Leben tritt, beginnt eine große Hoffnung zu erlöschen, eine gleiche Hoffnung, wie wir sie selbst zu Anfang unseres Jahrhunderts erlebt haben: die Hoffnung auf eine Humanisierung der Welt. Im Verlauf eines einzigen Lebensalters hatte die Renaissance der beglückten Menschheit mit ihren Künstlern, ihren Malern, ihren Dichtern, ihren Gelehrten eine neue, in gleicher Vollkommenheit nie erhoffte Schönheit geschenkt. Ein Jahrhundert – nein, Jahrhunderte schienen anzubrechen, wo die schöpferische Kraft das dunkle und chaotische Dasein Stufe um Stufe, Welle um Welle dem Göttlichen entgegentrug. Mit einem Male war die Welt weit, voll und reich geworden. Aus dem Altertum brachten die Gelehrten mit der lateinischen, der griechischen Sprache die Weisheit Platos und Aristoteles' wieder den Menschen zurück. Der Humanismus unter Erasmus' Führung versprach eine einheitliche, eine kosmopolitische Kultur; die Reformation schien eine neue Freiheit des Glaubens neben der neuen Weite des Wissens zu begründen. Der Raum und die Grenzen zwischen den Völkern zerbrachen, denn die eben entdeckte Druckerpresse gab jedem Wort, jeder Meinung die Möglichkeiten beschwingter Verbreitung; was einem Volke geschenkt war, schien allen gehörig, man glaubte, daß durch den Geist eine Einheit geschaffen sei über dem blutigen Zwist der Könige, der Fürsten und der Waffen. Und abermaliges Wunder: zugleich mit der geistigen weitete sich die irdische Welt ins Ungeahnte. Aus dem bisher weglosen Ozean tauchten neue Küsten, neue Länder auf, ein riesiger Kontinent verbürgte eine Heimstatt für Generationen und Generationen. Rascher pulsierte der Blutkreislauf des Handels, Reichtum durchströmte die alte europäische Erde und schuf Luxus, und der Luxus wiederum Bauten, Bilder und Statuen – eine verschönte, eine vergeistigte Welt. Immer aber, wenn der Raum sich erweitert, spannt sich die Seele. Wie in unserer eigenen Jahrhundertwende, da abermals der Raum sich großartig dehnte, dank der Eroberung des Äthers durch das Flugzeug und das unsichtbar die Länder überschwebende Wort, da Physik und Chemie, Technik und Wissenschaft Geheimnis auf Geheimnis der Natur entrangen und ihre Kräfte den Menschen dienstbar machten, beseelte unsagbare Hoffnung die schon so oft enttäuschte Menschheit, und aus tausend Seelen klang Antwort dem Jubelruf Ulrich von Huttens zurück: »Es ist eine Lust zu leben.«

Aber immer, wenn die Welle zu steil und zu rasch ansteigt, fällt sie um so kataraktischer zurück. Und so wie in unserer Zeit gerade die neuen Errungenschaften, die Wunder der Technik sich in die fürchterlichsten Faktoren der Zerstörung verwandeln, so verwandeln sich die Elemente der Renaissance und des Humanismus, die heilsam erschienen, in mörderisches Gift. Die Reformation, die Europa einen neuen Geist der Christlichkeit zu geben träumte, zeitigt die beispiellose Barbarei der Religionskriege, die Druckerpresse verbreitet statt Bildung den Furor Theologicus, statt des Humanismus triumphiert die Intoleranz. In ganz Europa zerfleischt sich jedes Land in mörderischem Bürgerkrieg, indes in der Neuen Welt sich die Bestialität der Konquistadoren mit einer unüberbietbaren Grausamkeit austobt. Das Zeitalter eines Raffael und Michelangelo, eines Leonardo da Vinci, Dürer und Erasmus fällt zurück in die Untaten eines Attila, eines Dschingiskhan, eines Tamerlan.

Diesen grauenhaften Rückfall aus dem Humanismus in die Bestialität, einer dieser sporadischen Wahnsinnsausbrüche der Menschheit, wie wir ihn heute abermals erleben, völlig ohnmächtig mitansehen zu müssen, trotz unbeirrbarer geistiger Wachheit und mitfühlendster seelischer Erschütterung: das bedeutet die eigentliche Tragödie im Leben Montaignes. Er hat den Frieden, die Vernunft, die Konzilianz, alle diese hohen geistigen Kräfte, denen seine Seele verschworen war, nicht einen Augenblick seines Lebens in seinem Land, in seiner Welt wirksam gesehen. Beim ersten Blick in die Zeit, wie beim Abschiednehmen, wendet er sich – wie wir – voll Grauen ab von dem Pandämonium der Wut und des Hasses, das sein Vaterland, das die Menschheit schändet und verstört. Er ist ein halber Knabe, nicht älter als fünfzehn Jahre, als vor seinen Augen in Bordeaux der Volksaufstand gegen die »gabeile«, die Salzsteuer, mit einer Unmenschlichkeit niedergeschlagen wird, die ihn selbst zeitlebens zum rasenden Feind aller Grausamkeit macht. Der Knabe sieht, wie Menschen zu Hunderten vom Leben zu Tode gequält werden, gehängt, gepfählt, gevierteilt, enthauptet, verbrannt, er sieht die Raben noch tagelang um die Richtstatt flattern, um sich vom verbrannten und halb verfaulten Fleisch der Opfer zu nähren. Er hört die Schreie der Gepeinigten und muß den Geruch des verbrannten Fleisches riechen, der durch die Gassen schwelt. Und kaum da der Knabe erwachsen ist, beginnt der Bürgerkrieg, der mit seinen fanatischen Gegensätzen der Ideologien Frankreich so völlig verwüstet, wie heute die sozialen und nationalen Fanatismen die Welt von einem bis zum anderen Ende zerstören. Die »Chambre Ardente« läßt die Protestanten verbrennen, die Bartholomäusnacht rottet achttausend Menschen an einem Tage aus. Die Hugenotten wieder vergelten Verbrechen mit Verbrechen: sie stürmen die Kirchen, sie zerschmettern die Statuen, selbst den Toten läßt die Besessenheit keinen Frieden und die Gräber Richard Löwenherz' und Wilhelms des Eroberers werden aufgerissen und geplündert. Von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt ziehen die Truppen, bald die katholischen, bald die hugenottischen, aber immer Franzosen gegen Franzosen, Bürger gegen Bürger, und keine Partei der anderen nachgebend in ihrer überreizten Bestialität. Ganze gefangene Garnisonen werden niedergemacht vom ersten bis zum letzten Mann, die Flüsse verpestet durch die niederschwemmenden Leichen; auf 120 000 sind die Dörfer geschätzt, die vernichtet und geplündert werden, und bald löst das Morden sich los von seinem ideellen Vorwand. Bewaffnete Banden überfallen die Schlösser und die Reisenden, gleichgültig, ob Protestanten oder Katholiken. Ein Ritt durch einen nachbarlichen Wald vor dem Hause ist nicht weniger gefährlich als eine Fahrt ins neue Indien oder zu den Kannibalen. Niemand weiß mehr, ob sein Haus ihm gehört und seine Habe, ob er morgen noch leben wird oder tot sein, gefangen oder frei, und als alter Mann, am Ende seines Lebens, 1588, schreibt Montaigne: »In dieser Verwirrung, in der wir uns seit dreißig Jahren befinden, sieht sich jeder Franzose stündlich einer Lage gegenüber, die eine völlige Umkehrung seines Schicksals bedeuten kann.« Es gibt keine Sicherheit mehr auf Erden: dieses Grundgefühl wird sich in Montaignes geistiger Anschauung notwendigerweise widerspiegeln. Man muß daher suchen, solche Sicherheit außerhalb dieser Welt zu finden, abseits seines Vaterlandes; man muß sich weigern, mitzutoben im Chorder Besessenen, und jenseits der Zeit sein eigenes Vaterland, seine eigene Welt sich schaffen.

Wie die humanen Menschen in jener Zeit gefühlt – grauenhaft ähnlich unserem eigenen Empfinden –, bezeugt das Gedicht, das La Boétie 1560 an Montaigne, seinen siebenundzwanzigjährigen Freund, richtet und in dem er ihn anruft: »Was für ein Schicksal hat uns gerade in diesen Zeiten geboren sein lassen. Der Untergang meines Landes liegt vor meinen Augen, und ich sehe keinen anderen Weg als auszuwandern, mein Haus zu verlassen und zu gehen wohin immer mich das Schicksal trägt. Lange schon hat der Zorn der Götter mich gemahnt zu fliehen, indem er mir die weiten und offenen Länder jenseits des Ozeans wies. Wenn an der Schwelle unseres Jahrhunderts eine neue Welt aus den Wogen erstand, so war es, weil die Götter sie bestimmten als ein Refugium, wo die Menschen frei unter einem besseren Himmel ihr Feld bestellen sollten, indes das grausame Schwert und eine schmachvolle Plage Europa zum Untergang verdammt.«

In solchen Epochen, da die Edelwerte des Lebens, da unser Friede, unsere Selbständigkeit, unser eingeborenes Recht, alles, was unser Dasein reiner, schöner, berechtigter macht, aufgeopfert werden der Besessenheit eines Dutzends von Fanatikern und Ideologen, münden alle Probleme für den Menschen, der seine Menschlichkeit nicht an die Zeit verlieren will, in ein einziges: wie bleibe ich frei? Wie bewahre ich mir trotz aller Drohungen und Gefahren inmitten der Tollwut der Parteien die unbestechliche Klarheit des Geistes, wie die Humanität des Herzens unverstört inmitten der Bestialität? Wie entziehe ich mich den tyrannischen Forderungen, die Staat oder Kirche oder Politik mir wider meinen Willen aufzwingen wollen? Wie wehre ich mich dagegen, nicht weiter zu gehen in meinen Mitteilungen oder Handlungen, als mein innerstes Ich innerlich will? Wie schütze ich diese einzige, einmalige Parzelle meines Ichs gegen die Einstellung auf das Reglementierte und das von außen dekretierte Maß? Wie bewahre ich meine ureigenste Seele und ihre nur mir gehörige Materie, meinen Körper, meine Gesundheit, meine Gedanken, meine Gefühle vor der Gefahr, fremdem Wahn und fremden Interessen aufgeopfert zu werden?

An diese Frage, und an sie allein, hat Montaigne sein Leben und seine Kraft gewandt. Um dieser Freiheit willen hat er sich beobachtet, überwacht, geprüft und getadelt in jeder Bewegung und in jedem Gefühl. Und dies Suchen um die seelische Rettung, um die Rettung der Freiheit in einer Zeit der allgemeinen Servilität vor Ideologien und Parteien bringt ihn uns heute brüderlich nahe wie keinen anderen Künstler. Wenn wir ihn vor allen ehren und lieben, so geschieht es darum, weil er wie kein anderer sich der höchsten Kunst des Lebens hingegeben hat: »rester soi-même«.

Andere, ruhigere Zeiten haben die literarische, die moralische, die psychologische Nachlassenschaft Montaignes aus einem anderen Gesichtswinkel betrachtet; sie haben gelehrt darüber gestritten, ob er Skeptiker gewesen oder Christ, Epikuräer oder Stoiker, Philosoph oder Amüseur, Schriftsteller oder bloß genialer Dilettant. In Doktor-Dissertationen und Abhandlungen sind seine Anschauungen über Erziehung und Religion auf das sorglichste seziert worden. Mich aber berührt und beschäftigt an Montaigne heute nur dies: wie er in einer Zeit ähnlich der unsrigen sich innerlich freigemacht hat und wie wir, indem wir ihn lesen, uns an seinem Beispiel bestärken können. Ich sehe ihn als den Erzvater, Schutzpatron und Freund jedes »homme libre« auf Erden, als den besten Lehrer dieser neuen und doch ewigen Wissenschaft, sich selbst zu bewahren, gegen alle und alles. Wenige Menschen auf Erden haben ehrlicher und erbitterter darum gerungen, ihr innerstes Ich, ihre »essence« unvermischbar und unbeeinflußbar vom trüben und giftigen Schaum der Zeiterregung zu halten, und wenigen ist es gelungen, dieses innerste Ich vor ihrer Zeit zu retten für alle Zeiten.

Dieser Kampf Montaignes um die Wahrung der inneren Freiheit, der vielleicht bewußteste und zäheste, den je ein geistiger Mensch geführt, hat äußerlich nicht das geringste Pathetische oder Heroische an sich. Nur gezwungen könnte man Montaigne in die Reihe der Dichter und Denker einreihen, die mit ihrem Wort für die »Freiheit der Menschheit« gekämpft haben. Er hat nichts von den rollenden Tiraden und dem schönen Schwung eines Schiller oder Lord Byron, nichts von der Aggressivität eines Voltaire. Er hätte gelächelt über den Gedanken, etwas so Persönliches wie innere Freiheit auf andere Menschen und gar auf Massen übertragen zu wollen, und die professionellen Weltverbesserer, die Theoretiker und Überzeugungsverschleißer hat er aus dem innersten Grunde seiner Seele gehaßt. Er wußte zu gut, eine wie ungeheure Aufgabe schon dies allein bedeutet: in sich selbst innere Selbständigkeit zu bewahren. So beschränkt sich sein Kampf ausschließlich auf die Defensive, auf die Verteidigung jener innersten Schanze, die Goethe die »Zitadelle« nennt und zu der kein Mensch einem anderen Zutritt verstattet. Seine Taktik war, im Äußeren möglichst unauffällig und unscheinbar zu bleiben, mit einer Art Tarnkappe durch die Welt zu gehen, um den Weg zu sich selbst zu finden.

So hat Montaigne eigentlich nicht das, was man eine Biographie nennt. Er hat nie Anstoß erregt, weil er sich im Leben nicht vordrängte und für seine Gedanken nicht um Zuhörer und Jasager warb. Nach außen schien er ein Bürger, ein Beamter, ein Ehemann, ein Katholik, ein Mann, der unscheinbar das äußerlich Verlangte seiner Pflichten erfüllte. Er nahm für die Umwelt die Schutzfarbe der Unauffälligkeit an, um nach innen das Farbenspiel seiner Seele in allen Nuancen entfalten und betrachten zu können. Sich herzuleihen war er jederzeit bereit – sich herzugeben niemals. Immer behielt er in jeder Form seines Lebens das Beste, das Eigentliche seines Wesens zurück. Er ließ die andern reden und sich zu Rotten scharen, eifern, predigen und paradieren; er ließ die Welt ihre wirren und törichten Wege gehen und kümmerte sich nur um eines: vernünftig zu sein für sich selbst, menschlich in einer Zeit der Unmenschlichkeit, frei innerhalb des Massenwahnes. Er ließ jeden spotten, der ihn gleichgültig nannte, unentschieden und feige; er ließ die andern sich wundern, daß er sich nicht vordrängelte zu Ämtern und Würden. Selbst die Nächsten, die ihn kannten, ahnten nicht, mit welcher Ausdauer, Klugheit und Geschmeidigkeit er im Schatten der Öffentlichkeit an der einen Aufgabe arbeitete, die er sich gestellt hatte: statt eines bloßen Lebens sein eignes Leben zu leben.

Damit hat der scheinbar Tatenlose eine unvergleichliche Tat getan. Indem er sich selbst erhielt und beschrieb, hat er den Menschen in nuce in sich erhalten, den nackten und überzeitlichen Menschen. Und während alles andere, die theologischen Traktate und die philosophischen Exkurse seines Jahrhunderts uns fremd und verjährt anmuten, ist er unser Zeitgenosse, der Mann von heute und immer, ist sein Kampf der aktuellste auf Erden geblieben. Hundertmal, von Blatt zu Blatt, wenn man Montaigne aufschlägt, hat man das Gefühl: nostra res agitur, das Gefühl, hier ist besser, als ich selbst es sagen könnte, gedacht, was die innerste Sorge meiner Seele in dieser Zeit ist. Hier ist ein Du, in dem mein Ich sich spiegelt, hier ist die Distanz aufgehoben, die Zeit von Zeiten trennt. Nicht ein Buch ist mit mir, nicht Literatur, nicht Philosophie, sondern ein Mensch, dem ich Bruder bin, ein Mensch, der mich berät, der mich tröstet, ein Mensch, den ich verstehe und der mich versteht. Nehme ich die »Essais« zur Hand, so verschwindet im halbdunklen Raum das bedruckte Papier. Jemand atmet, jemand lebt mit mir, ein Fremder ist zu mir getreten und ist kein Fremder mehr, sondern jemand, den ich mir nahe fühle wie einen Freund. Vierhundert Jahre sind verweht wie Rauch: es ist nicht der Seigneur de Montaigne, der gentilhomme de la chambre eines verschollenen Königs von Frankreich, nicht der Schloßherr aus Périgord, der zu mir spricht; er hat die weiße gefältelte Schaube abgelegt, den Spitzhut, den Degen, er hat die stolze Kette mit dem Orden des St. Michel vom Halse genommen. Es ist nicht der Bürgermeister von Bordeaux, der bei mir zu Besuch ist, und nicht der Schriftsteller. Ein Freund ist gekommen, mich zu beraten und von sich zu erzählen. Manchmal ist in seiner Stimme eine leise Trauer über die Gebrechlichkeit unseres menschlichen Wesens, die Unzulänglichkeit unseres Verstandes, die Engstirnigkeit unserer Führer, den Widersinn und die Grausamkeit unserer Zeit, jene edle Trauer, die sein Schüler Shakespeare gerade den liebsten seiner Gestalten, einem Hamlet, Brutus oder Prospero so unvergeßlich mitgegeben hat. Aber dann spüre ich wieder sein Lächeln: warum nimmst du dies alles so schwer? Warum läßt du dich anfechten und niederbeugen von dem Unsinn und der Bestialität deiner Zeit? All das rührt doch nur an deine Haut, nicht an dein inneres Ich. Das Außen kann dir nichts nehmen und kann dich nicht verstören, solange du dich nicht selber verstören läßt. »L'homme d'entendement n'a rien à perdre.« Die zeitlichen Geschehnisse sind machtlos über dich, sofern du dich weigerst, an ihnen teilzunehmen, der Wahnsinn der Zeit ist keine wirkliche Not, solange du selbst deine Klarheit behältst. Und selbst die schlimmsten deiner Erlebnisse, die scheinbaren Erniedrigungen, die Schläge des Schicksals –, du fühlst sie nur, solange du schwach vor ihnen wirst, denn wer ist es als du selbst, der ihnen Wert und Schwere, der ihnen Lust und Schmerz zuteilt? Nichts kann dein Ich erheben und erniedrigen als du selbst – selbst der schwerste Druck von außen hebt sich dem leicht auf, der innerlich fest und frei bleibt. Immer und insbesondere, wenn das einzelne Individuum in seinem seelischen Frieden und seiner Freiheit bedrängt ist, bedeutet das Wort und der weise Zuspruch Montaignes eine Wohltat, denn nichts schützt uns mehr in Zeiten der Verwirrung und Parteiung als Aufrichtigkeit und Menschlichkeit. Immer und jedesmal ist, was er vor Jahrhunderten sagte, noch gültig und wahr für jeden, der sich um seine eigene Selbständigkeit bemüht. Niemand aber haben wir dankbarer zu sein als jenen, die in einer unmenschlichen Zeit wie der unseren das Menschliche in uns bestärken, die uns mahnen, das Einzige und Unverlierbare, das wir besitzen, unser innerstes Ich, nicht preiszugeben. Denn nur jener, der selbst frei bleibt gegen alles und alle, mehrt und erhält die Freiheit auf Erden.

