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Der Mord an Servet

Nach seiner Flucht aus dem Gefängnis ist Servet für einige Monate spurlos verschollen. Nie wird jemand ausdenken oder aussagen können, welche Seelenschrecknisse der Gejagte bis zu jenem Augusttage erduldet hat, da er auf gemietetem Gaul in den für ihn gefährlichsten Ort der Welt, in Genf, einreitet und dort im Gasthof zur Rose absteigt.

Auch dies, warum der »malis auspiciis appulsus«, dieser, wie Calvin später selbst sagt, von einem schlimmen Stern Gelenkte, gerade in Genf Unterkunft gesucht, wird niemals aufzuklären sein. Hat er hier wirklich nur eine einzige Nacht verbracht, um am nächsten Tage mit einem Boot über den See weiterzuflüchten? Hoffte er durch mündliche Aussprache seinen Erzfeind besser zu überzeugen als durch Briefe? Oder war seine Reise nach Genf vielleicht nur einer jener sinnlosen Akte überreizter Nerven, jener teuflisch süßen und brennendsten Spiellust mit der Gefahr, wie sie manchmal Menschen gerade in der äußersten Verzweiflung überfällt? Man weiß es nicht, man wird es niemals erfahren. Alle Verhöre und Protokolle erhellen nicht das eigentliche Geheimnis, warum Servet Genf und gerade Genf aufgesucht, wo er von Calvin nur das Grimmigste zu erwarten hatte.

Aber noch weiter treibt den Unseligen sein irrwitziger und herausfordernder Mut. Kaum in Genf angelangt, begibt sich Servet sonntags in die Kirche, wo die ganze calvinistische Gemeinde versammelt ist, und sogar – weiterer Irrwitz – von all den Kirchen gerade in jene von St. Pierre, wo Calvin predigt, der einzige Mann, der ihn aus jenen verschollenen Pariser Tagen von Antlitz zu Antlitz kennt. Hier waltet ein seelischer Hypnotismus vor, der jeder logischen Ausdeutung sich verweigert: sucht die Schlange den Blick ihres Opfers oder sucht nicht vielmehr das Opfer ihren stählernen, ihren schreckhaft anziehenden Blick? Jedenfalls, ein Zwang, ein geheimnisvoller, muß es gewesen sein, der Servet seinem Schicksal entgegentrieb.

Denn unausweichlich zieht in einer Stadt, wo jedweder behördlich verpflichtet ist, jeden andern zu bewachen, ein Fremder alle Neugierblicke auf sich. Und sofort geschieht, was zu erwarten war; Calvin erkennt inmitten seiner frommen Herde den reißenden Wolf und gibt unverzüglich seinen Schergen Befehl, Servet beim Verlassen der Kirche zu verhaften. Eine Stunde später liegt Servet in Ketten.

Diese Verhaftung Servets ist selbstverständlich ein offenbarer Rechtsbruch und ein grober Verstoß gegen das in allen Ländern der Welt geheiligte Gastrecht und Völkerrecht. Servet ist Ausländer, ist Spanier, er hat Genf zum erstenmal betreten, konnte demzufolge dort nie ein Delikt begangen haben, das seine Verhaftung erheischte. Die von ihm verfaßten Bücher sind sämtlich im Ausland gedruckt, er kann demnach niemanden aufgewiegelt und keine fromme Seele in Genf mit seinen ketzerischen Ansichten verdorben haben. Außerdem stand einem »Prediger des Gotteswortes«, einer geistlichen Persönlichkeit keinerlei Machtbefugnis zu, ohne vorher ergangenen Gerichtsbeschluß jemanden im Bereich der Stadt Genf festnehmen und in Ketten legen zu lassen – von welcher Fläche immer auch betrachtet, stellt Calvins Überfall auf Servet einen welthistorischen Akt diktatorischer Willkür dar, vergleichbar in seiner offenen Verhöhnung aller Satzungen und Verträge nur Napoleons Überfall und Mord an dem Herzog von Enghien; auch hier beginnt mit einer widerrechtlichen Freiheitsberaubung nicht ein regulärer Prozeß gegen Servet, sondern ein vorbedachter und mit keiner frommen Lüge zu bemäntelnder Mord.

 

Ohne vorherige Anklage ist Servet festgenommen und ins Gefängnis geworfen worden; so muß jetzt wenigstens nachträglich eine Schuld konstruiert werden. Logisch wäre nun, daß der Mann, der diese Verhaftung auf dem Gewissen hat – »me auctore«, auf meine Veranlassung, bekennt Calvin selber –, auch als Ankläger Servets aufträte. Aber nach dem wirklich vorbildlichen Genfer Gesetz hat jeder Bürger, der einen andern eines Verbrechens beschuldigt, sich gleichzeitig mit dem Angeschuldigten in Haft zu begeben und dort so lange zu verbleiben, bis seine Anklage sich als stichhaltig erwiesen hat. Calvin müßte also, um Servet legal anzuschuldigen, sich dem Gericht zur Verfügung stellen. Für eine solche peinliche Prozedur dünkt sich Calvin als der theokratische Gebieter Genfs doch zu gut: denn wie, wenn der Rat die faktische Schuldlosigkeit Servets anerkennen würde und er selbst als Denunziant in Haft verbleiben müßte! Welche Katastrophe für sein Ansehen, welcher Triumph für seine Gegner! So weist Calvin, diplomatisch wie immer, lieber seinem Sekretär Nicolaus de la Fontaine die unangenehme Rolle des Anklägers zu; und wirklich, brav und still läßt sich statt Calvins sein Secretarius ins Gefängnis setzen, nachdem er zuvor eine – selbstverständlich von Calvin verfaßte, aus dreiundzwanzig Punkten bestehende – Anklage gegen Servet der Behörde überreicht hat: eine Komödie leitet diese grimmige Tragödie ein. Immerhin wird jetzt nach dem eklatanten Rechtsbruch wenigstens äußerlich wieder der Anschein eines Rechtsverfahrens gewahrt. Zum erstenmal wird Servet einem Verhör unterzogen, und in einer Reihe von Paragraphen werden ihm die verschiedenen Beschuldigungen seines Anklägers mitgeteilt. Auf diese Fragen und Anklagen antwortet Servet ruhig und klug, seine Energie ist durch die Kerkerhaft noch nicht gebrochen, seine Nerven intakt. Punkt für Punkt weist er die Beschuldigungen zurück und erwidert zum Beispiel auf den Anwurf, er habe die Person des Herrn Calvin in seinen Schriften angegriffen, dies sei eine Verkehrung der Tatsachen, denn als erster habe Calvin ihn angegriffen und erst daraufhin habe er seinerseits dargetan, daß auch Calvin in einigen Belangen nicht unfehlbar sei. Wenn Calvin ihn beschuldige, daß er, Servet, zäh an einzelnen Thesen festhalte, so könne er Calvin der gleichen Hartnäckigkeit beschuldigen. Es handle sich zwischen Calvin und ihm nur um theologische Meinungsverschiedenheiten, die nicht vor einem weltlichen Gericht entschieden werden könnten, und wenn ihn Calvin trotzdem habe verhaften lassen, so sei dies nichts als ein durchaus persönlicher Racheakt. Niemand anderer als der Führer des Protestantismus habe ihn seinerzeit der katholischen Inquisition denunziert, und nicht an diesem Prediger des Gotteswortes sei es gelegen, wenn er nicht schon längst verbrannt worden sei.

