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VIII.

Pierre hatte die Gewohnheit angenommen, vormittags, wenn er nicht ausging, stundenlang in dem engen, verlassenen Garten des Palazzo Boccanero zu verweilen. Einst endete dieser Garten in einer Art Loggia mit einem Portikus, von wo eine doppelte Treppe zum Tiber hinabführte. Heute befand sich dort ein köstlicher, einsamer Winkel, durchduftet von den reifen Früchten hundertjähriger Orangenbäume, deren symmetrische Reihen die ursprüngliche, nun unter Unkraut verschwundene Zeichnung der Alleen noch andeutete. Hier fand er auch den Duft der Tobira, der üppigen Tobira wieder, die in dem alten, von Erdschutt ausgefüllten Mittelbecken aufgeschossen war.

An diesem leuchtenden Oktobermorgen voll lieblichen und durchdringenden Reizes konnte man sich hier dem Genuß unendlicher Lebensfreude hingeben. Aber der Priester brachte seine nordischen Träumereien mit, den Kummer über das Leiden, seine fortwährend von mitleidiger Bruderliebe gequälte Seele, die ihm die Liebkosung des hellen Sonnenlichtes in dieser wollüstigen Luft noch süßer erscheinen ließ. Er ließ sich neben der rechten Mauer auf dem Bruchstück einer umgestürzten Säule unter einem ungeheuren Lorbeerbaum nieder, der einen tiefdunklen Schatten voll balsamischer Frische verbreitete. Neben ihm in dem antiken, grün überzogenen Sarkophage ließ der dünne Wasserstrahl, der aus der an die Mauer gekitteten tragischen Maske floß, fortwährend seine kristallhelle Musik ertönen. Er las hier seine Zeitungen, seine Briefe, besonders die zahlreichen Briefe des guten Abbé Rose, die ihn über sein Werk, über die Unglücklichen in dem düstern, bereits von Nebeln umhüllten und vom Kot überfluteten Paris auf dem Laufenden erhielten. Ach, wie seltsam klang die Kunde von diesem Elend des kalten Landes, von dem Elend der Mütter und der Kleinen, die bald in den schlecht schließenden Dachstuben vor Kälte beben, von den Männern, die die großen Fröste zur Arbeitseinstellung zwingen würden, von diesem ganzen Todeskampf unter dem Schnee der armen Welt in dieser warmen, von einem Fruchtgeschmack durchdufteten Luft, in diesem Lande des blauen Himmels und der glücklichen Trägheit, wo es sich sogar im Winter an einer windgeschützten Stelle so gut im Freien auf dem warmen Pflaster schlafen ließ!

Eines Morgens sah Pierre Benedetta auf dem als Bank dienenden Säulenfragment sitzen. Sie stieß einen leichten Schrei der Ueberraschung aus und war einen Augenblick befangen, denn sie hielt gerade das Buch des Priesters, »Das neue Rom«, in der Hand. Sie hatte es bereits einmal gelesen, ohne es zu verstehen. Dann aber hielt sie ihn zurück, bestand darauf, daß er neben ihr Platz nehme, und gestand ihm mit ihrer schonen Freimütigkeit, ihrer ruhigen, vernünftigen Miene, daß sie in den Garten gegangen sei, um allein zu sein und sich wie eine unwissende Schülerin fleißig mit ihrem Buche zu beschäftigen. Sie plauderten freundschaftlich; es war für Pierre eine herrliche Stunde. Wenn sie es auch vermied, von sich selbst zu sprechen, so fühlte er doch, daß nur ihr Kummer sie ihm näher brachte; es war, als hätte das Leiden ihr Herz erweitert, so daß sie sich nun mit allen beschäftigte, die in dieser Welt litten. In ihrem Patrizierstolz, der die Hierarchie für ein göttliches Gesetz hielt, hatte sie nie an diese Dinge gedacht. Die Glücklichen waren oben, die Unglücklichen unten, ohne daß eine Aenderung möglich war. Und welch ein Erstaunen hatte sie bei gewissen Stellen seines Buches empfunden, welch einen Schmerz bereitete ihr sein Inhalt! Wie, man soll sich für das gemeine Volk interessiren, man soll glauben, daß es dieselbe Seele, dieselben Leiden besitzt, man soll an seinem Glück arbeiten wie an dem eines Bruders? Trotzdem zwang sie sich dazu, freilich ohne besondern Erfolg; heimlich verzehrte sie die Angst, ob sie nicht eine Sünde begehe, denn das beste ist, nichts an der von Gott eingesetzten, von der Kirche geheiligten sozialen Ordnung zu ändern. Gewiß, sie war wohlthätig, gab die gewohnten, kleinen Almosen, aber sie gab nicht ihr Herz; der Altruismus, die wirkliche Teilnahme mangelten ihr gänzlich. Sie war in dem Atavismus einer verschieden gearteten Rasse geboren und aufgewachsen, die auch oben im Himmel ihren Thron über der Plebs der Auserkorenen besitzt.

Noch manchmal kamen sie so des Morgens im Schatten des Lorbeerbaumes neben dem singenden Springbrunnen zusammen; und Pierre, der keine Beschäftigung hatte und Ueberdruß empfand, auf eine Losung zu warten, die sich von Stunde zu Stunde zu verzögern schien, bemühte sich leidenschaftlich, dieses so schöne, in ihrer jungen Liebe strahlende Weib mit seiner befreienden Bruderliebe zu beseelen. Besonders ein Gedanke entstammte ihn fortwährend – der Gedanke, daß er Italien selbst seine Predigten halte, der in ihrer Unwissenheit noch schlummernden Königin der Schönheit, die ihre einstige Größe wieder finden würde, sobald sie mit erweiterter Seele, voll Mitleid für die Dinge und Wesen zum Verständnis der neuen Zeit erwachte. Er las ihr die Briefe des guten Abbé Rose vor und ließ sie das furchtbare Schluchzen hören, das aus den großen Städten aufsteigt. Warum sollte sie, da sie doch so tief zärtliche Augen besaß, da das Glück des Liebens und Geliebtwerdens von ihrem ganzen Wesen ausströmte – warum sollte sie nicht gleich ihm anerkennen, daß das Gesetz der Liebe das einzige Heil der leidenden, durch den Haß in Todesgefahr geratenen Menschheit ist? Sie anerkannte es, sie wollte ihm das Vergnügen machen, an die Demokratie, an die brüderliche Umgestaltung der Gesellschaft zu glauben – aber nur bei anderen Völkern, nicht in Rom. Unwillkürlich mußte sie leise auflachen, sobald er eine Vision heraufbeschwor, wie das, was von Trastevere übrig war, mit dem, was von den alten Fürstenpalästen übrig geblieben, brüderlich mit einander leben würde. Nein, nein, das hatte schon zu lange gedauert; an diesen Dingen durfte man nichts ändern. Mit einem Wort, die Schülerin machte gar keine Fortschritte. In Wirklichkeit berührte sie nur die in diesem Priester so tief brennende Liebesleidenschaft, die er keusch von der Kreatur abgewendet hatte, um sie auf die gesamte Schöpfung zu übertragen. Während dieser wenigen sonnigen Oktobermorgen knüpfte sich zwischen ihnen ein köstliches, anmutiges Band; in der großen Liebe, von der beide verzehrt wurden, liebten sie sich mit wirklicher, mit tiefer und reiner Liebe.

Eines Tages begann Benedetta, den Ellenbogen auf den Sarkophag gestützt, von Dario zu sprechen, den sie bisher zu erwähnen vermieden hatte. Ach, der Arme, wie bescheiden und reuig benahm er sich nach seinem brutalen Wahnsinnsanfalle! Anfangs war er, um seine Beschämung zu verbergen, auf drei Tage nach Neapel gegangen. Es hieß, daß die Tonietta, das liebenswürdige Mädchen mit den weißen Rosensträußen, die sich toll in ihn verliebt hatte, ihm dorthin nachgeeilt wäre. Seit seiner Rückkehr in den Palast vermied er es, mit seiner Base allein zu sein, und traf nur an den Montagabenden mit ihr zusammen. Dann sah er sie mit unterwürfiger Miene an, und seine Augen flehten um Vergebung. »Gestern bin ich ihm auf der Treppe begegnet,« fuhr sie fort. »Ich habe ihm die Hand gegeben, und da hat er begriffen, daß ich nicht mehr böse bin. Er war sehr glücklich darüber ... Was wollen Sie, Herr Abbé? Man kann nicht lange streng sein. Und außerdem habe ich Angst, ob ihm durch diese Frau nichts Böses geschieht, wenn er, um sich zu betäuben, allzu lustig lebt. Er muß wissen, daß ich ihn immer liebe, daß ich ihn immer erwarte ... O, er gehört mir, mir allein! Er würde sofort auf ewig hier in meinen Armen sein, wenn ich nur ein Wort sprechen dürfte. Aber unsere Angelegenheit steht so schlecht, so schlecht!«

Sie schwieg; zwei große Thränen waren ihr in die Augen gestiegen. Der Prozeß behufs Annullirung der Ehe schien in der That stille zu stehen, da täglich neue Hindernisse aller Arten entstanden.

Pierre wurde durch diese Thränen, die bei ihr so selten waren, sehr gerührt. Manchmal gestand sie selbst mit ihrem ruhigen Lächeln, daß sie nicht zu weinen verstehe. Aber ihr Herz wurde weich; einen Augenblick lehnte sie sich wie vernichtet an den bemoosten, vom Wasser halb zerfressenen Sarkophag, während der klare Wasserstrahl mit perlenden Flötentönen aus dem offenen Munde der tragischen Maske niederrieselte. Aber vor dem Priester stieg plötzlich der Gedanke an den Tod auf, als er sie, die Junge, Schönheitstrahlende, am Rande dieses marmornen Sarkophages zusammensinken sah, auf dem die in einem rasenden Bacchanal über Frauen stürzenden Faune die Allmacht der Liebe verkündeten, deren Symbol die Alten zum Beweise der Ewigkeit des Lebens gern auf Gräber meißelten. Ein leichter, heißer Windhauch strich durch die sonnige, einsame Fülle des Gartens und brachte den durchdringenden Duft der Orangen und der Tobira mit sich.