 

2. Kapitel

Daß der Verfasser der »Essais« sein Buch mit dem stolzen Autorennamen Michel Sieur de Montaigne zeichnen kann und ein adliges Wappen führen, hat ursprünglich die bescheidene Summe von neunhundert Franken gekostet. Denn ehe sein Urgroßvater am 10. Oktober 1477 von den Erzbischöfen von Bordeaux das Schloß Montaigne um diese Summe kauft und ehe dann dessen Enkel, Montaignes Vater, dazu die Erlaubnis erwirkt, den Namen dieses Landsitzes seinem eigenen Namen als Adelstitel beizufügen, hießen Michaels Ahnen höchst simpel und bürgerlich Eyquem. Erst Michael Montaigne, der dank seiner klugen und skeptischen Weltkenntnis weiß, wie vorteilhaft es ist, in dieser Welt einen wohlklingenden Namen zu führen, »einen schönen Namen zu haben, der sich bequem aussprechen und behalten läßt«, radiert nach dem Tode seines Vaters aus allen Pergamenten und Urkunden den früheren Familiennamen aus. Nur diesem Umstand ist es zuzuschreiben, daß wir in der Geschichte der Weltliteratur den Verfasser der »Essais« im Alphabet nicht unter dem Buchstaben »E« als Michael Eyquem aufzublättern haben, sondern unter »M« als Michel de Montaigne.

Der Name der Familie Eyquem hat in Bordeaux seit Jahrhunderten einen guten Klang nach Silber und Gold, freilich nebenbei auch einen leichten Geruch von geräucherten Fischen. Woher diese Eyquems ursprünglich nach Bordeaux gekommen sind, ob aus England, wo Montaigne – in Sachen seiner Ahnenschaft immer wenig zuverlässig – behauptet, »alte vetterliche Beziehungen zu einem bekannten großen Hause« entdeckt zu haben, oder bloß aus der Umgebung der Stadt, das hat die gelehrte Ahnenforschung bisher noch nicht ergründet. Nachweisbar ist nur, daß die Eyquems jahrzehntelang im Hafenviertel de la Rousselle ihre Kontore gehabt haben, von denen sie geräucherte Fische, Wein und andere Artikel höchst kleinbürgerlich als Makler verfrachteten. Der erste Aufstieg aus Fischhandel und Kramerei beginnt mit Ramon Eyquem, Montaignes Urgroßvater, der, 1402 zu Blanquefort in Medoc geboren, sich schon als Reeder betätigt und durch seine vorsichtige Klugheit sowie durch die Heirat mit der reichsten Erbin von Bordeaux den Grundstock zu dem Familienvermögen legt. In seinem fünfundsiebzigsten Jahre macht dieser Ramon Eyquem seine klügste Akquisition, indem er die »maison noble«, das Schloß Montaigne, von dem Lehnsherrn, dem Erzbischof von Bordeaux, erwirbt. Diese Übernahme des Adelsschlosses durch einen simplen Bürger wird der Sitte der Zeit gemäß zu einem feierlichen Akt. Allein schreitet der greise Kaufmann in das verlassene Schloß, durch das große Tor, das hinter ihm mit Riegeln verschlossen wird, bis der Diener, die Pächter, die Farmleute und Siedler dem neuen Herrn Eid und Huldigung dargebracht haben. Sein Sohn Grimon Eyquem, bescheidener gesinnt, ruht bloß auf dem väterlichen Erbe aus. Er vergrößert das Vermögen, läßt aber das alte Schloß in halbverfallenem Zustande, ohne sich weiter darum zu bekümmern. Erst der Enkel Ramon Eyquems, der Vater Montaignes, Pierre Eyquem, vollzieht den entscheidenden Übertritt der Familie aus der bürgerlichen in die adlige Welt. Er sagt der Schiffsmaklerei und dem Fischhandel Valet, um den mehr ritterlichen Beruf des Soldaten zu wählen. Er begleitet als junger Mensch König Franz I. in den italienischen Krieg, aus dem er ein – leider uns nicht erhaltenes – Tagebuch und als ersehnteste Belohnung seiner treuen Dienste den Titel Sieur de Montaigne zurückbringt. Bewußt erfüllt der neue Edelmann, was sein Großvater vorsorglich vorausgeträumt, indem er das alte und halbverfallene Schloß zum imposanten Herrensitz umbaut. Inmitten weiten Landes, das der tüchtige und energische Mann in unzähligen Prozessen und einzelnen Käufen erwirbt, erhebt sich mit dicken Mauern und Türmen die stattliche Burg. Es ist eine Festung, von außen gesehen, und zugleich eine Stätte humanistischer Bildung und generöser Gastlichkeit. Nicht ohne innere Belehrung und den Willen zu weiterer Bildung hat der junge Soldat das Italien der Renaissance in seiner schönsten Kunstblüte gesehen. Die bloße Geldgier und Gewinnfreude seiner Ahnen verwandelt sich bei ihm in höheren Ehrgeiz. Er legt den Grund zu einer stattlichen Bibliothek, er zieht gelehrte Männer, Humanisten und Professoren in sein Haus, und ohne die Verwaltung des großen Vermögens und seines ausgedehnten Grundbesitzes zu vernachlässigen, erachtet er es als seine Adelspflicht, wie einst im Kriege dem König nun im Frieden seiner Heimat zu dienen. Zuerst nur »Prevost« und »Jurat«, also bloßer Beisitzer der Stadtgemeinde, wird er schließlich zum Vizebürgermeister und dann zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt, wo seine hingebungsvolle Tätigkeit ihm ein ehrenvolles Andenken schafft. Rührend schildert Montaigne die Hingabe des schon kranken und ermüdeten Mannes: »Ich erinnere mich, daß er mir schon in meiner Kindheit alt erschien. Seine Seele war grausam getroffen worden durch die öffentlichen Streitigkeiten. Er hatte die sanfte Atmosphäre seines Hauses hinter sich lassen müssen. Vielleicht hatte auch die Schwäche des Alters ihn schon lange vor der Zeit erfaßt. Sowohl in seiner häuslichen Umgebung wie in seiner Gesundheit schien er dadurch beeinträchtigt, und sicherlich verachtete er das Leben, das er schon entgleiten fühlte. Und doch begab er sich im Interesse der Stadt auf lange und mühsame Reisen. So war sein Charakter. Und doch ertrug er all diese Zustände mit natürlicher großer Güte. Es gab keinen wohltätigeren und beliebteren Menschen als ihn.«

Mit Montaignes Vater ist der zweite und der vorletzte Schritt im Aufstieg der Familie getan. Aus den kleinen Händlern, die nur sich und ihre Familie bereichern, sind die Eyquems die Ersten der Stadt geworden, und aus den Eyquems die Sieurs de Montaigne. Mit Ehrfurcht wird der Name im ganzen Périgord und Guyenne genannt. Aber erst der Sohn wird den Aufstieg vollenden, er wird der Lehrer Shakespeares sein, der Berater von Königen, der Ruhm seiner Sprache und der Schutzpatron allen freien Denkens auf Erden.

 

Während so innerhalb von drei Generationen von Ramon über Grimon zu Pierre Eyquem die väterliche Familie aufsteigt, vollendet im gleichen Rhythmus, mit gleicher Zähigkeit und Weitsicht die mütterliche Familie Michel de Montaignes ihren Weg nach oben. Als in seinem dreiunddreißigsten Jahre der Sieur Pierre de Montaigne, Michels Vater, eine Demoiselle Antoinette de Louppes de Villeneuve zur Gattin wählt, scheint sich für den ersten flüchtigen Blick alter Adel mit altem Adel zu verbinden. Blättert man aber von diesem schön klingenden Ehekontrakt auf die älteren Pergamente und archivalischen Vermerke zurück, so entdeckt man, daß der Adel der Louppes de Villeneuve ebenso kurzen Atem hat wie jener der Montaigne und, um Casanovas Wort zu gebrauchen, genau so selbstherrlich aus dem Alphabet geholt ist wie jener der Eyquems. Fast zur gleichen Zeit, da der Fischhändler Ramon Eyquem rund hundert Jahre vor Montaignes Geburt die erste Stufe aus der sozial mißachteten bürgerlichen Welt in die ritterliche erklimmt, macht ein reicher spanischer Jude, Mosche Paçagon in Saragossa, den gleichen Schritt, um sich aus einer verfemten Gilde abzulösen, indem er sich taufen läßt. Ebenso wie die Eyquems bemüht, bei seinen Kindern und Nachbarn die eigentliche Herkunft zu verscharren, legt er sich statt seines jüdischen einen spanischen und ritterlich klingenden Namen zu. Er nennt sich nach der Taufe Garcia Lopez de Villanuova. Seine weitverzweigte Familie durchlebt dann die üblichen Schicksale der spanischen Inquisitionsjahre. Einigen dieser neuen Christen gelingt die Umschaltung. Sie werden Berater und Bankiers bei Hofe; andere weniger geschickte oder weniger vom Glück begünstigte werden als Maranen verbrannt. Die Vorsichtigen unter ihnen aber wandern rechtzeitig aus Spanien aus, ehe die Inquisition ihr adliges Christentum zu scharf unter die Lupe nimmt. Ein Teil der Familie Lopez de Villanuova übersiedelt nach Antwerpen und wird protestantisch. Eine andere, katholische Linie verlegt ihre Geschäfte nach Bordeaux und Toulouse, wo sich die Familie französisiert und zur weiteren Verschleierung ihrer Herkunft Louppes de Villeneuve nennt. Zwischen den Villeneuves und den Montaignes, oder vielmehr zwischen den Eyquems und den Paçagons gehen allerhand Geschäfte hin und her. Das letzte und für die Welt erfolgreichste wird am 15. Januar 1528 abgeschlossen durch die Heirat Pierre Eyquems mit Antoinette de Louppes, die eine Mitgift von tausend Gold-Écus in die Ehe bringt. Und man kann ungefähr ermessen, wie reich die Eyquems damals schon gewesen sein müssen, wenn Michel de Montaigne späterhin diese Mitgift als eine verhältnismäßig geringe bezeichnet.

Diese Mutter jüdischen Blutes, mit der Montaigne über ein halbes Jahrhundert im gleichen Hause lebt und die ihren berühmten Sohn sogar noch überlebt, erwähnt Montaigne in seinen Werken und Schriften mit keinem einzigen Wort. Man weiß nicht mehr von ihr, als daß sie bis zum Tode ihres Mannes, dem sie fünf Kinder geschenkt hat, das adlige Haus mit der der Familie doppelt eigenen »Prudhommie« verwaltet, so daß sie in ihrem Testament stolz niederschreiben kann: »Es ist bekannt, daß ich während eines Zeitraumes von vierzig Jahren im Haus der de Montaigne an der Seite meines Gatten gearbeitet habe, so daß durch meine Bemühungen, meine Sorge und Führung des Haushaltes besagtes Haus in seinem Werte gesteigert, verbessert und vermehrt worden ist.« Mehr ist von ihr nicht bekannt geworden, und man hat dieses Nichterwähnen der Mutter im ganzen Werk Montaignes oft dahin ausgelegt, daß er seine jüdische Herkunft habe verschleiern oder verdecken wollen. Montaigne war bei all seiner Klugheit einer unseligen Adelseitelkeit verfallen; sein Testament verlangte zum Beispiel, daß er in der »Grabstätte seiner Ahnen« beigesetzt werden solle, während in Wirklichkeit nur sein Vater in Montaigne begraben war. Aber ebensowenig wie seine Mutter hat Montaigne – außer in einer einzigen Widmung – seine Frau oder seine Tochter jemals in seinen Schriften erwähnt. Sein Weltbild war aus der Antike geformt, wo die Frau im geistigen Bereich nicht in Betracht kam. Und so wissen wir weder von besonderer Neigung noch besonderer Abneigung des Eyquem-Enkels zur Enkelin des Mosche Paçagon. Es sind zwei Auftriebe, jeder stark und gesund, die sich in Montaigne, dem Spitzenpunkt dieser Pyramide des Aufstiegs, gleichzeitig vollenden und erschöpfen. In ihm löst sich alles, was zwischen den gascognischen Fischersleuten und jüdischen Maklern gegensätzlich war, in eine neue, einheitliche und schöpferische Form. Was er der einen Linie verdankt, was der anderen, das wird sich aus einer so vollkommenen Bindung ohne Künstlichkeit kaum lösen lassen. Man wird nur sagen können, daß er durch diese Gemischtheit prädestiniert war, ein Mensch der Mitte und ein Mensch der Bindung zu werden, unbefangen nach allen Seiten blickend, ohne Borniertheit in jedem Sinne, ein »libre penseur« und »citoyen du monde«, freigeistig und tolerant, Sohn und Bürger nicht einer Rasse und eines Vaterlandes, sondern Weltbürger jenseits von Ländern und Zeiten.

 

3. Kapitel

In einem adligen Namen ist unbewußt der Wille enthalten, sich zu bewahren und zu übertragen von Geschlecht zu Geschlecht. So ist es für den ersten, der den Titel eines Seigneur de Montaigne trägt, für Pierre Eyquem de Montaigne, eine stolze Verkündigung, Ahnherr zu werden eines in Zukunft berühmten Geschlechtes, als ihm am letzten Tage des Februar 1533, nachdem er zuvor zwei Töchter bald nach ihrer Geburt verloren hat, der ersehnte erste Sohn, unser Michel de Montaigne, geboren wird. Von der Stunde seiner Geburt an weiht der Vater den Sohn einer hohen Bestimmung. Wie er selbst seinen eigenen Vater an Bildung, Kultur und gesellschaftlicher Stellung überholt hat, so soll dieser Sohn nun ihn wiederum übertreffen. Zweihundertfünfzig Jahre vor Jean Jacques Rousseau, drei Jahrhunderte vor Pestalozzi gestaltet mitten im 16. Jahrhundert in einem abgelegenen Schlosse der Gascogne sich ein Fischhändlerenkel und ehemaliger Soldat die Erziehung seines Sohnes als wohldurchdachtes Problem. Er läßt seine gelehrten humanistischen Freunde kommen und berät mit ihnen über die beste Methode, seinen Sohn von Anfang an im menschlichen und gesellschaftlichen Sinne zu etwas Außerordentlichem zu erziehen, und in manchen Punkten zeigt diese für jene Zeit wahrhaft verblüffende Fürsorge Übereinstimmung mit den modernsten Auffassungen. Schon der erste Beginn ist erstaunlich. Gleich aus der Wiege und von der Mutterbrust hinweg wird der Säugling, statt daß man wie sonst in aristokratischen Häusern eine Amme nimmt, aus dem Schlosse Montaigne entfernt und zu Leuten aus dem untersten Stande gegeben, zu armen Holzfällern in einem winzigen Weiler, der zur Seigneurie der Montaignes gehört. Der Vater will damit das Kind nicht nur zur »Einfachheit und Anspruchslosigkeit« erziehen und hofft es körperlich abzuhärten, er will es, in einer damals fast unverständlichen demokratischen Anwandlung, von Anfang an »dem Volke nahebringen und den Lebensbedingungen der Menschen, die unserer Hilfe bedürfen«. Vielleicht hat Pierre Eyquem in seiner bürgerlichen Zeit, ehe er noch den Adelstitel trug, den Hochmut der Privilegierten mit Erbitterung an sich erfahren. So will er, daß sein Sohn sich von Anfang an nicht als einer der »Oberen«, als Mitglied einer privilegierten Klasse empfinde, sondern frühzeitig lerne, »sich den Menschen zuzuwenden, die uns ihren Arm leihen, und nicht so sehr denen, die uns ihren Rücken weisen«. Körperlich scheint Montaigne die frugale und spartanische Zeit in der armseligen Köhlerhütte gut angeschlagen zu haben, und er berichtet, daß er als Kind sich dermaßen an die einfache Kost gewöhnt habe, daß er statt der Zuckerwaren, Konfitüren und Plätzchen immer nur die gewöhnliche Nahrung der Bauern bevorzugte: »Schwarzbrot, Speck und Milch.« Zeitlebens ist Montaigne seinem Vater dafür dankbar gewesen, daß er ihn gleichsam mit der Muttermilch vorurteilsfrei gemacht hat, und während Balzac es bis zu seinem Tode seiner Mutter vorwirft, daß sie ihn bis zu seinem vierten Jahre in das Haus eines Gendarmen gegeben, statt ihn bei sich zu behalten, billigt Montaigne das wohlgemeinte Experiment mit dem Versprechen: »Wenn ich Jungen haben sollte, dann wünschte ich ihnen aus freien Stücken das gleiche Schicksal, das ich hatte.«

Um so krasser ist dann der Umschwung, sobald der Vater das Kind nach drei Jahren wieder in das Schloß Montaigne nimmt. Nach dem Rat der gelehrten Freunde soll die Seele geschmeidig gemacht werden, nachdem der Körper gefestigt ist. Wie vom Heißen ins Kalte wird der junge Michel vom Proletarischen ins Humanistische hinübergestellt. Von Anfang an ist Pierre Eyquem in seinem Ehrgeiz entschlossen, aus seinem Sohn nicht einen müßigen Edelmann zu machen, der seine Zeit bei Würfeln, Wein und Jagd zwecklos vergeudet, oder einen bloßen Kaufmann und Geldraffer. Er soll aufsteigen in die höchsten Kreise derjenigen, die durch geistige Überlegenheit, durch Bildung und Kultur die Schicksale der Zeit im Rate der Könige lenken und mit ihrem Wort die Ereignisse beeinflussen, die statt in der Enge der Provinz in den weiteren Kreisen der Welt ihre Heimat haben. Der Schlüssel aber zu diesem geistigen Reich ist im Jahrhundert des Humanismus das Latein, und so beschließt Vater Montaigne, seinem Sohn dieses magische Instrument möglichst frühzeitig in die Hand zu geben. Auf dem abgelegenen Schloß in Périgord wird ein Experiment kuriosester Art in Szene gesetzt, das eines gewissen komödienhaften Zuges nicht entbehrt. Der Vater läßt mit großen Kosten einen deutschen Gelehrten kommen, und zwar bewußt einen, der kein einziges Wort französisch versteht, und noch zwei nicht minder gelehrte Gehilfen werden ihm beigestellt, die unter strengstem Verbot mit dem Kind nicht anders als in lateinischer Sprache sprechen dürfen. Die ersten und einzigen Vokabeln und Sätze, die das vierjährige Kind lernt, sind lateinische, und um zu verhüten, daß der Knabe sich gleichzeitig die französische Muttersprache aneignen könne und daß damit die Reinheit und Vollkommenheit seiner lateinischen Diktion gestört werde, wird um den kleinen Michel ein unsichtbarer Ring gezogen. Wenn der Vater, die Mutter oder die Diener dem Kinde etwas mitteilen wollen, müssen sie sich selbst zuvor die lateinischen Brocken von den Lehrern eintrichtern lassen. Und so entsteht im Schlosse Montaigne die wahrhaft lustspielhafte Situation, daß um eines pädagogischen Experimentes willen ein ganzes Haus mit Eltern und Gesinde um eines Vierjährigen willen Latein lernen muß. Das hat dann die amüsante Folge, daß einzelne Worte und lateinische Vornamen bis weit hinein in die Nachbardörfer in Umlauf kommen.