Dieser Standpunkt Servets ist in seiner juridischen Stichhaltigkeit derart unanfechtbar, daß die Stimmung im Rate schon sehr zu seinen Gunsten neigt, und wahrscheinlich hätte man sich mit der bloßen Landesverweisung Servets begnügt. Aber an irgendwelchen Zeichen muß Calvin wahrgenommen haben, daß die Sache für Servet nicht ungünstig stehe und sein Opfer ihm am Ende noch entkommen könnte. Denn am 17. August erscheint er plötzlich vor dem Rat und macht unerwartet der Komödie seines angeblichen Unbeteiligtseins ein Ende. Klar und offen bekennt er jetzt Farbe; er leugnet nicht länger, der eigentliche Ankläger Servets zu sein, und ersucht den Rat, von nun ab an den Verhören teilnehmen zu dürfen unter dem heuchlerischen Vorwand, »damit dem Angeklagten seine Irrtümer besser nachgewiesen werden könnten« – in Wahrheit selbstverständlich, um mit dem Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit das drohende Entkommen seines Opfers zu verhindern.

Von diesem Augenblick an, da Calvin sich selbstherrlich zwischen den Angeklagten und seine Richter eingedrängt hat, verschlimmert sich Servets Sache bedenklich. Der geübte Logiker und gelernte Jurist Calvin weiß einen Angriff anders zu führen als der kleine Secretarius de la Fontaine, und in dem Maße, wie der Ankläger seine Stärke zeigt, schwächt sich bei dem Angeklagten die Sicherheit. Der reizbare Spanier verliert zusehends die Nerven, sobald er unvermuteterweise seinen Ankläger und Todfeind neben seinen Richtern sitzen sieht, kalt, streng und mit dem vorgetäuschten Anschein absoluter Objektivität die einzelnen Fragen stellend, aber, Servet fühlt es bis ins Mark, eisern entschlossen, ihn mit diesen Fragen zu fangen und abzuwürgen. Eine böse Kampflust, ein bitterer Zorn bemächtigt sich des Wehrlosen; statt nervenlos ruhig auf seinem sichern juristischen Standpunkt zu verharren, läßt er sich durch die Fangfragen Calvins auf den schlüpfrigen Grund theologischer Diskussionen locken und gefährdet sich durch seine eifernde Rechthaberei. Denn schon eine einzige Behauptung, wie etwa jene, daß auch der Teufel ein Teil der Substanz Gottes sei, genügt vollends, um den frommen Räten einen Schauer über den Rücken rinnen zu lassen. Aber einmal gereizt in seinem philosophischen Ehrgeiz, verbreitet sich Servet ohne jede Hemmung über die heikelsten und subtilsten Glaubensartikel, als wären diese Ratsherren ihm gegenüber aufgeklärte Theologen, vor denen er die Wahrheit unbekümmert erörtern dürfe. Gerade aber diese Redewut und leidenschaftliche Diskussionsgier machen Servet den Richtern verdächtig: immer mehr beginnen sie der Ansicht Calvins zuzuneigen, dieser Fremde, der da mit flackernden Augen und geballten Fäusten gegen die Lehren ihrer Kirche redet, müsse ein gefährlicher Aufrührer gegen den geistlichen Frieden und höchstwahrscheinlich ein heilloser Ketzer sein; jedenfalls aber tue man gut, eine gründliche Untersuchung gegen ihn einzuleiten. Es wird beschlossen, seine Haft aufrechtzuerhalten, dagegen seinen Ankläger Nicolaus de la Fontaine zu entlassen. Calvin hat seinen Willen durchgesetzt, und freudig schreibt er an einen Freund: »Ich hoffe, daß er zum Tode verurteilt wird.«

 