»Wenn man liebt, ist man stark,« murmelte er.

»Ja, Sie haben ganz recht,« fuhr sie, bereits wieder lächelnd, fort. »Ich bin wirklich kindisch ... Aber daran sind Sie, ist Ihr Buch schuld. Ich verstehe es nur, wenn ich leide ... Aber trotzdem mache ich Fortschritte, nicht wahr? Nun gut, so mögen denn, da Sie es wollen, alle Armen meine Bruder sein und alle Frauen, die Schmerzen leiden wie ich, meine Schwestern.«

Gewöhnlich verließ Benedetta zuerst den Garten, um in ihr Gemach zurückzukehren; Pierre blieb allein zurück und vergaß manchmal unter dem Lorbeerbaum in dem leichten, weiblichen Duft, den Benedetta zurückgelassen hatte, ganz der Zeit, Er träumte wirr von süßen und traurigen Dingen. Wie hart war das Leben der armen Wesen, die der ewige Durst nach dein Glück verzehrte! Rings um ihn war die Stille noch größer geworden; der große, alte Palast samt dem grasbewachsenen und von dem toten Portikus umgebenen Hof, wo die Marmorfunde, der armlose Apollo und der abgebrochene Rumpf einer Venus verwitterten, schlief seinen schweren Ruinenschlaf. Die Grabesstille wurde von nichts gestört, als nur von Zeit zu Zeit durch das plötzliche Dröhnen einer Prälatenkarosse, die dem Kardinal einen Besuch brachte; sie fuhr schulternd unter das Thor und wendete unter lautem Rädergerassel in dem einsamen Hofe.

An einem Montag Abend befanden sich im Salon der Donna Serafina gegen viertel elf nur noch die jungen Leute. Monsignore Nani war nur erschienen, um wieder zu verschwinden; der Kardinal Sarno hatte sich eben entfernt. Neben dem Kamin auf ihrem gewöhnlichen Platze saß Donna Serafina selbst; sie hielt sich wie abseits, und ihre Augen starrten auf den leeren Platz des Advokaten Morano, der beharrlich fern blieb. Vor dem Kanapee, auf dem Benedetta und Celia saßen, standen plaudernd und lachend Dario, der Abbé Pierre und Narcisse Hubert. Der letztere unterhielt sich seit einigen Minuten damit, den jungen Fürsten zu necken; er behauptete, ihn in Gesellschaft eines sehr schönen Mädchens getroffen zu haben.

»Aber, mein Lieber, verteidigen Sie sich doch nicht, sie ist wirklich herrlich ... Sie ging neben Ihnen, und ihr bogt in ein einsames Gäßchen ein, in den Borgo Angelico, glaube ich. Aus Diskretion bin ich euch nicht weiter nachgegangen.«

Dario lächelte unbefangen, wie ein glücklicher Mensch, der seinem leidenschaftlichen Kultus der Schönheit nicht entsagen kann.

»Gewiß, gewiß, ich leugne es ja nicht, ich war es ... Nur ist die Sache anders, als wie Sie denken ...«

Er wendete sich zu Benedetta, die ebenfalls ohne einen Schatten eifersüchtiger Unruhe lachte. Sie schien im Gegenteil über die Augenweide entzückt zu sein, die sich ihm einen Augenblick geboten hatte.

»Du weißt, es handelt sich um jenes arme Mädchen, das ich vor etwa sechs Wochen, in Thränen schwimmend, getroffen habe ... Ja, es ist jene Perlenarbeiterin, die wegen der Arbeitseinstellung so schluchzte und dann, als ich ihr einen Franken geben wollte, mit ganz hochrotem Gesichte vor mir herlief, um mich zu ihren Eltern zu führen ... Du erinnerst Dich doch, die Pierina!«

»Gewiß, die Pierina.«

»Stellt euch nun vor, ich habe sie seither vier- oder fünfmal auf der Straße getroffen. Und es ist wahr, sie ist so außerordentlich schön, daß ich stehen bleibe und mit ihr spreche ... Neulich habe ich sie so bis zu einem Fabrikanten begleitet; aber sie hat wieder keine Arbeit gefunden und fing darum abermals zu weinen an. Meiner Treu, da habe ich sie geküßt, um sie ein wenig zu trösten ... Ach, sie war starr und – glücklich, so glücklich!«

Alle lachten jetzt über die Geschichte. Aber Celia war die erste, die wieder ruhig ward.

»Dario,« sagte sie mit sehr ernster Stimme, »Sie wissen, sie liebt Sie. Man darf nicht so schlecht sein.«

Dario war zweifellos ihrer Meinung, denn er sah abermals Benedetta an und schüttelte heiter den Kopf, als wolle er sagen, daß er nicht liebe, wenn er auch geliebt werde. Ein Perlenarbeiterin, ein Kind aus dem Volke! Nein, nein! Sie konnte eine Venus sein, aber als Geliebte war sie nicht denkbar. Er unterhielt sich selbst sehr über das romantische Abenteuer, über das Narcisse ein Sonett machte: »Die schöne Perlenarbeiterin verliebt sich zum Sterben in den wunderschönen, jungen Fürsten, der vorübergeht und ihr, von ihrem Unglück gerührt, einen Thaler reicht; die schöne Perlenarbeiterin, tief ins Herz getroffen, weil er ebenso mildthätig wie schön ist, träumt fortan nur von ihm, folgt ihm überall hin, und ein Flammenband fesselt sie an seine Schritte; und die schöne Perlenarbeiterin, die den Thaler zurückgewiesen hat, fordert zuletzt mit ihren unterwürfigen, zärtlichen Augen als Almosen das Herz des jungen Fürsten, das er ihr eines Abends auch gnädig schenkt.« Benedetta fand an diesem Spiel großes Gefallen. Aber Celia, die mit ihrem engelhaften Gesicht wie ein kleines Mädchen aussah, das noch von nichts hätte wissen dürfen, blieb sehr ernst.

»Dario, Dario, sie liebt Sie,« wiederholte sie traurig. »Sie dürfen sie nicht kränken.«

Nun ward auch die Contessina von Mitleid bewegt.

»Und die armen Leute sind ohnehin nicht glücklich.«

»O, es ist ein unglaubliches Elend,« rief der Fürst. »Als sie mich damals da hinunter auf die Prati del Castello führte, benahm es mir ordentlich den Atem. Es ist grauenhaft, unglaublich grauenhaft.«

»Aber ich erinnere mich, wir hatten ja den Plan, diese Unglücklichen zu besuchen,« fuhr Benedetta fort. »Es ist sehr schlecht von uns, daß wir so lange damit gezögert haben ... Nicht wahr, Herr Abbé Froment, es wäre Ihnen für Ihre Studien sehr erwünscht gewesen, uns dorthin zu begleiten und so die arme römische Bevölkerung aus der Nähe zu sehen?«

Sie hob die Augen zu Pierre empor. Dieser hatte seit einer Weile geschwiegen. Es rührte ihn sehr, daß ihr dieser barmherzige Gedanke wieder in den Sinn kam, denn er merkte an dem leichten Beben ihrer Stimme, daß sie sich damit als gelehrige Schülerin zeigen wollte, die in der Liebe zu den Armen und Unglücklichen Fortschritte machte. Außerdem hatte ihn die Leidenschaft für sein Apostelamt sofort wieder ergriffen.

»O, ich werde Rom nicht eher verlassen, als bis ich das leidende, arbeitslose und brotlose Volk hier gesehen habe,« sagte er. »Darin liegt die Krankheit aller Nationen, und das Heil kann nur aus der Heilung des Elends kommen. Wenn die Wurzeln des Baumes nicht essen, so stirbt der Baum.«

»Nun gut, da wollen wir die Sache sofort festsetzen,« fuhr Benedetta fort. »Sie kommen mit uns nach den Prati del Castello ... Dario wird uns hinführen.«

Dieser hatte dem Priester mit verblüffter Miene zugehört, ohne das Gleichnis vom Baume und seinen Wurzeln völlig zu verstehen.

»Nein, nein, Cousine,« rief er jetzt ganz bestürzt, »führe den Herrn Abbé dort spazieren, wenn es Dich unterhält. Ich war schon einmal dort und gehe nicht wieder hin. Auf mein Wort, ich mußte mich, als ich zurückkam, beinahe ins Bett legen; Kopf und Magen drehten sich mir um ... Nein, es ist zu traurig, ein solcher Greuel ist ganz unglaublich.«

In diesem Augenblick ertönte eine unzufriedene Stimme aus dem Winkel neben dem Kamin. Donna Serafina brach ihr langes Stillschweigen.

»Dario hat recht. Schicke ihnen ein Almosen, meine Liebe, ich werde gerne dazu beitragen ... Es gibt viel sehenswertere Orte, wo Du den Herrn Abbé hinführen kannst ... Du wirst ihm wirklich ein schönes Andenken an unsere Stadt mitgeben.«

Aus ihrer schlechten Laune klang nur der römische Stolz heraus. Wozu seine Wunden den Fremden zeigen, die vielleicht nur eine feindselige Neugierde hierher führte? Rom mußte immer schön sein und durfte nur in dem Pomp seines Ruhmes gezeigt werden.

Aber Narcisse hatte sich Pierres bemächtigt.

»Ja, mein Lieber, das ist wahr, ich vergaß ganz, Ihnen diesen Spaziergang zu empfehlen ... Sie müssen unbedingt die neuen Viertel sehen, die auf den Prati del Castello gebaut wurden. Sie sind typisch für alle anderen, und ich stehe gut dafür, daß es keine verlorene Zeit für Sie sein wird, denn nichts in der Welt könnte Ihnen einen bessern Aufschluß über das heutige Rom geben. Es sieht dort außerordentlich aus, ganz außerordentlich.«

Dann wandte er sich zu Benedetta.

»Ist es also abgemacht, wollen Sie morgen vormittag hin? ... Der Abbé und ich werden Sie dort erwarten, denn ich will ihm vorher alles erklären, damit er es richtig begreift ... Also zehn Uhr, ist es Ihnen recht?«

Ehe die Contessina antwortete, wandte sie sich zu ihrer Tante und machte ihr ehrerbietige Vorstellungen.