Immerhin wird dadurch mit Leichtigkeit das gewünschte Resultat erzielt; der zukünftige große französische Prosaist weiß zwar mit sechs Jahren noch nicht einen einzigen Satz in seiner Muttersprache zu sagen, aber er hat ohne Buch, Grammatik und irgendwelchen Zwang, ohne Rute und ohne Tränen Latein in der reinsten und vollkommensten Form sprechen gelernt. Die antike Weltsprache ist so sehr Ursprache und Muttersprache für ihn, daß er zeitlebens Bücher in ihr beinahe lieber liest als in der eigenen. Und im Augenblick des Schreckens oder plötzlicher Aufschreie kommt ihm unwillkürlich das lateinische Wort statt des französischen in den Mund. Wäre Montaigne nicht in seinen Mannesjahren schon in den Niedergang des Humanismus geraten, so wären seine Werke wahrscheinlich wie die des Erasmus ausschließlich in dieser erneuerten Kunstsprache geschrieben worden und Frankreich hätte einen seiner meisterlichsten Schriftsteller verloren.

Diese Methode, seinen Sohn Latein ohne Anstrengung, ohne Bücher und gleichsam nur im Spiel erlernen zu lassen, ist aber nur eine Auswirkung der allgemeinen, wohlüberlegten Tendenz des Vaters, das Kind heranzubilden, ohne ihm die mindeste Mühe zu machen. Im Gegensatz zur harten Erziehung der Zeit, die mit dem Stock starre Vorschriften einhämmert, soll es sich seinen eigenen inneren Neigungen gemäß entwickeln und gestalten. Ausdrücklich haben die humanistischen Berater den fürsorglichen Vater angewiesen, »er sollte mir Geschmack am Wissen und an meinen Pflichten dadurch beibringen, daß mein freier Wille und mein eigener Wunsch danach geweckt wurde, ohne Zwang. Meine Seele sollte ganz sanft und in aller Freiheit erhoben werden, ohne Härte und unnatürlichen Druck.«

Bis zu welchem Grade diese bewußte Kultivierung des individuellen Willens auf dem sonderbaren Schlosse in Périgord geübt wurde, bezeugt ein amüsantes Detail. Offenbar hat einer der Präzeptoren geäußert, es sei schädlich für das »zarte Gehirn des Kindes«, wenn man es morgens »mit einem Schlage gewaltsam« aus dem Schlafe wecke. So wird ein besonderes System ersonnen, den Nerven des Knaben selbst diese geringfügigste Erschütterung zu ersparen: Michel de Montaigne wird in seinem kleinen Kinderbett täglich durch Musik erweckt. Flötenspieler oder Geigenkünstler umstehen wartend das Lager, bis ihnen das Zeichen gegeben wird, den schlafenden Michel durch eine Melodie sanft aus seinen Träumen ins Wachen zu führen, und dieser zärtliche Brauch wird mit strengster Sorgfalt eingehalten. »Zu keinem Zeitpunkt«, berichtet Montaigne, »war ich ohne Bedienung.« Kein bourbonischer Königssohn, kein habsburgischer Kaisersproß ist je mit solcher Rücksicht aufgezogen worden wie dieser Enkel gascognischer Fischhändler und jüdischer Geldmakler.

 

Eine solche superindividualistische Erziehung, die einem Kinde nichts verbietet und jeder seiner Neigungen freie Bahn läßt, stellt ein Experiment dar, und sogar ein nicht ungefährliches. Denn derart verwöhnt zu sein, niemals einen Widerstand zu finden und keiner Zucht sich fügen zu müssen, läßt einem Kinde die Möglichkeit, jede Laune wie jedes eingeborene Laster zu entwickeln. Und Montaigne gibt später selbst zu, daß er es nur einem Glücksfalle zu danken habe, wenn diese laxe und schonungsvolle Erziehung bei ihm gut angeschlagen habe.

»Wenn aus mir etwas Rechtes geworden ist, so möchte ich sagen, daß ich gewissermaßen unschuldig dazu gekommen bin, durch Zufall und wie von selbst. Wenn ich mit einer zuchtloseren Anlage geboren worden wäre, dann fürchte ich, wäre es recht kläglich mit mir ausgegangen.«

Gewisse Spuren dieser Erziehung, im Guten und im Schlimmen, sind freilich bei ihm sein Leben lang fühlbar geblieben, vor allem der hartnäckige Widerstand, sich irgendeiner Autorität zu fügen, einer Disziplin sich unterzuordnen, und auch eine gewisse Atrophie des Willens geht darauf zurück. Diese Kindheit hat Montaigne für alle kommenden Jahre verwöhnt, jeder starken und gewaltsamen Anspannung, allem Schwierigen, Regelmäßigen, Pflichthaften möglichst auszuweichen und immer nur dem eigenen Willen, der eigenen Laune nachzugeben. Jene »Weichheit« und »Sorglosigkeit«, die er oft bei sich beklagt, mag ihren innersten Kern in diesen Jahren haben, aber zugleich auch sein unbändiger Wille, frei zu bleiben und sich niemals einer fremden Meinung sklavisch unterzuordnen. Der gütigen Fürsorge seines Vaters hat er es zu danken, wenn er später stolz sagen darf:

»Ich besitze eine freie Seele, die völlig in sich ruht und gewöhnt ist, sich selbst zu lenken, wie es ihr gefällt.« Wer einmal selbst als Unmündiger mit noch unbewußten Sinnen die Wollust und Wohltat der Freiheit erkannt hat, wird sie nie mehr vergessen und verlieren.

 

Diese nachsichtig verwöhnende Erziehungsform bedeutet einen entscheidenden Glücksfall für Montaignes besondere Seelenentfaltung. Aber es ist auch ein Glück für ihn, daß sie rechtzeitig ein Ende nimmt. Um Freiheit zu würdigen, muß man Zwang kennengelernt haben, und diese Erziehung wird Montaigne reichlich gegeben, sobald er mit sechs Jahren ins Kollegium von Bordeaux geschickt wird, wo er bis zum dreizehnten Jahre verbleibt. Nicht daß dort der Sohn des reichsten Mannes und Bürgermeisters der Stadt sehr hart und energisch angefaßt worden wäre; das einzige Mal, da er die Rute bekommt, geschieht es »recht sänftlich«. Aber es ist immerhin eine strenge Disziplin, der er dort begegnet, eine Disziplin, die selbstherrlich ihre Anschauungen dem Schüler aufnötigt, ohne ihn nach den seinen zu fragen. Zum ersten Male muß er regelmäßig lernen, und unbewußt wehrt sich der Instinkt des Kindes, das nur gewohnt war, seinem eignen Willen zu folgen, gegen ein Wissen, das starr formuliert und präpariert ihm aufgezwungen wird. »Die Lehrer donnern immer in unsere Ohren«, klagt er, »als ob sie es in eine Röhre gössen, und unser Geschäft ist nur, zu wiederholen, was sie uns sagen.« Statt in den Schülern eigne Meinungen sich fruchtbar entwickeln zu lassen, füllen sie ihnen das Gedächtnis mit totem Stoff an, – »unser Verständnis und Bewußtsein bleibt dabei leer«, so klagt er. Und dann fragt er erbittert: »Was nützt es uns, daß wir uns den Bauch mit Fleisch füllen, wenn wir es nicht verdauen können, wenn es sich nicht in uns umbildet, uns stärkt und kräftigt?« Es erbittert ihn, daß die Scholasten des Kollegiums ihn Fakten und Zahlen und Gesetze und Systeme lernen lassen – nicht umsonst hat man die Rektoren jener Schule damals Pedanten genannt – und daß sie ihm ein Buchwissen, einen »reinen Bücherdünkel« aufzwingen wollen. Er empört sich darüber, daß sie den für den besten Schüler erklären, der am willigsten sich das merkt, was sie ihm vorsagen. Gerade das Zuviel an übernommenem Wissen ertötet die Fähigkeit, sich selbständig ein persönliches Weltbild aufzubauen: »So wie die Pflanzen unter zuviel Feuchtigkeit eingehen oder die Lampen unter zuviel Öl erlöschen, so wird auch unsere geistige Tätigkeit durch ein Übermaß an Studien und Stoff beeinflußt.«

Ein solches Wissen ist nur eine Belastung des Gedächtnisses, nicht eine Funktion der Seele:

»Etwas auswendig wissen bedeutet nicht, daß man etwas weiß, sondern lediglich, daß man etwas im Gedächtnis behalten hat.«

Nicht das Datum der Schlacht von Cannae zu wissen ist wichtig bei der Lektüre des Livius und Plutarch, sondern die Charaktere Scipios und Hannibals zu kennen; nicht das kalte historische Faktum bedeutet ihm etwas, sondern sein menschlicher, sein seelischer Gehalt. So wird der reife Mann später seinen Schullehrern, die ihm selbst nichts als Regeln eindrillen wollten, eine schlechte Note und gleichzeitig eine gute Lektion erteilen. »Unsere Lehrer«, so sagt er in seinen späteren Jahren, »sollten nur das beurteilen, was ein Schüler durch das Zeugnis seines Lebens, nicht durch sein bloßes Gedächtnis gewonnen hat. Laßt den jungen Menschen alles, was er liest, prüfen und sieben und ihn nichts bloß auf Treu und Glauben oder Autorität hinnehmen. Gerade die verschiedensten Meinungen sollten ihm vorgelegt werden. Ist er fähig, so wird er seine Wahl treffen, wenn nicht, im Zweifel bleiben. Wer aber nur anderen folgt, der folgt keiner Sache, findet keine Sache, und sucht sogar keine Sache.«

Eine solche freigeistige Erziehung vermochten die guten Lehrer, obwohl sich unter ihnen ausgezeichnete und sogar berühmte Humanisten befanden, dem eigenwilligen Knaben nicht zu geben. Und so wird er ohne Dank von seiner Schule Abschied nehmen. Er verläßt sie »ohne ein Ergebnis, das ich noch jetzt in Rechnung stellen könnte«, wie er dann später sagt.

Wie Montaigne mit seinen Lehrern, so dürften auch diese mit ihrem Schüler nicht sonderlich zufrieden gewesen sein. Denn abgesehen von jenem inneren Widerstand gegen jedes Buchwissen, Schulwissen, Kopfwissen, gegen jede Disziplin und Ordnung, fehlte Montaigne – wie so vielen anderen hervorragenden Naturen, in denen die geistige Intensität in voller Kraft erst nach der Pubertät erwacht – eine rasche und geschmeidige Auffassungsgabe. Dieser später so wache, bewegliche und neugierige Geist ist in jenen Entwicklungsjahren in einer merkwürdigen Dumpfheit befangen. Es ist eine gewisse Trägheit, die auf ihm lastet:

»Ich war zwar von guter Gesundheit, und meiner Natur nach immer sanft und umgänglich, aber ich war damals so schwerfällig, schlaff und schläfrig, daß man mich aus meinem Müßiggang nicht herausreißen konnte, nicht einmal wenn man mich zum Spielen bringen wollte.«

Seine Fähigkeit des scharfen Beobachtens ist zwar schon vorhanden, aber gleichsam nur in potentiellem Zustand und in seltenen Augenblicken:

»Was ich sah, das beobachtete ich gut, und unter der Decke jenes schwerfälligen Naturells wuchsen in mir schon kühne Gedanken und Ansichten, die weit über mein Alter hinausgingen.«

Aber diese glücklichen Augenblicke wirken nur nach innen. Sie machen sich den Lehrern kaum bemerkbar, und Montaigne wirft ihnen keineswegs vor, ihn unterschätzt zu haben, sondern gibt seiner Jugend ein hartes Zeugnis:

»Mein Geist war träge und bewegte sich nur so weit vorwärts, wie man ihn anspornte; mein Begriffsvermögen entwickelte sich erst spät; meine Erfindungsgabe war matt, und vor allem litt ich an einer unglaublichen Schwäche des Gedächtnisses.«

Niemandem aber wird die Schule mehr zur Qual als den Begabten, deren Anlagen sie mit ihren trockenen Methoden nicht aufzulockern und fruchtbar zu machen weiß. Und wenn Montaigne diesem Gefängnis seiner Jugend heil entkommen ist, so war es nur, weil er wie so viele andere – Balzac hat es im »Louis Lambert« am schönsten geschildert – den heimlichen Tröster und Helfer findet: das dichterische Buch neben dem Schulbuch. Wie Louis Lambert kann er, einmal diesem Zauber der freien Lektüre verfallen, nicht mehr enden. Der junge Montaigne liest begeistert die Metamorphosen des Ovid, Virgils Aeneis, die Dramen des Plautus in der Originalsprache, die seine eigentliche Muttersprache ist. Und dieses Verständnis der klassischen Werke sowie seine Meisterschaft in der Behandlung des gesprochenen lateinischen Wortes bringt den schlechten und schläfrigen Schüler im Kollegium auf sonderbare Weise wieder zu Ehren. Einer seiner Lehrer, George Buchanan, der später in der Geschichte Schottlands eine bedeutsame Rolle spielen wird, ist der Verfasser damals hochgeachteter lateinischer Tragödien, und in diesen sowie in anderen lateinischen Theaterstücken tritt Montaigne mit viel Glück bei den Schulaufführungen als Schauspieler auf. Er übertrifft alle anderen durch die Modulationsfähigkeit seiner Stimme und die früh erworbene Meisterschaft in der lateinischen Sprache. Mit dreizehn Jahren ist die Erziehung des Unerziehbaren äußerlich schon abgeschlossen, und von nun ab wird Montaigne sein Leben lang sein eigner Lehrer und Schüler sein.

Nach der Schule, dem Kollegium, scheint dem Dreizehnjährigen noch eine gewisse Erholungszeit im väterlichen Hause gewährt worden zu sein, ehe er an der Universität Toulouse, oder vielleicht Paris Rechtswissenschaften studierte. Jedenfalls betrachtet er selbst mit dem zwanzigsten Jahre seine Entwicklung als endgültig abgeschlossen:

»Was mich anbelangt, so glaube ich, daß unsere Seele mit zwanzig Jahren bereits das geworden ist, was sie werden soll, und daß sie dann schon alle Anlagen erkennen läßt, die ihr gegeben sind... Es steht für mich fest, daß von diesem Zeitpunkt ab sowohl mein Geist wie mein Körper eher abgenommen als zugenommen haben, eher zurückgeblieben als fortgeschritten sind.«

Von diesem Montaigne der Zeit seiner zum ersten Male gesammelten Frische und Kraft ist uns kein Porträt erhalten. Aber er hat sich selbst zeit seines Lebens immer wieder mit solcher Sorgsamkeit, Lust und Schärfe beschrieben, daß man sich im Vertrauen auf seine Wahrheitsliebe eine zureichende physiognomische Vorstellung machen kann. Von Statur ist Montaigne, wie sein Vater, auffallend klein, ein Umstand, den er selbst als Nachteil empfindet und beklagt, weil diese wenigen Zoll unter dem Mittelmaß ihn einerseits auffällig machen und andererseits die Autorität seines Auftretens vermindern. Aber es bleibt genug übrig, um den jungen Edelmann wohlansehnlich zu machen. Der feste, gesunde Körper, der zarte Schnitt des Gesichtes, sein schmales Oval mit feingezogener Nase, in dem jede Linie hübsch geschwungen ist, die klare Stirn, die schön gewölbten Augenbrauen, der saftige Mund über und unter dem kastanienbraunen Bärtchen, das ihn wie mit heimlicher Absicht verschattet – das ist das Bild, das der junge Montaigne der Welt bietet. Die Augen, auffallend durch ihren starken, spähenden Glanz, dürften damals noch nicht den leicht melancholischen Blick gezeigt haben, der in den Porträts späterer Tage zu bemerken ist. Nach seinem eigenen Bericht war er dem Temperament nach, wenn auch nicht gerade lebendig und fröhlich, so doch wenigstens ruhig und ausgeglichen. Für die ritterlichen Tugenden, für Sport und Spiel fehlte ihm die körperliche Agilität und Vitalität seines Vaters, der noch mit sechzig Jahren, bloß auf seinen Daumen gestützt, sich im Sprung über den Tisch schwingen kann und im Sturm, immer drei Stufen auf einmal, die Treppen seines Schlosses emporläuft.

»Beweglich und geschickt bin ich nie gewesen. In der Musik oder im Singen oder Spielen eines Instrumentes konnte man mir nie etwas beibringen; ich hatte keine Begabung dafür. Beim Tanzen, Ballspiel oder Ringen brachte ich es nie über das Mittelmaß hinaus; beim Schwimmen, im Sprung über Hindernisse oder im Weitsprung und im Fechten versagte ich ganz. Meine Finger sind so ungeschickt, daß ich selbst nicht lesen kann, was ich geschrieben habe; ich kann nicht einmal einen Brief anständig zusammenfalten. Ich könnte mir nie eine Schreibfeder schneiden oder mein Pferd satteln, einen Falken fliegen lassen oder mit Hunden, Vögeln und Pferden umgehen.«

Sein Sinn ist mehr auf Geselligkeit gerichtet, und dieser widmet er sich dann auch, neben der Freude an Frauen, die ihn nach seiner eignen Aussage von frühester Stunde an und ausgiebig verlockt haben. Dank seiner besonders lebendigen Phantasie faßt er leicht auf. Ohne ein Stutzer zu sein – er bekennt, daß er dank einer gewissen Nonchalance, der sein Naturell zuneigt, zu den Leuten gehört, deren reiche Kleider doch immer etwas traurige Figur auf ihren Schultern machen –, sucht er Umgang und Kameradschaft. Und seine rechte Lust ist Diskussion, aber Diskussion gleichsam als Florettspiel, nicht aus Streitsucht oder Ressentiment. Über dem heißen gascognischen Blut, das ihn allerdings manchmal zu raschen, leidenschaftlichen Ausbrüchen treibt, wacht von Anfang an der klare, von Natur aus temperierte Verstand. Montaigne, den jede Roheit entsetzt, jede Brutalität anekelt, fühlt sich beim bloßen Anblick des Leidens bei anderen »physisch gepeinigt«. Der junge Montaigne, vor dem Stadium seiner erlernten und erdachten Weisheit, besitzt nichts als die instinktive Weisheit, das Leben und sich selbst in diesem Leben zu lieben. Noch ist nichts in ihm entschieden, kein Ziel sichtbar, dem er entgegenstrebt, keine Begabung, die sich deutlich oder herrisch kundgibt. Unschlüssig blickt der Zwanzigjährige mit seinen neugierigen Augen in die Welt, um zu sehen, was sie ihm, was er ihr zu geben hat.