Warum wünscht Calvin so dringlich, daß Servet zum Tode verurteilt werde? Warum genügt ihm nicht der bescheidenere Triumph, diesen Widersprecher bloß aus dem Lande verwiesen oder sonst schmählich abgefertigt zu wissen? Unwillkürlich ergibt sich zuerst der Eindruck, als entlade sich hier ein ganz privater und persönlicher Haß. Aber Calvin haßt in Wahrheit Servet durchaus nicht mehr als Castellio und jeden andern, der sich gegen seine Autorität auflehnt: unbedingter Haß gegen jeden, der anderes zu lehren wagt als er selbst, ist für seine tyrannische Natur ein absolut instinktives Gefühl. Wenn er aber gerade gegen Servet und gerade im gegenwärtigen Augenblicke mit der schärfsten Schärfe vorzugehen sucht, deren er fähig ist, so hat dies nicht private, sondern machtpolitische Gründe: der Aufrührer gegen seine Autorität, Michael Servet, soll bezahlen für einen andern Gegner seiner Orthodoxie, den ehemaligen Dominikanermönch Hieronymus Bolsec, den er gleichfalls mit der Ketzerzange fassen wollte und der ihm auf die ärgerlichste Weise entkommen ist. Dieser Hieronymus Bolsec, der als Leibarzt der vornehmsten Familien sich in Genf allgemeiner Achtung erfreute, hatte den schwächsten und anfechtbarsten Punkt der Calvinschen Lehre, ihren starren Prädestinationsglauben, öffentlich bekämpft und mit ähnlichen Argumenten wie Erasmus in der gleichen Frage gegen Luther den Gedanken für absurd erklärt, Gott als das Prinzip alles Guten könne wissentlich und willentlich die Menschen zu ihren ärgsten Untaten bestimmen und antreiben. Man weiß, mit wie wenig Freundlichkeit Luther die Einwände des Erasmus aufnahm, welche Fuhren von Schimpf und Jauche dieser Meister des Grobianismus gegen den alten und weisen Humanisten entlud. Aber wenn auch cholerisch, grob und gewalttätig, so antwortete Luther dem Erasmus doch immerhin in der Form geistiger Auseinandersetzung, und nicht im entferntesten kam er auf den Gedanken, Erasmus, weil er ihm in der Prädestinationslehre widersprach, sofort vor einem irdischen Gericht als Ketzer anzuklagen. Calvin aber betrachtet in seinem Unfehlbarkeitswahn jeden Gegenredner implizite schon als Ketzer; Einspruch gegen seine Kirchenlehre ist für ihn gleichbedeutend mit einem Staatsverbrechen. Statt also Hieronymus Bolsec als Theologe zu antworten, ließ er ihn sofort ins Gefängnis werfen.

Aber unerwarteterweise sollte ihm bei Hieronymus Bolsec das Abschreckungsexempel auf das peinlichste mißlingen. Denn zu viele in Genf kannten diesen gelehrten Arzt als einen gottesfürchtigen Mann, und genau wie im Falle Castellio regte sich der Verdacht, Calvin wolle sich nur eines selbständig denkenden und ihm nicht völlig servilen Mannes entledigen, um in Genf der eine und einzige zu bleiben. Das von Bolsec im Gefängnis gedichtete Klagelied, in dem er seine Unschuld darlegte, ging in Abschriften von Hand zu Hand, und so heftig auch Calvin den Magistrat bedrängte, die Räte scheuten sich doch, das geforderte Ketzerurteil auszusprechen. Um den peinlichen Beschluß von sich wegzurücken, erklärten sie sich als unzuständig in geistlichen Fragen; sie weigerten sich, eine Entscheidung zu fällen, weil diese theologische Angelegenheit ihr Urteilsvermögen übersteige. Erst müßten sie in dieser diffizilen Sache ein Rechtsgutachten von den andern schweizerischen Landeskirchen einholen. Mit dieser Befragung aber war Bolsec gerettet, denn die reformierten Kirchen von Zürich, Bern und Basel, im stillen herzlich gern bereit, dem Unfehlbarkeitsdünkel ihres fanatischen Kollegen einen kleinen Stoß zu versetzen, lehnten einhellig ab, in den Äußerungen Bolsecs den Ausdruck blasphemischer Gesinnung zu erblicken. So fällte der Rat einen Freispruch; Calvin mußte von seinem Opfer lassen und sich damit begnügen, daß Bolsec auf Wunsch des Magistrats aus der Stadt verschwand.

Diese offenbare Niederlage seiner theologischen Autorität kann nun einzig ein neuer Ketzerprozeß in Vergessenheit bringen. Für Bolsec muß Servet herhalten, und bei diesem abermaligen Versuch sind die Chancen Calvins unendlich günstigere. Denn Servet ist ein Fremder, ein Spanier, er hat nicht wie Castellio, wie Bolsec Freunde, Bewunderer und Helfer in Genf, außerdem ist er in der ganzen reformierten Geistlichkeit schon seit Jahren durch seine frechen Angriffe auf die Trinität und seine herausfordernde Art verhaßt. An einem solchen Außenseiter ohne Rückendeckung kann viel leichter das abschreckende Exempel statuiert werden; von der ersten Stunde an war dieser Prozeß darum ein durchaus politischer, eine Machtfrage für Calvin, eine Belastungsprobe und die entscheidende Belastungsprobe für seinen Willen zur geistigen Diktatur. Hätte Calvin nichts anderes gewollt, als sich bloß des privaten, des theologischen Gegners Servet zu entledigen, wie leicht hätten die Umstände es ihm gemacht! Denn kaum daß die Genfer Untersuchung recht begonnen hat, erscheint schon ein Abgesandter der französischen Justiz, um die Auslieferung des in Frankreich verurteilten Flüchtlings nach Vienne zu verlangen, wo ihn der Scheiterhaufen erwartet. Welche einmalige Gelegenheit für Calvin, den Großmütigen zu spielen und doch sich des verhaßten Widerredners zu entledigen! Der Genfer Rat brauchte die Auslieferung nur zu billigen und die ärgerliche Affäre Servet wäre für Genf erledigt. Aber Calvin verhindert die Auslieferung. Für ihn ist Servet nicht ein lebendiger Mensch, nicht ein Subjekt, sondern vor allem ein Objekt, an dem er die Unantastbarkeit der eigenen Lehre sinnfällig vor der Welt demonstrieren will. Unverrichteter Dinge wird der Abgesandte der französischen Behörden zurückgeschickt; im eigenen Machtbereich will der Diktator des Protestantismus diesen Prozeß durchführen und beenden, um zum Staatsgesetz zu erheben, daß jeder sein Leben wagt, der versucht, ihm zu widersprechen.