»Aber, Tante, der Herr Abbé muß ja genug Bettler in unseren Straßen getroffen haben. Er kann alles sehen. Uebrigens wird er, nach seinem Buche zu schließen, in Rom nicht mehr sehen, als er bereits in Paris gesehen hat. Ueberall, wie es darin irgendwo heißt, ist der Hunger derselbe.«

Dann griff sie Dario sanft, mit sehr vernünftiger Miene an.

»Mein Dario, Du weißt, daß Du mir ein großes Vergnügen machen würdest, indem Du mich dahin führtest. Ohne Dich würden wir gar zu auffällig hineinschneien. Wir werden hinausfahren und dort mit den Herren zusammentreffen. Es wird eine sehr hübsche Spazierfahrt sein ... Wir sind ja schon so lange nicht mit einander ausgefahren!«

Gewiß, das war es, was sie so entzückte: sie hatte nun einen Vorwand, um mit ihm beisammen zu sein, um sich gänzlich mit ihm zu versöhnen. Er fühlte das und konnte sich diesem Wunsche nicht entziehen.

»Ach, Cousine,« sagte er, indem er einen scherzhaften Ton erkünstelte, »Du wirst schuld sein, wenn ich dann die ganze übrige Woche Alpdrücken habe. Ein solcher Ausflug kann einem eine Woche lang die Freude am Leben verleiden.«

Er schauderte im voraus aus Widerwillen. Die anderen begannen wieder zu lachen, und trotz der stummen Mißbilligung Donna Serafinas wurde die Zusammenkunft endgiltig für den nächsten Tag um zehn Uhr bestimmt. Celia bedauerte beim Weggehen lebhaft, nicht mithalten zu können; aber diese weiße, geschlossene Lilienknospe interessirte sich nur für die Pierina.

»Sieh Dir diese Schönheit gut an, Liebste,« flüsterte sie der Freundin im Vorzimmer ins Ohr. »Du mußt mir sagen, ob sie so schon ist, gar so schon, viel schöner als alle anderen.«

Als Pierre um nächsten Morgen mit Narcisse um neun Uhr auf den Prati del Castello zusammentraf, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß dieser wieder in seine schmachtende Kunstschwärmerei zurückgefallen war. Anfangs war gar keine Rede mehr von den neuen Vierteln oder von der schrecklichen finanziellen Katastrophe, die sie hervorgerufen haben. Der junge Mann erzählte, daß er mit der Sonne aufgestanden sei, um eine Stunde vor der heiligen Therese Berninis zuzubringen. Wenn er sie acht Tage lang nicht gesehen hatte, so thue ihm das Herz weh, behauptete er; er leide wie beim Entbehren einer teuren Geliebten. Er habe auch eigene Stunden, in denen er sie verschieden liebe – von wegen der Beleuchtung: am Morgen, in dem Lichte der Dämmerung, die sie ganz weiß umkleide, liebe er sie mit dem ganzen mystischen Feuer seiner Seele; am Nachmittag, wenn die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne auf sie fielen, deren Flammen sie zu durchleuchten schienen, liebe er sie mit der brennenden Leidenschaft des Märtyrers.

»Ach, lieber Freund,« sagte er mit seiner müden Miene, während seine Augen ganz die Farbe der Malve annahmen, »ach, lieber Freund, Sie können sich nicht vorstellen, was für ein erregendes, köstliches Erwachen das heute morgen war ... Eine unwissende, reine Jungfrau öffnet schmachtend die Augen, noch ohnmächtig, zerbrochen vor Wollust, da Jesus sie besessen ... Ach, sterben könnte man dabei!«

Nach ein paar Schritten beruhigte er sich und fuhr in dem bestimmten Ton eines praktischen, lebenserfahrenen Mannes fort:

»Hören Sie, wir werden jetzt ganz sachte nach den Prati del Castello gehen, deren Gebäude Sie da unten, gegenüber, bemerken. Während des Gehens werde ich Ihnen erzählen, was ich weiß. O, es ist eine ganz außerordentliche Geschichte, einer jener Wahnsinnsanfälle der Spekulation, die schön sind wie das ungeheuerliche, schöne Werk irgend eines verrückten Genies ... Ich habe es von meinen Verwandten gehört, die hier gespielt haben und meiner Treu beträchtliche Summen gewannen.«

Nun erzählte er Pierre die seltsame Geschichte mit der Klarheit und Genauigkeit eines Finanzmannes, indem er die technischen Ausdrücke mit vollkommener Sicherheit anwendete. Nach der Eroberung Roms, als ganz Italien vor Begeisterung verrückt wurde, weil es nun endlich die so lange ersehnte Hauptstadt, die antike, glorreiche, die ewige Stadt, der das Reich der Welt verheißen war, besaß, da fand ein ganz gerechtfertigter Ausbruch der Freude und der Hoffnung statt. Das junge, erst seit gestern geborene Volk wollte nun seine Macht beweisen. Man mußte von Rom Besitz ergreifen, es zu einer modernen, eines großen Königreichs würdigen Hauptstadt machen; vor allem mußte man es gesund machen, von dem Schmutze reinigen, der es entehrte. Man kann sich nicht mehr vorstellen, in welchem Schmutz die Stadt der Päpste, la Roma sporca, schwamm, um die es den Künstlern so leid thut: es gab nicht einmal Abtritte, die öffentliche Straße diente allen Bedürfnissen, die erhabenen Ruinen waren in Düngerhaufen verwandelt, die Umgebung der alten Fürstenpalaste von Ausscheidungen besudelt. Kurz, überall stieg eine Schichte von Abfall, Trümmern, von verwesenden Stoffen auf, die die Straßen in vergiftete Gossen verwandelte, von denen fortwährend Epidemien ausgingen. Die Notwendigkeit großer, städtischer Arbeiten drängte sich gebieterisch auf. Diese Maßregeln bedeuteten thatsächlich Rettung, Verjüngung, ein gesichertes und erweitertes Leben. Ebenso gerechtfertigt war der Gedanke, neue Häuser für die neuen Bewohner zu bauen, die von allen Seiten zustießen mußten. Die Bevölkerung der Stadt nahm blitzähnlich zu Hunderttausenden von Seelen zu. Rom würde sich sicherlich verdoppeln, verdreifachen, verfünffachen, die lebendige Kraft der Provinzen an sich ziehen und der Mittelpunkt des nationalen Lebens werden. Von nun an trat auch der Stolz hinzu; man mußte der gefallenen Regierung des Vatikans zeigen, wessen Italien fähig war, in welchem Glanz das neue Rom, das dritte Rom, strahlen würde, das die beiden anderen, das kaiserliche und das päpstliche, durch die Pracht seiner Straßen und die überströmende Flut seiner Einwohner übertreffen mußte.

Trotzdem blieb wahrend der ersten Jahre die Baubewegung in den Grenzen der Vorsicht; man war klug genug, um nur den Bedürfnissen gemäß zu bauen. Mit einem Satze hatte sich die Bevölkerung verdoppelt, war sie von zweimalhunderttausend aus viermalhunderttausend Einwohner gestiegen; den größten Teil lieferte dazu die kleine Welt der Angestellten, der Beamten, die mit der Verwaltungsbehörde kamen, die ganze lärmende Menge, die vom Staate lebt oder zu leben hofft, ganz abgesehen von den Müßiggängern, von den Genüßlingen, die ein Hof stets nach sich zieht. Das war die erste Ursache des Rausches; niemand zweifelte daran, daß dieses Aufsteigen sich fortsetzen, ja sogar beschleunigen werde. Von nun an genügte die Stadt von gestern nicht mehr; man mußte ohne Zögern den Bedürfnissen von morgen Rechnung tragen, indem man Rom über Rom hinaus, auf alle die verlassenen, antiken Vorstädte ausbreitete. Man sprach auch von dem Paris des zweiten Kaiserreiches, das sich so vergrößert, in eine Stadt des Lichtes und der Gesundheit verwandelt hatte. Aber an den Ufern des Tiber gab es leider von der ersten Stunde an weder einen allgemeinen Plan noch einen klar sehenden Mann, der die Lage beherrscht und sich auf mächtige Finanzgesellschaften gestützt hätte. Was nun der Hochmut, der Ehrgeiz, das Rom der Cäsaren und der Päpste an Glanz zu übertreffen, die Absicht, aus der ewigen, prädestinirten Stadt den Mittelpunkt und die Königin der Welt zu machen, begonnen hatten, das beendete die Spekulation. Es war einer jener außerordentlichen Agiostürme, die, ohne daß etwas sie verkündet oder aufhalten kann, entstehen, wüten und alles zerstören und mitreißen. Jählings erhob sich das Gerücht, daß Grundstücke, die fünf Franken per Meter gekostet hatten, zu hundert Franken verkauft würden; da brach das Fieber los, das Fieber eines ganzen, von der Spielwut erhitzten Volkes. Ein Schwärm von Spekulanten aus Oberitalien hatte sich auf Rom, die edelste und leichteste Beute, gestürzt. Für diese armen, ausgehungerten Gebirgsbewohner begann in diesem wollüstigen Süden, wo das Leben so süß ist, die Hetzjagd der Begierden, so daß die verderblichen Wonnen des Klimas die moralische Zersetzung beschleunigten. Außerdem brauchte man sich anfangs wirklich nur zu bücken; das Geld war anfangs zwischen den Trümmern der ersten, niedergerissenen Viertel scheffelweise vom Boden aufzuheben, Findige Leute, die die Linien der neuen Straße witterten, hatten sich in den Besitz der von der Zwangsenteignung bedrohten Grundstücke gesetzt und verzehnfachten ihr Vermögen in weniger als zwei Jahren. Nun verbreitete sich die Ansteckung und vergiftete nach und nach die ganze Stadt; die Bewohner wurden nun ebenfalls mitgerissen, alle Klassen vom Wahnsinn erfaßt – die Fürsten, die Bürger, die kleinen Hauseigentümer bis zu den Krämern, Bäckern, Spezereiwarenhändlern und Schuhmachern. So erzählte man später von einem einfachen Bäcker, der mit fünfundvierzig Millionen Bankerott gemacht habe. Es war nichts mehr als ein verzweifeltes, furchtbares, fieberhaftes Spiel, das an die Stelle des kleinen, geregelten, päpstlichen Lotto getreten war – ein Spiel mit Millionen, bei dem Grundstücke und Bauten bloß Vorwände für Börsenunternehmungen wurden. Der alte, atavistische Hochmut, der Rom in die Hauptstadt der Welt verwandeln wollte, erhitzte sich durch dieses heiße Spekulationsfieber bis zum Wahnsinn; es wurde gekauft, gebaut, um wieder zu verkaufen, ohne Maß, ohne Aushalten, so wie Aktien aufgeworfen werden, so lange die Pressen nur drucken wollten.

