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Das Manifest der Toleranz

»Die Wahrheit zu suchen und sie zu sagen, wie man sie denkt, kann niemals verbrecherisch sein. Niemand darf zu einer Überzeugung gezwungen werden. Die Überzeugung ist frei.«

Sebastian Castellio 1551

Die Verbrennung Servets wird sofort von allen Zeitgenossen als eine moralische Wegscheide der Reformation empfunden. An sich bedeutete zwar die Hinrichtung eines einzelnen Menschen nichts Auffälliges in jenem gewalttätigen Jahrhundert; von den Küsten Spaniens bis weit hinauf an das Nordmeer und die Britischen Inseln brennen damals zu Christi Ehren unzählige Ketzer. Zu Tausenden und aber Tausenden werden im Namen der verschiedenen einzig wahren Kirchen und Sekten wehrlose Menschen auf die Richtstätten geschleift, verbrannt, geköpft, erstickt oder ertränkt. »Wären es, ich sage gar nicht Pferde, sondern nur Schweine gewesen, die da zugrunde gingen«, heißt es in Castellios Ketzerbuche, »so hätte jeder Fürst gemeint, einen großen Verlust erlitten zu haben.« Aber es sind ja nur Menschen, die ausgetilgt werden, und darum denkt niemand daran, die Opfer zu zählen. »Ich weiß nicht«, stöhnt der verzweifelte Castellio auf, der freilich unser Kriegsjahrhundert noch nicht zu ahnen vermochte, »ob jemals zu irgendeiner Zeit so viel Blut vergossen wurde wie in der unseren.«

Aber immer ist es in den Jahrhunderten eine einzelne Untat unter unzähligen, an der das scheinbar schlafende Gewissen der Welt erwacht. Servets Marterflamme überleuchtet alle andern seiner Zeit, und noch Gibbon bekennt zwei Jahrhunderte später, »diese eine Opferung habe ihn tiefer erschüttert als die tausende auf dem Scheiterhaufen der Inquisition«. Denn die Hinrichtung Servets ist – um Voltaires Wort zu gebrauchen – der erste »religiöse Mord« innerhalb der Reformation und die erste weithin sichtbare Verleugnung ihrer Uridee. An sich stellt der Begriff eines »Ketzers« schon ein Absurdum für die evangelische Lehre dar, welche jedem das freie Recht der Auslegung zusprach, und im Anfang zeigen auch tatsächlich Luther, Zwingli und Melanchthon klaren Abscheu vor jeder gewalttätigen Maßnahme gegen die Außenseiter und Übertreiber ihrer Bewegung. Ausdrücklich erklärt Luther: »Ich liebe wenig die Todesurteile, sogar die verdienten, und was mich in dieser Sache erschreckt, ist das Beispiel, das man gibt. Ich kann deshalb in keiner Weise billigen, daß die falschen Doktoren gerichtet werden.« In denkwürdiger Knappheit formuliert er: »Die Häretiker dürfen nicht durch äußere Gewalt unterdrückt oder niedergehalten, sondern nur durch das Wort Gottes bekämpft werden. Denn die Häresie ist eine geistige Angelegenheit, die nicht von irgendeinem irdischen Feuer oder irdischen Wasser abgewaschen werden kann.« Ebenso deutlich bekundet Zwingli seine Abneigung gegen jede Anrufung des Magistrats und gegen jede Brachialgewalt.

Aber bald muß die neue Lehre, weil sie inzwischen selbst zur »Kirche« geworden ist, erkennen – was die alte längst wußte –, daß Autorität auf die Dauer nicht aufrechtzuerhalten ist ohne Gewalt; so schlägt Luther, um die unvermeidliche Entschließung hinauszuschieben, zunächst ein Kompromiß vor, indem er unterschieden wissen will zwischen den »Haereticis« und »Seditiosis«, zwischen jenen »Remonstranten«, die nur in geistig-geistlichen Dingen abweichender Meinung von der reformierten Kirche sind, und den Seditiosis, den eigentlichen »Aufrührern«, welche mit der religiösen Ordnung zugleich auch die soziale verändern wollen. Nur gegen diese letzteren – gemeint sind damit die kommunistischen Wiedertäufer – billigt er der Obrigkeit das Recht auf Unterdrückung zu. Zu dem entscheidenden Schritt, zu der Auslieferung der Andersdenker und Freidenker an den Henker, will sich aber keiner der Führer der reformierten Kirche entschließen. Noch lebt in ihnen die Erinnerung an die Zeit, da sie selbst als geistige Revolutionäre gegen Papst und Kaiser für die innere Überzeugung als das heiligste Menschenrecht eingestanden sind. Unmöglich erscheint ihnen darum die Einführung einer neuen, einer protestantischen Inquisition.

Diesen welthistorischen Schritt tut nun Calvin mit der Verbrennung Servets. Mit einem Riß zerreißt er das von der Reformation erkämpfte Recht der »Freiheit des Christenmenschen«, mit einem Sprunge holt er die katholische Kirche ein, die zu ihrer Ehre immerhin mehr als tausend Jahre gezögert hatte, ehe sie einen Menschen wegen einer eigenwilligen Auslegung in christlichen Glaubensdingen lebendig verbrannte. Calvin aber entehrt die Reformation bereits im zweiten Jahrzehnt seiner Herrschaft durch diesen erbärmlichsten Akt seiner geistigen Tyrannei, und im sittlichen Sinn ist seine Tat vielleicht noch verabscheuungswürdiger als alle Untaten Torquemadas. Denn wenn die katholische Kirche einen Ketzer aus ihrer Gemeinschaft ausstößt und an das irdische Gericht überliefert, so meint sie damit keineswegs eine persönliche Haßhandlung zu vollführen, sondern, indem sie die ewige Seele ablöst von ihrem sündigen irdischen Leib, einen Akt der Reinigung, eine Rettung zu Gott. Dieser Entsühnungsgedanke fehlt völlig in Calvins kalter Justiz. Ihm geht es nicht darum, die Seele Servets zu retten: ausschließlich, um die Unantastbarkeit der Calvinschen Gottesauslegung zu erhärten, ist jener Scheiterhaufen in Champel entzündet worden. Nicht als Gottesleugner, der er nie gewesen, stirbt Servet seinen bittern Tod, sondern nur, weil er gewisse Thesen Calvins geleugnet. Darum wird auch jene Inschrift auf dem Denkstein, den Jahrhunderte später die freie Stadt Genf dem freien Denker Servet gesetzt hat, vergeblich Calvin zu entlasten suchen, indem sie Servet ein »Opfer seiner Zeit« nennt. Denn nicht die Verblendung und der Wahn seiner Zeit – auch ein Montaigne lebt in diesen Tagen und ein Castellio – haben Servet an den Brandpfahl gestoßen, sondern einzig und einzig der persönliche Despotismus Calvins. Keine Entschuldigung vermag den protestantischen Torquemada von dieser Tat zu entsühnen. Denn wohl können Unglaube und Aberglaube begründet sein in einer Epoche; immer aber ist für eine einzelne Untat der Mann verantwortlich, der sie vollbracht.