 

Daß es Calvin im Falle Servet einzig um eine politische Machtprobe geht, merken bald in Genf sowohl seine Freunde als auch seine Feinde. Nichts natürlicher darum, als daß diese alles versuchen, um Calvin das schöne Exempel zu verderben. Selbstverständlich ist diesen Politikern nicht das geringste an dem Menschen Servet gelegen; auch ihnen ist der Unglückliche nicht mehr als ein Spielball, ein Versuchsobjekt, ein kleiner Hebel, um die Macht des Diktators aus den Angeln zu heben, und innerlich ist es ihnen allen gleichgültig, ob bei diesem Versuch das Werkzeug in ihren Händen zerbricht. In der Tat erweisen diese gefährlichen Freunde Servet nur den schlimmsten Dienst, indem sie das schwankende Selbstbewußtsein des Hysterikers mit falschen Gerüchten aufsteigern und ihm heimlich Botschaft ins Gefängnis schicken, er möge Calvin nur recht entschlossen Widerstand leisten. In ihrem Interesse liegt es ja einzig, daß sich der Prozeß möglichst aufregend und aufsehenerregend gestalte: je energischer Servet sich wehrt, je rabiater er den verhaßten Gegner angreift, desto besser.

Aber verhängnisvollerweise ist ohnehin nicht mehr viel nötig, um den an sich schon Unbesonnenen noch unbesonnener zu machen. Die lange, grausame Kerkerhaft hat längst das Ihre getan, um den Exaltierten in einen Zustand hemmungsloser Wut zu treiben, denn Servet wird im Gefängnis (und Calvin muß das wissen) mit bewußter und raffinierter Härte behandelt. Seit Wochen hält man den kranken, nervösen und hysterischen Mann, der sich völlig unschuldig fühlt, wie einen Mörder mit Ketten an Händen und Füßen in einem feuchten, eiskalten Kerker verschlossen. Verfault hängen ihm die Kleider vom frierenden Leibe, trotzdem wird ihm kein frisches Hemd bewilligt, die primitivsten Gebote der Reinlichkeit werden außer acht gelassen, niemand darf ihm auch nur die geringste Hilfeleistung angedeihen lassen. In seiner abgründigen Not wendet sich Servet in einem erschütternden Brief an den Rat um mehr Menschlichkeit: »Die Flöhe fressen mich lebendig auf, meine Schuhe sind zerrissen, ich habe keine Kleider, keine Wäsche mehr.«

Aber eine geheime Hand – man glaubt sie zu kennen, diese harte Hand, die unmenschlich wie ein Schraubstock jeden Widerstand zerpreßt – verhindert, obwohl der Rat sofort auf Servets Beschwerde hin die Abstellung der Mißstände anordnet, jede Verbesserung seines Loses. Wie einen räudigen Hund auf einem Düngerhaufen läßt man weiterhin diesen kühnen Denker und freigeistigen Gelehrten in seiner feuchten Grube dahinsiechen. Und noch schauerlicher schrillen die Notschreie des zweiten Briefes wenige Wochen später, da er buchstäblich im eigenen Kot erstickt: »Ich bitte Euch um der Liebe Christi willen, mir nicht zu verweigern, was Ihr einem Türken und Verbrecher gewähren würdet. Von all dem, was Ihr angeordnet habt, um mich rein zu halten, ist nichts geschehen. Ich bin in einem kläglicheren Zustand als je. Es ist eine große Grausamkeit, daß man mir keine Möglichkeit gibt, dieser meiner körperlichen Notdurft abzuhelfen.«

Aber nichts geschieht! Ist es dann ein Wunder, daß der aus seiner nassen Grube herausgeholte Mann jedesmal in wahre Tollwut ausbricht, wenn er, Ketten an den Füßen und erniedrigt in seinen stinkenden Fetzen, am Richtertisch sich gegenüber, im schwarzen, wohlgebürsteten Talar, kalt und kühl, gut vorbereitet und geistig ausgeruht, den Mann sitzen sieht, mit dem er Geist gegen Geist, Gelehrter gegen Gelehrter eine Zwiesprache beginnen wollte und der ihn nun ärger als einen Mörder behandelt und mißhandelt? Ist es nicht unausweichlich, daß er, von den gemeinsten, tückischsten Fragen und Insinuationen, die bis in sein geheimstes Geschlechtsleben greifen, gequält und aufgestachelt, jede Einsicht und Vorsicht verliert und nun seinerseits den Pharisäer mit den grauenhaftesten Beschimpfungen anfällt? Wenn er, fiebrig von schlaflosen Nächten, dem Mann, dem er alle diese Unmenschlichkeiten dankt, geradezu an die Gurgel fährt mit den Worten: »Leugnest du, daß du ein Mörder bist? Ich werde es beweisen durch deine Handlungen. Was mich betrifft, so bin ich meiner gerechten Sache gewiß und fürchte nicht den Tod. Du aber schreist wie ein Blinder in der Wüste, weil der Geist der Rache dein Herz verbrennt. Du hast gelogen, du hast gelogen, du Unwissender, du Verleumder! In dir schäumt der Zorn, wenn du jemanden in den Tod verfolgst. Ich wollte, daß deine ganze Magie noch im Bauch deiner Mutter wäre und mir Gelegenheit gegeben, alle deine Irrtümer aufzuzeigen.« Völlig vergißt im roten Rausch seines Zornes der unglückselige Servet seine eigene Machtlosigkeit; in seinen Ketten klirrend, Schaum vor dem Munde, fordert dieser rasende Mensch von dem Rate, der ihn richten soll, statt gegen sich selbst ein Urteil gegen den Rechtsbrecher Calvin, gegen den Diktator von Genf. »Darum soll er, Magier, der er ist, nicht nur schuldig befunden und verurteilt, sondern auch aus dieser Stadt vertrieben werden, und sein Vermögen soll mir zufallen als Ersatz für das meinige, das ich durch ihn verloren habe.«

