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Lebensplan

Alles liegt in mir verworren wie die
Wergfasern im Spinnrocken.

Aus einem Jugendbrief

Kleist hat dieses Chaos seines Gefühls früh in sich gefühlt. Der Knabe schon und viel stärker dann der zwanzigjährige Gardeoffizier spürt schon halb unbewußt den innern übermächtigen Schwall des Gefühls gegen die enge Welt. Aber er meint, diese Verwirrung und Befremdung sei nur Gärung der Jugend, unglückliche Einstellung ins Leben und vor allem Mangel an Vorbereitung, an System, an Erziehung. Und wahrhaft fürs Leben erzogen war Kleist ja niemals worden: aus dem verwaisten Elternhaus kommt er in eines emigrierten Predigers Zucht, dann in die Kadettenschule, wo er Kriegskunst lernen soll, indes seine heimlichste Neigung Musik ist, dieser erste Ausbruch seines Gefühls ins Unendliche. Aber nur heimlich ist es ihm gestattet, die Flöte zu spielen (meisterlich soll er sie gehandhabt haben), tagsüber hat er Kommißdienst in dem harten preußischen Heere, Exerzierfron auf den öden Sandkarrees seiner Heimat. Und der Feldzug von 1793, der ihn schließlich in einen wirklichen Krieg wirft, ist der jämmerlichste, kläglichste, langweiligste, unheroischeste der deutschen Geschichte. Nie hat er seiner wie einer Kriegstat Erwähnung getan: einzig in einem Gedicht an den Frieden atmet er seine Sehnsucht aus, dieser Sinnlosigkeit zu entrinnen.

Der Waffenrock drückt ihm zu eng die aufgeweitete Brust. Er fühlt in sich Kräfte gären und fühlt auch, daß sie aus ihm nicht wirksam in die Welt treten könnten, solange er sie nicht zu disziplinieren weiß. Niemand hat ihn erzogen, niemand ihn belehrt: so will er sein eigener Pädagog sein, sich »einen Lebensplan zimmern« oder, wie er sagt, »richtig leben«; und da er ein Preuße ist, so muß sein erster Gedanke der einer Ordnung sein. Er will Ordnung in sich schaffen, »richtig leben«, nach Prinzipien, nach Ideen, nach Maximen, und er glaubt, er könne dies Chaos in sich durch eine geregelte, eine schematische, eine gemäße Existenz zähmen, um »in ein konventionelles Verhältnis zur Welt zu kommen«. Sein Grundgedanke ist: jeder Mensch müsse einen Lebensplan haben, und dieser Wahn läßt ihn fast bis an sein Lebensende nicht mehr los. »Ein freier denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstößt ... er fühlt, daß man sich über sein Schicksal erheben könne, ja, daß es im richtigen Sinn selbst möglich sei, das Schicksal zu leiten. Er bestimmt nach seiner Vernunft, welches Glück für ihn das höchste sei, er entwirft sich seinen Lebensplan ... Solange ein Mensch noch nicht imstande ist, sich selbst einen Lebensplan zu bilden, solange ist und bleibt er unmündig, er stehe nun als Kind unter der Vormundschaft seiner Eltern oder als Mann unter Vormundschaft des Schicksals« – so philosophiert der Einundzwanzigjährige und meint des Fatums zu spotten. Noch weiß er nicht, daß sein Schicksal innen ist und zugleich jenseits seiner Macht.