 

4. Kapitel

Es ist ein entscheidendes Datum im Leben Montaignes, als 1568 sein Vater Pierre Eyquem stirbt. Denn bisher hatte er mit Vater, Mutter, Gattin, Brüdern und Schwestern in dem Schlosse gelebt, das er etwas emphatisch »das Schloß seiner Ahnen« nennt, ohne sich um Vermögen, Wirtschaft und Geschäfte zu kümmern. Durch den Tod seines Vaters wird er ein Erbe, und sogar ein reicher Erbe. Als dem Erstgeborenen fällt ihm der Titel zu und eine Rente von zehntausend Livres, aber damit auch die Last der Verantwortung für den ganzen Besitz. Die Mutter wird mit ihrer eingebrachten Mitgift abgefunden, und nun hat Montaigne, als major domus, als Haupt der Familie, die Pflicht, die hundert kleinen Geschäfte und täglichen Verrechnungen zu leiten oder wenigstens zu prüfen, er, der nur ungern für sein eignes Tun und Lassen verantwortlich sein will. Und nichts ist Montaigne widriger als eine regelmäßige Beschäftigung, die Pflichtgefühl, Ausdauer, Zähigkeit, Sorgsamkeit, also durchaus methodische Tugenden erfordert. Unbefangen gesteht er ein, wie wenig er sich bis zur Mitte seines Lebens um die Hauswirtschaft gekümmert hat. Der Herr über Güter, Wälder, Wiesen und Weingärten bekennt offen: »Ich kann eine Kornart nicht von der anderen unterscheiden, weder auf dem Felde noch im Speicher, wenn der Unterschied nicht ganz augenfällig ist. Ich weiß kaum, ob das Kohl oder Salat ist, was in meinem Garten steht. Ich kenne nicht einmal die Bezeichnungen für die wichtigsten Geräte der Landwirtschaft und das, was jedes Kind weiß. Kein Monat vergeht, ohne daß ich dabei ertappt werde, daß ich keine Ahnung habe, wozu der Sauerteig beim Brotbacken dient oder was da eigentlich vorgeht, wenn sie den Wein in der Kufe mischen.« Aber ebenso ungeeignet wie mit Spaten und Schaufel ist dieser neue Gutsbesitzer in seiner Gutskanzlei. »Ich kann mich nie dazu überwinden, die Kontrakte durchzulesen oder die Abmachungen zu überprüfen, die eigentlich notwendigerweise durch meine Hände gehen und von mir kontrolliert werden müßten. Nicht aus philosophischer Verachtung der weltlichen und vergänglichen Dinge – nein, es ist in Wahrheit eine unentschuldbare kindische Faulheit und Nachlässigkeit. Alles würde ich lieber tun, als einen solchen Kontrakt durchzulesen.«

An und für sich ist ihm das Erbe, das ihm zugefallen ist, willkommen, denn Montaigne liebt sein Vermögen, das ihm die innere Unabhängigkeit sichert. Aber er wünschte sie zu haben, ohne sich damit zu schaffen zu machen: »Es ist mir am liebsten, wenn meine Verluste oder Mißhelligkeiten in meinen Geschäften mir verborgen bleiben.« Kaum, daß ihm eine Tochter geboren ist, träumt er schon davon, daß ein Schwiegersohn ihm all diese Arbeit und Sorge abnehmen möge. Er möchte die Verwaltung so erledigen, wie er Politik treiben wollte und alles andere auf Erden: gelegentlich, wenn er gerade Lust dazu hat, und mit der linken Hand, ohne sich selbst zu beteiligen. Er erkennt, daß Besitz ein Danaergeschenk ist, das täglich und stündlich verteidigt werden will. »Ich würde noch immer ganz zufrieden sein, wenn ich das Leben, das ich jetzt führe, gegen ein einfacheres eintauschen könnte, das nicht so von geschäftlichen Beanspruchungen starrt.«

Um diese goldne Last, die ihm die Schulter drückt, leichter zu tragen, beschließt Montaigne, eine andere abzuwerfen. Der Ehrgeiz seines Vaters hat ihn ins öffentliche Leben gedrängt. Etwa fünfzehn Jahre ist er Beisitzer in der niederen Kammer des Parlaments gewesen und nicht weiter gekommen in seiner Karriere. Nun, nach dem Tode seines Vaters, stellt er die Frage an das Schicksal. Er läßt sich, nachdem er die ganze Zeit der zehnte Beisitzer der Chambre des Enquêtes gewesen ist, als Kandidat für den Aufstieg in die große Kammer aufstellen. Am 14. November 1569 beschließt die Kammer jedoch, Montaigne abzuweisen, unter dem Vorwand, daß sein Schwiegervater Präsident und ein Schwager bereits Rat der großen Kammer sei. Die Entscheidung fällt gegen ihn, aber im höheren Sinn für ihn aus, denn damit hat Montaigne einen Grund oder Vorwand, dem öffentlichen Dienst Valet zu sagen. Er legt seine Stellung nieder, oder vielmehr, er verkauft sie und dient von diesem Tage an der Öffentlichkeit nur mehr in seinem Sinne: gelegentlich und wenn eine besondere Aufgabe ihn lockt. Ob nicht auch geheime Gründe bei diesem Rückzug ins Privatleben mitgespielt haben, ist schwer zu mutmaßen. Jedenfalls muß Montaigne gespürt haben, daß die Zeit zu einer Entscheidung drängt, und er liebt keine Entscheidungen. Die öffentliche Atmosphäre ist von neuem vergiftet. Wieder haben die Protestanten zu den Waffen gegriffen und die Bartholomäusnacht ist nahe. Montaigne hat im Sinne seines Freundes La Boétie seine politische Aufgabe nur darin gesehen, im Sinne der Konzilianz und Toleranz zu wirken. Seiner Natur gemäß war er der geborene Vermittler zwischen den Parteien, und seine eigentliche Leistung im öffentlichen Dienst hat immer in solchen geheimen Vermittlungsverhandlungen bestanden. Aber die Zeit dafür ist nun vorbei; es kommt zu einem Entweder-Oder. Frankreich muß hugenottisch oder katholisch werden. Die nächsten Jahre werden ungeheure Verantwortung jedem aufbürden, der sich mit den Geschicken des Landes beschäftigt, und Montaigne ist der geschworene Feind jeder Verantwortung. Er will den Entscheidungen ausweichen. Als der Weise in einer Zeit des Fanatismus sucht er Rückzug und Flucht.

In seinem 38. Jahr hat sich Montaigne zurückgezogen. Er will niemandem mehr dienen als sich selbst. Er ist müde der Politik, der Öffentlichkeit, der Geschäfte. Es ist ein Augenblick der Desillusion. Er ist weniger als sein Vater, was äußeres Ansehen und Stellung im Leben anbetrifft. Er ist ein schlechterer Beamter gewesen, ein schlechterer Gatte, ein schlechterer Verwalter. Was ist er nun wirklich? Er hat das Gefühl, daß sein bisheriges Leben falsch war; er will jetzt richtig leben, nachdenken und nachsinnen. In den Büchern hofft er die Lösung für das Problem »Leben und Sterben« zu finden.

Und um sich gleichsam die Rückkehr in die Welt abzuschneiden, läßt er sich in lateinischer Sprache an der Wand seiner Bibliothek die Inschrift anbringen:

»Im Jahre des Herrn 1571, im Alter von 37 Jahren, am Vorabend der Kalenden des März, an seinem Geburtstag hat Michel de Montaigne, seit langem schon müde des Sklavendienstes am Hof und der Bürden öffentlicher Ämter, aber noch im Vollbesitz seiner Kräfte, beschlossen, sich an der jungfräulichen Brust der Musen auszuruhen. Hier, in Stille und Geborgenheit, wird er den sinkenden Ablauf eines Lebens vollenden, dessen größter Teil bereits vorübergegangen ist wenn das Schicksal ihm erlaubt, diesen Aufenthaltsort und den friedlichen Ruhesitz seiner Väter zu behalten. Er hat diesen Raum der Freiheit, der Stille und der Muße geweiht.«

Dieser Abschied soll mehr sein als ein Abschied vom Amt. Es soll eine Absage sein an die äußere Welt. Bisher hat er für andere gelebt, – jetzt will er für sich leben. Bisher hat er getan, was das Amt, der Hof, der Vater von ihm forderten – nun will er nur mehr tun, was ihm Freude macht. Wo er helfen wollte, konnte er nichts ausrichten; wo er aufstrebte, da versperrte man ihm den Weg; wo er raten wollte, hat man seinen Rat mißachtet. Er hat Erfahrungen gesammelt, nun will er ihren Sinn finden und die Wurzel aus der Summe ziehen. Michel de Montaigne hat achtunddreißig Jahre gelebt; nun will Michel de Montaigne wissen, wer eigentlich dieser Michel de Montaigne ist.

Aber auch dieser Rückzug in das eigene Haus, in das private Leben ist Montaigne nicht genug. Denn zwar gehört ihm das Haus nach Erbe und Recht, aber er fühlt, daß er eigentlich mehr dem Hause gehört als sich selbst. Da ist die Frau, da ist die Mutter, da sind die Kinder, die ihm alle nicht sonderlich wichtig sind – es gibt eine merkwürdige Stelle, wo er eingesteht, nicht recht zu wissen, wie viele seiner Kinder gestorben sind –, da sind die Angestellten, die Pächter, die Bauern, und all das will überdacht sein. Die Familie lebt nicht immer sehr friedlich zusammen; es ist ein volles Haus, und er will allein sein. All das ist ihm widerlich, störend, unbequem, und er denkt wie sein Vorbild La Boétie, von dem er als Tugend rühmt: »La Boétie hat während seines ganzen Lebens die Asche seines häuslichen Herdes verächtlich hinter sich gelassen.« Montaigne hat nicht auf den öffentlichen Dienst verzichtet, um jetzt als Familienvater täglich kleinere Sorgen um sich zu haben. Er will dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, aber nicht einen Tropfen mehr. Er will lesen, denken, genießen; er will sich nicht beschäftigen lassen, sondern sich selbst beschäftigen. Was Montaigne sucht, ist sein inneres Ich, das nicht dem Staat, der Familie, der Zeit, den Umständen, dem Gelde, dem Besitz gehören soll, jenes innere Ich, das Goethe die »Zitadelle« nannte, in die er niemandem Einlaß gewährte.

Der Weg aus dem Amt ins Haus war nur der erste Rückzug; jetzt zieht er sich vor der Familie, den Ansprüchen des Besitzes, den Geschäften zum zweiten Male zurück in die Zitadelle.

 

Diese Zitadelle, die Goethe nur symbolisch meint, schafft und baut sich Michel de Montaigne wirklich mit Steinen und Schloß und Riegel. Heute kann man sich kaum noch rekonstruieren, wie das Schloß Montaigne damals ausgesehen hat; es ist in späteren Zeiten mehrfach umgebaut worden, und 1882 hat ein Brand die Baulichkeiten völlig vernichtet, glücklicherweise mit Ausnahme jener »Zitadelle« Michel de Montaignes, seines berühmten Turms.

Als Michel de Montaigne das Haus übernimmt, findet er einen runden, hohen, festen Turm vor, den sein Vater anscheinend zu Befestigungszwecken angelegt hat. Im dunklen Erdgeschoß ist eine kleine Kapelle, in der ein halb verloschenes Fresco den heiligen Michael darstellt, wie er den Drachen niederzwingt. Eine enge Wendeltreppe führt zu einem runden Zimmer im ersten Stock, das Montaigne um seiner Abgeschlossenheit willen zu seinem Schlafzimmer erwählt. Aber erst das Stockwerk darüber, bisher der »nutzloseste Raum des ganzen Gebäudes«, eine Art Rumpelkammer, wird für ihn der wichtigste Ort im Hause. Aus ihm beschließt er eine Stätte der Meditation zu machen. Von diesem Zimmer aus hat er den Blick auf sein Haus, seine Felder. Wenn ihn die Neugier faßt, kann er sehen, was vorgeht, und alles überwachen. Aber niemand kann ihn überwachen, niemand ihn stören in dieser Abgeschlossenheit. Der Raum ist groß genug, um darin auf und ab zu gehen, und Montaigne sagt von sich, daß er nur bei körperlicher Bewegung gut denken kann. Er läßt die Bibliothek, die er von La Boétie geerbt hat, und seine eigene hier aufstellen. Die Deckenbalken werden mit 54 lateinischen Maximen bemalt, so daß sein Blick, wenn er müßig nach oben schweift, irgendein weises und beruhigendes Wort findet. Nur die letzte der 54 ist in französisch, sie lautet »Que sais-je?«. Nebenan befindet sich noch ein kleines Kabinett für den Winter, das er mit einigen Gemälden schmücken läßt, die dann übermalt wurden, weil sie etwas zu leichtfertig für den späteren Geschmack waren.

Diese Isolation mit ihren Inschriften hat etwas Pompöses, etwas Künstliches. Man hat das Gefühl, daß Montaigne sich damit selbst disziplinieren, zur Einsamkeit disziplinieren will. Da er sich nicht wie ein Einsiedler einem religiösen Gesetz, einem Eide unterwirft, will er sich selber festhalten und zwingen. Vielleicht weiß er selbst nicht, warum, aber es ist ein innerer Wille, der ihn treibt. Dieses Sich-Abschließen bedeutet einen Anfang. Jetzt, da er aufhört für die Außenwelt zu leben, beginnt das Leben schöpferischer Muße. Hier in seinem Turm wird Montaigne Montaigne.

 

5. Kapitel

Das schöpferische Jahrzehnt

 

 

Das schönste Glück des denkenden Menschen ist,
das Erforschliche erforscht zu haben
und das Unerforschliche ruhig zu verehren.

Goethe

 

 

In diesem Turm verbringt in den nächsten zehn Jahren Michel de Montaigne den größten Teil seines Lebens. Ein paar Stufen hinauf die Wendeltreppe und er hört nicht mehr Lärm und Gespräch des Hauses, er weiß nichts mehr von den Angelegenheiten, die ihn so stören. Denn »ich habe ein zartes Herz, das sich leicht beunruhigt. Wenn es sich mit etwas beschäftigt, dann kann schon eine Fliege, die dagegenstößt, es umbringen.« Blickt er zum Fenster hinaus, so sieht er unten seinen Garten, seinen Wirtschaftshof und darin seine Hausgenossen. Um ihn aber ist nichts in dem runden Raum als seine Bücher. Einen Großteil hat er von La Boétie geerbt, die andern hat er sich dazugekauft. Nicht daß er den ganzen Tag liest; es ist schon das Bewußtsein ihrer Gegenwart, das ihn beglückt.

»Da ich weiß, daß ich mich an ihnen erfreuen kann, wann es mir gefällt, bin ich schon mit ihrem bloßen Besitz zufrieden. Ich gehe nie ohne Bücher auf Reisen, weder in Kriegs- noch in Friedenszeiten. Aber oft vergehen Tage und Monate, ohne daß ich in sie hineinblicke. Ich werde das mit der Zeit schon noch lesen, so sage ich zu mir selbst, oder morgen, oder wenn es mir gerade gefällt ... Bücher sind, das habe ich gefunden, der beste Proviant, den man auf die Lebensreise mitnehmen kann.«

Bücher sind für ihn nicht wie Menschen, die ihn bedrängen und beschwatzen und die man Mühe hat loszuwerden. Wenn man sie nicht ruft, kommen sie nicht; er kann dieses oder jenes zur Hand nehmen, je nach seiner Laune.

»Meine Bücherei ist mein Königreich, und hier versuche ich als absoluter Herrscher zu regieren.«

Die Bücher sagen ihm ihre Meinung, und er antwortet mit der seinen. Sie sprechen ihre Gedanken aus und regen bei ihm Gedanken an. Sie stören nicht, wenn er schweigt; sie sprechen nur, wenn er sie fragt. Hier ist sein Reich. Sie dienen seinem Vergnügen.

 

Wie Montaigne liest und was er gerne liest, hat er in unübertrefflicher Weise erzählt. Sein Verhältnis zu den Büchern ist wie in allen Dingen das der Freiheit. Auch hier erkennt er keine Pflichten an. Er will lesen und lernen, aber nur gerade soviel, wie es ihm gefällt, und gerade dann, wenn es ihm Vergnügen macht. Als junger Mensch, so sagt er, habe er gelesen, »um damit zu prunken«, um mit Kenntnissen zu prahlen; später, um etwas weiser zu werden, und jetzt nur mehr zum Vergnügen und niemals um eines Vorteils willen. Ist ein Buch ihm zu langweilig, so schlägt er ein anderes auf. Ist ihm eines zu schwer, »so kaue ich mir nicht die Nägel über den schwierigen Stellen ab, die ich in einem Buche finde. Ein oder zwei Mal mache ich einen Vorstoß, dann gebe ich es auf, denn mein Verstand ist nur für einen Sprung geschaffen. Wenn ich einen Punkt nicht auf den ersten Blick begreife, dann helfen erneute Anstrengungen nichts; sie machen die Sache nur noch dunkler.« Im Augenblick, wo die Lektüre Mühe macht, läßt dieser lässige Leser das Buch fallen: »Ich brauche nicht über ihnen zu schwitzen, und ich kann sie wegwerfen, wenn es mir paßt.« Er hat sich nicht in den Turm gesetzt, um ein Gelehrter zu werden oder ein Scholast; von den Büchern verlangt er, daß sie ihn anregen sollen und nur durch Anregung belehren. Er verabscheut alles Systematische, alles, was ihm fremde Meinung und fremdes Wissen aufzwingen will. Alles, was Lehrbuch ist, ist ihm widerlich. »Im allgemeinen wähle ich Bücher, in denen die Wissenschaft bereits benutzt ist und nicht solche, die erst zu ihr hinführen.« Ein träger Leser, ein Amateur der Lektüre, aber einen besseren, einen klügeren Leser hat es in seiner Zeit und in allen Zeiten nie gegeben. Das Urteil Montaignes über Bücher ist man bereit, hundertprozentig zu unterschreiben.

Im allgemeinen hat er zwei Vorlieben. Er liebt die reine Dichtung, obwohl er selbst dafür gar keine Begabung besitzt und zugibt, daß die lateinischen Verse, in denen er sich versucht hat, immer nur Imitationen des gerade zuletzt Gelesenen waren. Er bewundert hier die Kunst der Sprache; aber er ist ebenso bezaubert von der einfachen Volkspoesie. Nur das, was in der Mitte liegt, was Literatur ist und nicht reine Dichtung, läßt ihn kalt.

Liebt er so einerseits die Phantasie, so haben es ihm andererseits die Fakten angetan, und darum ist Geschichte »das Wild, das ihn lockt«. Auch da, ganz in unserem Sinne, liebt er die Extreme. »Ich schätze die Geschichtsschreiber, die entweder sehr einfach oder von hohem Rang sind.« Er liebt die Chronisten wie Froissart, die nur den nackten Rohstoff der Geschichte beibringen, und andererseits wieder die wirklich »fähigen und ausgezeichneten Historiker«, die aus diesem Rohmaterial falsch und wahr mit wirklicher Psychologie zu sondern wissen – »und das ist ein Privileg, das nur sehr wenige besitzen«. Darum, so sagt er, »bereiten diejenigen, die Biographien schreiben, die rechte Speise für mich zu. Denn sie legen mehr Wert auf die Motive als auf die Ereignisse, es geht ihnen mehr darum, was von innen her kommt, als was äußerlich geschieht. Deshalb ist vor allen anderen Plutarch mein Mann.«

Die anderen, die dazwischenfallen, die weder Künstler noch Naive sind, »verderben nur alles. Sie wollen uns das Fleisch vorkauen, sie maßen sich das Recht an, über die Geschichte zu richten und sie entsprechend ihren eignen Vorurteilen zu verdrehen.« So liebt er die Welt der Bilder und Symbole im Gedicht – die Welt der Tatsachen in der Prosa, höchste Kunst oder absolute Kunstlosigkeit, den Dichter oder den simplen Chronisten. »Der Rest ist Literatur«, wie Verlaine sagt.

Als den Hauptvorzug der Bücher für ihn rühmt Montaigne, daß die Lektüre mit ihrer Vielfalt vor allem sein Urteilsvermögen anregt. Sie reizt ihn, zu antworten, seine eigne Meinung zu sagen. Und so gewöhnt sich Montaigne an, in den Büchern Notizen zu machen, anzustreichen, und am Ende das Datum einzuschreiben, an dem er das Buch gelesen hat, oder auch den Eindruck, den es ihm zu jener Zeit gemacht. Es ist kein Kritisieren, es ist noch nicht Schriftstellern, es ist nur ein Dialogisieren mit dem Bleistift in der Hand, und nichts liegt ihm im Anfang ferner, als irgend etwas im Zusammenhang niederzuschreiben. Aber allmählich beginnt die Einsamkeit seines Zimmers auf ihn zu wirken, die vielen stummen Stimmen der Bücher fordern immer dringender eine Antwort, und um seine eignen Gedanken zu kontrollieren, sucht er einige schriftlich festzuhalten. So wird aus dieser lässigen Lektüre doch eine Tätigkeit. Er hat sie nicht gesucht – sie hat ihn gefunden.