Selbstverständlich faßt die wackeren Ratsleute ein wildes Grauen bei solchen Worten, bei solchem Anblick: dieser hagere, fahle, ausgemergelte Mann mit dem wüsten, wirren Bart, der da mit glühenden Augen und in einer fremdartigen Sprache die ungeheuerlichsten Beschuldigungen gegen ihren christlichen Führer wild heraussprudelt, muß ihnen unwillkürlich wie ein Besessener erscheinen, wie ein vom Satan Getriebener. Immer ungünstiger wird die Stimmung von Verhör zu Verhör. Eigentlich wäre der Prozeß jetzt schon zu Ende und Servets Verurteilung unabwendbar. Aber die heimlichen Feinde Calvins haben alles Interesse, den Prozeß zu verlängern und hinauszuziehen, weil sie Calvin nicht den Triumph gönnen wollen, daß sein Widerredner dem Gesetz verfalle. Noch einmal versuchen sie es, Servet zu retten, indem sie wie bei Bolsec über seine Ansichten die Meinung der andern reformierten Schweizer Synoden erbitten, beseelt von der heimlichen Hoffnung, auch diesmal würde Calvin das Opfer seines Dogmatismus in letzter Stunde entrissen werden.

 

Aber Calvin weiß selbst zu gut, daß es jetzt endgültig um seine Autorität geht. Ein zweites Mal wird er sich nicht mehr überspielen lassen. Rechtzeitig und eifrig trifft er diesmal seine Maßnahmen. Er verfaßt, während sein unseliges Opfer wehrlos im Kerker fault, Sendschreiben über Sendschreiben an die Kirchenvorstände von Zürich, Basel und Bern und Schaffhausen, um ihr Gutachten im voraus zu beeinflussen. Er schickt in alle Windrichtungen Boten, setzt alle Freunde in Bewegung, um seine Amtsbrüder zu mahnen, sie mögen doch ja nicht einen derart sträflichen Gotteslästerer dem gerechten Urteil entziehen! Förderlich wird seiner einseitigen Beeinflussung der Umstand, daß es sich bei Servet um einen bekannten theologischen Störenfried handelt und daß schon seit Zwinglis und Bucers Tagen der »freche Hispanier« in den Kreisen der ganzen Kirche verhaßt ist; in der Tat erklären einhellig alle Schweizer Synoden Servets Ansichten für irrig und lästerlich, und wenn auch keine der vier geistlichen Gemeinden offen die Todesstrafe fordert oder auch nur gutheißt, so billigen sie im Prinzip doch jede Anwendung von Strenge. Zürich schreibt: »Welche Strafe über diesen Menschen zu verhängen ist, überlassen wir Eurer Weisheit«, Bern ruft den Herrn an, er möge den Genfern »den Geist der Weisheit und der Stärke verleihen, damit Ihr Eurer und den andern Kirchen dient und sie von dieser Pest befreit«. Aber dieser Hinweis auf gewaltsame Beseitigung ist gleichzeitig abgeschwächt mit der Ermahnung, »doch in solcher Weise, daß Ihr gleichzeitig nichts tut, was ungehörig für einen christlichen Magistrat erscheinen könnte«. Nirgends ist Calvin deutlich zur Todesstrafe ermutigt. Da jedoch die Kirchen das Verfahren gegen Servet gebilligt haben, werden sie auch, das fühlt Calvin, das Weitere billigen, denn sie lassen ihm mit ihren zweideutigen Worten freie Hand für jede Entscheidung. Und immer, wenn sie frei ist, schlägt diese Hand hart und entschlossen zu. Vergeblich suchen jetzt die heimlichen Helfer, sobald sie das Gutachten der Kirchen erfahren, noch im letzten Augenblick das drohende Unheil zu verzögern. Perrin und die andern Republikaner schlagen vor, noch die höchste Instanz der Gemeinde, den Rat der Zweihundert, zu befragen. Aber schon ist es zu spät, schon den Gegnern Calvins der Widerstand zu gefährlich: am 26. Oktober wird Servet mit Stimmeneinheit verurteilt, bei lebendigem Leibe verbrannt zu werden, und dies grausame Verdikt soll schon am nächsten Tag auf dem Platz von Champel vollstreckt werden.

 

Wochen und Wochen hat sich Servet, in seinem Kerker von der wirklichen Welt abgeschlossen, den überschwenglichsten Hoffnungen hingegeben. Von Natur aus schon phantasie-überreizt und außerdem noch verwirrt von geheimen Einflüsterungen seiner vorgeblichen Freunde, berauscht er sich immer hitziger an dem Wahn, er habe längst die Richter von der Wahrheit seiner Thesen überzeugt, und mit Schimpf und Schande werde der Usurpator Calvin in wenigen Tagen von hinnen gejagt werden. Um so fürchterlicher ist dann das Erwachen, da mit verschlossenen Mienen die Sekretäre des Rats in seine Zelle eintreten und umständlich ein Pergament zur Verlesung entrollen. Das Urteil fällt über Servet wie ein Donnerschlag. Starr, als ob er das Ungeheuerliche gar nicht verstünde, hört er dem vorgelesenen Spruche zu, daß er schon morgen bei lebendigem Leibe als Gotteslästerer verbrannt werden solle. Einige Minuten bleibt er wie taub und unbewußt. Dann aber reißen dem gepeinigten Menschen die Nerven durch. Er beginnt zu stöhnen, zu klagen, zu schluchzen, gellend bricht aus seiner Kehle in seiner spanischen Muttersprache der irre Angstschrei: »Misericordias!« Bis zur Wurzel hinab scheint durch diese Schreckensnachricht sein bisher krankhaft gespannter und überspannter Hochmut zerspalten; ein zertrümmerter, vernichteter Mensch, starrt der Unglückliche mit stieren Augen entgeistert vor sich hin. Und schon meinen die rechthaberischen Prediger die Stunde gekommen, um nach dem weltlichen Triumph auch den geistlichen über Servet zu gewinnen und seiner Verzweiflung das freiwillige Geständnis seines Irrtums zu entreißen.