Aber gewaltsam stößt er sich in das Leben ab. Er zieht den Soldatenrock aus – »Der Soldatenstand«, schreibt er, »wurde mir so verhaßt, daß es mir nach und nach lästig wurde, zu seinem Zwecke mitwirken zu müssen.« Aber wie nun, einer Zucht entronnen, sich selbst eine andere finden? Ich sagte schon, Kleist müßte kein Preuße sein, wenn sein erster Gedanke nicht Ordnung gewesen wäre. Nun: und er müßte kein Deutscher sein, wenn er für diese innere Ordnung nicht alles von der Bildung erhoffte. Bildung, das ist das Arkanum des Lebens für ihn wie für jeden Deutschen; lernen, viel aus Büchern lernen, in Vorlesungen sitzen, Kollegbücher schreiben, den Professoren lauschen – so malt sich dem Jugendlichen der Weg in die Welt. Mit Maximen und Theorien, mit Philosophie und Naturkunde und Mathematik und Literaturgeschichte hofft Kleist den Weltgeist zu fassen, den Dämon in sich zu bannen. Und so wirft sich der ewige Übertreiber wie ein Rasender in das Studium hinein. Alles, was er tut, was er anfaßt, durchglüht er mit seinem dämonischen Willen: er berauscht sich geradezu an der Nüchternheit und macht aus dem Pedantismus eine Orgie. Wie seinem deutschen geistigen Ahn, wie dem Doktor Faust, ist ihm die weitausholende, schritthafte Linie zu den Wissenschaften zu langsam: mit einem Sprung will er alles erraffen und aus dem Wissen endlich das Leben selbst, die »wahre« Form des Lebens erkennen. Denn er glaubt ja, verführt von den Schriften der Aufklärungszeit, mit der ganzen Fanatik seines Triebwillens an die Erlernbarkeit der »Tugend« im Sinne der Griechen, an eine Lebensformel, durch die man sich Wissen und Bildung errechnen könne, um sie dann wie ein Schema, wie eine Logarithmentafel von Fall zu Fall zu exemplifizieren. Darum lernt er wie ein Verzweifelter, bald Logik, bald reine Mathematik, bald Experimentalphysik, dann wieder Lateinisch und Griechisch, und all das »mit einem mühsamsten Fleiße«. Man spürt deutlich, daß er die Zähne zusammenpressen muß, um durchzuhalten: »Ich habe mir ein Ziel gesetzt, das die ununterbrochene Anstrengung aller meiner Kräfte und die Anwendung jeder Minute Zeit erfordert, wenn es erreicht werden soll«, aber dies »Ziel« will sich immer und immer noch nicht zeigen. Er lernt ins Leere, und je mehr er an einzelnen Kenntnissen hastig zusammenballt, um so weniger erkennt er das innere Ziel. – »Mir ist keine Wissenschaft lieber als die andere – soll ich immer von einer Wissenschaft zur anderen gehen, und immer nur auf ihrer Oberfläche schwimmen und bei keiner in die Tiefe gehen?« Vergebens predigt er, nur um sich selber von der Nützlichkeit seines Tuns zu überzeugen, seiner Braut in pedantischer Weise eine pedantische Mechanik des sittlichen Verhaltens, monatelang quält er das arme Mädchen wie der versessenste Schulmeister mit läppischen vernünftlerischen Fragen und Antworten, die er ihr säuberlich, um sie »auszubilden«, aufschreibt: nie war Kleist antipathischer, unmenschlicher, schulfuchshafter, verpreußter als in jener unglückseligen Epoche, wo er den Menschen in sich mit Büchern und Kollegien und Präzepten sucht, nie sich selber, seinem glühenden Wesenskern fremder, als da er sich zum Bürger, zum nützlichen Menschen zu ertüchtigen strebt.

Aber er soll dem Dämon nicht entrinnen, indem er Bücher und Pandekten über ihn stülpt: aus den Büchern schlägt die furchtbare Flamme ihm eines Tages schreckhaft entgegen. Plötzlich, in einer Stunde, in einer Nacht ist Kleistens erster Lebensplan vernichtet. Er hat Kant gelesen, den Urfeind aller deutschen Dichter, ihren Verführer und Zerstörer, und dies kalte überklare Licht blendet ihm den Blick. Entsetzt muß er seine höchste Überzeugung, den Glauben an die Heilkraft der Bildung, an die Erkennbarkeit der Wahrheit bankerott erklären: »Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint.« Die »Spitze dieses Gedankens« durchbohrt ihn »im heiligsten Innern« seines Herzens, und erschüttert ruft er in einem Briefe aus: »Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr.« Der Lebensplan ist vernichtet, Kleist wieder allein mit sich selbst, mit diesem furchtbaren lastenden geheimnisvollen Ich, das er nicht zu bändigen weiß. Gerade, daß er – wie immer – als der maßlos Leidenschaftliche sein ganzes Sein, seine unumschränkte geistige Existenz auf eine Karte setzt, macht diese seine seelischen Niederbrüche so furchtbar und gefährlich. Wenn Kleist seinen Glauben verliert oder seine Leidenschaft, verliert er immer alles: denn dies ist seine Tragik und seine Größe, sich immer ganz und restlos in ein Gefühl hineinzutreiben und niemals den Weg zurückzufinden, sich nie anders also befreien zu können als durch Explosion und Zerstörung.