»Als ich mich auf mein Haus zurückzog, da hatte ich beschlossen, so weit als irgend möglich mich in keinerlei Angelegenheiten einzumischen, sondern die geringe Zeit, die mir noch bleiben würde, in Frieden und Zurückgezogenheit zu verbringen. Es schien mir, daß ich meinen Geist nicht besser befriedigen könnte, als wenn ich ihm volle Muße gewährte, sich in seinen eignen Gedanken zu ergehen und sich mit ihnen zu vergnügen. Und ich hoffte, daß er mit dem Laufe der Zeit, da er gefestigter und reifer geworden wäre, das mit größerer Leichtigkeit bewerkstelligen könnte. Aber das Gegenteil war der Fall. Wie ein Pferd, das ausbricht, gab er sich selbst hundertfach weiteren Spielraum. In mir erhob sich eine ganze Horde von Chimären und phantastischen Gestalten, eine nach der anderen, ohne Ordnung oder Beziehung zueinander. Um ihre Seltsamkeit und Absurdheit besser mit kühlem Kopf ins Auge zu fassen, begann ich sie zu Papier zu bringen. Ich hoffte, daß mein Geist sich sehr bald seiner selbst schämen würde. Ein Verstand, der sich kein festes Ziel setzt, verliert sich. Wer überall sein will, ist nirgends. Kein Wind dient dem Manne, der keinen Hafen ansteuert.«

Die Gedanken gehen ihm durch den Kopf; er notiert sie ohne jede Verpflichtung, denn nicht im entferntesten denkt der Schloßherr von Montaigne daran, diese kleinen Versuche – essais – drucken zu lassen.

»Wenn ich meine Gedanken so hin- und herwerfe – Muster, die ich vom Tuch abschneide, zusammengestückt ohne Plan oder Vorsatz –, so bin ich weder verpflichtet, für sie gerade zu stehen oder mich an sie zu halten. Ich kann sie fallen lassen, wenn mir das paßt; ich kann zu meinen Zweifeln und meiner Unsicherheit zurückkehren, und zu meiner beherrschenden Geistesform, der Unwissenheit.«

Er fühlt sich nicht gehalten, exakt wie ein Gelehrter, originell wie ein Schriftsteller oder wie ein Dichter eminent in seiner Diktion zu sein. Er hat durchaus nicht wie die Fachphilosophen die Präsumption, daß diese Gedanken kein anderer zuvor gedacht haben dürfe. Deshalb macht es ihm auch gar keine Sorge, hie und da etwas hinzuschreiben, was er gerade im Cicero oder Seneca gelesen hat.

»Oft lasse ich andere etwas für mich sagen, was ich selbst nicht so gut sagen kann. Ich zähle meine Entlehnungen nicht – ich wiege sie ab.«

Mit Absicht läßt er dann auch die Namen aus. Aber all das gibt er willig zu: er freue sich, wenn er etwas stehlen, ändern und verkleiden könne, wenn damit nur etwas Neues, Zweckmäßiges erreicht wird. Er ist nur »réfléchisseur«, nicht Schriftsteller, und er nimmt das, was er skribbelt, nicht allzu ernst:

»Meine Absicht ist es, den Rest meines Lebens friedlich, und nicht in schwerer Arbeit zu verbringen. Es gibt nichts, wofür ich mir den Kopf zerbrechen möchte, auch nicht im Dienste der Wissenschaft.«

Ununterbrochen wiederholt Montaigne in seinem Verlangen nach Freiheit, daß er kein Philosoph sei, kein Schriftsteller und kein vollendeter Künstler. Weder was er sage noch was er zitiere, solle als Beispiel dienen, als Autorität oder als Muster.

»Mir selbst gefallen meine Notizen keineswegs, wenn ich sie wieder überlese. Sie mißfallen mir.«

Wenn es ein Gesetz gäbe gegen unnütze und unverschämte Skribenten wie gegen Vaganten und Nichtstuer, so sagt er, dann müßte man ihn und hundert andere aus dem Königreich verbannen. Es verrät ein wenig Eitelkeit, wenn er immer wieder betont, wie schlecht er schreibt, wie nachlässig er sei, wie wenig er von der Grammatik wisse, daß er kein Gedächtnis habe und völlig unfähig sei, das, was er wirklich sagen wolle, auszudrücken.

»Ich bin alles andere eher als ein Bücherschreiber. Meine Aufgabe ist es, meinem Leben Gestalt zu geben. Das ist mein einziger Beruf, meine einzige Sendung.«

 

Ein Nicht-Schriftsteller, ein vornehmer Herr, der nicht recht weiß, was er mit seiner Zeit anfangen soll, und darum ab und zu ein paar Gedanken in formloser Weise aufzeichnet: so wird Montaigne nicht müde, sich zu schildern. Und dieses Porträt ist richtig für die ersten Jahre, in denen die ersten Essais in ihrer ersten Form entstanden. Aber warum, so muß man fragen, entschließt sich dann der Herr von Montaigne, diese Versuche 1580 in Bordeaux in zwei Bänden drucken zu lassen? Ohne es zu wissen, ist Montaigne Schriftsteller geworden. Die Veröffentlichung hat ihn dazu gemacht.

Alle Öffentlichkeit ist ein Spiegel; jeder Mensch hat ein anderes Gesicht, wenn er sich beobachtet fühlt. De facto beginnt Montaigne, kaum daß diese ersten Bände erschienen sind, für die anderen zu schreiben, und nicht nur für sich. Er fängt an, die Essais umzuarbeiten, zu erweitern; ein dritter Band wurde 1588 den beiden ersten hinzugefügt, und das berühmte Exemplar von Bordeaux mit seinen nachgelassenen Notizen für eine neue Ausgabe zeigt, wie er bis zu seinem Todestage jeden Ausdruck gefeilt, ja selbst die Interpunktion verändert hat. Die späteren Ausgaben enthalten unzählige Füllungen. Sie sind vollgestopft mit Zitaten; Montaigne glaubt zeigen zu müssen, daß er viel gelesen hat, und er stellt sich selbst immer mehr in den Mittelpunkt. Während er früher nur bemüht war, sich kennenzulernen, soll die Welt nun erfahren, wer Montaigne war. Er gibt ein Porträt von sich, und es ist bis auf einige Züge prachtvoll wahrheitsgetreu gezeichnet.

Aber im allgemeinen gilt doch: die erste Fassung der Essais, die weniger von ihm persönlich sagt, sagt mehr. Sie ist der wirkliche Montaigne, der Montaigne im Turm, der Mann, der sich sucht. Es ist mehr Freiheit in ihnen, mehr Ehrlichkeit. Auch der Weiseste entgeht der Versuchung nicht; auch der freieste Mensch hat seine Bindungen.

 

6. Kapitel

Montaigne wird nicht müde, über sein schlechtes Gedächtnis zu klagen. Er empfindet es – gleichzeitig mit einer gewissen Trägheit – als den eigentlichen Defekt seines Wesens. Sein Verstand, seine Perzeptionskraft ist außerordentlich. Was er sieht, was er begreift, was er beobachtet, was er erkennt, das erfaßt er mit einem rapiden Falkenblick. Aber er ist dann zu bequem, wie er sich immer wieder vorwirft, diese Erkenntnisse systematisch zu ordnen, logisch auszubauen, und kaum gefaßt, verliert sich, vergißt sich wieder jeder Gedanke. Er vergißt die Bücher, die er gelesen hat, er hat kein Gedächtnis für Daten, er erinnert sich an wesentliche Lebensumstände nicht. Alles geht an ihm vorüber wie ein Strom und läßt nichts zurück, keine bestimmte Überzeugung, keine feste Ansicht, nichts Starres, nichts Bleibendes.

Diese Schwäche, die Montaigne so sehr bei sich beklagt, ist in Wirklichkeit seine Stärke. Sein Bei-nichts-stehen-Bleiben zwingt ihn, immer weiter zu gehen. Nichts ist für ihn abgetan. Er sitzt nicht auf seinen Erfahrungen, er erwirbt kein Kapital, von dem er zehrt, sondern sein Geist muß es sich immer wieder erobern. So wird sein Leben ein ständiger Erneuerungsprozeß: »Unablässig beginnen wir von neuem zu leben.« Die Wahrheiten, die er findet, sind im nächsten Jahr und oft schon im nächsten Monat nicht mehr Wahrheiten. Er muß von neuem suchen. So ergeben sich viele Widersprüche. Bald scheint er ein Epikuräer, bald ein Stoiker, bald ein Skeptiker. Er ist alles und nichts, immer ein anderer und immer derselbe, der Montaigne von 1550, 1560, 1570, 1580, der Montaigne von gestern noch.

Dieses Suchen ist Montaignes eigenste Lust, nicht das Finden. Er gehört nicht zu den Philosophen, die nach dem Stein der Weisen suchen, nach einer zweckdienlichen Formel. Er will kein Dogma, keine Lehre und hat ständig Angst vor starren Behauptungen: »Nichts kühn behaupten, nichts leichtfertig leugnen.« Er geht auf kein Ziel zu. Jeder Weg ist für seine »pensée vagabonde« der rechte. So ist er nichts weniger als ein Philosoph, es sei denn im Sinne des Sokrates, den er am meisten liebt, weil er nichts hinterlassen hat, kein Dogma, keine Lehre, kein Gesetz, kein System, nichts als eine Gestalt: der Mensch, der sich in allem und alles in sich sucht.

Wir danken vielleicht das Beste an Montaigne seinem unermüdlichen Suchertrieb, seiner Neugierlust, seinem schlechten Gedächtnis, und auch den Schriftsteller verdanken wir ihnen. Montaigne weiß, daß er die Gedanken vergißt, die er in einem Buche liest, und sogar die Gedanken, die ein Buch in ihm angeregt. Um sie festzuhalten, seine »songes«, seine »rêveries«, die sonst Welle über Welle überflutet werden, hat er nur ein Mittel: sie zu fixieren, am Rande eines Buches, auf dem letzten Blatt. Dann allmählich auf einzelnen Zetteln, wie sie ihm der Zufall bringt, ein »Mosaik ohne Bindung«, wie er sie selber nennt. Es sind Notizen, Erinnerungszeichen zuerst, und nicht viel mehr; nur allmählich versucht er einen gewissen Zusammenhang zwischen ihnen zu finden. Er versucht es mit dem Vorgefühl, nicht zum richtigen Ende zu kommen; meist schreibt er in einem Zug, und deshalb bewahren seine Sätze ihren spontanen Charakter.

Aber immer ist er überzeugt, daß sie nicht das Eigentliche sind. Schreiben und notieren ist ihm nur ein Nebenprodukt, ein Niederschlag – fast möchte man bösartig sagen, wie der Sand in seinem Harn, wie die Perle in der Auster. Das Hauptprodukt ist das Leben, von dem sie nur ein Splitter und Abfall sind: »mein Beruf, meine Kunst ist, zu leben«. Sie sind etwa, was eine Photographie für ein Kunstwerk sein kann, nicht mehr. Der Schriftsteller in ihm ist nur ein Schatten des Menschen, während wir sonst tausendfach bei Menschen staunen, wie groß ihre Schreibkunst, wie gering ihre Lebenskunst ist.

Er schreibt – er ist kein Schriftsteller. Das Schreiben ist ihm nur ein Ersatz. Neue Worte zu suchen, erscheint ihm ein »kindischer Ehrgeiz«. Der Sprache, der Rede sollen seine Sätze ähneln, sie sollen so einfach und simpel auf dem Papier stehen, wie sie aus dem Munde kommen, saftig, nervig, kurz, nicht zierlich und zugespitzt. Sie sollen nicht pedantisch und »mönchisch« sein, sondern eher »soldatisch«.

Weil aus zufälligem Anlaß jeder einzelne dieser Essais entstanden ist, aus einer Laune, aus einem Buch, aus einem Gespräch, einer Anekdote, darum scheinen sie zunächst ein bloßes Nebeneinander, und so hat sie Montaigne auch selbst empfunden. Er hat nie versucht, sie zu ordnen, sie zusammenzufassen. Aber allmählich entdeckt er, daß all diese Essais doch ein Gemeinsames haben, einen Mittelpunkt, einen Zusammenhang, eine Zielrichtung. Sie haben einen Punkt, von dem sie ausgehen oder auf den sie zurückführen, und immer denselben: das Ich. Erst scheint er nach Schmetterlingen zu haschen, nach dem Schatten an der Wand; nach und nach wird ihm klar, daß er etwas Bestimmtes sucht, zu einem bestimmten Zweck: sich selbst, daß er über das Leben nachdenkt in all seinen Formen, um richtig zu leben – aber richtig nur für sich selbst. Was ihm müßige Laune geschienen hat, offenbart allmählich seinen Sinn. Was immer er beschreibt: er beschreibt eigentlich nur die Reaktion seines Ichs auf dies und jenes. Die Essais haben einen einzigen Gegenstand, und er ist derselbe wie der seines Lebens: das »moi« oder vielmehr »mon essence«.

Er entdeckt sich als Aufgabe, denn »die Seele, die kein festes Ziel hat, verliert sich«. Als Aufgabe hat er sich gestellt, zu sich selbst aufrichtig zu sein, so wie er sich das als Pindars Weisheit notiert, »aufrichtig zu sein, ist der Beginn einer großen Tugend«. Kaum daß er dies entdeckt hat, beginnt die vormals fast spielerische Tätigkeit, das »amusement«, etwas Neues zu werden. Er wird zum Psychologen, er betreibt Autopsychologie. Wer bin ich, fragt er sich. Drei bis vier Menschen vor ihm haben sich diese Frage gestellt. Er erschrickt vor der Aufgabe, die er sich gestellt hat. Seine erste Entdeckung: es ist schwer zu sagen, wer man ist. Er versucht sich nach außen zu stellen, sich zu sehen »wie einen anderen«. Er belauscht, er beobachtet, er studiert sich, er wird, wie er sagt, »meine Metaphysik und Physik«. Er läßt sich nicht mehr aus dem Auge und sagt, daß er seit Jahren nichts unkontrolliert getan habe: »Ich weiß von keiner Bewegung mehr, die sich meinem Verstand verbirgt.« Er ist nicht mehr allein, er wird zwei. Und er entdeckt, daß dieses »amusement« kein Ende hat, daß dieses Ich nichts Starres ist, daß es sich wandelt, in Wellen, »ondulant«, daß der Montaigne von heute nicht dem von gestern gleicht. Er stellt fest, daß man also nur Phasen, Zustände, Einzelheiten entwickeln kann.

Aber jede Einzelheit ist wichtig; gerade die kleine, die flüchtige Geste lehrt mehr als die starre Haltung. Er nimmt sich unter die Zeitlupe. Er löst, was eine Einheit scheint, auf in eine Summe von Bewegungen, von Wandlungen. So wird er mit sich nicht fertig, so bleibt er ewig auf der Suche. Doch um sich zu verstehen, genügt es nicht, sich zu betrachten. Man sieht die Welt nicht, wenn man nur auf den eignen Nabel blickt. Darum liest er Geschichte, darum studiert er Philosophie, nicht um sich zu belehren, sich überzeugen zu lassen, sondern um zu sehen, wie andere Menschen gehandelt haben, um sein Ich neben andere zu stellen.

Er studiert die »reichen Seelen der Vergangenheit«, um sich ihnen zu vergleichen. Er studiert die Tugenden, die Laster, die Fehler und die Vorzüge, die Weisheit und die Kindischkeit der andern. Geschichte ist sein großes Lehrbuch, denn in den Aktionen offenbart sich, wie er sagt, der Mensch.

So ist es eigentlich nicht das Ich, das Selbst, das Montaigne sucht, er sucht gleichzeitig das Menschliche. Er unterscheidet genau, daß in jedem Menschen das Gemeinsame ist, und etwas Einmaliges: die Persönlichkeit, eine »essence«, eine Mischung, die unvergleichbar ist mit allen andern, geformt schon im zwanzigsten Lebensjahr. Und daneben das allgemein Menschliche, das, in dem jeder sich gleicht, jedes dieser gebrechlichen, begrenzten Wesen, die eingebannt sind in die großen Gesetze, eingeschlossen in die Spanne zwischen Geburt und Tod. So sucht er zweierlei. Er sucht das Ich, das Einmalige, Besondere, das Ich Montaigne, das er keineswegs als besonders außerordentlich, besonders interessant empfindet, aber das doch unvergleichlich ist und das er unbewußt der Welt erhalten will. Er sucht das Ich in uns, das seine eignen Manifestationen finden will, und dann das andere, das uns gemeinsam ist.

Wie Goethe die Urpflanze, so sucht er den Urmenschen, den Allmenschen, die reine Form, in der noch nichts ausgeprägt ist, die nicht entstellt ist von Vorurteilen und Vorteilen, von Sitten und Gesetzen. Es ist kein Zufall, daß ihn jene Brasilianer, die er in Rouen trifft, so faszinieren, die keinen Gott, keinen Führer, keine Religion, keine Sitte, keine Moral kennen. Er sieht in ihnen gleichsam den unverstellten, unverdorbenen Menschen, die reine Folie einerseits und dann die Schrift, mit der jeder einzelne Mensch sich auf dem leeren Blatt verewigt. Was Goethe sagt in seinen »Urworten« über die Persönlichkeit, ist das Seine:

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Man hat dieses Suchen nach sich selbst, dieses sich immer an den Anfang und das Ende jeder Betrachtung stellen Montaignes Egoismus genannt, und insbesondere Pascal hat es als Hochmut, als Selbstgefälligkeit, ja sogar als Sünde, als seinen Ur-Defekt bezeichnet. Aber Montaignes Haltung bedeutet keine Abwendung von den andern, keinen Exhibitionismus wie bei Jean Jacques Rousseau. Nichts liegt ihm ferner als Selbstgefälligkeit und Selbstentzückung. Er ist kein Abgesonderter, kein Einsiedler, er sucht nicht, um sich zu zeigen, nicht um zu prunken, sondern für sich. Wenn er sagt, daß er sich unablässig analysiert, so betont er zugleich, daß er sich unaufhörlich tadelt. Er handelt aus einem Willen, seiner Natur entsprechend. Und wenn es ein Fehler ist, so gesteht er ihn willig ein. Wenn es wahr sein sollte, daß es eine Überheblichkeit ist, die Menschen mit seinem Ich zu behelligen, so leugnet er diese Eigenschaft nicht, weil er sie besitzt, auch wenn sie »krankhaft« sein sollte: »und ich darf diesen Fehler nicht verheimlichen; er ist bei mir nicht nur im Schwange, sondern mein Beruf.« Es ist seine Funktion, seine Begabung, auch seine Freude tausendmal mehr als seine Eitelkeit. Der Blick auf sein Ich hat ihn nicht fremd gemacht der Welt. Er ist nicht Diogenes, der in sein Faß kriecht, nicht Rousseau, der sich eingräbt in einen monomanischen Verfolgungswahnsinn. Es ist nichts, was ihn bitter macht oder von der Welt entfernen soll, die er liebt. »Ich liebe das Leben und nutze es so, wie es Gott gefallen hat, es uns zu geben.« Daß er sein Ich gepflegt hat, hat ihn nicht einsam gemacht, sondern ihm Tausende von Freunden gebracht. Wer sein eignes Leben schildert, lebt für alle Menschen, wer seine Zeit zum Ausdruck bringt, für alle Zeiten.