Aber wunderbar: kaum berührt man diesen zertretenen und fast schon ausgelöschten Menschen an diesem innersten Punkt seiner Gläubigkeit – kaum fordert man von ihm Widerruf seiner Thesen, da lodert mächtig und stolz der alte Trotz empor. Mögen sie ihn richten und martern und verbrennen, mögen sie Stück für Stück seinen Leib zerfetzen – von seiner Weltanschauung wird Servet nicht einen Zoll lassen; gerade diese letzten Tage erhöhen diesen fahrenden Ritter der Wissenschaft zu einem Märtyrer und Helden der Überzeugung. Schroff weist er Farels Drängen zurück, der eigens aus Lausanne herbeigeeilt ist, um Calvins Triumph mitzufeiern; er erklärt, ein irdischer Richtspruch könne niemals als Beweis gelten, ob ein Mensch in göttlichen Dingen im Recht oder im Unrecht sei. Morden heiße nicht überzeugen. Man habe ihm nichts bewiesen, man versuche nur, ihn zu erwürgen. Weder durch Drohungen noch durch Versprechungen vermag Farel dem geketteten und schon dem Tode verfallenen Opfer auch nur ein Wort des Widerrufs abzuringen. Aber um sichtbarlich darzutun, daß er trotz seinem Festhalten an seiner Überzeugung kein Ketzer sei, sondern ein gläubiger Christ und darum verpflichtet, sich auch mit dem mörderischesten seiner Feinde auszusöhnen, erklärt sich Servet bereit, vor seinem Tode noch den Besuch Calvins in seinem Kerker zu empfangen.

Über diesen Besuch Calvins bei seinem Opfer besitzen wir nur den Bericht der einen Partei: den Bericht Calvins. Aber selbst in seiner eigenen Darstellung wird grauenhaft abstoßend die innere Starrheit und Seelenhärte Calvins offenbar: der Opferer steigt hinab in die feuchte Kerkerzelle zu seinem Opfer, aber nicht, um den Todgeweihten mit einem Worte zu trösten, nicht, um einem Menschen, der morgen unter den fürchterlichsten Martern sterben soll, brüderlichen oder christlichen Zuspruch zu gewähren. Kühl und sachlich eröffnet Calvin das Gespräch mit der Frage, weshalb Servet ihn zu sich entboten und was er ihm zu sagen habe. Offenbar erwartet er, nun werde Servet in die Knie stürzen und zu jammern beginnen, der allmächtige Diktator möge das Urteil zunichte machen oder doch wenigstens mildern. Aber der Verurteilte antwortet nur ganz schlicht – und dies schon müßte jeden menschlichen Menschen erschüttern –, er habe Calvin einzig zu sich rufen lassen, um ihn um Vergebung zu bitten. Das Opfer bietet seinem Opferer christliche Versöhnung an. Jedoch nie wird Calvins steinernes Auge in einem politischen und religiösen Gegner noch einen Christen, noch einen Menschen erkennen wollen. Eiskalt heißt es in seinem Bericht: »Darauf wandte ich einfach ein, daß ich niemals, wie es auch der Wahrheit entsprach, persönlichen Haß gegen ihn gehegt hatte.« Das Christliche in Servets Sterbegeste entweder nicht verstehend oder nicht verstehen wollend, lehnt er jede Art menschlicher Versöhnung zwischen ihnen beiden ab; Servet möge alles beiseite lassen, was seine Person betreffe, und einzig seinen Irrtum gegen Gott bekennen, dessen dreieiniges Wesen er geleugnet habe. Bewußt oder unbewußt weigert sich der Ideologe in Calvin, in diesem schon hingeopferten Menschen, der am nächsten Tag wie ein wertloses Scheit in die Flammen geworfen werden soll, den Mitbruder zu bemerken; als starrer Dogmatiker sieht er in Servet nur den Leugner seines persönlichen Gottesbegriffes und darum Gottes überhaupt. Wichtig ist seiner besessenen Rechthaberei auch jetzt nur noch eines: aus dem Todgeweihten vor dem letzten Atemzug das Bekenntnis herauszupressen, daß Servet unrecht habe und er, Calvin, recht. Aber da Servet spürt, daß dieser inhumane Zelot ihm noch das einzige entreißen möchte, was in seinem verlorenen Leib lebendig und für ihn unsterblich lebt: seinen Glauben, seine Überzeugung, da bäumt sich der Gepeinigte auf. Entschlossen weist er jedes feige Zugeständnis ab. Damit scheint Calvin jedes weitere Wort überflüssig: ein Mensch, der sich in religiösen Dingen nicht ganz unterwirft, ist für ihn kein Bruder in Christo mehr, sondern ein Satansknecht und ein Sünder, an den jedes freundliche Wort nur vergeudet wäre. Wozu noch ein Senfkorn Güte für einen Ketzer? Hart wendet sich Calvin ab, wortlos und ohne freundlichen Blick verläßt er sein Opfer. Hinter ihm klirrt eisern der Riegel, und mit den furchtbar fühllosen Worten schließt dieser zelotische Ankläger seinen ihn selbst in alle Ewigkeit anklagenden Bericht: »Da ich durch Zureden und Warnungen nichts ausrichten konnte, wollte ich nicht weiser sein, als mein Meister es erlaubt. Ich befolgte die Regel des heiligen Paulus und zog mich von dem ketzerischen Menschen zurück, der sich selber sein Urteil gesprochen.«

 