 

Unverkennbar ist von der ersten Stunde an die steigende Erregung über Servets grausame Hinopferung, und selbst de Beze, der Offiziosus und Evangelist Calvins, muß berichten: »Die Asche des Unglückseligen war noch nicht kalt geworden, als man schon die Frage heftig zu erörtern begann, ob Ketzer bestraft werden dürften. Die einen waren der Meinung, man müsse sie unterdrücken, aber nicht mit der Todesstrafe. Andere verlangten, man solle ihre Bestrafung ausschließlich Gottes Urteil anheimstellen.« Selbst dieser unbedingteste Verherrlicher aller Taten Calvins hat plötzlich einen merkwürdig zögernden Ton in der Stimme, und noch mehr die andern Freunde Calvins. Zwar schreibt Melanchthon, den allerdings Servet seinerzeit persönlich mit den ärgsten Beschimpfungen angegriffen, an seinen »lieben Bruder« Calvin. »Die Kirche sagt Dir Dank und wird Dir in Zukunft Dank sagen. Eure Amtspersonen haben gerecht gehandelt, indem sie diesen Gotteslästerer zum Tode verurteilten«, und es findet sich sogar – ewiger »trahison des clercs« – ein übereifriger Philologe namens Musculus, der ein frommes Festlied aus diesem Anlaß erdichtet. Aber sonst will sich keine rechte Zustimmung hörbar machen. Zürich, Schaffhausen und die andern Synoden äußern sich durchaus nicht so enthusiastisch, wie Genf gehofft hatte, über Servets Martertod. Mag ihnen auch prinzipiell eine Einschüchterung der »Schwarmgeister« willkommen sein, so sind sie zweifellos herzlich froh, daß der erste protestantische Ketzerbrand der Geschichte nicht in ihren eigenen Mauern stattgefunden hat und daß Jehan Calvin das Odium dieser fürchterlichen Entscheidung vor der Geschichte zu tragen haben wird.

Gleichzeitig erheben sich aber Stimmen ganz anderer Art. Der große Rechtslehrer der Zeit, Pierre Boudin, gibt öffentlich das entscheidende Gutachten ab. »Ich stehe auf dem Standpunkte, daß Calvin nicht das Recht hatte, Strafverfolgung wegen einer religiösen Streitfrage einzuleiten.« Aber nicht nur die freigeistigen Humanisten ganz Europas sind entsetzt und empört; auch in den Kreisen der protestantischen Geistlichkeit mehrt sich der Widerspruch. Knapp eine Stunde vor den Toren Genfs und einzig durch die bernische Oberherrschaft vor den Schergen Calvins geschützt, verurteilen die waadtländischen Geistlichen von der Kanzel herab sein Vorgehen gegen Servet als unreligiös und illegal, und sogar in seiner eigenen Stadt muß Calvin mit Polizeigewalt die Kritik niederhalten. Eine Frau, die offen sagt, Servet sei ein Märtyrer Jesu Christi gewesen, wird in den Kerker geworfen, und ebenso ein Buchdrucker wegen der Behauptung, der Magistrat habe Servet nur zur Freude eines einzigen Menschen verurteilt. Einige hervorragende ausländische Gelehrte verlassen demonstrativ die Stadt, in der sie sich nicht länger sicher fühlen, seit dort die Gedankenfreiheit von solcher Gesinnungsdespotie bedroht ist. Und bald wird Calvin erkennen, daß Servet ihm durch seinen Opfertod viel gefährlicher geworden ist als jemals durch seine Schriften und sein Leben.

 

Calvin hat für jeden Widerspruch ein ungeduldiges und nervöses Ohr. Es hilft nicht, daß man sich ängstlich in Genf vor offenen Worten hütet; durch Wand und Fenster spürt Calvin die mühsam niedergehaltene Erregung. Aber die Tat ist getan, sie läßt sich nicht mehr ungeschehen machen, und da er ihr nicht entfliehen kann, so bleibt ihm nichts übrig, als sich offen vor sie zu stellen. Unmerklich ist Calvin in dieser Angelegenheit, die er so angriffsfreudig begonnen, in die Defensive gedrängt worden. Alle seine Freunde bestärken ihn einmütig, es sei höchste Zeit, endlich den aufsehenerregenden Akt dieser Verbrennung zu rechtfertigen; eigentlich gegen seinen Willen entschließt sich endlich Calvin, die Welt über Servet, nachdem er ihm selbst vorsorglich die Kehle erdrosselt, »aufzuklären« und eine Apologie seiner Tat zu verfassen.

Aber Calvin hat in der Sache Servet ein schlechtes Gewissen; und mit schlechtem Gewissen schreibt man schlecht. Darum ist auch seine Apologie ›Verteidigung des rechten Glaubens und der Dreieinigkeit gegen die fürchterlichen Irrtümer Servets‹, die er – wie Castellio sagt – »noch mit dem Blut Servets an seinen Händen« verfaßt, eines seiner schwächsten Werke geworden. Calvin selbst hat zugegeben, daß er sie »tumultuarie«, also übereilt und nervös hingeschleudert habe; und wie unsicher er sich in seiner aufgezwungenen Verteidigung fühlte, beweist, daß er seine These von allen Geistlichen Genfs mitunterzeichnen ließ, um die Verantwortung nicht allein zu tragen. Sichtlich ist es ihm bereits unbehaglich geworden, als der eigentliche Mörder Servets zu gelten, und so gehen zwei gegenteilige Tendenzen in dieser Schrift ziemlich ungeschickt durcheinander. Einerseits will Calvin, gewarnt durch den allgemeinen Unwillen, die Verantwortung von sich auf die »Obrigkeit« abschieben, anderseits muß er beweisen, daß der Magistrat richtig gehandelt habe, ein solches »monstrum« auszutilgen. Um zunächst sich selbst als einen besonders milden Mann und innerlichen Feind jeder Gewalttätigkeit zu empfehlen, erfüllt der geübte Dialektiker ein Gutteil des Buches mit Klagen über die Grausamkeit der katholischen Inquisition, die ohne Verteidigung die Gläubigen verurteile und in grausamster Weise hinrichten lasse (»Und Du?« wird ihm später Castellio antworten. »Wen hast Du Servet zum Verteidiger bestellt?«). Dann aber überrascht er den erstaunten Leser durch die Mitteilung, er habe »im geheimen unablässig Servet zu einer besseren Gesinnung zurückzuführen gesucht«. (»Je n'ai pas cessé de faire mon possible, en secret, pour le ramener à des sentiments plus saints»); es sei eigentlich nur der Magistrat gewesen, der – trotz Calvins Neigung zur Nachsicht – die Todesstrafe, und zwar die besonders grausame, erzwungen habe. Aber diese angeblichen Bemühungen Calvins um Servet, des Mörders um sein Opfer, waren doch zu »geheim«, als daß irgendeine irdische Seele dieser nachträglich erfundenen Legende Glauben geschenkt hätte, und verächtlich stellt Castellio den wahren Tatbestand fest. »Die ersten Deiner Ermahnungen waren Beschimpfungen, die zweiten das Gefängnis, und Servet hat es nur mehr verlassen, um auf den Brandstoß geschleppt und lebendig verbrannt zu werden.«