So wird er auch diesmal durch Zernichtung frei. Er zerschellt den Becher, aus dem er sich durch Jahre selig berauscht, klirrend und mit einem Fluch an der Wand des Schicksals. Die »traurige« Vernunft, so nennt er die fortab, die bisher sein Idol gewesen, er flieht die Bücher, die Philosophie, die Theoreme – und flieht, als der ewige Übertreiber, wieder zu weit hinüber bis an das andere Ende. »Mir ekelt vor allem, was Wissen heißt«: mit einem Ruck wirft er sich herum in das Gegenteil, reißt seinen Glauben aus sich wie einen weggelebten Tag aus dem Kalender, und der gestern noch in Bildung die Rettung, im Wissen die Magie, in der Kultur das Heil, im Studium die Wehrkraft gesehen, schwärmt nun für Dumpfheit, die Unbewußtheit, für das Primitive, für das Tierhaft-Vegetative. Sofort – Kleistens Leidenschaft kennt nicht das Wort Geduld – ist ein neuer Lebensplan gezimmert, gleich schwach in der Konstruktion, gleichfalls ohne jedes Fundament der Erfahrung: nun will der preußische Junker plötzlich »ein dunkles, stilles, unscheinbares Leben«, will Bauer werden, in jener Einsamkeit wohnen, die Jean-Jacques Rousseau seiner Zeit so verführerisch erfunden; nichts verlangt er mehr, als das, was die persischen Magier als das Gott Wohlgefälligste bezeichnen: »ein Feld zu bebauen, einen Baum zu pflanzen und ein Kind zu zeugen«. Kaum daß der Plan ihn faßt, reißt er ihn schon mit: in der gleichen Geschwindigkeit, mit der Kleist weise werden wollte, begehrt er nun dumpf zu werden. Über Nacht verläßt er Paris, wohin er »vom Studium einer traurigen Philosophie verwirrt« geflüchtet war, über Nacht schleudert er seine Braut von sich, nur weil sie nicht sofort sich auf den neuen Lebensplan umstellen kann und Bedenken äußert, ob sie, die Tochter eines hohen Generals, sich als Magd in Feld und Stall zu betätigen vermöchte. Aber Kleist kann nicht warten: ist er von einer Idee besessen, so brennt er im Fieber. Er studiert landwirtschaftliche Bücher, arbeitet mit den Schweizer Bauern, fährt kreuz und quer durch die Kantone, um für sein letztes Geld sich ein Gut (mitten im kriegsdurchwühlten Land) zu kaufen; selbst wenn er das Nüchternste will, Gelehrsamkeit oder Agrikultur, so kann er es nicht anders als dämonisch tun.

Seine Lebenspläne sind wie Zunder: sie flammen auf bei der ersten Berührung mit der Wirklichkeit. Je mehr er sich müht, desto mehr muß ihm mißlingen, denn sein Wesen ist Zerstörung durch Übertreibung. Was Kleisten gelingt, geschieht wider seinen Willen: immer vollbringt die dunkle Macht in ihm, was sein Wille nie geahnt. Und während er in Bildung und dann wieder in Unbildung, in diesen überhitzten Pedanterien seiner Vernunft den Ausweg sucht, hat der Trieb, die dunkle Willensgewalt seines Wesens, sich schon frei gemacht: wie ein Geschwür ist, während er mit Salben und Verbänden vernünftlerisch sein inneres Fieber heilen will, die geheime Gärung aufgebrochen, der gefesselte Dämon hat sich losgerissen ins Gedicht. Ein Traumwandler des Gefühls, ganz absichtslos hatte Kleist in Paris »Die Familie Schroffenstein« begonnen, zaghaft seinen Freunden diese ersten Versuche gezeigt: aber kaum, daß er die Möglichkeit erkennt, endlich, endlich einmal durch ein aufgerissenes Ventil das Übermaß seines Gefühls zu erleichtern, kaum daß er spürt, wie hier allein in dieser Welt der Grenzen, Umschnürungen und Maße seiner Phantasie Freiheit gegeben ist, so rast schon sein Wille in diese Unendlichkeit hinein (auch hier gleich gierig, in erster Stunde an ihr letztes Ende zu gelangen). Die Dichtung ist Kleistens erste Befreiung: jauchzend gibt er (der ihm zu entkommen wähnte) sich an den Dämon zurück und wirft sich in seine eigene Tiefe wie in einen Abgrund.


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