Der Tod am Brandpfahl durch langsames Rösten bei kleinem Feuer ist die martervollste aller Hinrichtungsarten; selbst das als grausam berüchtigte Mittelalter hat sie nur in den seltensten Fällen in ihrer ganzen grauenhaften Langwierigkeit angewendet; meist wurden die Verurteilten noch vorher an dem Pfahle erdrosselt oder betäubt. Gerade diese scheußlichste, diese fürchterlichste Todesart aber ist für das erste Ketzeropfer des Protestantismus vorgesehen, und man kann verstehen, daß Calvin nach dem Aufschrei der Entrüstung in der ganzen humanen Welt alles versuchen wird, um nachträglich, sehr nachträglich die Verantwortung für diese besondere Grausamkeit bei Servets Ermordung von sich wegzuschieben. Er und das übrige Konsistorium hätten sich bemüht, erzählt er (als Servets Leib längst in Asche zerfallen war), die martervolle Todesart der Röstung bei lebendigem Leib in die mildere des Schwertes umzuwandeln, aber »ihre Mühe sei vergebens gewesen« (»genus mortis conati sumus mutare, sed frustra«). Von einer solchen angeblichen Bemühung ist nun in den Ratsprotokollen kein Wort zu finden, und welchem Unbefangenen wird es auch glaubhaft scheinen, daß Calvin, der doch allein diesen Prozeß erzwungen und geradezu mit der Daumschraube dem fügsamen Rate das Todesurteil gegen Servet abgerungen, daß ebendieser Calvin mit einemmal eine zu einflußlose, zu machtlose Privatperson in Genf gewesen sei, um nicht eine menschlichere Art der Hinrichtung durchsetzen zu können? Zwar ist es buchstabenmäßig richtig, daß Calvin tatsächlich eine Milderung der Todesart für Servet ins Auge gefaßt hatte, aber freilich nur (und hier liegt die dialektische Verschiebung seiner Behauptung) für den einen und einzigen Fall, daß sich Servet diese Milderung mit einem sacrificio d'intelletto, mit einem Widerruf in letzter Stunde erkaufe; nicht aus Menschlichkeit, sondern nur aus nackter politischer Berechnung wäre Calvin dann – zum erstenmal in seinem Leben – milde gegen einen Gegner gewesen. Denn welcher Triumph für die Genfer Lehre, wenn man Servet noch einen Zoll vor dem Brandpfahl das Geständnis entreißen hätte können, er sei im Unrecht und Calvin im Recht! Welcher Sieg, den Verängstigten dazu gebracht zu haben, daß er nicht als Märtyrer sterbe für die eigene Lehre, sondern noch im letzten Augenblick vor dem ganzen Volke verkünde, nur Calvins Lehre und nicht die seine sei die richtige und einzig richtige auf Erden!

Aber auch Servet weiß um den Preis, den er bezahlen soll. Trotz steht hier gegen Trotz, Fanatismus gegen Fanatismus. Lieber unter unnennbaren Qualen für die eigene Überzeugung sterben statt einen linderen Tod für die Dogmen des Maître Jehan Calvin! Lieber eine halbe Stunde unermeßlich leiden, aber den Ruhm geistigen Märtyrertums gewinnen und zugleich den Widersacher in alle Ewigkeit mit dem Odium der Unmenschlichkeit beschweren! Schroff weist Servet das Geschäft zurück und rüstet sich, den bittern Preis seines Trotzes mit allen erdenklichen Qualen zu bezahlen.

 

Der Rest ist Grauen. Am 27. Oktober um elf Uhr morgens wird der Gefangene in seinen zerfallenen Lumpen aus dem Kerker herausgeholt. Zum erstenmal seit langem und zum letztenmal für alle Ewigkeit sehen die entwöhnten Augen wieder das Himmelslicht. Wirren Bartes, schmutzig und ausgemergelt, in Ketten klirrend, wankt der Verurteilte dahin, und erschreckend wirkt in dem hellen Herbstlicht die aschenfarbene Verfallenheit seines Gesichts. Vor den Stufen des Rathauses stoßen die Schergen den nur mühsam Dahintaumelnden – seit Wochen hat er das Gehen verlernt – roh und gewaltsam in die Knie. Gebeugten Hauptes muß er den Urteilsspruch anhören, den der Syndikus vor dem versammelten Volke verkündet und der mit den Worten endet: »Wir verurteilen dich, Michael Servet, gefesselt und nach Champel geführt und lebendig verbrannt zu werden und mit dir sowohl die Handschrift deines Buches als auch das gedruckte Buch, bis dein Körper zu Asche verbrannt ist; so sollst du deine Tage beenden, um allen andern, welche ein derartiges Verbrechen begehen möchten, ein warnendes Beispiel zu geben.«

Schaudernd und frierend hat der Verurteilte zugehört. In seiner Todesnot schleppt er sich auf den Knien näher an die Magistratsherren und bittet flehentlich um die kleine Gnade, durch das Schwert hingerichtet zu werden, »damit ihn das Übermaß des Schmerzes nicht zur Verzweiflung treibe«. Falls er gesündigt hätte, sei es in Unwissenheit geschehen; immer habe ihn aber nur der eine Gedanke getrieben, die göttliche Ehre zu fördern. In diesem Augenblick tritt Farel zwischen die Richter und den knienden Mann. Weithin hörbar fragt der den Todgeweihten, ob er bereit sei, seine gegen die Dreieinigkeit gerichtete Lehre abzuschwören und damit die Gunst der milderen Hinrichtung zu erlangen. Aber – und gerade die letzte Stunde erhöht moralisch die Gestalt dieses sonst mittelmäßigen Mannes – Servet weist den angebotenen Handel neuerdings zurück, entschlossen, sein einstiges Wort zu erfüllen, daß er bereit sei, für seine Überzeugung alles zu erdulden.