Aber während Calvin so mit der einen Hand die Verantwortung für die Folterung Servets von sich fortstößt, schiebt er mit der andern der »Obrigkeit« alle Entschuldigungen für jene Verurteilung zu. Und sofort, wenn es gilt, Unterdrückung zu rechtfertigen, wird Calvin beredt. Es gehe nicht an, argumentiert er, daß man jedem die Freiheit lasse, zu sagen, was er denke (la liberté à chacun de dire ce qu'il voudrait), denn das würde den Epikureern, Atheisten und Gottverächtern allzu wohl gefallen. Nur die wahre Doktrin (die Calvins) dürfe verkündet werden. Eine solche Zensur bedeute deshalb aber – immer wiederholen die Gesinnungsdespoten die gleichen antilogischen Argumente – keineswegs eine Einschränkung der Freiheit. »Ce n'est pas tyranniser l'Eglise que d'empêcher les écrivains mal intentionnés de répandre publiquement ce qui leur passe par la tête.« Wenn man die andern mundtot macht, die nicht derselben Meinung sind, hat man – nach Calvin und seinesgleichen – keineswegs einen Zwang ausgeübt; man hat nur gerecht gehandelt und einer höheren Idee – diesmal der »Ehre Gottes« – gedient.

Aber nicht die moralische Unterdrückung der Ketzer ist der anfechtbare Punkt, den Calvin eigentlich zu verteidigen hat – längst ist sie als These vom Protestantismus übernommen –, sondern entscheidend ist die Frage, ob man einen Andersdenkenden auch töten oder töten lassen dürfe. Da Calvin im Falle Servet diese Frage durch die Tat schon im voraus bejaht hat, muß er sie jetzt nachträglich begründen, und seine Deckung sucht er selbstverständlich in der Bibel, um darzutun, daß er nur im »höheren Auftrag« und gehorsam einem »göttlichen Gebot« Servet beseitigt habe. Ferner sucht er die ganze mosaische Lehre (denn die Evangelien sprechen zu viel von »Liebet Eure Feinde!«) nach Beispielen von Ketzerhinrichtungen ab, aber wirklich überzeugende vermag er nicht zu bringen, weil die Bibel den Begriff des Ketzers überhaupt noch nicht kannte, sondern nur den des »Blasphemators«, des Gottesleugners; Servet jedoch, der aus den Flammen noch den Namen Christi angerufen, war nie ein Atheist gewesen. Aber Calvin, der sich immer dort auf die Bibel stützt, wo sie ihm am bequemsten in die Hand paßt, erklärt desungeachtet die Austilgung der Andersdenkenden durch die Obrigkeit als »heilige« Pflicht: »So wie ein gewöhnlicher Mann schuldig wäre, wenn er nicht das Schwert faßt, sobald sein Haus von Götzendienst befleckt ist und einer seiner Angehörigen sich gegen Gott auflehnt, um wieviel niederträchtiger wäre dann diese Feigheit bei einem Fürsten, wenn er die Augen schließen wollte, wenn die Religion verletzt wird.« Das Schwert ist ihnen gegeben, daß sie es »zur Ehre Gottes« (immer mißbraucht Calvin dies Wort in seinen Aufrufen zur Gewalt) nützen sollen; jede Tat, die im »saint zèle«, im frommen Eifer, geschieht, ist im voraus gerechtfertigt. Die Verteidigung der Orthodoxie, des wahren Glaubens, löst nach Calvin alle Bande des Bluts, alle Gebote der Menschlichkeit; selbst seine nächsten Angehörigen muß man, wenn sie Satan zu Leugnung der »wahren« Religion treibt, vernichten und – furchtbare Blasphemie gegen Gott: »On ne lui fait point l'honneur qu'on lui doit, si on ne préfère son service à tout regard humain, pour n'épargner ni parentage, ni sang, ni vie qui soit et qu'on mette en oublie toute humanité quand il est question de combattre pour sa gloire.«

Entsetzliches Wort und tragischer Beweis, wie weit einen sonst klardenkenden Menschen der Fanatismus verblenden kann! Denn mit erschreckender Nacktheit ist hier gesagt, daß als fromm im Sinne Calvins nur gelte, wer für die »Lehre« – seine Lehre – »tout regard humain«, also jedes Gefühl der Menschlichkeit in sich abtöte, wer willig Frau und Freunde, Brüder und Sippen der Inquisition ausliefere, sobald sie in irgendeinem Punkt oder Pünktchen der Rechtgläubigkeit anderer Meinung sind als das Konsistorium. Und damit niemand eine derart blutrünstige These anfechte, greift Calvin zu seinem letzten, zu seinem liebsten Argument: zum Terror. Er erklärt, daß jeder, der einen Ketzer verteidige oder entschuldige, selbst der Ketzerei schuldig und zur Bestrafung gezeichnet sei. Da Calvin Widerspruch nicht erträgt, will er von vorneweg jeden Widersprecher einschüchtern, indem er ihm Servets Schicksal androht: entweder schweigen und parieren oder selbst auf den Brandstoß! Ein für allemal will Calvin die ihm peinliche Diskussion über den Mord an Servet erledigt und abgeschlossen wissen.