Gewiß, noch nie hatte eine in der Entwicklung begriffene Stadt ein solches Schauspiel geboten. Wenn man sich heute bemüht, es zu begreifen, so wird man verwirrt. Die Bevölkerungsziffer hatte fünfmalhunderttausend überschritten und schien dabei stehen bleiben zu wollen. Das hinderte jedoch nicht, daß die neuen Viertel immer dichter aus dem Boden schossen. Für welches künftige Volk wurde mit dieser Art Wut gebaut? Welche Sinnesverwirrung bewog die Leute, die Bewohner nicht erst abzuwarten, sondern derart Tausende von Wohnungen für Familien vorzubereiten, die vielleicht morgen kommen würden? Die einzige Entschuldigung dafür war, daß es bereits im voraus als eine unumstößliche Wahrheit aufgestellt worden war, daß das dritte Rom, die triumphirende Hauptstadt Italiens, nicht weniger als eine Million Seelen haben könne. Sie waren noch nicht gekommen, aber kommen würden sie sicherlich: daran durfte kein Patriot zweifeln, ohne ein Verbrechen am Vaterlande zu begehen. So wurde unaufhaltsam für die fünfmalhunderttausend unterwegs befindlichen Bürger gebaut und gebaut. Man kümmerte sich nicht einmal mehr um den Tag ihrer Ankunft; es genügte, daß man auf sie rechnete. In Rom hatten sich auch Gesellschaften zur Errichtung breiter Straßen durch die niedergerissenen, ungesunden, alten Viertel gebildet, und diese verkauften oder vermieteten ihre Grundstücke, aus welchen sie großen Nutzen schlugen. Aber je mehr der Wahnsinn wuchs, desto mehr Gesellschaften entstanden, um den Gewinnhunger zu befriedigen; sie verfolgten den Zweck, auch außerhalb Roms neue Viertel zu errichten – immer wieder neue Viertel, wahre kleine Städte, deren niemand bedurfte. Vor der Porta S. Giovanni, vor der Porta S. Lorenzo wuchsen die Vorstädte wie durch ein Wunder in die Höhe. Auf den ungeheuren Gründen der Villa Ludovisi, von Porta Salaria bis zur Porta Pia, bis S. Agnese entstand der Entwurf einer Stadt, und auf den Prati del Castello wollte man mit einemmale eine ganze Stadt samt Kirche, Schule und Markt aus dem Boden erstehen lassen. Es handelte sich aber nicht um kleine Arbeiterhäuser, um bescheidene Wohnungen für das geringe Volk und für Beamte, sondern um gewaltige Bauten, um wahre Paläste zu drei und vier Stockwerken mit gleichförmigen, übermäßig großen Fassaden, die aus diesem neuen, überspannten Viertel babylonische Stadtteile machten, wie sie nur Hauptstädte mit einem regen Industrieleben gleich Paris oder London bevölkern können. Das sind die ungeheuerlichen Erzeugnisse des Hochmuts und des Spieles. Und was für eine bittere, historische Lehre ist es, da Rom, nun zu Grunde gerichtet, außerdem von diesem häßlichen Gürtel aus großen, kreidigen, leeren und meist unvollendeten Gerippen entehrt wird, deren Trümmer bereits die grasbewachsenen Straßen bedecken!

Der unselige Zusammenbruch, das Unglück war furchtbar. Narcisse setzte dessen Gründe aus einander und erläuterte die einzelnen Phasen so deutlich, daß Pierre alles begriff. Selbstverständlich waren zahlreiche Finanzgesellschaften aus dem Düngerboden der Spekulation aufgeschossen: die Immobiliere, die Societa d'Ediliza e Construzione, die Fondaria, die Tiberiana, die Esquilino. Fast alle ließen bauen und errichteten ungeheure Häuser, ganze Straßen zum Verkauf; aber sie spielten auch mit Baugründen und überließen sie mit großem Nutzen den kleinen Spekulanten, die in der von dem wachsenden Agiofieber begründeten, fortwährenden künstlichen Hausse von allen Seiten erstanden und ebenfalls von ungeheuren Gewinnsten träumten. Das schlimmste dabei war, daß diese kleinen Bürger, diese unerfahrenen und kapitalslosen Krämer so bethört wurden, daß sie ebenfalls bauen wollten; sie borgten bei den Banken und wendeten sich an die Gesellschaften, die ihnen die Grundstücke verkauft hatten, um von ihnen das zur Vollendung der Bauten notwendige Geld zu erlangen. Zumeist waren die Gesellschaften, um nicht alles zu verlieren, eines Tages gezwungen, die Grundstücke und selbst die unvollendeten Bauten zurückzunehmen; das führte eine ungeheure Verstopfung herbei, an der sie zu Grunde gehen mußten. Wenn die Million Einwohner gekommen wäre, um die Wohnungen zu beziehen, die man ihnen in einem so wunderlichen Hoffnungstraum vorbereitete, so wären die Gewinnste unberechenbar gewesen; Rom hätte sich in zehn Jahren bereichert und würde eine der blühendsten Hauptstädte der Welt geworden sein. Aber diese Einwohner wollten absolut nicht kommen; man konnte nichts vermieten, die Wohnungen blieben leer stehen. Da brach nun die Krise mit einer Heftigkeit ohnegleichen wie ein Donnerschlag herein. Aus zwei Gründen: erstens waren die von den Gesellschaften gebauten Häuser viel zu große Stücke, ein viel zu schwieriger Ankauf, vor dem der größte Teil der mittleren Rentner, die ihr Geld in Grundbesitz anlegen wollten, zurückschreckte. Der Atavismus hatte sein Werk gethan; die Bauherren hatten im Größenwahn eine Reihenfolge prächtiger Paläste gebaut, die dazu bestimmt waren, die der anderen Zeitalter zu erdrücken, aber düster und verlassen als die unerhörtesten Zeugen des ohnmächtigen Hochmuts stehen blieben. Es waren also keine Privatkapitalien zu finden, die an Stelle der Gesellschaften zu treten wagten oder zu treten vermochten.

Außerdem sind anderswo, in Paris, in Berlin, die neuen Viertel, die Verschönerungen mit nationalem Kapital, mit erspartem Gelde geschaffen worden. In Rom hingegen wurde alles auf Kredit, mit Dreimonatswechseln und vor allem mit fremdem Gelde gebaut. Man schätzt die derart verschlungene, ungeheure Summe auf beiläufig eine Milliarde. Davon waren vier Fünftel französisches Geld. Es war einfach ein Geschäft von Bankier zu Bankier: die französischen Bankiers liehen den italienischen zu dreieinhalb oder vier Prozent, und diese liehen wieder den Spekulanten, den römischen Bauherren, zu sechs, sieben und sogar acht Prozent. Man kann sich daher die Katastrophe vorstellen, als Frankreich, nachdem es das Bündnis Italiens mit Deutschland erfuhr, seine achthundert Millionen in weniger als zwei Jahren zurückzog. Ein ungeheurer Rückfluß entstand, der die italienischen Banken leerte; die Grundgesellschaften, sowie alle jene, die in Gründen und Bauten spekulirten, waren nun ebenfalls gezwungen, zu tilgen und mußten sich an die Emissionsgesellschaften wenden, die Papier ausgeben konnten. Gleichzeitig schüchterten sie den Staat ein; sie drohten die Arbeit einzustellen und vierzigtausend feiernde Arbeiter aus das Pflaster Roms zu werfen, wenn der Staat nicht die Emissionsgesellschaften zwinge, ihnen die fünf bis sechs Millionen zu leihen, deren sie bedurften. Das that der Staat zuletzt, da ihn der Gedanke eines allgemeinen Bankerotts erschreckte. Natürlich konnten die fünf oder sechs Millionen zur Verfallszeit nicht eingelöst werden, da Häuser weder zu verkaufen noch zu vermieten waren; so begann nun der Zusammenbruch, nahm blitzschnell zu, und Schutt fiel auf Schutt: die kleinen Spekulanten fielen auf die Bauherren, diese auf die Terraingesellschaften, diese wieder auf die Emissionsgesellschaften, und diese zuletzt auf den öffentlichen Kredit, womit sie die Nation zu Grunde richteten. So kam es, daß eine einfache städtische Baukrise eine furchtbare finanzielle Katastrophe, eine nationale Gefahr ward. Eine ganze Milliarde war unnützerweise verschlungen; Rom war häßlich geworden und trug nun die Last der schmählichen, jungen Ruinen, der gähnenden, leeren Wohnungen für die erträumten fünf- oder sechsmalhunderttausend Einwohner, auf die man noch immer wartete.

Uebrigens war in dem wehenden Sturmwind des Ruhms der Staat selbst vom Größenwahn erfaßt worden. Es handelte sich darum, in einem Gusse ein triumphirendes Italien zu schaffen, das in fünfundzwanzig Jahren jene Einheit und Größe erarbeiten sollte, zu deren gediegenem Schaffen andere Nationen Jahrhunderte gebraucht haben. Es entstand daher eine fieberhafte Thätigkeit, und verschwenderische Ausgaben für Kanäle, Häfen, Straßen, Eisenbahnen, übermäßig große, öffentliche Arbeiten in allen Städten wurden gemacht. Man schuf, man bildete die große Nation, ohne zu rechnen. Seit dem Bündnis mit Deutschland verschlang das Kriegs- und Marinebudget unnützerweise Millionen. Den fortwährend wachsenden Bedürfnissen wurde jedoch nur mittelst Emissionen Rechnung getragen; von Jahr zu Jahr wurden Anleihen gemacht. In Rom allein kostete der Bau des Kriegsministeriums zehn Millionen, der des Finanzministeriums fünfzehn Millionen. Hundert Millionen wurden für die nicht vollendeten Quais ausgegeben, und mehr als zweihundertundfünfzig Millionen wurden in die Befestigungsarbeiten rings um die Stadt gesteckt. Es war eben immer und immer wieder das Aufflammen des verhängnisvollen Hochmutes, der Saft des Bodens, der sich nur in allzu großen Plänen entfalten kann, jener Vorsatz, die Welt zu blenden und sie zu erobern, der entsteht, wie nur der Fuß das Kapitol betritt – selbst den aufgehäuften Staub all der Menschenmacht, die dort nach einander zusammengebrochen ist.