Es ist wahr: Montaigne hat sein Leben lang nichts andres getan als gefragt: wie lebe ich? Aber das Wunderbare, das Wohltätige bei ihm ist, daß er nie versucht hat, diese Frage in einen Imperativ zu verwandeln, dies »Wie lebe ich?« in ein »So sollst du leben!« Der Mann, der »Que sais-je?« auf seine Medaille als Wahlspruch prägen ließ, hat nichts mehr gehaßt als starre Behauptungen. Er hat nie versucht, andern anzuraten, was er für sich nicht genau wußte: »Dies hier ist nicht meine Lehre, es ist meine Bemühung um das Wissen, und es ist nicht die Weisheit anderer Leute, sondern die meine.« Mag ein anderer daraus irgendeinen Vorteil ziehen, so hat er nichts dawider. Mag das, was er sagt, Narrheit sein, Irrtum, es soll niemand daran Schaden nehmen. »Wenn ich mich zum Narren mache, so geht das auf meine Kosten und ohne Nachteil für irgend jemand, denn es ist eine Torheit, die in mir bleibt und keinerlei Folgen hat.«

Was er gesucht hat, hat er für sich gesucht. Was er gefunden hat, gilt für jeden andern genau so viel, als er davon nehmen will oder kann. Was in Freiheit gedacht ist, kann nie die Freiheit eines andern beschränken.

 

7. Kapitel

Die Verteidigung der Zitadelle

In den ganzen Werken Montaignes habe ich nur eine einzige Formel und eine einzige starre Behauptung gefunden: »La plus grande chose au monde est savoir être à soi.« Nicht eine äußere Stellung, nicht der Vorzug des Geblüts, der Begabung machen den Adel des Menschen, sondern der Grad, in dem es ihm gelingt, sich seine Persönlichkeit zu bewahren und sein eigenes Leben zu leben. Darum ist für ihn die höchste Kunst unter den Künsten die der Selbsterhaltung: »Beginnen wir bei den Freien Künsten mit der Kunst, die uns frei macht«, und niemand hat sie besser geübt. Das scheint einerseits ein geringes Verlangen, denn nichts wäre auf den ersten Blick natürlicher, als daß der Mensch sich geneigt fühlte, er selber zu bleiben, das Leben »gemäß seiner natürlichen Anlage« zu führen. Aber in Wirklichkeit, wenn man näher hinblickt, was ist schwerer?

Um frei zu sein, darf man nicht verschuldet sein und nicht verstrickt, und wir sind verstrickt, an den Staat, an die Gemeinschaft, an die Familie; der Sprache, die wir sprechen, sind die Gedanken Untertan; der isolierte Mensch, der völlig freie, ist ein Phantom. Es ist unmöglich, im Vakuum zu leben. Wir sind bewußt oder unbewußt durch Erziehung Sklaven der Sitte, der Religion, der Anschauungen; wir atmen die Luft der Zeit.

Von all dem sich loszusagen, ist unmöglich. Montaigne weiß dies selbst, ein Mann, der im Leben seine Pflichten gegen Staat, Familie, Gesellschaft erfüllt, der Religion wenigstens äußerlich treu angehangen, die Umgangsformen geübt hat. Was Montaigne für sich sucht, ist nur, die Grenze zu finden. Wir dürfen uns nicht hergeben, wir dürfen uns nur »herleihen«. Es ist nötig, »die Freiheit unserer Seele sich aufzusparen und nicht auszuleihen, außer bei den seltenen Gelegenheiten, wo wir es klar für richtig halten«. Wir brauchen uns nicht von der Welt zu entfernen, nicht in eine Zelle zurückzuziehen. Aber wir haben einen Unterschied zu machen: wir mögen dies oder jenes lieben, aber mit nichts uns »ehelich verbinden« als mit uns selbst. Alles, was wir an Leidenschaften oder Begehrnissen haben, lehnt Montaigne nicht ab. Im Gegenteil, er rät uns immer, soviel zu genießen wie möglich, er ist ein diesseitiger Mensch, der keine Einschränkungen kennt; wen Politik freut, der soll Politik treiben, wer Bücher liebt, Bücher lesen, wer die Jagd liebt, soll jagen, wer sein Haus, Grund und Boden und Geld und die Dinge liebt, soll sich ihnen hingeben. Aber dies ist ihm das Wichtigste: man soll nehmen, soviel einem gefällt, und sich nicht von den Dingen nehmen lassen. »Im Haus, bei den Studien, bei der Jagd und jeder anderen Übung muß man bis zu den äußersten Grenzen des Genusses gehen, aber sich hüten, sie zu überschreiten, sonst beginnt sich der Schmerz einzumischen.« Man soll nicht durch Pflichtgefühl, durch Leidenschaft, durch Ehrgeiz sich weiter treiben lassen, als man eigentlich gehen wollte und will, man soll unablässig prüfen, wieviel die Dinge wert sind, und sie nicht überschätzen; man soll dort enden, wo das Behagen endet. Man soll den Kopf wach halten, sich nicht binden, nicht Sklave werden, frei sein.

Aber Montaigne macht keinerlei Vorschriften. Er gibt nur ein Beispiel, wie er es selbst versucht, sich unablässig von allem zu befreien, was ihn hemmt, stört, einschränkt. Man könnte versuchen, eine Tabelle aufzustellen:

Freisein von Eitelkeit und Stolz, dies vielleicht das Schwerste.

Sich nicht überheben.

Freisein von Furcht und Hoffnung, Glauben und Aberglauben. Frei von Überzeugungen und Parteien.

Freisein von Gewohnheiten: »Die Gewohnheit verbirgt uns das wahre Gesicht der Dinge.«

Frei von Ambitionen und jeder Form von Gier: »Die Ruhmsucht ist die nutzloseste, wertloseste und falscheste Münze, die in Umlauf ist.«

Frei von Familie und Umgebung. Frei von Fanatismus: »jedes Land glaubt, die vollkommenste Religion« zu besitzen, in allen Dingen an der Spitze zu stehen. Frei sein vom Schicksal. Wir sind seine Herren. Wir geben den Dingen Farbe und Gesicht.

Und die letzte Freiheit: vom Tode. Das Leben hängt vom Willen anderer ab, der Tod von unserem Willen: »La plus volontaire mort est la plus belle.«

Als den Menschen, der sich von allem loslöst, an nichts bindet, der im Leeren lebt und alles bezweifelt, hat man ihn sehen wollen. So hat ihn auch Pascal geschildert. Nichts ist falscher. Montaigne liebt unermeßlich das Leben. Die einzige Furcht, die er kannte, war die vor dem Tode. Und er liebt im Leben alles, wie es ist. »In der Natur ist nichts zwecklos, nicht einmal die Zwecklosigkeit. Nichts existiert im Weltall, was nicht an der rechten Stelle wäre.« Er liebt das Häßliche, weil es das Schöne sichtbar macht, das Laster, weil es die Tugend hervorhebt, die Dummheit und das Verbrechen. Alles ist gut, und Gott segnet die Vielfalt. Was der einfachste Mensch ihm sagt, ist wichtig, mit offnen Augen kann man von dem Dümmsten lernen, vom Analphabeten mehr als von dem Gelehrten. Er liebt die Seele, die in »mehreren Stockwerken zu Hause ist« und sich überall wohlfühlt, wo sie vom Schicksal hingestellt wird, den Menschen, der sich »mit seinem Nachbarn über sein Haus bereden kann, seine Jagd, seine Rechtsstreitigkeiten, der auch vergnüglich mit einem Tischler oder Gärtner sich unterhält«.

Falsch ist nur eines und verbrecherisch: diese vielfältige Welt in Doktrinen und Systeme einschließen zu wollen, falsch ist, andere Menschen abzulenken von ihrem freien Urteil, von dem, was sie wirklich wollen, und ihnen etwas aufzunötigen, was nicht in ihnen ist. Nur solche sind die Ehrfurchtslosen vor der Freiheit, und nichts hat Montaigne so sehr gehaßt wie die »frénésie«, die Tobsucht der geistigen Diktatoren, die ihre »Neuigkeiten« frech und eitel als die einzige und unumstößliche Wahrheit der Welt aufprägen wollen und denen das Blut von Hunderttausenden von Menschen gleichgültig ist, wenn sie nur recht behalten.

So mündet, wie immer eines freien Denkers Lebenshaltung, die Montaignes in Toleranz. Der für sich frei denken will, gibt jedem andern das Recht dazu, und niemand hat es höher geachtet als er. Er schrickt nicht zurück vor den Kannibalen, jenen Brasilianern, von denen er einem in Rouen begegnet, weil sie Menschen verzehrt haben. Ruhig und klar sagt er, er finde das viel unbeträchtlicher als lebendige Menschen zu foltern, zu martern und zu quälen. Es ist kein Glaube, keine Anschauung, die er von vornherein ablehnt, sein Urteil ist von keinem Vorurteil getrübt. »Ich verfalle keineswegs jenem üblichen Irrtum, einen andern nach meinem Bilde zu beurteilen.« Er warnt vor Heftigkeit und roher Gewalt, die wie nichts anderes eine an und für sich wohlgeratene Seele verderben und betäuben können.

Es ist wichtig, dies zu sehen, weil es ein Beweis dafür ist, daß der Mensch immer frei sein kann – zu jeder Zeit. Wenn Calvin Hexenprozesse befürwortet und einen Widersacher an langsamem Feuer verenden läßt, wenn Torquemada Hunderte auf den Scheiterhaufen schickt, so haben ihre Lobpreiser entschuldigend vermerkt, sie hätten nicht anders gekonnt, es sei unmöglich, sich völlig den Anschauungen seiner Zeit zu entziehen. Aber das Menschliche ist unveränderlich. Immer haben auch in Zeiten der Fanatiker die Humanen gelebt, zur Zeit des »Hexenhammers«, der »Chambre Ardente« und der Inquisition, und nicht einen Augenblick haben diese die Klarheit und Menschlichkeit eines Erasmus, eines Montaigne, eines Castellio verwirren können. Und während die anderen, die Professoren der Sorbonne, die Konzilien, die Legaten, die Zwinglis, Calvins das »Wir wissen die Wahrheit« verkünden, ist sein Wahrspruch der des »Was weiß ich?«. Während sie mit Rad und Verbannung das »So sollt Ihr leben!« erzwingen wollen, lautet sein Rat: Denkt Eure Gedanken, nicht meine! Lebt Euer Leben! Folgt mir nicht blind nach, bleibt frei! Wer für sich selbst frei denkt, ehrt alle Freiheit auf Erden.

 

8. Kapitel

Als sich 1570 in seinem achtunddreißigsten Jahr Michel de Montaigne in seinen Turm zurückzieht, glaubt er, seinem Leben einen endgültigen Abschluß gegeben zu haben. Er hat wie später Shakespeare mit einem allzu klaren Blick die Fragilität der Dinge erkannt, den »Übermut der Ämter, den Irrwitz der Politik, die Erniedrigung des Hofdienstes, die Langeweile des Magistratsdienstes«, und vor allem seine eigene Ungeeignetheit, in der Welt zu wirken. Er hat sich bemüht zu helfen, und man hat ihn nicht gewollt, er hat sich bemüht nicht sehr dringlich allerdings und immer mit dem Stolz eines Menschen, der sich selbst achtet –, die Mächtigen zu beraten, die Fanatiker zu beschwichtigen, aber man hat sich nicht bemüht um ihn. Von Jahr zu Jahr wird die Zeit unruhiger, das Land ist im Aufruhr, die Bartholomäusnacht erweckt neues Blutvergießen. Bis an sein Haus, bis an seine Tür wälzt sich der Bürgerkrieg. So hat er den Entschluß gefaßt, sich nicht mehr einmengen, nicht mehr erschüttern zu lassen. Er will die Welt nicht mehr sehen, er will nur wie in einer camera obscura in seiner Studierstube sich spiegeln lassen. Er hat abgedankt, er hat resigniert. Mögen die andern sich um Stellungen, um Einfluß, um Ruhm bemühen, er bemüht sich nur mehr um sich selbst. Er hat sich verschanzt in seinem Turm, er hat den Wall seiner tausend Bücher zwischen sich und den Lärm gestellt. Manchmal macht er noch einen Ausflug aus seinem Turm; er reist als Ritter des St.-Michael-Ordens zum Leichenbegängnis Karls IX., er übernimmt ab und zu, wenn man ihn darum ersucht, eine politische Vermittlung, aber ist entschlossen, mit der Seele nicht mehr teilzunehmen, die Aktualität zu überwinden, die Schlachten des Herzogs von Guise und Coligny so zu sehen wie jene von Platää. Er schafft sich eine künstliche Ferne der Optik, er ist entschlossen, nicht mehr mitzuleiden, unbeteiligt zu sein, seine Welt ist das Ich. Er will ein paar Erinnerungen aufzeichnen, ein paar Gedanken zusammenstellen, mehr träumen als leben und geduldig den Tod erwarten und sich vorbereiten auf ihn.

Er sagt sich dasselbe wie wir alle so oft in ähnlichen Zeiten des Irrwitzes: kümmere dich nicht um die Welt. Du kannst sie nicht ändern, sie nicht verbessern. Kümmere dich um dich, rette in dir, was zu retten ist. Baue auf, während die andern zerstören, versuche vernünftig zu sein für dich inmitten des Wahnsinns. Schließ dich ab. Bau dir eine eigene Welt.

Aber nun ist es 1580 geworden. Er ist zehn Jahre gesessen in seinem Turm, abgeschieden von der Welt, und hat geglaubt, daß es ein Ende sei. Aber nun erkennt er seinen Irrtum oder vielmehr seine Irrtümer, und Montaigne ist immer der Mann, sich einzugestehen, wenn er einen Irrtum begangen. Der erste Irrtum war, daß er glaubte, mit achtunddreißig Jahren alt zu sein, daß er sich zu früh auf den Tod vorbereitete und eigentlich lebendig in den Sarg gelegt. Nun ist er achtundvierzig und sieht erstaunt, die Sinne sind nicht trüber geworden, sondern eher heller, das Denken klarer, die Seele gleichgültiger, neugieriger, ungeduldiger. Man weiß nicht so früh zu verzichten, das Buch des Lebens zuzuschlagen, als wäre man schon beim letzten Blatt. Es war schön, Bücher zu lesen, eine Stunde mit Plato in Griechenland zu sein, eine Stunde von Senecas Weisheit zu hören, es war Rast und Beruhigung, mit diesen Gefährten aus anderen Jahrhunderten zu leben, mit den Besten der Welt. Aber man lebt in seinem eigenen Jahrhundert, auch wenn man nicht will, und die Luft der Zeit dringt auch in die verschlossenen Räume, besonders wenn sie erregte Luft ist, schwül und fiebrig und gewitterhaft. Wir erleben das alle, auch in Abgeschlossenheit kann die Seele nicht in Ruhe bleiben, wenn das Land in Aufruhr ist. Durch Turm und Fenster spüren wir die Schwingung der Zeit, man kann sich eine Pause gönnen, aber man kann sich ihr nicht ganz entziehen.

Und dann ein anderer Irrtum, den Montaigne allmählich erkannte: er hat die Freiheit gesucht, indem er sich aus der großen Welt, aus Politik und Amt und Geschäft zurückzog in seine kleine Welt von Haus und Familie, und ist bald gewahr geworden, daß er nur ein Gebundensein gegen ein anderes vertauscht. Es hat nichts geholfen, sich einzuwurzeln in eigenen Grund, da ist Efeu und Unkraut, das um den Stamm rankt, die kleinen Mäuse von Sorgen, die an den Wurzeln nagen. Es hat nichts geholfen der Turm, den er sich gebaut und den niemand betreten darf. Wenn er aus den Fenstern blickt, sieht er, daß Reif auf den Feldern liegt, und er denkt an den verdorbenen Wein. Wenn er die Bücher aufschlägt, hört er unten zankende Stimmen, und er weiß, wenn er aus seinem Zimmer tritt, wird er die Klagen hören über die Nachbarn, die Sorgen der Verwaltung. Es ist nicht die Einsamkeit des Anachoreten, denn er hat Besitz und Besitz ist nur für den, der an ihm Freude hat. Montaigne hängt nicht daran. »Geld aufhäufen ist ein schwieriges Geschäft, von dem ich nichts verstehe.« Aber der Besitz hängt an ihm, er gibt ihn nicht frei. Montaigne übersieht klar seine Situation. Er weiß, daß aus einer höheren Perspektive all diese Vexationen kleine Sorgen sind. Persönlich würde er es gern wegwerfen: »Es wäre für mich leicht, das alles aufzugeben.« Aber solange man sich damit beschäftigt, wird man es nicht los.

An und für sich ist Montaigne kein Diogenes. Er liebt sein Haus, er liebt seinen Reichtum, seinen Adel und gesteht, daß er eine kleine Geldkassette mit Gold zur inneren Sicherung immer mit sich führt. Er genießt seine Stellung als großer Herr. »Es ist, ich gestehe es, ein Vergnügen, etwas zu beherrschen, und wenn es auch nur eine Scheune ist, und unter dem eigenen Dach Gehorsam zu haben. Aber es ist ein langweiliges Vergnügen und durch eine Reihe von Vexationen verdorben.« Man hat Plato gelesen und muß sich herumzanken mit Dienstleuten, prozessieren mit den Nachbarn, jede kleine Reparatur wird zur Sorge. Weisheit würde nun gebieten, sich um alle diese Kleinigkeiten nicht zu kümmern. Aber – jeder von uns hat es erfahren – solange man Besitz hat, klebt man am Besitz oder er hängt an einem mit tausend kleinen Haken, und nur eines hilft: Distanz, die alle Dinge verändert. Nur äußere Distanz gibt die innere. »Kaum ich fort bin von meinem Hause, streife ich alle diese Gedanken von mir ab. Und wenn in meinem Haus ein Turm zusammenfällt, kümmere ich mich weniger darum als jetzt, wenn eine Schindel vom Dache fällt.« Wer auf einen kleinen Ort sich beschränkt, gerät in kleine Proportionen. Alles ist relativ. Immer sagt es Montaigne von neuem:

Was wir Sorgen nennen, das hat nicht sein eignes Gewicht. Wir sind es, die vergrößern oder verkleinern. Das Nahe bemüht uns mehr als das Ferne, und in je kleinere Verhältnisse wir uns begeben, um so mehr bedrückt uns das Kleinliche. Entfliehen kann man nicht. Aber man kann Urlaub nehmen.

Alle diese Gründe, die in seinem achtundvierzigsten Jahr nach der Zeit der Reclusion wieder in ihm eine »humeur vagabonde« erwecken, aus allen Gewohnheiten, aus allen Regelmäßigkeiten und Sicherheiten wieder in die Welt zurückzukehren, spricht Montaigne mit seinem herrlichen menschlichen Freimut aus und sagt wie immer gerade das deutlich, was jeder von uns gefühlt. Einen anderen Grund und einen nicht minder wichtigen für seine Flucht aus der Einsamkeit muß man eher zwischen den Zeilen lesen. Montaigne hat immer und überall die Freiheit und das Wandelbare gesucht, aber auch die Familie ist eine Einschränkung und die Ehe eine Monotonie, und man hat überdies das Gefühl, als ob er nicht restlos glücklich in seinem häuslichen Leben gewesen wäre. Die Ehe, so meint er, habe die Nützlichkeit für sich, die rechtlichen Bindungen, die Ehre, die Dauer – alles »langweilige und gleichförmige Vergnügungen«. Und Montaigne ist der Mann des Wandels, er hat weder die langweiligen noch die gleichförmigen Vergnügungen geliebt.