Aber die anklagende Stimme des Ermordeten läßt sich, so grell und zornwütig auch Calvin seine Drohungen in die Welt schreit, nicht zum Schweigen bringen, und die calvinische Verteidigungsschrift mit ihrer Aufforderung zur Ketzerjagd macht den allerschlimmsten Eindruck; ein Abscheu ergreift gerade die ehrlichsten Protestanten, die Inquisition in ihrer reformierten Kirche nun ex cathedra gefordert zu sehen. Einige erklären, es wäre passender gewesen, wenn eine solche blutrünstige These vom Magistrat verfochten worden wäre statt von einem Prediger an Gottes Wort, einem Diener Christi; herrlich entschieden antwortet aber der Berner Stadtschreiber Zerchintes, der späterhin auch Castellios getreuester Freund und Beschützer sein wird. »Ich gestehe offen ein«, schreibt er an Calvin, »daß auch ich zu denjenigen gehöre, die soviel wie möglich die Todesstrafe für die Gegner der Glaubensbewegung einschränken wollen und sogar jenen gegenüber, die freiwillig im Irrtum sind. Was mich dazu besonders bestimmt, sind nicht nur jene Stellen der Heiligen Schrift, die man gegen den Gebrauch der Gewalt anführen kann, sondern das Beispiel, wie man in dieser Stadt gegen die Wiedertäufer verfährt. Ich selbst habe eine Frau von achtzig Jahren zum Schafott schleppen gesehen, zugleich mit ihrer Tochter, einer Mutter von sechs Kindern, die kein anderes Verbrechen begangen hat, als die Kindertaufe zu leugnen. Unter dem Eindruck eines solchen Beispiels muß ich befürchten, daß die Behörden des Gerichts sich nicht in den engen Grenzen halten werden, in die Du sie selbst verschließen möchtest, und daß sie kleine Irrtümer wie große Delikte bestrafen werden. Deshalb würde ich es für wünschenswert erachten, wenn die Obrigkeiten sich lieber ein Übermaß von Milde und Einsicht zuschulden kommen ließen, als sich zur Strenge des Schwertes zu entscheiden ... Ich für meinen Teil würde lieber mein Blut vergießen, als mit dem eines Mannes befleckt sein, der nicht in der allergewissesten Weise den Tod verdient hätte.«

 

So spricht ein kleiner unbekannter Ratsschreiber in einer fanatischen Zeit, und so denken viele; aber alle denken ihre Meinung nur im stillen. Auch der wackere Zerchintes hat die Scheu seines Meisters Erasmus von Rotterdam vor den Zeitdisputen, und ehrlich beschämt bekennt er Calvin, daß er nur brieflich ihm seine abweichende Meinung mitteile, öffentlich aber lieber schweigen möchte. »Ich werde nicht in die Arena hinabsteigen, solange mich mein Gewissen nicht nötigt. Ich ziehe vor, stumm zu bleiben, sofern mein Gewissen es verstattet, statt Diskussionen hervorzurufen und irgend jemanden zu kränken.« Immer sind die humanen Naturen zu rasch resigniert und erleichtern damit den Gewalttätern ihr Spiel; wie dieser treffliche, aber unkämpferische Zerchintes handeln sie alle: sie schweigen und schweigen, die Humanisten, die Geistlichen, die Gelehrten, die einen aus Ekel vor dem lauten Gezänk, die andern aus Angst, selber als Ketzer verdächtigt zu werden, wenn sie Servets Hinrichtung nicht heuchlerisch als lobenswerte Tat rühmen. Und schon hat es den Anschein, als ob die ungeheuerliche Aufforderung Calvins zur allgemeinen Verfolgung der Andersdenkenden unwidersprochen bleiben sollte. Da erhebt sich plötzlich eine Stimme – Calvin wohlbekannt und verhaßt –, um im Namen der beleidigten Menschlichkeit das an Miguel Servet begangene Verbrechen öffentlich anzuklagen: die klare Stimme Castellios, den noch nie eine Drohung des Genfer Gewalttäters eingeschüchtert hat und der entschlossen sein Leben einsetzt, um das Leben Unzähliger zu retten.

 

In jedem geistigen Kriege sind nicht jene die besten Kämpfer, die leicht und leidenschaftlich eine Fehde beginnen, sondern die lange Zögernden, die innerlich Friedliebenden, in denen erst langsam der Entschluß und die Entscheidung reift. Erst wenn sie alle andern Möglichkeiten einer Verständigung erschöpft und die Unausweichlichkeit eines Waffenganges erkannt haben, gehen sie schweren und unfreudigen Herzens an die aufgedrungene Abwehr; aber gerade die sich am schwersten zum Kampfe entscheiden, werden dann immer die Entschiedensten und Entschlossensten sein. So auch Castellio. Als wahrer Humanist ist er kein geborener und kein überzeugter Streiter; das Verbindliche, das Versöhnliche, das eindringlich Konziliante entspricht unendlich mehr seiner milden und im tiefsten Sinne religiösen Natur. Wie sein geistiger Ahnherr Erasmus weiß er um die Vielförmigkeit und Vieldeutigkeit jeder irdischen, jeder göttlichen Wahrheit, und nicht zufällig trägt eines seiner wesentlichsten Werke den bedeutsamen Titel ›De arte dubitandi‹, ›Von der hohen Kunst zu zweifeln‹. Aber dieses ständige Sichselbstbezweifeln und Sichselbstüberprüfen macht Castellio keineswegs zum kalten Skeptiker; seine Vorsicht lehrt ihn nur Nachsicht gegen alle andern Meinungen, und er schweigt lieber, statt vorschnell in fremden Streit sich einzumengen. Seit er, um die innere Freiheit zu wahren, Amt und Würde freiwillig preisgegeben, hat er sich gänzlich zurückgezogen von der Zeitpolitik, um mit einer geistig produktiven Tat, mit seiner zwiefachen Bibelübersetzung, dem Evangelium besser zu dienen. Basel ist ihm geruhige Heimstatt geworden, diese letzte Insel des religiösen Friedens; hier hütet die Universität noch das Erbe des Erasmus, und darum sind in diese letzte Freistätte der einstmals alleuropäischen Humanität all jene geflüchtet, die Verfolgung durch kirchliche Diktaturen erlitten. Hier lebt Karlstadt, von Luther aus Deutschland vertrieben, und Bernard Ochino, von der römischen Inquisition aus Italien gejagt, hier Castellio, von Calvin aus Genf verdrängt, hier Lelio Socino und Curione und, geheimnisvoll auch unter fremdem Namen vermummt, der in den Niederlanden geächtete Wiedertäufer David de Joris. Gemeinsames Schicksal gemeinsamer Verfolgung verbindet diese Emigranten, obzwar sie keineswegs in allen theologischen Fragen gleicher Überzeugung sind; nie bedürfen aber humane Naturen einer systematischen Gleichschaltung der Weltanschauung bis auf den letzten Knopf, um sich menschlich in freundschaftlicher Aussprache zu verbinden. Alle diese Dienstverweigerer jedweder moralischen Diktatur führen in Basel ein lautloses und privatestes Gelehrtendasein; sie überschütten die Welt nicht mit Traktaten und Broschüren, sie perorieren nicht in den Vorlesungen, sie rotten sich nicht zu Bünden und Sekten zusammen; einzig eine gemeinsame Trauer über die zunehmende Kasernierung und Reglementierung des Geistes hält diese einsamen »Remonstranten« (so wird man diese Auflehner gegen jeden dogmatischen Terror später benennen) in stiller Brüderlichkeit verbunden.