»Ja, mein lieber Freund,« fuhr Narcisse fort, »wenn ich mich in die Geschichten einlassen würde, die im Umlauf sind, die man sich ins Ohr flüstert, wenn ich Ihnen gewisse Thatsachen anführen wollte, so würden Sie über den Grad von Wahnwitz, bis zu dem sich diese im Grunde so vernünftige, so lässige und egoistische Stadt durch das schreckliche Fieber der Spielleidenschaft versteigen konnte, verblüfft, entsetzt sein. Nicht nur die kleinen Leute, die Unwissenden und Dummen haben sich zu Grunde gerichtet, sondern auch die großen Familien, fast der ganze römische Adel hat dabei seine uralten Vermögen, das Geld, die Paläste und die Galerien von Meisterwerken, die er der Freigebigkeit der Päpste verdankte, verloren. Diese gewaltigen Reichtümer, zu deren Anhäufung in den Händen einiger Weniger Jahrhunderte von Nepotismus notwendig waren, sind in kaum zehn Jahren wie Wachs an dem gleichmachenden Feuer des Agios zerschmolzen.«

Dann vergaß er ganz, daß er zu einem Priester rede, und erzählte eine dieser zweideutigen Geschichten.

»Sehen Sie 'mal unsern Freund Dario, den Fürsten Boccanera, an. Er ist der letzte des Namens und muß von den Brosamen seines Oheims, des Kardinals, leben, der doch auch nicht mehr als sein Gehalt hat. Nun, er würde sicherlich in seiner Karosse einherrollen, wenn sich die seltsame Geschichte mit der Villa Montefiori nicht begeben hätte ... Man muß es Ihnen gewiß schon erzählt haben: die großen Gründe dieser Villa wurden einer Finanzgesellschaft für zehn Millionen abgetreten; dann wurde der Fürst Onofrio, der Vater Darios, vom Spekulationsbedürfnis gepackt, kaufte seine eigenen Gründe sehr teuer zurück, spielte und ließ bauen; zuletzt riß die Katastrophe außer diesen Millionen noch alles mit, was er sonst besaß, die ganzen Trümmer des einst so gewaltigen Vermögens der Boccanera ... Aber zweifellos wird man Ihnen nicht gesagt haben, was für geheime Gründe dabei mitwirkten, was für eine Rolle der Graf Prada – ja wohl, der separirte Gemahl der entzückenden Contessina, welche wir jetzt erwarten – dabei gespielt hat. Er war der Geliebte der Fürstin Boccanera, der schönen Flavia Montefiori, die dem Fürsten die Villa zugebracht hatte. O, es war ein herrliches Geschöpf, bedeutend jünger als ihr Gatte. Man behauptet nun, daß Prada den Gatten durch die Frau in der Hand hielt, so daß diese sich des Abends verweigerte, wenn der alte Fürst zögerte, ob er eine Unterschrift geben, ob er sich in ein Geschäft einlassen sollte, dessen Gefährlichkeit er im voraus witterte. Prada hat dabei Millionen gewonnen, die er jetzt in einer sehr vernünftigen Art und Weise verzehrt. Was die schöne, nun reif gewordene Flavia anbetrifft, so wissen Sie, daß sie, nachdem sie ein kleines Vermögen aus dem Sturz gerettet hatte, herzhaft auf den Titel einer Fürstin Boccanera verzichtete, um sich einen schönen Mann, einen zweiten Gatten, zu kaufen. Diesmal ist er bedeutend jünger als sie; sie hat einen Marquis Montefiori aus ihm gemacht, der sie in Freuden und üppiger Schönheit erhält, trotzdem sie die Fünfzig hinter sich hat ... Bei der ganzen Sache gab es kein anderes Opfer als unseren guten Freund Dario; er ist vollständig zu Grunde gerichtet und dabei entschlossen, seine Base zu heiraten, die nicht viel reicher ist als er. Freilich will sie ihn durchaus haben, und er ist nicht im stande, sie nicht ebenso zu lieben, wie sie ihn liebt. Sonst würde er bereits irgend eine Amerikanerin, eine Millionenerbin, geheiratet haben, wie so viele andere Fürsten es thaten; aber es ist auch möglich, daß der Kardinal und Donna Serafina sich dem widersetzten, denn diese beiden sind auch Helden in ihrer Art, stolze, störrische Römer, die ihr Blut von jeder fremden Mischung rein erhalten wollen ... Nun, hoffen wir, daß der gute Dario und diese reizende Benedetta mit einander glücklich werden.«

Er hielt inne, aber nach ein paar schweigend zurückgelegten Schritten fuhr er leise fort:

»Ich habe einen Verwandten, der bei der Geschichte mit der Villa Montefiori beinahe drei Millionen gewonnen hat. Ach, wie leid ist es mir, daß ich erst nach dieser Heroenzeit des Agios hierher kam! Wie unterhaltend muß das gewesen sein! Und was für Züge konnte ein kaltblütiger Spieler ausführen!«

Plötzlich aber erblickte er, als er den Kopf hob, vor sich das neue Viertel der Prati del Castello; seine Züge veränderten sich; er wurde wieder die Künstlerseele, die über die modernen Greuel, mit denen man das päpstliche Rom besudelt hat, empört ist. Die Farbe seiner Augen wurde blässer, sein Mund drückte die bittere Geringschätzung des in seiner Leidenschaft für verschwundene Jahrhunderte verwundeten Träumers aus.

»Sehen Sie nur, sehen Sie nur! O, Stadt des Augustus, Stadt Leo X., Stadt der ewigen Macht und der ewigen Schönheit!«

In der That wurde Pierre selbst gepackt. An dieser Stelle zogen sich einst längs des Tiber bis zu den Abhängen des Monte Mario die ebenen, nur von einigen Pappeln unterbrochenen Wiesen der Engelsburg hin. Die breiten Grasplätze, die dem Borgo und dem fernen Dom von St. Peter einen grünen Vordergrund schufen, wurden von den Künstlern sehr geliebt. Jetzt aber erhob sich inmitten dieser aufgewühlten, weißlichen Ebene eine ganze Stadt, eine Stadt mit schwerfälligen, gewaltigen Häusern, mit großen, regelmäßigen Steinwürfeln, mit breiten, rechtwinkelig durchschnittenen Straßen – ein ungeheures Damenbrett mit symmetrischen Feldern. Von einem Ende zum andern zeigten sich dieselben Fassaden; man hätte das Ganze für eine Reihe von Klostern, Kasernen und Hospitälern halten können, deren übereinstimmende Linien sich endlos fortsetzten. Aber das Erstaunen, der befremdliche, peinliche Eindruck, den dieser Anblick beim Beschauer hervorrief, rührte hauptsächlich von der anfangs unerklärlichen Katastrophe her, die diese ganze Stadt mitten im Bau erstarrt hatte. Es war, als hätte ein böser Zauberer an einem verfluchten Morgen seinen Stab erhoben, durch den mit einemmale die Arbeiten stille standen, die lärmenden Zimmerplätze sich geleert hatten und die Bauten genau in dem Zustande, in dem sie sich in dieser Minute befanden, in düsterer Verlassenheit liegen geblieben waren. Alle auf einander folgenden Bauzustände waren vertreten – von den Erdarbeiten, den für die Grundmauern gegrabenen tiefen Löchern, die nun klafften und von Unkraut überwuchert waren, bis zu den völlig fertig gestellten und bewohnten Häusern. Es gab da Häuser, deren Mauern sich kaum über den Boden erhoben; andere waren bis zum zweiten oder dritten Stockwerke gediehen, aber in ihre eisernen Deckenbalken, in ihre offenen Fenster schaute der Himmel; andere wieder, die, vollständig fertig gestellt, bereits eingedacht waren, standen wie Gerippe da, die allen Winden ausgesetzt sind, und ähnelten leeren Käfigen. Dann gab es ganz fertige Häuser; aber man hatte nicht die Zeit gehabt, ihre Außenmauern anzustreichen. Bei anderen fehlte gänzlich das Holzwerk, sowohl bei Thüren wie bei Fenstern; wieder andere besaßen wohl Thüren und Schalterläden, aber sie waren gleich Sargdeckeln vernagelt, und in den toten Zimmern war keine Menschenseele zu sehen; wieder andere waren bewohnt, zumeist nur teilweise, nur wenige vollständig. Alle lebten von einer ganz unerwarteten Bevölkerung. Die schreckliche Traurigkeit dieses Anblickes ließ sich nicht schildern: es war eine Dornröschenstadt, die ein tödlicher Schlaf heimgesucht, ehe sie noch gelebt hatte, die nun in Erwartung eines Erwachens, das nie kommen zu wollen schien, in der heißen Sonne zu Grunde ging.