Daß seine Ehe keine Liebesheirat gewesen, sondern eine Verstandesehe, ja daß er solche Liebesheiraten eher verurteilt und eine »Verstandesehe« für die einzig richtige erklärt, hat er in unzähligen Varianten wiederholt, und daß er sich nur einer »habitude« gefügt hätte. Jahrhundertelang hat man es ihm gründlich übelgenommen, daß er in seiner unerschütterlichen Aufrichtigkeit den Frauen eher als den Männern das Recht zugesprochen, sich zur Abwechslung einen Geliebten zu halten, ja manche Biographen haben darum an der Vaterschaft seiner letzten Kinder gezweifelt.

All das mögen theoretische Anschauungen sein. Aber es klingt nach mehrjähriger Ehe doch sonderbar, wenn er sagt: »In unserem Jahrhundert pflegen die Frauen ihre Gefühle und guten Gesinnungen gegen ihren Gatten meist so lange zu verzögern, bis er tot ist. Unser Leben ist beladen mit Gezänk, und unser Tod wird von Liebe und Fürsorge umgeben.« Er fügt sogar die mörderischen Worte hinzu, es gebe wenige Ehefrauen, die nicht im Witwenstand »gesünder werden, und Gesundheit ist eine Eigenschaft, die nicht lügen kann«. Sokrates könnte nach seinen Erfahrungen mit Xanthippe nicht unerfreulicher über die Ehe sprechen. »Daher sollst du ihren vertränten Augen keine Beachtung schenken«, und man glaubt ihn zu seiner eignen Frau sprechen zu hören, wenn er Abschied nimmt: »Eine Frau sollte ihre Blicke nicht so gierig auf die Stirn ihres Mannes heften, daß sie es nicht ertragen kann, ihn den Rücken kehren zu sehen, wenn er das nötig hat.« Wenn er einmal von einer guten Ehe spricht, so fügt er gleich die Einschränkung bei: »falls es solche gibt.«

Man sieht, die zehn Jahre Einsamkeit waren gut, aber sie sind nun genug und zuviel. Er spürt, daß er erstarrt, daß er klein und eng wird, und wenn jemand, so hat sich Montaigne sein Leben lang gegen das Erstarren gewehrt. Mit dem Instinkt, der einem schöpferischen Menschen immer sagt, wann es Zeit für ihn ist, sein Leben zu ändern, erkennt er den richtigen Augenblick. »Die beste Zeit, dein Haus zu verlassen, ist, wenn du es in Ordnung gebracht hast, so daß es auch ohne dich sehr gut bestehen kann.«

Er hat sein Haus in Ordnung gebracht, Feld und Gut ist in bester Verfassung, die Kasse so wohl gefüllt, daß er die Kosten für eine lange Reise sich wohl leisten kann, die er nur darum fürchtet, weil man, wie er meint, die Vergnügungen einer langen Abwesenheit nicht mit Sorgen bei der Rückkehr bezahlen soll. Auch das andere, das geistige Werk ist in Ordnung gebracht. Er hat das Manuskript seiner »Essais« zum Drucker gebracht und die beiden Bände, diese Kristallisation seines Lebens, sind ausgedruckt, ein Zyklus ist zu Ende, sie liegen hinter ihm, um Goethes Lieblingswort zu gebrauchen, wie eine abgestoßene Schlangenhaut. Jetzt ist es Zeit, wieder neu zu beginnen. Er hat ausgeatmet, nun gilt es wieder einzuatmen. Er hat sich eingewurzelt, nun gilt es, wieder sich zu entwurzeln. Ein neuer Abschnitt beginnt. Am 22. Juni 1580 macht sich nach zehnjähriger freiwilliger Abgeschlossenheit – Montaigne hat nie etwas anders als mit freiem Willen getan – der Achtundvierzigjährige auf eine Reise, die ihn fast zwei Jahre von Frau und Turm und Heimat und Arbeit, von allem, nur nicht von sich selbst entfernt.

 

Es ist eine Reise ins Blaue, eine Reise um des Reisens oder besser gesagt um der Lust des Reisens willen. Bisher waren seine Reisen bis zu einem gewissen Grade immer Pflichtreisen gewesen, im Auftrag des Parlaments, aus höfischen, aus geschäftlichen Rücksichten. Es waren eher Exkursionen – diesmal ist es eine richtige Reise, die kein anderes Ziel hat als sein ewiges: sich selbst zu finden. Er hat keinen Vorsatz, er weiß nicht, was er sehen wird, im Gegenteil: er will es gar nicht im voraus wissen, und wenn Leute ihn nach seinem Ziele fragen, so antwortet er heiter: Ich weiß nicht, wonach ich ausschaue in der Fremde, aber ich weiß jedenfalls sehr gut, wovor ich flüchte.

Er war lange genug im Gleichen, nun will er das Andere, und je mehr anders es ist, um so besser! Die alles bei sich zu Hause herrlich finden, mögen glücklicher sein in dieser eitlen Beschränkung; er beneidet sie nicht. Nur der Wechsel lockt ihn, nur von ihm verspricht er sich Gewinn. Nichts reizt ihn gerade an dieser Reise so sehr, als daß alles anders sein wird, die Sprache und der Himmel und die Gewohnheiten und die Menschen, der Luftdruck und die Küchen, die Straßen und das Bett. Denn sehen heißt für ihn lernen, vergleichen, besser verstehen: »Ich kenne keine bessere Schule im Leben als sich anderen Lebensgewohnheiten auszusetzen«, die einem die unendliche Vielfalt der menschlichen Natur aufzeigen.

Ein neues Kapitel beginnt für ihn. Aus Lebenskunst wird Reisekunst als Kunst des Lebens.

Um sich frei zu machen, reist Montaigne, und während der ganzen Reise gibt er ein Beispiel der Freiheit. Er reist, wenn man so sagen darf, seiner Nase nach. Er vermeidet auf der Reise alles, was an eine Verpflichtung erinnert, selbst eine Verpflichtung gegen sich selbst. Er macht keinen Plan. Die Straße soll ihn führen, wohin sie ihn führt, die Stimmung treiben, wohin sie ihn treibt. Er will sich, wenn man so sagen darf, reisen lassen statt zu reisen. Herr Michel de Montaigne will in Bordeaux nicht wissen, wo der Herr Michel de Montaigne in Paris oder in Augsburg in der nächsten Woche wird sein wollen. Das soll der andere Montaigne, der Montaigne in Augsburg oder in Paris in Freiheit bestimmen. Er will gegen sich selbst frei bleiben.

Er will nur sich bewegen. Wenn er glaubt, etwas versäumt zu haben, so geht er den Weg zurück. Ungebundenheit wird ihm allmählich zu einer Leidenschaft. Sogar schon auf dem Wege zu wissen, wohin der Weg führt, gibt ihm manchmal eine leise Bedrückung. »Ich fand solchen Genuß am Reisen, daß schon die bloße Annäherung an einen Ort, wo ich geplant hatte zu bleiben, mir verhaßt war, und ich dachte verschiedene Möglichkeiten aus, wie ich ganz allein, nach eignem Willen und eigner Bequemlichkeit, reisen könnte.«

Er sucht keine Sehenswürdigkeiten, weil ihm alles sehenswürdig scheint, was anders ist. Im Gegenteil, wenn ein Platz sehr berühmt ist, so möchte er ihm am liebsten ausweichen, weil ihn schon zuviele andere gesehen und beschrieben haben. Rom, das Ziel aller Welt, ist ihm im Vorgefühl fast unangenehm, weil es das Ziel aller Welt ist, und sein Sekretär notiert in das Tagebuch: »Ich glaube, daß er in Wirklichkeit, wenn er ganz für sich gewesen wäre, lieber bis nach Krakau oder auf dem Landweg nach Griechenland gereist wäre, als die Tour durch Italien zu machen.« Immer ist es Montaignes Grundsatz: je mehr anders, desto besser, und selbst wenn er nicht das findet, was er erwartet hat oder andere ihn erwarten ließen, ist er nicht unzufrieden. »Wenn ich nicht finde, was man mich an irgendeinem Orte erwarten ließ – denn die meisten Berichte, wie ich finde, sind falsch –, klage ich nicht darüber, meine Mühe verloren zu haben, denn ich habe wenigstens gelernt, daß dies oder jenes nicht wahr gewesen ist.« Als den richtigen Reisenden kann ihn nichts enttäuschen. Wie Goethe sagt er sich: Verdruß ist auch ein Teil des Lebens. »Gewohnheiten fremder Länder machen mir durch ihre Verschiedenheit nur Vergnügen. Ich finde, jede Sitte ist richtig in ihrer eigenen Art. Ob mir serviert wird auf Zinn, hölzernen oder irdenen Tellern, ob mein Fleisch gekocht oder gebraten ist, heiß oder kalt, ob man mir Butter oder Öl, Nüsse oder Oliven gibt, ist mir ganz einerlei.« Und der alte Relativist schämt sich für seine Landsleute, die in dem Wahn befangen sind, sie müßten sich mit jeder Gewohnheit, die ihnen widerspricht, auseinandersetzen, und sobald sie aus ihrem Dorf heraus sind, aus ihrem eigenen Element sind. Montaigne will in der Fremde das Fremde sehen – »Ich suche keine Gascogner in Sizilien, ich sehe zu Hause genug von ihnen« –, und so will er den Landsleuten ausweichen, die er zur Genüge kennt. Er will sein Urteil haben und kein Vorurteil. Wie so viele Dinge lernt man bei Montaigne auch, wie man reisen soll.

 

Mit einer letzten Sorge – man spürt es aus der Antwort, die er gibt – sucht man anscheinend zu Hause den ungestümen Reisenden noch zurückzuhalten. »Was ist mit dir, wenn du krank wirst in der Fremde«, fragte man ihn. In der Tat, Montaigne ist seit drei Jahren dem Leiden, das alle Gelehrten jener Zeit befällt, anscheinend infolge sitzender Lebensweise und unkluger Kost, verfallen. Wie Erasmus, wie Calvin quälen ihn die Gallensteine und es scheint eine harte Zumutung, zu Pferd monatelang auf fremden Straßen herumzutraben. Aber Montaigne, der auszieht nicht nur, um seine Freiheit, sondern möglichst auch seine Gesundheit auf dieser Reise wiederzufinden, schüttelt gleichgültig die Achseln: »Wenn es zur Rechten übel aussieht, wende ich mich zur Linken, wenn ich mich nicht wohl genug fühle, zu Pferde zu steigen, dann halte ich eben an. Habe ich etwas vergessen, dann kehre ich zurück – es ist immer noch mein Weg.«

Und ebenso hat er eine Antwort auf die Sorge, daß er in der Fremde sterben könnte: wenn er sich davor fürchten sollte, so könnte er sich eigentlich kaum aus seinem Pfarrbezirk Montaigne herauswagen, geschweige denn über die Grenzen Frankreichs. Der Tod ist überall, und er würde ihm im Grunde lieber zu Pferde begegnen als im Bett.

Als dem rechten Kosmopoliten ist es ihm gleichgültig.

Am 22. Juni 1580 reist Michel de Montaigne aus dem Tor seines Schlosses in die Freiheit. Ihn begleiten sein Schwager, einige Freunde und ein zwanzigjähriger Bruder. Die Wahl ist nicht ganz glücklich: Gefährten, die er selber späterhin nicht ganz für die richtigen erklärt und die ihrerseits wieder unter der sonderbaren, eigenwilligen, persönlichen Art Montaignes, »de visiter les pays inconnus«, nicht wenig leiden. Es ist nicht die Ausfahrt eines Grandseigneurs, aber immerhin ein stattlicher Train. Das Wichtigste ist, daß er kein Vorurteil, keine Hochmütigkeit, keine festgefaßten Anschauungen mitnimmt.

Der Weg geht zunächst nach Paris, der Stadt, die Montaigne von jeher liebt und die ihn immer wieder von neuem entzückt.

Einige Exemplare seines Buches sind ihm schon vorausgereist, aber zwei Bände bringt er persönlich mit, um sie dem König zu überreichen. Heinrich III. hat eigentlich nicht viel Sinn dafür; er steht wie gewöhnlich im Kriege. Aber da alle Welt am Hof das Buch liest und davon entzückt ist, liest er es auch und lädt Montaigne ein der Belagerung von La Fère beizuwohnen. Montaigne, den alles interessiert, sieht nach Jahren wieder den wirklichen Krieg und zugleich auch sein Grauen, denn einer seiner Freunde, Philibert de Gramont, wird dort von einer Kugel getötet. Er begleitet seine Leiche nach Soissons und beginnt am 5. September 1580 das merkwürdige Tagebuch. In sonderbarer Analogie zu Goethe hatte so wie dort der dürre Kaufmann hier der Soldat des Königs François I., der Vater Montaignes, ein Tagebuch begonnen und aus Italien mitgebracht, und so wie der Sohn des Rats Goethe setzt der Sohn Pierre Eyquems als Michel de Montaigne die Tradition fort. Sein Sekretär zeichnet alle Geschehnisse auf, bis Rom, wo ihm Montaigne Urlaub gibt. Dort setzt er es selbst fort und gemäß seinem Willen, sich an das Land möglichst anzupassen, in einem ziemlich barbarischen Italienisch bis zu dem Tage, da er die französische Grenze wieder überschreitet: »Hier spricht man französisch, und so gebe ich nun diese fremde Sprache auf«, so daß wir die Reise von Anfang bis Ende verfolgen können.

Der erste Besuch geht nach den Bädern von Plombières, wo Montaigne in einer zehntägigen Gewaltkur sein Leiden zu heilen sucht, dann über Basel, Schaffhausen, Konstanz, Augsburg, München und Tirol nach Verona, Vicenza, Padua und Venedig, von dort über Ferrara, Bologna, Florenz nach Rom, wo er am 15. November eintrifft. Die Reisebeschreibung ist kein Kunstwerk, um so mehr, als sie nur zum kleinsten Teil von Montaigne und nicht in seiner Sprache geschrieben ist. Sie zeigt nicht den Künstler in Montaigne, aber sie zeigt uns den Menschen mit all seinen Eigenschaften und sogar seinen kleinen Schwächen; ein rührender Zug seine Parvenu-Eitelkeit, daß er, der Enkel von Fischhändlern und jüdischen Kaufleuten, den Wirtinnen als besonders kostbare Abschiedsgabe sein schön gemaltes Wappen schenkt. Es ist immer ein Vergnügen – wer hat es besser gekannt als Montaigne –, einen gescheiten Menschen in seinen Torheiten, einen freien Mann, der alle Äußerlichkeiten verachtet, in seinen Eitelkeiten zu sehen.

Im Anfang geht alles ausgezeichnet. Montaigne ist bester Laune und die Neugier überwindet seine Krankheit. Der Achtundvierzigjährige, der immer über seine »vieillesse« spottet, übertrifft die jungen Leute an Ausdauer. Frühmorgens im Sattel, gerade nur ein Stück Brot zu sich genommen, reitet er, und alles ist ihm recht, die Sänfte, das Brot, der Wagen, der Sattel, zu Fuß. Die schlechten Wirtshäuser belustigen ihn mehr, als sie ihn ärgern. Seine Hauptfreude ist es, Menschen zu sehen, überall andere Menschen und andere Sitten. Überall sucht er Leute auf, und zwar Leute aus allen Klassen. Von jedem sucht er zu erfahren, was sein »gibier« – wir würden sagen, sein »hobby« – ist. Da er den Menschen sucht, kennt er keine Stände, speist in Ferrara mit dem Herzog, plaudert mit dem Papst und ebenso mit protestantischen Pfarrern, Zwinglianern, Calvinisten. Seine Sehenswürdigkeiten sind nicht die man im Baedeker findet. Von den Raffaels und Michelangelos und den Bauten ist wenig gesagt. Aber er wohnt der Hinrichtung eines Verbrechers bei, er läßt sich von einer jüdischen Familie zu einer Beschneidung einladen, besucht Bibliotheken, er betritt die bagni von Lucca und bittet die Bäuerinnen zu einem Ball, er plaudert mit jedem lazzarone. Aber er läuft sich nicht die Füße ab nach jedem anerkannten Kuriosum. Für ihn ist alles Kuriosität, was natürlich ist. Er hat den großen Vorteil gegenüber Goethe, nicht Winckelmann zu kennen, der allen Reisenden seines Jahrhunderts Italien als kunstgeschichtliches Studium aufnötigt. Er sieht die Schweiz und Italien als Lebendigkeiten. Alles ist für ihn auf einer Linie, was Leben ist. Er wohnt der Messe des Papstes bei, er wird von ihm empfangen, er hat lange Gespräche mit den geistigen Würdenträgern, die ihm respektvolle Vorschläge machen für die nächste Auflage seines Buches und den großen Skeptiker nur bitten, das Wort »fortune«, das er allzu häufig verwendet, beiseite zu lassen und durch »Gott« oder »göttliche Schickung« zu ersetzen. Er läßt sich feiern und feierlich zum römischen Bürger ernennen, ja er bemüht sich sogar darum, stolz auf diese Ehre (die Parvenu-Elemente in dem freiesten Menschen). Aber das hindert ihn nicht, offen zuzugestehen, daß beinahe sein Hauptinteresse in Rom wie schon vordem in Venedig den Courtisanen gilt, deren Sitten und Sonderbarkeiten er mehr Raum in seinem Tagebuch gibt als der Sixtina und dem Dom von Florenz. Eine Art neuer Jugend ist in ihn zurückgekehrt und sie sucht ihren natürlichen Weg. Einiges Geld aus der Kasse mit den Goldstücken, die er mit sich führt, scheint er bei ihnen gelassen zu haben, zum Teil für Konversation, die sich diese Damen, wie er schildert, oft höher bezahlen lassen als ihre anderen Dienste.

Die letzte Zeit der Reise ist ihm verdorben durch seine Krankheit. Er macht eine Kur, in den Bädern von Lucca, und zwar eine barbarische. Sein Haß gegen die Doktoren führt ihn dazu, sich selbst Kuren zu erfinden; frei wie von allem, will er auch sein eigner Arzt sein. Es sind sehr ernste Zustände, die ihn heimsuchen, qualvolle Zahn- und Kopfschmerzen treten noch zu den anderen Leiden hinzu. Einen Augenblick denkt er sogar an Selbstmord. Und mitten in diese Kur kommt eine Nachricht, von der zu bezweifeln ist, ob sie ihn erfreut. Die Bürger von Bordeaux haben ihn zu ihrem Maire ernannt. Man wundert sich über diese Ernennung, denn schon vor elf Jahren hatte Montaigne seine Ämter als bloßer Ratsherr niedergelegt. Es ist der junge Ruhm seines Buches, der die Bürger von Bordeaux ohne sein Wissen und Zutun veranlaßt hat, ihm eine solche Stellung aufzunötigen, und es ist vielleicht die Familie, die versucht, ihn mit dieser Lockung zurückzuholen. Jedenfalls kehrt er nach Rom und von Rom zu Frau und Haus zurück und langt am 30. November 1581, nach einer Abwesenheit von siebzehn Monaten und acht Tagen, wie er genau notiert, in seinem Schlosse wieder an, eher jünger, geistig frischer und lebendiger, als er je gewesen. Zwei Jahre später wird sein jüngstes Kind geboren.

 

9. Kapitel

Montaigne hat das schwerste Ding auf Erden versucht: sich selbst zu leben, frei zu sein und immer freier zu werden. Und da das fünfzigste Jahr erreicht ist, meint er sich diesem Ziele nah. Aber etwas Sonderbares ereignet sich: gerade jetzt, da er sich von der Welt weg und einzig sich selber zugewandt, sucht ihn die Welt. Als junger Mensch hat er öffentliche Tätigkeit und Würden gesucht: man hat sie ihm nicht gegeben. Nun zwingt man sie ihm auf. Er hat sich vergebens den Königen angeboten und am Hofe bemüht: nun fordert man ihn zu immer neuen und immer höheren Geschäften. Gerade jetzt, da er nur den Menschen in sich zu erkennen sucht, erkennen die anderen seinen Wert.