Für diese unabhängigen Denker bedeutet die Verbrennung Servets und das blutrünstige Verteidigungspamphlet Calvins selbstverständlich eine Kriegserklärung. Zorn und Schrecken erfüllen sie bei dieser verwegenen Herausforderung. Der Augenblick ist, sie alle erkennen dies sofort, entscheidend; wenn eine solche tyrannische Tat ohne Antwort bleibt, dann hat der freie Geist abgedankt in Europa, dann ist die Gewalt zum Recht geworden. Aber soll man wirklich, »nachdem es schon einmal Licht geworden war«, nachdem die Reformation die Forderung der Gewissensfreiheit in die Welt getragen, wieder zurück in die Finsternisse? Sollen tatsächlich, wie Calvin es fordert, mit Galgen und Schwert alle andersdenkenden Christen ausgerottet werden? Muß nicht jetzt, im gefährlichsten Augenblick, ehe tausende Scheiterhaufen sich an jenem von Champel entzünden, klar proklamiert werden, daß man Menschen, die in geistigen Dingen anderer Meinung sind, nicht jagen dürfe wie bösartige Tiere und grausam hinmartern wie Räuber und Mörder? Laut und deutlich muß jetzt in letzter und allerletzter Stunde der Welt dargetan werden, daß alle Intoleranz unchristlich handelt und, wenn sie zum Terror greift, unmenschlich; laut und deutlich, sie fühlen es alle, muß jetzt ein Wort ergehen zugunsten der Verfolgten und ein Wort gegen den Verfolger.

Laut und deutlich – aber wie wäre es noch möglich in jener Stunde! Es gibt Zeiten, in denen die einfachsten und klarsten Wahrheiten der Menschheit genötigt sind, sich zu vernebeln und zu verkleiden, um zu den Menschen zu gelangen, da die humansten und heiligsten Gedanken verhüllt und vermummt wie Diebe durch Hintertüren sich einschmuggeln müssen, weil die offene Pforte von den Schergen und Zöllnern der Machthaber bewacht ist. Immer wiederholt sich das absurde Faktum, daß, während allen Aufreizungen eines Volkes oder eines Glaubens gegen den andern die Rede frei verstattet ist, alle versöhnlichen Tendenzen, alle pazifistischen, alle konzilianten Ideale verdächtigt und unterdrückt werden unter dem Vorwand, sie gefährdeten irgendeine (immer eine andere) staatliche oder die göttliche Autorität, sie schwächten »defaitistisch« den frommen oder den vaterländischen Eifer durch ihren Willen zur Humanität. So können unter dem Terror Calvins Castellio und die Seinen keinesfalls wagen, klar und offen ihre Anschauungen darzulegen; ein Manifest der Toleranz, ein Aufruf zur Humanität, wie sie ihn planen, verfiele am ersten Tage der Beschlagnahme durch die geistliche Diktatur. Der Gewalt kann also nur mit List begegnet werden. Ein völlig erfundener Name, »Martinus Bellius«, wird als der des Herausgebersund ein fingierter Druckort (Magdeburg statt Basel) auf das Titelblatt gesetzt, vor allem aber wird im Text selbst dieser Appell zur Rettung der unschuldig Verfolgten als wissenschaftliches, als theologisches Werk maskiert; es soll den Anschein haben, als werde nur völlig akademisch von hochgelehrten kirchlichen und sonstigen Autoritäten die Frage erörtert: »De haereticis an sint persequendi et omnino quomodo sit cum eis agendum multorum tum veterum tum recentiorum sententiae« – zu deutsch: »Ob die Ketzer zu verfolgen seien und wie man mit ihnen verfahren solle, dargetan an Gutachten vieler alter wie neuer Autoren.« Und wirklich, blättert man die Seiten bloß flüchtig durch, so meint man zunächst, tatsächlich nur ein fromm-theoretisches Traktätchen in Händen zu haben, denn hier stehen die Sentenzen der berühmtesten Kirchenväter, des heiligen Augustinus wie des heiligen Chrysostomus und Hieronymus brüderlich neben den ausgewählten Äußerungen von großen protestantischen Autoritäten, wie Luther und Sebastian Frank, oder von unparteiischen Humanisten, wie Erasmus. Nur eine scholastische Anthologie, eine juridisch-theologische Zitatenlese aus den verschiedensten Parteiphilosophen scheint hier zusammengestellt, um dem Leser ein individuelles, unbeeinflußtes Urteil über diese diffizile Frage zu ermöglichen; blickt man aber näher hin, so sieht man, daß einhellig nur Gutachten ausgewählt sind, welche die Todesstrafe gegen Ketzer als unstatthaft erklären. Und die geistreichste List, die einzige Bosheit dieses innerlich furchtbar ernsten Buches – unter diesen zitierten Gegenrednern Calvins befindet sich einer, dessen These ihm besonders ärgerlich sein muß: niemand anderer nämlich als Calvin. Sein eigenes Gutachten, freilich aus der Zeit, da er selbst noch ein Verfolgter war, widerspricht schroff seinen jetzigen brünstigen Rufen nach Feuer und Schwert; mit seinen eigenen Worten muß der harte Mörder Servets, muß Calvin sich von Calvin als unchristlich bezeichnen lassen, denn hier steht es gedruckt und mit seinem eigenen Namen gezeichnet: »Unchristlich ist es, die von der Kirche Ausgestoßenen mit Waffen zu verfolgen und ihnen die Rechte der Menschlichkeit zu versagen.«

Immer aber gibt erst das gestaltete Wort einem Buche seinen Wert und nicht die versteckte, die verborgene Meinung. Dieses Wort spricht nun Castellio aus in seiner einleitenden Widmung an den Herzog von Württemberg, und nur diese seine einleitenden und abschließenden Worte erheben die theologische Anthologie über die Zeit hinaus. Denn wenn auch kaum mehr als ein Dutzend Seiten, so sind sie doch die ersten, mit denen die Gedankenfreiheit ihr heiliges Heimatrecht in Europa fordert. In jener Stunde nur zugunsten der Ketzer geschrieben, sind sie zugleich ein Sühneruf für all jene, die in späteren Tagen um politischer oder weltanschaulicher Selbständigkeit willen von andern Diktaturen Verfolgung zu erleiden haben. Für alle Zeiten ist hier der Kampf eröffnet gegen den Erbfeind jeder geistigen Gerechtigkeit, gegen den engstirnigen Fanatismus, der jede Meinung außer der seiner eigenen Partei unterdrücken will, und ihm sieghaft jene Idee entgegenstellt, die einzig alle Feindseligkeit auf Erden befrieden kann: die Idee der Toleranz.