Pierre ging hinter seinem Gefährten her durch die breiten, einsamen Straßen, in denen die Unbewegliche und die Stille eines Kirchhofes herrschte. Kein Wagen, kein Fußgänger kam vorüber. Einzelne Straßen hatten nicht einmal ein Trottoir, und das Unkraut überwucherte den noch nicht gepflasterten Fahrweg wie ein Feld, das zum Naturzustand zurückkehrte; trotzdem waren provisorische Gashähne, einfache, an Stangen befestigte Bleiröhren schon seit Jahren vorhanden. Die Hausbesitzer auf beiden Seiten hatten die Fensteröffnungen der Erdgeschosse und Stockwerke mit Hilfe von dicken Planken hermetisch geschlossen, um nicht die Thür- und Fenstersteuer zahlen zu müssen. Andere, kaum begonnene Häuser waren aus Furcht, daß die Keller der Zufluchtsort aller Banditen des Landes werden konnten, mit Pfählen verrammelt. Aber das Traurigste von allem waren die jungen Ruinen, diese hohen, prächtigen, unvollendeten, nicht einmal verputzten Gebäude, die ihr Steinriesenleben noch nicht begonnen hatten und nun bereits von allen Seiten zerfielen; man hatte sie mit allerlei künstlichen Gerüsten stützen müssen, damit sie nicht auf dem Boden in Staub zerfielen. Das Herz that einem weh, wie in einer Stadt, aus der die Einwohner von einer Seuche hinweggerafft wurden; es war, als hätte hier die Pest, ein Krieg, ein Bombardement gehaust, deren Spuren diese klaffenden Gerippe noch zu bewahren schienen. Aber man wurde noch schwermütiger und von einer unendlichen menschlichen Verzweiflung ergriffen, wenn man bedachte, daß das nicht der Tod, sondern eine Fehlgeburt war, daß die Zerstörung ihr Werk thun würde, ehe die geträumten, vergeblich erwarteten Bewohner diesen tot geborenen Häusern Leben einflößen würden. Dazu kam noch eine furchtbare Ironie: an jeder Ecke befanden sich prächtige Marmortafeln mit den Namen der Straßen – berühmte, der Geschichte entliehene Namen, die der Gracchen, der Scipios, des Plinius, Pompejus, Julius Cäsars, die wie ein Hohn, wie ein Schlag, den die Vergangenheit der modernen Ohnmacht ins Gesicht gab, auf diesen unvollendeten, zusammenbrechenden Mauern leuchteten.

Wiederum fiel Pierre die Wahrheit auf, daß jeder, der Rom besitzt, von dem Marmorwahnsinn, von dem eitlen Bedürfnis verzehrt wird, zu bauen und den künftigen Völkern sein Ruhmesdenkmal zu hinterlassen. Nach den Cäsaren, die ihre Paläste auf dem Palatin anhäuften, nach den Päpsten, die das mittelalterliche Rom wieder aufbauten und ihr Wappen darauf drückten, kommt nun die italienische Regierung, und auch sie kann nicht die Herrin der Stadt werden, ohne sofort den Wunsch zu empfinden, sie glänzender und ungeheurer denn je wieder herzustellen. Der Boden selbst suggerirte diesen Gedanken; es war das Blut des Augustus, das den zuletzt Gekommenen von neuem in den Kopf stieg und ihnen den wahnsinnigen Wunsch einflößte, aus dem dritten Rom die neue Königin der Erde zu machen. Daher stammen die Riesenpläne, die cyklopischen Quais, die einfachen Ministerien, die mit dem Kolosseum wetteifern; aus diesem Grunde sind die neuen Viertel mit den Riesenhäusern rings um die alte Stadt gleich ebenso vielen kleinen Städten in die Höhe geschossen. Pierre erinnerte sich an den kreidigen, die rötlichen, alten Dächer umgebenden Gürtel, den er vom Dome von St. Peter aus gesehen und der ihm aus der Ferne wie ein verlassener Steinbruch erschienen war; denn nicht nur auf den Prati del Castello, auch an der Porta S. Giovanni, an der Porta S. Lorenzo, bei der Villa Ludovisi, auf den Höhen des Viminal und des Esquilin stürzten bereits unvollendete und leere Viertel in dem Unkraut der verlassenen Straßen zusammen. Nach zweitausend Jahren wunderbarer Fruchtbarkeit schien nun der Boden endlich erschöpft zu sein, schien der Stein der Monumente nicht mehr sprossen zu wollen. Gleich wie in sehr alten Obstgärten neu gepflanzte Pflaumen- und Kirschbäume verkümmern und absterben, so fanden zweifellos auch die neuen Mauern keine Lebensnahrung mehr in dem von dem hundertjährigen Wachstum einer so großen Zahl von Tempeln, Zirkussen, Triumphbogen, Basiliken und Kirchen verarmten römischen Staude. Und die modernen Häuser, die man hier abermals wuchern lassen wollte, die unnützen, allzu großen, vom ererbten Ehrgeiz ganz geschwollenen Häuser hatten nicht zur Reife gelangen können; du halben, von gähnenden Fenstern durchlöcherten Fassaden, die nicht Kraft genug besessen hatten, bis zum Dache aufzusteigen, blieben unfruchtbar stehen wie trockenes Gestrüpp auf einem Acker, der zu viel getragen hat. Das schrecklich Traurige dieses Anblicks lag hauptsächlich darin, daß eine so schöpferische, vergangene Größe in einem solchen Eingeständnis gegenwärtiger Ohnmacht gipfelte, daß Rom, das einst die Welt mit seinen unzerstörbaren Monumenten bedeckt hatte, nun nichts mehr als Ruinen erzeugte.

»Man wird sie wohl noch einmal fertig stellen!« rief Pierre.

Narcisse sah ihn erstaunt an.

»Für wen denn?«

Ja, das war das Schreckliche. Ach, diese fünf- oder sechsmalhunderttausend Einwohner, von deren Kommen man geträumt hatte, die man noch immer erwartete, wo waren sie jetzt? Auf welchen nahen, flachen Landstrichen, in welchen entlegenen Städten lebten sie? Wenn in den ersten Tagen nach der Eroberung nur große patriotische Begeisterung auf eine solche Bevölkerung hoffen konnte, so gehörte heutigentags eine seltsame Verblendung dazu, um überhaupt noch an ihr Kommen zu glauben. Das Experiment schien gemacht zu sein, Rom stand stille, es lagen gar keine Ursachen vor, welche die Einwohnerzahl hätten verdoppeln können: weder in den Vergnügungen, die es bot, noch in den Gewinnsten eines Handels oder einer Industrie, die es nicht besaß, noch in einem regen sozialen und geistigen Leben, dessen es nicht mehr fähig zu sein schien. Auf jeden Fall würden dazu lange Jahre unerläßlich sein. Wie also sollte man die fertigen, leeren Häuser bevölkern, die nur noch auf die Inwohner warteten? Für wen sollten die im Skelettzustande gebliebenen Häuser, die im Sonnenbrände und im Regen zerfielen, beendet werden? Würden sie also, teils fleischlos und allen Winden ausgesetzt, teils verschlossen, stumm wie Gräber, bis in unabsehbare Zeit in ihrer kläglichen, nutzlosen und verlassenen Häßlichkeit stehen bleiben? Welch schreckliches Zeugnis legten sie unter dem herrlichen Himmel ab! Die neuen Herren von Rom hatten es schlecht angefangen; aber wenn sie jetzt wußten, wie sie es hätten machen sollen, würden sie es je wagen, das Gethane zu zerstören? Da die Milliarde, die hier hineingesteckt wurde, endgiltig verpfuscht und verloren zu sein schien, begann man einen Nero von unumschränkter und maßloser Energie herbeizuwünschen, der Fackel und Haue ergreifen und im Namen der rächenden Vernunft und Schönheit alles verbrennen, alles Weisen würde.

»O,« fuhr Narcisse fort, »da sind die Contessina und der Fürst.«

Benedetta hatte den Wagen an einer Kreuzung der einsamen Straßen halten lassen; und nun schritt sie am Arme Darios durch diese breiten, stillen, unkrautbewachsenen Gassen, die für Liebende wie geschaffen sind. Beide waren über den Spaziergang entzückt und dachten nicht mehr an all das Traurige, um derentwillen sie kamen.

»O, was für ein schönes Wetter!« sagte sie heiter, als sie mit den zwei Freunden zusammentraf.

»Sehen Sie nur die schöne Sonne! ... Und es thut einem so wohl, ein bißchen zu Fuß zu gehen wie auf dem Lande!«

Dario war der erste, der aufhörte, sich an dem blauen Himmel, an der Freude, seine Base am Arme zu führen, zu ergötzen.

»Meine Liebe, da Du aus dieser Laune beharrst die uns sicherlich den schönen Tag verderben wird, müssen wir nun diese Leute aufsuchen ... Aber erst muß ich mich zurechtfinden. Ihr wißt, ich kenne mich in Gegenden, in die ich nicht gerne gehe, nicht gut aus ... Und dann ist dieses Viertel mit diesen toten Straßen, diesen toten Häusern zu albern; man sieht nicht eine Figur, an die man sich erinnert, nicht einen Laden, der einen wieder auf den richtigen Weg führt... Aber ich glaube, daß es hier ist. Geht mir nur nach, wir werden es ja wohl sehen.«

Und die vier Spaziergänger wendeten sich dem mittleren, auf den Tiber hinausgehenden Teile des Viertels zu. Hier hatte sich bereits eine Bevölkerung zu bilden begonnen. Die Besitzer einiger fertigen Häuser schlugen daraus Nutzen, so viel sie konnten, vermieteten die Wohnungen zu sehr niedrigem Preise und erzürnten sich nicht, wenn die Miete auf sich warten ließ. Daher hatten sich bedürftige Beamte und sonstige arme Familien hier niedergelassen, die langsam, aber doch immer etwas bezahlten. Das Schlimmste jedoch war, daß infolge der Niederreißung des ehemaligen Ghettos und infolge der Durchbrüche, mit denen man in Trastevere Luft geschafft hatte, wahre Horden von brotlosen, heimatlosen, beinahe unbekleideten Menschen über die unvollendeten Häuser hergefallen und mit ihrem Leid und ihrem Ungeziefer in sie eingedrungen waren. Aber man hatte die Augen schließen und diese gewaltsame Besitzergreifung dulden müssen, wenn man nicht dieses ganze entsetzliche Elend auf offener Straße zur Schau stehen lassen wollte. Diesen schrecklichen Gästen also waren die großen geträumten Paläste, diese gewaltigen, vier- und fünfstöckigen Häuser mit monumentalen, von hohen Statuen geschmückten Bauten anheimgefallen, über deren Fassaden sich von einem Ende zum andern gemeißelte, von Karyatiden getragene Ballone hinzogen. Ueberall fehlte das Holzwerk der Thüren und Fenster; jede dieser unglücklichen Familien hatte ihre Wahl getroffen, bewohnte entweder ein ganzes fürstliches Stockwerk oder zog kleinere Zimmer vor, um sich dort nach Gefallen zusammenzudrängen. Die Fenster wurden manchmal mit Brettern verschlossen, die Thüren mit Hilfe von Lumpen verstopft. Schreckliche Wäschestücke trockneten auf den gemeißelten Balkonen und ließen ihre unreinen Notfahnen von diesen fehlgeborenen, in ihrem Stolze gedemütigten Fassaden flattern. Eine rasche Abnützung, namenlose Besudelungen erniedrigten bereits die schönen, weißen Gebäude und bespritzten sie mit schändlichen Streifen und Flecken; durch die prächtigen Thore, die für eine königliche Ausfahrt von Equipagen geschaffen waren, stoß ein schimpflicher Bach von Abfällen und Tiermist, dessen stehende Pfützen dann auf dem trottoirlosen Fahrweg verfaulten.