So bleibt nur mehr der tragische Gang. Der Zug setzt sich in Bewegung. Voran schreiten der Seigneur-Leutnant und sein Gehilfe, beide mit den Abzeichen ihres Ranges versehen und von Bogenschützen militärisch umschart, hinterdrein drängt die ewig neugierige Menge. Während des ganzen Weges durch die Stadt, vorbei an unzähligen scheu und schweigsam blickenden Zuschauern, heftet sich Farel an die Seite des Verurteilten. Unablässig redet er Schritt für Schritt auf Servet ein, seinen Irrtum noch in letzter Stunde zuzugeben und seine falschen Ansichten zu widerrufen. Und auf die wahrhaft fromme Antwort Servets, er leide den Tod ungerechterweise, aber dennoch flehe er zu Gott, mitleidig gegen seine Ankläger zu sein, fährt ihn Farel in dogmatischer Wut an: »Wie? Nachdem du die schwerste aller Sünden begangen hast, willst du dich noch rechtfertigen! Wenn du fürder so fortfährst, überlasse ich dich dem Urteil Gottes und werde dich nicht weiter begleiten und war doch entschlossen, dich nicht zu verlassen bis zu deinem letzten Atemzug.«

Aber Servet antwortet nicht mehr. Ihn ekeln die Henker und Zänker: kein Wort mehr für sie! Unablässig murmelt, gleichsam um sich zu betäuben, der angebliche Häretiker und Gottesleugner vor sich hin: »O Gott, errette meine Seele, o Jesus, Sohn des ewigen Gottes, habe Mitleid mit mir«, dann wiederum bittet er mit erhobener Stimme die Anwesenden, sie mögen mit ihm und für ihn beten. Selbst auf dem Richtplatz, angesichts des Brandpfahles schon, kniet er noch einmal nieder, um sich fromm zu sammeln. Aber aus Furcht, diese reine Geste eines angeblichen Ketzers könnte auf das Volk Eindruck machen, schreit über den ehrfürchtig Hingeknieten der fanatische Farel hinweg: »Da seht ihr, welche Macht Satan besitzt, wenn er einen Menschen in seinen Klauen hat! Dieser Mann ist sehr gelehrt und glaubte vielleicht, richtig zu handeln. Jetzt aber ist er in der Macht Satans, und jedem von euch kann dies geschehen.«

Inzwischen haben die scheußlichen Vorbereitungen begonnen. Schon ist das Holz um den Pfahl gehäuft, schon klirrt die Eisenkette, mit der Servet an den Pfahl gehängt werden soll, schon hat der Henker dem Verurteilten die Hände gebunden. Da drängt sich noch einmal, zum letztenmal, Farel an Servet heran, der nur noch leise seufzt: »O Gott, mein Gott«, und ruft ihn laut an mit den grimmigen Worten: »Hast du nichts anderes zu sagen?« Noch immer hofft der Rechthaberische, im Anblick des Marterpfahles werde Servet die einzig wahre, die calvinische Wahrheit bekennen. Aber Servet antwortet: »Was könnte ich anderes tun, als von Gott sprechen?«

Enttäuscht läßt Farel von seinem Opfer. Nun hat nur mehr der andere Henker, der leibliche, seinen scheußlichen Dienst zu tun. Mit einer Eisenkette wird Servet an den Pfahl gehängt, ein Seil vier- oder fünfmal um den ausgemergelten Körper gewunden. Zwischen den lebendigen Leib und den grausam einschneidenden Strick pressen dann noch die Folterknechte das Buch und jenes Manuskript, das Servet seinerzeit sub sigillo secreti an Calvin gesandt, um dessen brüderliche Meinung zu erbitten; schließlich drückt man ihm noch zum Hohn eine widrige Leidenskrone auf das Haupt, einen Kranz von Laub, der mit Schwefel getränkt ist. Mit dieser allergrausamsten Vorbereitung ist die Arbeit des Henkers vollendet. Nun braucht er bloß mehr den Holzstoß anzuzünden, und der Mord hat begonnen.

Als die Flammen von allen Seiten aufschlagen, stößt der Gemarterte einen so gräßlichen Schrei aus, daß die Menschen sich für einen Augenblick schaudernd abwenden. Bald hüllen Rauch und Feuer den in Qualen sich bäumenden Leib ein, aber unaufhörlich und immer greller hört man aus dem langsam das lebendige Fleisch anfressenden Feuer die schrillen Schmerzensschreie des namenlos Leidenden und endlich gell den letzten inbrünstigen Notruf: »Jesus, du Sohn des ewigen Gottes, erbarme dich meiner!« Eine halbe Stunde dauert dieser unbeschreibbar grauenhafte Todeskampf. Dann erst sinken die Flammen gesättigt in sich zusammen, der Rauch flutet auseinander, und an dem geschwärzten Pfahl hängt in der rotglühenden Kette eine schwarze, qualmende, verkohlte Masse, ein gräßliches Gallert, das an nichts Menschliches mehr erinnert. Was einst eine denkende, zum Ewigen leidenschaftlich hinstrebende irdische Kreatur, ein atmender Teil der göttlichen Seele gewesen, das ist nun zu einem fürchterlichen Kot, zu einer so grauenhaft widerwärtigen und stinkenden Masse geworden, daß dieser Anblick Calvin vielleicht einen Atemzug lang über das Unmenschliche seiner Anmaßung hätte belehren können, sich zum Richter und Mörder eines Mitbruders zu erdreisten.

Aber wo ist Calvin in dieser Schreckensstunde? Er ist, um unbeteiligt zu scheinen oder um seine eigenen Nerven zu schonen, vorsichtig zu Hause geblieben, er sitzt bei verschlossenen Fenstern in seiner Studierstube, dem Henker und dem brutaleren Glaubensbruder Farel das grausame Geschäft überlassend. Als es galt, den Unschuldigen aufzuspüren, anzuklagen, aufzureizen und an den Pfahl zu bringen, war Calvin unermüdlich allen andern voran gewesen: in der Stunde der Hinrichtung sieht man jedoch nur die bezahlten Folterknechte, nicht aber den wahrhaft Schuldigen, der diesen »frommen Mord« gewollt und anbefohlen. Erst am nächsten Sonntag besteigt er in seinem schwarzen Talar feierlich die Kanzel, um vor der schweigenden Gemeinde eine Tat als groß, geboten und gerecht zu rühmen, der er selbst nicht gewagt, frei und offen ins Auge zu blicken.


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