 

Mit leidenschaftloser Logik, klar und unwiderlegbar, entwickelt Castellio seine These. Zur Frage steht: ob Ketzer verfolgt und für ihr bloß geistiges Delikt an ihrem Leben bestraft werden dürfen. Dieser Frage stellt Castellio eine andere entscheidende voraus: Was ist eigentlich ein Ketzer? Wen darf man so nennen, ohne ungerecht zu werden, denn – so argumentiert Castellio in seiner unerschrockenen Entschlossenheit – »ich glaube nicht, daß all jene Ketzer sind, die man Ketzer nennt ... Diese Bezeichnung ist heute so schimpfhaft, so schreckhaft, so verachtungswürdig und furchtbar, daß, wenn jemand sich eines persönlichen Feindes entledigen will, er einen ganz bequemen Weg hat, nämlich indem er ihn der Ketzerei verdächtigt. Denn kaum haben die andern Menschen dies vernommen, so fühlen sie einen derartigen Schreck vor dem bloßen Namen Ketzer, daß sie sich die Ohren verstopfen und blindwütig nicht nur ihn verfolgen werden, sondern auch jene, welche ein Wort zu seinen Gunsten wagen.«

Nicht aus einer solchen Verfolgungshysterie aber will Castellio urteilen. Er weiß, daß jede Zeit sich immer eine andere Gruppe von Unseligen erwählt, um gegen sie ihren gestauten Haß kollektiv zu entladen. Jedesmal wird bald wegen ihrer Religion, bald wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Rasse, ihrer Herkunft, ihres sozialen Ideals, ihrer Weltanschauung eine kleinere und schwächere Gruppe von den stärkeren zur Entladung der im Menschlichen latenten Vernichtungsenergien erlesen; die Parolen, die Anlässe wechseln, aber immer bleibt die Methode der Verleumdung, der Verachtung, der Vernichtung dieselbe. Ein geistiger Mensch aber darf sich niemals durch solche Femworte verblenden und vom Furor der Masseninstinkte mitreißen lassen: jedesmal hat er mit neuer Gelassenheit und Gerechtigkeit das Recht zu suchen; darum weigert sich Castellio, in der Frage der Ketzer eine Meinung abzugeben, ehe er völlig den Sinn dieses Haßworts durchdrungen.

Was ist also ein Ketzer? Immer wieder legt Castellio sich und dem Leser diese Frage vor. Und da sich Calvin und die andern Inquisitoren auf die Bibel als das einzig gültige Gesetzbuch berufen, durchforscht auch er sie Blatt auf Blatt. Aber siehe, er findet das Wort und den Begriff überhaupt nicht darin – erst eine Dogmatik, eine Orthodoxie, eine Einheitslehre mußte kommen, ihn zu erfinden, denn um sich gegen die Kirche aufzulehnen, mußte eine Kirche erst als Institution gegründet sein. Die Heilige Schrift spricht zwar von Gottesleugnern und ihrer notwendigen Bestrafung. Aber ein Ketzer muß noch keineswegs – der Fall Servet hat es erwiesen – ein Gottesleugner sein; im Gegenteil, gerade, die man Ketzer nennt, und am begeistertsten die Wiedertäufer, behaupten, die echten, die wahren Christen zu sein und den Heiland als das erhabenste und geliebteste Vorbild zu verehren. Da niemals ein Türke, ein Jude, ein Heide Ketzer genannt wird, muß Ketzerei ausschließlich ein Delikt innerhalb des Christentums sein. Also neue Formulierung: Ketzer sind diejenigen, die – obzwar Christen – nicht dem »wahren« Christentum anhängen, sondern eigenwillig in verschiedenen einzelnen Punkten von der »richtigen« Auffassung abweichen.

Scheinbar wäre damit die endgültige Definition gefunden. Aber – verhängnisvolle Frage! – welches ist das »wahre« Christentum unter all seinen verschiedenen Auslegungen, was die »richtige« Deutung des Gottesworts? Die katholische, die lutherische, die zwinglianische, die wiedertäuferische, die hussitische, die calvinische Exegese? Gibt es wirklich eine absolute Sicherheit in religiösen Dingen, ist tatsächlich das Wort der Schrift immer deutbar? Castellio hat den Mut – im Gegensatz zum Rechthaber Calvin –, mit einem bescheidenen Nein zu antworten. Er erblickt in der Heiligen Schrift Erfaßbares neben Unfaßlichem. »Die Wahrheiten der Religion«, schreibt dieser im tiefsten religiöse Geist, »sind ihrer Natur nach geheimnisvoll und bilden noch nach mehr als tausend Jahren den Gegenstand eines unendlichen Streites, in welchem das Blut nicht aufhören wird zu fließen, sofern nicht die Liebe die Geister erleuchtet und das letzte Wort behält.« Jeder, der Gottes Wort auslegt, kann fehlen und in Irrtümer fallen, und darum wäre gegenseitige Toleranz die erste Pflicht. »Wären alle Dinge so klar und offenbar, wie es klar ist, daß es einen Gott gibt, so könnten alle Christen leicht über alle diese Dinge einer Meinung sein, so wie ja auch alle Nationen einig sind in der Erkenntnis, daß es einen Gott gibt; weil aber alles dunkel und verwirrt ist, sollten Christen nicht einer den andern verurteilen, und wenn wir weiser sind als die Heiden, so seien wir auch besser und mitleidiger als diese.«

Wieder ist Castellio einen Schritt in seiner Erkundung weitergekommen; Ketzer wird jeder genannt, der zwar die Grundgesetze des christlichen Glaubens anerkennt, aber nicht in der in seinem Lande autoritär geforderten Form. Ketzertum ist also – endlich die wichtigste Unterscheidung! – kein absoluter, sondern ein relativer Begriff. Ein Calvinist stellt selbstverständlich für einen Katholiken einen Ketzer dar und ebenso selbstverständlich ein Wiedertäufer für den Calvinisten; derselbe Mann, der in Frankreich als Rechtgläubiger gilt, ist für Genf ein Häretiker und umgekehrt. Der in einem Lande als Verbrecher verbrannt wird, ist für das Nachbarland ein Märtyrer – »während du in einer Stadt oder Gegend als wahrer Gläubiger giltst, wirst du in der nächsten dafür schon als Ketzer geachtet, so daß, wenn einer heute unbehelligt leben wollte, er eigentlich so viele Überzeugungen und Religionen haben müßte, als es Städte und Länder gibt«. So gelangt Castellio zu seiner letzten und kühnsten Formulierung. »Wenn ich nachdenke, was eigentlich ein Ketzer sei, finde ich nichts anderes, als daß wir all jene als Ketzer bezeichnen, die nicht mit unserer Meinung übereinstimmen.«