Dario hatte seine Begleiter bereits zweimal denselben Weg zurückgeführt und verirrte sich immer mehr und mehr.

»Ich hätte nach links gehen müssen. Aber woher soll man das wissen? Ist das möglich in einer solchen Umgebung?«

Nun krochen ganze Banden lausiger Kinder im Staube umher. Sie waren außerordentlich schmutzig, beinahe nackt; ihr Fleisch war ganz schwarz, ihr Haar struppig wie ein Bündel Roßhaar. Frauen in schmutzigen Röcken und offen stehenden Jacken gingen umher und zeigten Brüste und Hüften, die denen überangestrengter Stuten glichen. Viele sprachen stehend mit kläffender Stimme zu einander; andere saßen, die Hände auf den Knieen, auf alten Stühlen und blieben so stundenlang sitzen, ohne etwas zu thun. Männer sah man nur wenige. Einige lagen abseits in dem rötlichen Grase und schliefen, die Nase in die Erde gedrückt, fest, mitten in der Sonne.

Aber insbesondere der Geruch wurde ekelhaft. Es war der Geruch des unreinen Elends; das menschliche Vieh gab sich seinem Schmutze hin und lebte darin. Er wurde noch verstärkt von den Ausdünstungen des kleinen Stegreifmarktes, den sie durchschreiten mußten. Während ein hungriger Trupp Kinder lüstern zuschaute, verkauften die armseligen Händler vom Boden weg verdorbene Früchte, gekochte, saure Gemüse und verschiedene, bereits gestern in geronnenem, ranzigem Fett gebratene Speisen.

»Kurz und gut, meine Liebe, ich weiß nicht mehr, wo es war,« rief der Fürst, zu seiner Base gewendet. »Sei vernünftig, wir haben genug gesehen; gehen wir zum Wagen zurück.«

Er litt thatsächlich, und wie Benedetta selbst sagte, verstand er nicht zu leiden. Er hielt es für ungeheuerlich, für ein albernes Verbrechen, sich durch einen solchen Spaziergang traurig zu stimmen. Das Leben war dazu da, um es leicht und angenehm unter dem klaren Himmel zu verleben. Man mußte es einzig und allein durch anmutige Schauspiele, durch Gesang und Tanz erheitern. In seiner naiven Selbstsucht hatte er ein wahres Grauen vor der Häßlichkeit, der Armut, dem Leiden, so daß der bloße Anblick davon ihm ein Unbehagen, eine Art körperlicher und moralischer Gliederschwere verursachte.

Aber Benedetta, die gleich ihm schauderte, wollte vor Pierre tapfer sein. Sie blickte ihn an, und da sie sah, wie lebhaft gefesselt er war, was für ein leidenschaftliches Mitleid ihn bewegte, ließ sie in ihrer Anstrengung, Teilnahme für die Armen und Unglücklichen zu zeigen, nicht nach.

»Nein, nein, mein Dario, wir müssen bleiben ... Die Herren wollen alles sehen, nicht wahr?«

»Ja, das jetzige Rom ist hier,« sagte Pierre. »Das hier erzählt einem viel mehr als alle klassischen Spaziergänge in den Ruinen und Monumenten.«

»Sie übertreiben, mein Lieber,« erklärte nun Narcisse. »Aber ich gestehe zu, daß es interessant, sehr interessant ist ... Besonders die alten Frauen – ah, die alten Frauen sind außerordentlich ausdrucksvoll!«

In diesem Augenblicke bemerkte Benedetta vor sich ein wunderbar schönes, junges Mädchen und konnte einen Aufschrei froher Bewunderung nicht unterdrücken.

»O che bellezza!«

Auch Dario hatte sie erkannt und rief mit derselben entzückten Miene:

»Eh, das ist ja die Pierina ... Sie wird uns führen.«

Das Kind ging der Gruppe bereits seit einer Weile nach, ohne daß es sich ihr zu nähern erlaubte. Ihre Augen, die freudig wie die einer liebenden Sklavin strahlten, hatten sich feurig auf den Fürsten gerichtet; dann betrachtete sie rasch die Contessina, aber ohne Zorn, mit einer Art zärtlicher Unterwürfigkeit, einer Art ergebener Zufriedenheit, daß auch sie sehr schön sei. Sie war wirklich ganz so, wie der Fürst sie geschildert hatte: groß, stark, mit einem Göttinnenhals, eine echte Antike, eine zwanzigjährige Juno mit einem etwas starken Kinn, Mund und Nase von vollkommener Regelmäßigkeit, großen Kuhaugen und einem leuchtenden, wie von der Sonne vergoldeten Gesicht unter einer Krone schwerer, schwarzer Haare.

»Willst Du uns also führen?« fragte Benedetta vertraulich und lächelnd. Der Gedanke, daß es solche Geschöpfe geben könne, hatte sie bereits über die Häßlichkeit der Umgebung getröstet.

»O ja, Signora, sofort!«

Und sie lief vor ihnen her. Sie trug große Schuhe an den Füßen und ein altes braunes Wollkleid, das sie wohl kürzlich gewaschen und gestopft haben mußte. Man merkte ihr eine gewisse kokette Sorgfalt, ein Reinlichkeitsbedürfnis an, das die anderen nicht besaßen; es wäre denn, daß das einfach die Wirkung ihrer großen Schönheit war, die aus ihren armseligen Kleidern strahlte und eine Göttin aus ihr machte.

»Che bellezza! Che bellezza!« wiederholte die Contessina unermüdlich, indem sie ihr folgte. »Mein Dario, der Anblick dieses Mädchens ist ein Fest.«

»Ich wußte, daß sie Dir gefallen würde,« antwortete er einfach. Sein Fund schmeichelte ihm, und er sprach nicht mehr vom Fortgehen, da er endlich seine Augen auf etwas Angenehmem ausruhen lassen konnte.

Hinter ihnen ging der ebenfalls verwunderte Pierre, dem Narcisse, dessen Geschmack für das Seltene und Gekünstelte war, seine Einwände mitteilte.

»Gewiß, gewiß, sie ist schön ... Aber, mein Lieber, eigentlich gibt es nichts Plumperes, Seelenloseres als diesen römischen Typus ... Hinter ihrer Haut ist nichts als Blut, nichts Himmlisches, nichts vom Jenseits.«

Aber Pierina stand nun still und zeigte mit einer Geberde ihre Mutter, die vor dem hohen Thor eines unvollendeten Palastes auf einer halb zerbrochenen Kiste saß. Auch sie mußte sehr schön gewesen sein, aber nun mit vierzig Jahren war sie bereits zu Grunde gerichtet; die Augen waren durch das Elend erloschen, der Mund mit den schwarzen Zähnen war entstellt, das Gesicht von tiefen, schlaffen Runzeln durchfurcht, der Hals ungeheuer breit und herabhängend. Dabei war sie furchtbar schmutzig; ihre ungekämmten, ergrauenden Haare flatterten in wirren Strähnen herum; ihr Rock und ihre Jacke waren besudelt, zerrissen und ließen den Schmutz der Glieder sehen. Mit beiden Händen hielt sie einen schlafenden Säugling, ihren Jüngstgeborenen, auf den Knieen. Sie sah ihn wie zerschmettert und mutlos an, mit der Miene eines in sein Schicksal ergebenen Lasttieres – eine Mutter, die Kinder geboren und genährt hat, ohne zu wissen warum.

»Ah, schön, schön!« sagte sie, indem sie den Kopf hob. »Das ist ja der Herr, der mir einen Thaler gab, weil er Dich traf, wie Du gerade weintest. Jetzt kommt er nun mit seinen Freunden zu uns. Schön, schön, es gibt also doch gute Herzen.«

Sie erzählte ihnen nun ihre Geschichte; aber sie that es schlaff, bemühte sich nicht einmal, sie mitleidig zu stimmen. Sie hieß Giacinta und hatte einen Maurer, Tomaso Gozzo, geheiratet, von dem sie sieben Kinder hatte. Pierina, dann Tito, einen achtzehnjährigen Jungen, und dann noch vier Mädchen, immer zwei Jahre aus einander, und zuletzt dieses, das sie auf den Knieen hielt, wieder einen Knaben. Sie hatten sehr lange in einer und derselben Wohnung in Trastevere, in einem alten Hause gewohnt, das eben niedergerissen worden war. Aber es schien, daß man zur selben Zeit auch ihre Existenz niedergerissen hatte, denn seitdem sie sich hierher auf die Prati del Castello zurückgezogen hatten, traf sie ein Unglück nach dem andern: zuerst die schreckliche Baukrise, derentwegen Tomaso und sein Sohn Tito feiern mußten, und nun die Schließung der Wachsperlenfabrik, wo Pierina bis zwanzig Centesimi verdiente, gerade genug, um nicht Hungers zu sterben. Jetzt arbeitete niemand mehr; die ganze Familie lebte vom Zufall.