Als jener Brief am 7. September 1581 ihn erreicht, der ihm mitteilt, daß er ohne sein Zutun »unter allgemeiner Zustimmung« zum Bürgermeister von Bordeaux ernannt sei und ihn bittet, diese »charge« – wahrhaftig eine Last für Montaigne – »aus Liebe zum Vaterland« anzunehmen, scheint Montaigne noch nicht entschlossen, seine Freiheit aufzugeben. Er fühlt sich als kranker Mann und so gepeinigt von seinem Steinleiden, daß er manchmal sogar an Selbstmord denkt. »Wenn man diese Leiden nicht beseitigen kann, dann muß man mutig und rasch ein Ende machen, das ist die einzige Medizin, die einzige Richtlinie und Wissenschaft.« Wozu noch ein Amt annehmen, da er seine eigene innere Aufgabe erkannt hat, ein Amt überdies, das nur Mühe, aber weder Geld noch sonderliche Ehren einbringt? Jedoch als Montaigne in seinem Schlosse eintrifft, findet er einen Brief des Königs, der vom 25. November datiert ist und ziemlich deutlich den bloßen Wunsch der Bürger von Bordeaux in einen Befehl verwandelt. Der König beginnt höflich, wie er sich freue, eine Wahl zu bestätigen, die ohne Montaignes Zutun in seiner Abwesenheit – also ganz spontan – erfolgt sei. Aber er trägt ihm auf, »ohne Verzug noch Ausrede« den Dienst zu übernehmen. Und der letzte Satz schneidet jeden Rückzug ausdrücklich ab: »und damit werdet Ihr einen Schritt tun, der mir sehr willkommen ist, und das Gegenteil würde mir höchlichst mißfallen.« Gegen einen solchen königlichen Befehl gibt es keine Widerrede. Ebenso ungern, wie er von seinem Vater das Steinleiden übernommen hat, tritt er nun dies sein anderes Erbe, die Bürgermeisterschaft, an.

Sein Erstes ist, entsprechend seiner außerordentlichen Ehrlichkeit, seine Wähler zu warnen, daß sie nicht eine ähnliche restlose Hingabe von ihm erwarten sollen wie von seinem Vater, dessen Seele er »von diesen öffentlichen Lasten grausam verstört« sah und der seine besten Jahre, seine Gesundheit und seinen Haushalt restlos seiner Pflicht aufgeopfert. Er wisse sich zwar ohne Haß, ohne Ehrgeiz, ohne Geldgier und ohne Gewalttätigkeit, aber er kenne auch seine Defekte: daß es ihm an Gedächtnis fehle, an »vigilance«, an ständiger Wachsamkeit, an Erfahrung und an Tatkraft. Wie stets ist Montaigne entschlossen, sein Letztes, sein Bestes, sein Kostbarstes, »son essence«, für sich zu behalten, alles zu tun, was von ihm verlangt wird und ihm auferlegt ist, mit größter Sorgsamkeit und Treue, aber nicht mehr. Um es äußerlich schon kundzugeben, daß er nicht von sich selbst weggehe, schlägt er seine Wohnung nicht in Bordeaux auf, sondern bleibt in seinem Schlosse in Montaigne. Aber es scheint, daß, wo Montaigne, ebenso wie in seinen Schriften, nur die Hälfte der Mühe, der Plage, der Zeit einsetzt, er noch immer mehr leistet als jeder andere, dank seines rapiden Blicks und seiner profunden Weltkenntnis. Daß man nicht unzufrieden mit ihm war, beweist, daß er im Juli 1583 nach Ablauf seiner Funktionszeit abermals auf zwei Jahre von der Bürgerschaft gewählt wird.

 

Aber nicht genug an diesem einem Amt, an dieser einen Pflicht: kaum, daß ihn die Stadt gefordert, fordert ihn auch der Hof, der Staat, die große Politik. Jahrelang hatten die Mächtigen Montaigne mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet, das die Parteimenschen und professionellen Politiker immer für den freien und unabhängigen Menschen haben. Man hat ihm Passivität in einer Zeit vorgeworfen, in der, wie er sagt, »die ganze Welt nur allzu tätig war«. Er hatte sich nicht einem einzelnen König, einer einzelnen Partei, einer einzelnen Gruppe angeschlossen, seine Freunde nicht nach den Parteiabzeichen, nicht nach der Religion gewählt, sondern nach ihrem Verdienst. Ein solcher Mann war unbrauchbar gewesen in einer Zeit des Entweder-Oder, in einer Zeit des drohenden Sieges oder einer drohenden Ausrottung des Hugenottentums in Frankreich. Aber nun, nach den grauenhaften Verwüstungen des Bürgerkriegs, nachdem der Fanatismus sich selbst ad absurdum geführt, wird plötzlich in der Politik der bisherige Defekt der Unparteilichkeit zum Vorzug und ein Mann, der immer freigeblieben ist von Vorurteil und Urteil, der unbestechlich durch Vorteil und Ruhm zwischen den Parteien gestanden, zum idealen Vermittler. Die Situation in Frankreich hat sich merkwürdig geändert. Nach dem Tode des Duc d'Anjou ist nach dem Salischen Gesetz Heinrich von Navarra (der spätere Heinrich IV.) als Gatte der Tochter Katharinas von Medici der rechtmäßige Thronerbe Heinrichs III. Aber Heinrich von Navarra ist Hugenotte und Führer der hugenottischen Partei. Er steht damit in schroffem Gegensatz zu dem Hof, der die Hugenotten zu unterdrücken sucht, zu dem königlichen Schloß, von dessen Fenstern vor einem Jahrzehnt der Befehl zur Bartholomäusnacht gegeben worden war, und die Gegenpartei der Guisen sucht die rechtmäßige Thronfolge zu verhindern. Da nun Heinrich von Navarra auf sein Recht nicht zu verzichten gedenkt, scheint der neue Bürgerkrieg unvermeidlich, wenn nicht zwischen ihm und dem regierenden König Heinrich III. eine Verständigung gelingt. Für diese große, diese welthistorische Mission, die den Frieden Frankreichs sichern muß, ist ein Mann wie Montaigne der ideale Vermittler, nicht nur gemäß seiner an sich toleranten Gesinnung, sondern weil er auch persönlich der Vertrauensmann sowohl des Königs Heinrich III. als des Kronprätendenten Heinrich von Navarra ist. Eine Art Freundschaft verbindet ihn mit diesem jungen Herrscher, und Montaigne bewahrt sie ihm sogar in einer Zeit, da Heinrich von Navarra von der Kirche exkommuniziert ist und Montaigne, wie er später schreibt, bei seinem Pfarrer es als eine Sünde beichten muß, mit ihm Umgang bewahrt zu haben.

Heinrich von Navarra besucht Montaigne mit einem Gefolge von vierzig Edelleuten und ihrer ganzen Dienerschaft 1584 im Schlosse Montaigne, schläft in seinem eigenen Bett. Er betraut ihn mit den geheimsten Aufträgen, und wie redlich, wie verläßlich Montaigne sie ausgeführt hat, ist erwiesen dadurch, daß, als es einige Jahre später abermals zur Krise und zwar zur allerschwersten zwischen Heinrich III. und dem künftigen Heinrich IV. kommt, abermals beide gerade ihn zum Vermittler berufen.

 

Im Jahre 1585 wäre die zweite Amtsperiode Montaignes als Bürgermeister von Bordeaux zu Ende gewesen und ihm ein ruhmreicher Abschied gegönnt worden mit Reden und Ehren. Aber das Schicksal will keinen so schönen Abgang für ihn. Er hat tapfer und energisch standgehalten, solange die Stadt in dem neuentfachten Bürgerkrieg zwischen Hugenotten und Liguisten bedroht war. Er hat die Bewaffnung durchgeführt, Tag und sogar Nacht mit den Soldaten gewacht und die Verteidigung vorbereitet. Aber vor einem anderen Feind, vor der Pest, die in diesem Jahre in Bordeaux ausbricht, ergreift er panisch die Flucht und läßt seine Stadt im Stiche. Seiner egozentrischen Natur ist die Gesundheit immer das Wichtigste gewesen. Er ist kein Held und hat sich auch nie als Held drapiert.

Wir können uns keine Vorstellung mehr davon machen, was die Pest zu jener Zeit bedeutete. Wir wissen nur, daß sie überall das Signal zu einer Flucht war, bei Erasmus und so vielen anderen. In der Stadt Bordeaux sterben in weniger als sechs Monaten siebzehntausend Menschen, die Hälfte der Bevölkerung. Wer sich einen Wagen, ein Pferd leisten kann, ergreift die Flucht; nur »le menu peuple« bleibt zurück. Auch in Montaignes Hause zeigt sich die Pest. So entschließt er sich, es zu verlassen. Sie machen sich alle auf den Weg, die alte Mutter Antonietta de Louppes, seine Frau, seine Tochter. Jetzt hätte er Gelegenheit, seine Seelenstärke zu zeigen, denn »tausend verschiedene Arten von Krankheiten fanden sich plötzlich in unablässiger Folge ein«. Er erleidet schwere Vermögensverluste, er muß sein Haus leer und ungeschützt zurücklassen, so daß jeder sich nehmen kann und wohl auch genommen hat, was er wollte. Ohne Mantel, gerade wie er gekleidet ist, flieht er aus dem Hause und weiß nicht wohin, denn niemand nimmt die Familie auf, die aus einer Peststadt flieht. »Die Freunde fürchteten sich vor ihr, man fürchtete sich selber, Angst ergriff die Leute, bei denen man Quartier suchte, und man hatte plötzlich den Aufenthalt zu wechseln, wenn einer der Gesellschaft nur begann, sich über einen Schmerz in der Fingerspitze zu beklagen.« Es ist eine grauenhafte Reise; auf dem Weg sehen sie die unbestellten Felder, die verlassenen Dörfer, die unbegrabenen Leichen der Kranken. Sechs Monate muß er »trübselig als Führer dieser Karawane« dienen, und inzwischen schreiben die »jurats«, denen er die ganze Verwaltung der Stadt überlassen, Brief auf Brief. Anscheinend erbittert über Montaignes Flucht, fordern sie seine Rückkehr, teilen ihm schließlich mit, daß seine Bürgermeisterschaft zu Ende sei. Aber auch zu dem vorgeschriebenen Abschied kehrt Montaigne nicht zurück.

 

Etwas Ruhm, etwas Ehre, etwas Würde ist bei dieser panischen Flucht vor der Pest verlorengegangen. Aber die »essence« ist gerettet. Im Dezember, nachdem die Pest erloschen ist, kehrt nach sechs Monaten Herumirrens Montaigne wieder in sein Schloß zurück und nimmt den alten Dienst auf: sich selbst zu suchen, sich selbst zu erkennen. Er beginnt ein neues Buch von Essais, das dritte. Er hat wieder den Frieden, er ist frei von den Trakasserien außer dem Steinleiden. Nun stillsitzen, bis der Tod kommt, der ihn schon mehrmals »mit der Hand berührt hat«. Es scheint, daß er Frieden haben soll, nachdem er so vieles erlebt, Krieg und Frieden, Welt, Hof und Einsamkeit, Armut und Reichtum, Geschäft und Muße, Gesundheit und Krankheit, Reise und Heim, Ruhm und Anonymität, Liebe und Ehe, Freundschaft und Einsamkeit.

Aber noch fehlt ihm ein Letztes, noch hat er nicht alles durchgeprobt. Noch einmal ruft ihn die Welt. Die Situation zwischen Heinrich von Navarra und Heinrich III. hat sich gefährlich zugespitzt. Der König hat gegen den Thronfolger eine Armee unter Joyeuce gesandt, und Heinrich von Navarra hat bei Coutras am 23. Oktober 1587 diese Armee völlig vernichtet. Heinrich von Navarra könnte nun als Sieger gegen Paris marschieren, mit Gewalt sich sein Thronrecht oder sogar den Thron erzwingen. Aber seine Klugheit warnt ihn, seinen Erfolg aufs Spiel zu setzen. Er will es noch einmal mit Verhandlungen versuchen. Drei Tage nach dieser Schlacht reitet ein Trupp auf das Schloß Montaigne zu. Der Führer verlangt Einlaß, der ihm sofort gewährt wird. Es ist Heinrich von Navarra, der nach seinem Sieg bei Montaigne Rat sucht, wie dieser Sieg diplomatisch und zugleich friedlich am besten auszunützen ist. Es ist ein geheimer Auftrag. Montaigne soll als Vermittler nach Paris reisen und dem König seine Vorschläge machen. Anscheinend hat es sich um nichts Geringeres gehandelt als um den entscheidenden Punkt, der dann den Frieden Frankreichs und seine Größe für Jahrhunderte verbürgt hat: die Konversion Heinrichs von Navarra zum Katholizismus.

Montaigne macht sich sofort mitten im Winter auf den Weg. In seinem Koffer nimmt er ein korrigiertes Exemplar der Essais mit und das Manuskript des neuen dritten Buches. Aber es wird keine friedliche Reise. Unterwegs wird er von einer Truppe überfallen und geplündert. Zum zweitenmal erfährt er den Bürgerkrieg am eigenen Leibe, und kaum in Paris angekommen, wo sich der König zur Zeit nicht aufhält, wird er verhaftet und in die Bastille gebracht. Es ist zwar nur ein Tag, daß er dort verbleibt, weil Katharina von Medici ihn sofort befreien läßt. Aber wieder einmal hat der Mann, der überall Freiheit sucht, auch in dieser Form erfahren müssen, was es heißt, der Freiheit beraubt zu sein. Er reist dann noch nach Chartres, Rouen und Blois, um die Besprechung mit dem König durchzuführen. Damit ist sein Amt zu Ende, und er kehrt wieder in sein Schloß zurück.

 

Auf dem alten Schloß sitzt nun der kleine Mann in seinem Turmzimmer. Er ist alt geworden, das Haar ist ihm ausgefallen, ein runder Kahlkopf, den schönen kastanienbraunen Bart hat er sich abgenommen, seit er zu ergrauen begann. Es ist leer geworden um ihn; die alte Mutter geht noch durch die Räume wie ein Schatten, fast neunzigjährig. Die Brüder sind fort, die Tochter verheiratet sich und zieht zu einem Schwiegersohn. Er hat ein Haus und weiß nicht, an wen es fallen wird nach seinem Tode. Er hat sein Wappen und ist der Letzte. Alles scheint vorbei. Aber gerade in dieser letzten Stunde kommt noch alles heran; jetzt, da es zu spät ist, bieten die Dinge dem Verächter der Dinge sich dar. 1590 ist Heinrich von Navarra, dem er Freund und Berater gewesen, als Heinrich VI. König von Frankreich geworden. Montaigne braucht jetzt nur an den Hof zu eilen, den alle umschwärmen, und die größte Stellung wäre ihm sicher bei dem, den er beraten und so gut beraten. Er könnte werden, was Michel Hôpital unter Katharina gewesen, der weise Ratgeber, der zur Milde führt, der große Kanzler. Aber Montaigne will nicht mehr. Er begnügt sich, den König in einem Briefe zu begrüßen, und entschuldigt sich, daß er nicht gekommen sei. Er mahnt ihn zur Milde und schreibt das schöne Wort: »Ein großer Eroberer der Vergangenheit konnte sich rühmen, er habe seinen unterworfenen Feinden ebensoviel Anlaß gegeben, ihn zu lieben, wie seinen Freunden.« Aber die Könige mögen nicht die, die ihre Gunst suchen, und noch weniger diejenigen, die sie nicht suchen. Einige Monate später schreibt der König seinem einstigen Ratgeber in schärferem Ton, um ihn für seinen Dienst zu gewinnen, und macht ihm anscheinend ein finanzielles Anerbieten. Aber wenn schon unwillig zu dienen, ist Montaigne noch unwilliger, in den Verdacht zu geraten, sich zu verkaufen. Stolz antwortet er dem König: »Ich habe niemals von der Gunst der Herrscher irgendwelche materiellen Vorteile erlangt, habe sie auch weder begehrt noch verdient ... Ich bin, Sire, so reich, wie ich es mir nur wünsche.« Er weiß, daß ihm gelungen ist, was Plato einmal als das Schwerste auf Erden bezeichnet: mit reinen Händen aus dem öffentlichen Leben zu treten. Mit Stolz schreibt er die Worte des Rückblickes auf sein Leben: wenn man ihm bis auf den Grund der Seele blicken wolle, dann würde man finden, er sei unfähig gewesen, jemand zu nahe zu treten oder ihn zu schädigen, unfähig der Rache oder des Neides, öffentlich Ärgernis zu erregen oder nicht zu seinem Worte zu stehen. »Und obwohl unsere Zeit mir wie jedem dazu wohl Gelegenheit gab, habe ich meine Hand nie durch Zugriff an den Besitz oder Vermögen eines anderen Franzosen belastet. Nur vom Eigenen habe ich gelebt, in Krieg und Frieden, und nie habe ich jemand für mich in Anspruch genommen, ohne ihn gebührend zu entlohnen. Ich habe meine Gesetze und meinen Gerichtshof, der über mich urteilt.«

Eine Spanne vor dem Tod haben die höchsten Würdenträger ihn gerufen, der sie längst nicht mehr will und erwartet. Eine Spanne vor dem Tod kommt für den Mann, der sich alt fühlt, nur mehr als ein Teil und Schatten seines Ichs, noch etwas, was er längst nicht mehr erhofft, ein Glanz von Zärtlichkeit und Liebe. Wehmütig hat er gesagt, vielleicht die Liebe allein könnte ihn noch erwecken.

Und nun geschieht das Unglaubliche. Ein junges Mädchen aus einer der ersten Familien Frankreichs, Marie de Gournay, kaum älter als die jüngste seiner Töchter, die er eben verheiratet hat, faßt eine Leidenschaft für die Bücher Montaignes. Sie liebt sie, sie vergöttert sie, sie sucht ihr Ideal in diesem Manne. Wie weit auch die Liebe dann nicht bloß dem Autor, dem Schriftsteller, sondern auch dem Menschen gegolten, ist wie immer in solchen Fällen schwer festzustellen. Aber er reist öfters zu ihr, bleibt einige Monate dort, auf dem Sitz der Familie in der Nähe von Paris, und sie wird seine »fille d'alliance«, er vertraut ihr von seinem Erbe das kostbarste an: die Herausgabe seiner Essais nach dem Tode.

Und dann hat er nur eines mehr zu wissen, der das Leben studierte und jede Erfahrung darin, noch die letzte des Lebens: den Tod. Er ist weise gestorben, wie er weise gelebt. Sein Freund Pierre de Brach schreibt, sein Tod sei sanft gewesen »nach einem glücklichen Leben« und man müsse es ein Glück nennen, daß er ihn von einer lähmenden Gicht und seinem schmerzhaften Steinleiden erlöste. Die Früchte seines Geistes aber würden der Zeit zum Trotz nie aufhören, die Menschen von Geist und gutem Geschmack zu erfreuen.

Er empfängt die letzte Ölung am 13. September 1592; kurz darauf ist er verschieden. Mit ihm erlischt das Geschlecht der Eyquems und der Paçagons. Er ruht nicht bei seinen Vorfahren wie sein Vater, er liegt für sich, in der Kirche der Feuillants zu Bordeaux, der erste und der letzte der Montaignes und der einzige, der diesen Namen über die Zeiten getragen.


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