Das scheint ein ganz einfaches, ein in seiner Selbstverständlichkeit beinahe banales Wort. Aber es offen und unbefangen auszusprechen, bedeutet damals eine ungeheure moralische Mutleistung. Denn damit ist einer ganzen Zeit, ihren Führern und Fürsten und Priestern, Katholiken und Lutheranern von einem einzigen machtlosen Menschen ins Gesicht gepeitscht, daß ihre grausame Ketzerjagd ein Unsinn und ein mörderischer Wahnsinn ist. Daß widerrechtlich und unschuldig alle die Tausende und Zehntausende gejagt, gehängt, ersäuft und verbrannt werden, da sie doch keinerlei Verbrechen gegen Gott und den Staat begangen haben; nicht im realen Raum der Tat haben sie sich abgesondert von den andern, sondern nur im unsichtbaren der Gedanken. Wem aber steht das Recht zu, die Gedanken eines Menschen zu richten, seine innere und private Überzeugung einem gemeinen Delikt gleichzusetzen? Nicht dem Staate, nicht den Behörden. Dem Cäsar untersteht nach dem Bibelwort nur, was des Cäsars ist, und ausdrücklich führt Castellio Luthers Wort an, daß das irdische Königtum nur Gewalt habe über den Körper; von den Seelen aber wolle Gott nicht, daß irgendein irdisches Recht über sie gebiete. Der Staat kann von jedem Untertanen Einhaltung der äußern und der politischen Ordnung fordern. Jede Einmengung welcher Autorität immer in die innere Welt der sittlichen, der religiösen und wir würden beifügen: der künstlerischen – Überzeugungen, solange sie nicht sichtbare Empörung darstellen gegen das Wesen des Staates (wir würden sagen: politische Agitation), bedeutet darum einen Übergriff und einen Einbruch in das unantastbare Recht der Persönlichkeit. Für seine innere Welt ist niemand einer staatlichen Instanz verantwortlich und verantwortbar, denn »jeder von uns hat seine Sache für sich selbst vor Gott zu führen«. Die Staatsgewalt ist nicht zuständig in Gesinnungsdingen. Wozu also dieses widrige Toben mit Schaum vor den Zähnen, wenn einer weltanschaulich anderer Überzeugung ist, warum dieser unablässige Schrei nach der Staatspolizei, warum dieser mörderische Haß? Ohne Willen zur Konzilianz ist eine wahre Humanität unmöglich, denn nur »wenn wir uns innerlich beherrschen, können wir in Frieden zusammenleben, und selbst wenn wir manchmal in Meinungsverschiedenheiten sind, so verständigen wir uns doch wenigstens und billigen wir uns gegenseitig insolange die Liebe und das Band des Friedens zu, bis wir zur Einigung im Glauben gelangen«.

Die Schuld an diesen gräßlichen Schlächtereien, an diesen barbarischen Verfolgungen, welche die Würde der Menschheit entehren, liegt also nicht bei den Ketzern, die schuldlos sind (wer wäre verantwortlich für seine Gedanken, seine Überzeugungen?); der Schuldige, der ewig Schuldige an dem mörderischen Wahn und der wilden Verwirrung unserer Welt bleibt für Castellio der Fanatismus, die Unduldsamkeit der Ideologen, die immer nur ihre Idee, ihre Religion, ihre Weltanschauung wahrhaben wollen. Unbarmherzig prangert Castellio diese rasende Selbstüberhebung an. »Die Menschen sind so sehr von ihrer eigenen Meinung oder vielmehr von der falschen Gewißheit, die sie von ihrer Meinung haben, überzeugt, daß sie hochmütig die andern verachten; aus diesem Hochmut entstehen die Grausamkeiten und Verfolgungen, so daß keiner den andern mehr dulden will, sobald er nicht einer Ansicht mit ihm ist, obwohl es doch heute fast ebenso viele verschiedene Meinungen wie Menschen gibt. Dennoch findet sich nicht eine einzige Sekte, die nicht alle andern verurteilte und allein herrschen wollte. Und daher stammen alle diese Verbannungen, Exile, Einsperrungen, Verbrennungen, Hängungen, diese ganze niederträchtige Wut der Hinrichtungen und Folterungen, die man tagtäglich ausübt, und einzig wegen einiger Meinungen, die den großen Herren mißfallen, und oft sogar überhaupt ohne einen bestimmten Grund.« Nur aus dem Starrsinn entsteht der Widersinn, nur aus der geistigen Unduldsamkeit »jene wilde und barbarische Lust, Grausamkeiten zu begehen, und man sieht manche heute derart erhitzt durch diese aufreizenden Verleumdungen, daß sie in Wut geraten, wenn einer von denen, die sie hinrichten lassen, zuerst erdrosselt wird und nicht martervoll bei langsamem Feuer verbrannt«.

Nur eines kann darum für Castellio die Menschheit von diesen Barbareien erretten: Toleranz. Unsere Welt hat Raum für viele Wahrheiten und nicht nur für eine, und wenn die Menschen nur wollten, könnten sie nebeneinander wohnen. »Dulden wir einer den andern und verurteilen wir nicht den Glauben eines andern!« Überflüssig dann dieses wüste Ketzergeschrei, unnötig alle Verfolgung um geistiger Dinge willen. Und während Calvin die Fürsten in seiner Schrift aneifert, das Schwert zur restlosen Austilgung der Häretiker zu gebrauchen, fleht sie Castellio an: »Neigt euch eher zur Seite der Milde und gehorcht nicht jenen, die euch zum Mord anstacheln, denn sie werden euch nicht als Helfer zur Seite stehen können, wenn ihr eure Rechnung vor Gott ablegen müßt; sie werden mit ihrer eigenen Verteidigung genug beschäftigt sein. Glaubt mir, wenn Christus hier gegenwärtig wäre, niemals würde er euch raten, jene zu töten, die seinen Namen bekennen, selbst wenn sie in irgendeiner Einzelheit irrten oder falsche Wege gingen ...«

 

Unparteilich, wie es sich für ein geistiges Problem gebührt, ist Sebastian Castellio der gefährlichen Frage nach Schuld oder Unschuld der sogenannten Ketzer nachgegangen. Er hat sie geprüft, er hat sie gewogen. Und wenn er nun aus innerster Überzeugung für diese Gehetzten und Gejagten Frieden und geistige Freistatt fordert, so legt er trotz aller innern Gewißheit beinahe demütig diese seine Ansicht den andern vor. Während die Sektierer wie die Marktschreier grell und laut und lärmend ihre Dogmen anpreisen, während jeder dieser engstirnigen Doktrinäre unablässig von der Kanzel schreit, er und nur er verhökere die reine, die wahre Lehre, nur in seiner Stimme verkünde sich wortwörtlich Gottes Wille und Wort, sagt Castellio schlicht: »Ich spreche zu euch nicht wie ein Prophet, den Gott geschickt hat, sondern wie ein Mann aus der Masse, der die Streitigkeiten verabscheut und der nur wünschte, die Religion würde nicht durch Gezänk, sondern durch mitfühlende Liebe, nicht durch äußere Gebräuche, sondern durch innerlichen Herzensdienst bewiesen.« Immer sprechen die Doktrinäre zu den andern wie zu Schülern und Knechten. Immer der Humane wie ein Bruder zum Bruder, wie ein Mensch zu den Menschen.

Aber einem wahrhaft menschlichen Menschen ist es nicht möglich, ohne Erregung zu bleiben, wenn er Unmenschliches geschehen sieht. Die Hand eines ehrlichen Schriftstellers, sie kann nicht gelassen kühle und prinzipielle Worte hinmalen, wenn ihm die Seele bebt vom Wahnwitz seiner Zeit, seine Stimme vermag nicht gemessen zu bleiben, wenn die Nerven ihm brennen von gerechter Empörung. So vermag auch Castellio auf die Dauer sich nicht zu verhalten und bloß akademische Untersuchungen zu erörtern angesichts jenes Marterpfahles von Champel, an dem sich ein unschuldiger Mensch in Qualen zu Tode gewunden hat, ein Mensch, lebendig geopfert auf Geheiß eines geistigen Bruders, ein Gelehrter von einem Gelehrten, ein Theologe von einem Theologen, und noch überdies im Namen der Liebesreligion. Das Bild des gefolterten Servet, die grausame Massenverfolgung der Ketzer vor der Seele, hebt Castellio den Blick auf von seinen beschriebenen Blättern und sucht die Anstifter dieser Gräßlichkeiten, die vergebens ihre persönliche Unduldsamkeit mit einem frommen Dienst an Gott entschuldigen wollen. Calvin ist in sein hartes Auge geblickt, wenn Castellio ausruft: »Und so grausam diese Dinge auch sein mögen, eine noch entsetzlichere Sünde begehen ihre Täter, wenn sie versuchen, solche Untaten mit dem Kleide Christi zu decken, und vorgeben, daß sie damit seinen Willen taten.« Er weiß, allezeit suchen die Gewalttäter mit irgendeinem religiösen, einem weltanschaulichen Ideal ihre Gewalttaten zu verbrämen; aber Blut beschmutzt jede Idee, Gewalt erniedrigt jeden Gedanken. Nein, Miguel Servet ist nicht auf Christi Geheiß verbrannt worden, sondern auf Jehan Calvins Befehl, denn alle Christlichkeit wäre durch eine solche Tat auf Erden geschändet. »Wer«, ruft Castellio aus, »möchte heute noch Christ werden, wenn diejenigen, die sich zu Christus bekennen, durch Feuer und Wasser hingeschlachtet und grausamer denn Mörder und Räuber behandelt werden ... Wer sollte Christus noch dienen wollen, wenn er sieht, wie heute jemand, der in irgendeiner Einzelheit mit jenen, die Macht und Gewalt an sich gerissen haben, nicht übereinstimmt, lebendig verbrannt wird im Namen Christi, obwohl er mitten in den Flammen ausruft und laut bekennt, daß er an ihn glaubt?«

Darum muß, so fühlt dieser herrlich humane Mann, endlich Einhalt geboten werden dem Wahn, man dürfe Menschen martern und morden, nur weil sie geistig den Gewalthabern der Stunde widerstreben. Und da er sieht, daß die Gewalthaber die Gewalt immer wieder mißbrauchen und auf Erden niemand ist als er allein, der Eine, der Kleine, der Schwache, sich der Verfolgten und Gejagten anzunehmen, da hebt er verzweifelt die Stimme in den Himmel empor, und in einer ekstatischen Fuge des Mitleids endet sein Appell. »O Christus, Schöpfer und König der Welt, siehst Du diese Dinge? Bist Du wirklich ein ganz anderer geworden, als Du es warst, so grausam und so feindselig wider Dich selbst? Als Du auf Erden weiltest, gab es nichts Sanfteres, nichts Gütigeres als Dich, keinen, der Verhöhnungen milder duldete; beschimpft, bespien, verlacht, mit Dornen gekrönt, zwischen Räubern gekreuzigt, mitten in tiefster Erniedrigung hast Du für diejenigen gebetet, welche Dir alle diese Beleidigungen und Schmähungen angetan. Ist es wahr, daß Du jetzt so verwandelt bist? Ich flehe Dich an, im heiligsten Namen Deines Vaters: Gebietest Du denn wirklich, daß diejenigen, welche nicht alle Deine Anordnungen und Gebote genau so, wie Deine Lehrer es fordern, befolgen, im Wasser ertränkt werden, mit Zangen zerrissen bis zu den Eingeweiden, mit Salz bestäubt, von Schwertern zerfetzt, an kleinen Feuern geröstet und mit aller Art von Martern so langsam als möglich zu Tode gequält? Billigst Du wirklich, o Christus, diese Dinge? Sind es wirklich Deine Diener, die solche Schlächtereien veranstalten, welche derart die Leute schinden und zerstückeln? Bist Du wirklich, wenn man Deinen Namen zum Zeugen anruft, bei solchen grausamen Metzgereien, als ob Du Hunger hättest nach menschlichem Fleisch? Wenn Du, Christus, diese Dinge wirklich gebieten würdest, was wäre dann Satan zu tun übriggelassen? O furchtbare Gotteslästerung, daß Du diese Dinge tätest, dieselben Dinge wie er! O niederträchtiger Mut der Menschen, Christus solche Dinge zuzuschieben, die nur Wille und Erfindung des Teufels sein können!«

 

Hätte Sebastian Castellio nichts geschrieben als diese Vorrede zu dem Buche ›Von den Ketzern‹ und in dieser Vorrede nur dieses Blatt, sein Name müßte schon unvergänglich bleiben in einer Geschichte der Humanität. Denn wie einsam erhebt sich diese Stimme, wie wenig Hoffnung hat seine erschütternde Beschwörung, gehört zu werden in einer Welt, wo die Waffen die Worte überklirren und der Krieg die letzten Entscheidungen an sich reißt. Aber wenn auch unzähligemal von allen Religionen und Weisheitslehrern verkündet, immer müssen gerade die allmenschlichsten Forderungen der vergeßlichen Menschheit in Erinnerung gebracht werden. »Zweifellos sage ich nichts«, fügt der bescheidene Castellio bei, »was nicht andere auch schon gesagt hätten. Aber es ist niemals überflüssig, das, was wahr ist und gerecht, so lange zu wiederholen, bis es sich Geltung erzwingt.« Weil die Gewalttätigkeit sich in jedem Zeitalter in andern Formen erneut, muß auch der Kampf gegen sie immer wieder von den Geistigen erneuert werden; nie dürfen sie flüchten hinter den Vorwand, zu stark sei zur Stunde die Gewalt und sinnlos darum, sich ihr im Wort entgegenzustellen. Denn nie ist das Notwendige zu oft gesagt und nie die Wahrheit vergeblich. Auch wenn es nicht siegt, so erweist doch das Wort ihre ewige Gegenwart, und wer ihr dient in solcher Stunde, hat für seinen Teil bewiesen, daß kein Terror Macht hat über eine freie Seele und auch das unmenschlichste Jahrhundert noch Raum für die Stimme der Menschlichkeit.


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