»Vielleicht wollen die Herrschaften hinaufgehen? Oben treffen Sie Tomaso mit seinem Bruder Ambrogio, den wir zu uns genommen haben; sie werden besser mit Ihnen sprechen können und Ihnen alles erzählen, was zu erzählen ist ... Was soll man machen? Tomaso ruht sich aus; er macht es wie der Tito: er schläft, da er nichts Besseres zu thun hat.«

Sie deutete mit der Hand auf einen großen Jungen, der im trockenen Gras ausgestreckt lag. Er besaß eine starke Nase und einen harten Mund, aber die wunderbaren Augen Pierinas. Die fremden Leute schienen ihn zu beunruhigen, er hob bloß den Kopf. Als er bemerkte, mit welchen entzückten Blicken seine Schwester den Fürsten betrachtete, furchte eine zornige Falte seine Stirn. Er ließ den Kopf wieder zurücksinken, schloß aber die Lider nicht, sondern sah lauernd hinüber.

»Pierina, führe also die Herrschaften hinauf, da sie es sich ansehen wollen.«

Einige andere Frauen, deren nackte Füße in niedergetretenen Schlappschuhen steckten, schlurften näher heran; Banden von Kindern, von halb bekleideten kleinen Mädchen wimmelten umher, unter denen sich zweifellos die vier Giacintas befanden. Alle waren sich mit ihren schwarzen Haaren unter dem zerzausten Schopf so ähnlich, daß nur die Mütter sie erkennen konnten; es war gleichsam ein Ueberhandnehmen, ein Lagern des Elends mitten in der Sonne, inmitten dieser majestätischen Unglücksstraße, die von unvollendeten und bereits in Ruinen zerfallenen Palästen begrenzt wurde.

»Nein, Du gehst nicht mit hinauf,« sagte Benedetta leise, mit zärtlichem Lächeln zu ihrem Vetter. »Ich will Dich ja nicht umbringen, mein Dario ... Es war liebenswürdig genug von Dir, bis hierher zu kommen; da der Herr Abbé und Herr Hubert mich begleiten, kannst Du mich hier draußen in dieser schönen Sonne erwarten.«

Er begann ebenfalls zu lachen und willigte sehr gerne ein; dann zündete er sich eine Cigarrette an und ging, von der milden Luft befriedigt, mit kleinen Schritten auf und ab.

Pierina war rasch unter das große Thor getreten. Es besaß ein hohes, mit rosettenartigen Deckenfeldern geschmücktes Gewölbe, aber in der Vorhalle bedeckte ein wahres Mistbett die Marmorfliesen, die man bereits zu legen begonnen hatte. Dann kam die monumentale Steintreppe mit dem durchbrochenen und gemeißelten Geländer; die Stufen waren bereits zerbrochen und mit einer so dicken Schmutzschicht besudelt, daß sie davon ganz schwarz aussahen. Ueberall hatten die Hände fettige Spuren zurückgelassen. Etwas wahrhaft Schimpfliches ging von den Mauern aus, die noch im Rohzustande dastanden und auf die Malereien und Vergoldungen warteten, die sie hätten schmücken sollen.

Pierina blieb im ersten Stockwerk aus dem riesigen Treppenabsatz stehen und rief bloß durch die Oeffnung einer großen, gähnenden Thür ohne Thürgestelle oder Thürrahmen:

»Vater, eine Dame und zwei Herren wollen Dich sprechen.«

Dann wandte sie sich zur Contessina.

»Ganz zuletzt, im dritten Saal.«

Nun lief sie davon und rannte viel rascher, als sie gekommen war, die Treppe wieder hinab, zu dem Gegenstande ihrer Leidenschaft zurück.

Benedetta und ihre Begleiter durchschritten zwei ungeheure Säle; auf dem Boden bildete der Gipsschutt Hügel, die Fenster standen weit offen. Endlich gerieten sie in einen kleineren Saal, in dem sich die ganze Familie Gozzo mit dem Gerümpel, das ihnen als Möbel diente, niedergelassen hatte. Auf der Erde, auf den unbedeckten eisernen Traversen lagen fünf oder sechs schmutzige, vom Schweiß zerfressene Strohsäcke. In der Mitte stand ein langer, noch fester Tisch; auch ein Paar alte, mit Hilfe von Stricken geflickte Strohsessel waren vorhanden. Die größte Arbeit hatte jedoch darin bestanden, daß man zwei von den drei Fenstern mit Brettern verschlossen hatte, wahrend vor dem dritten und der Thür eine alte, durchlöcherte und stockige Matratzenleinwand hing.

Tomaso, der Maurer, schien überrascht zu sein; augenscheinlich war er an solche mildthätige Besuche nicht gewöhnt. Er saß vor dem Tisch, hatte beide Ellenbogen auf den Tisch, das Kinn in die Hand gestützt und war im Begriffe, sich auszuruhen, wie seine Frau Giacinta gesagt hatte. Er war ein starker Mann von fünfundvierzig Jahren mit reichem Bart und Haar, einem großen, langen Gesicht und besaß in seinem Elend und seinem Müßiggange die Ruhe eines römischen Senators. Der Anblick der beiden Herren, in denen er sofort Fremde witterte, bewog ihn, sich rasch mit einer mißtrauischen Bewegung zu erheben. Aber sobald er Benedetta erkannte, lächelte er, und als sie, indem sie ihm den Zweck ihres Kommens erklärte, von Dario sprach, der unten geblieben sei, antwortete er:

»O, ich weiß, ich weiß, Contessina ... Ja, ich weiß sehr gut, wer Sie sind, denn ich habe zu Lebzeiten meines Vaters einmal im Palazzo Boccanera ein Fenster zugemauert.«

Nun ließ er sich gefällig ausfragen. Er antwortete dem überraschten Pierre, daß wohl kein großes Glück herrsche, aber daß es sich wohl leben ließe, wenn man nur zwei Tage in der Woche arbeiten könnte. Man merkte, daß er sich den Bauch eigentlich ganz gern fester zuschnürte, sobald er nur nach seinem Gefallen, ohne Mühe leben konnte. Es war immer wieder die Geschichte von jenem Schlosser, der sich, als ihn ein Reisender rufen ließ, um sich von ihm einen Koffer, dessen Schlüssel verloren gegangen war, öffnen zu lassen, unbedingt in der Siestastunde nicht stören lassen wollte. Da so viele leere Paläste den armen Leuten offen standen, brauchte die Wohnung nicht mehr gezahlt zu werden, und man war so nüchtern und wenig heikel, daß ein paar Centesimi für das Essen genügt haben würden.

»O, Herr Abbé, unter dem Papst ging alles viel besser ... Mein Vater, der Maurer wie ich war, hat sein ganzes Leben im Vatikan gearbeitet; und ich selbst, noch heute, wenn ich ein paar Tage Arbeit haben will, finde sie immer nur dort ... Sehen Sie, wir sind durch diese zehn Jahre, wo es so viel Arbeit gab, daß man nicht von der Leiter herabkam und verdiente, was man wollte, verwohnt worden. Natürlich konnte man besser essen, sich besser kleiden und brauchte sich kein Vergnügen zu versagen; da werden einem die Entbehrungen heute noch schwerer. Aber unter dem Papst, Herr Abbé – ja, wenn Sie damals zu uns gekommen wären! Keine Steuern, alles umsonst, man brauchte wirklich nur zu leben.«

In diesem Augenblicke erhob sich von einem der Strohsäcke im Schatten der vernagelten Fenster ein Murren.

»Das ist mein Bruder Ambrogio,« fuhr der Maurer mit seiner gelassenen, friedlichen Miene fort. »Er ist nicht meiner Meinung ... Er hat es Anno 49, wie er vierzehn Jahre alt war, mit den Republikanern gehalten ... Aber das thut nichts, wir haben ihn zu uns genommen, als wir erfuhren, daß er vor Hunger und Krankheit in einem Keller umkäme.«

Die Besucher überlief nun ein Schauer des Mitleids. Ambrogio war fünfzehn Jahre älter als sein Bruder und mit kaum sechzig Jahren nur noch eine Ruine; das Fieber verzehrte ihn, und die Beine waren so abgemagert, daß er die Tage auf seinem Strohsack verbrachte, ohne je auszugehen. Er war kleiner, magerer und unruhiger als sein Bruder; einst war er Schreiner gewesen. Aber trotz seines körperlichen Verfalles hatte er noch einen ungewöhnlichen Kopf, das edle und tragische Gesicht eines Apostels und Märtyrers, umrahmt von weißem, gesträubtem Bart und Haar.

»Der Papst, der Papst,« murrte er, »ich habe nie Böses über den Papst gesprochen, aber er ist doch schuld daran, wenn die Tyrannei noch immer fortdauert. Er allein hätte uns Anno 49 die Republik geben können, und dann stände es mit uns nicht so, wie es mit uns steht.«

Er hatte Mazzini gekannt und bewahrte noch immer dessen unbestimmten Traum von einem republikanischen Papst, der endlich Freiheit und Brüderlichkeit auf Erden herrschen lassen würde. Aber später verwirrte seine Leidenschaft für Garibaldi diesen Begriff; er hielt fortan das Papsttum für unwürdig und unfähig, an der menschlichen Befreiung zu arbeiten. So kannte er sich nicht recht aus und schwankte Zwischen dem Trugbilde seiner Jugend und seiner harten Lebenserfahrung. Uebrigens hatte er stets nur unter dem Druck heftiger Erregung gehandelt und blieb bei den schönen Worten, bei ausgedehnten und unbestimmten Wünschen.

»Bruder Ambrogio,« fuhr Tomaso ruhig fort, »der Papst ist der Papst, und wer klug ist, hält es mit ihm, denn er wird immer der Papst sein, das heißt der Stärkste. Wenn morgen die Abstimmung käme, würde ich für ihn stimmen.«

Der alte Arbeiter beeilte sich nicht mit der Antwort. Die ganze bedächtige Vorsicht seiner Rasse hatte ihn ruhiger gemacht.

»Ich, Bruder Tomaso, würde dagegen stimmen, immer dagegen ... Und Du weißt gut, daß wir die Majorität haben würden. Mit dem Papst-König ist es aus. Der Borgo selbst würde sich dagegen empören ... Aber damit will ich nicht sagen, daß man sich mit ihm nicht einigen soll, damit die Religion von aller Welt respektirt wird.«

Pierre hörte ihm mit lebhaftem Interesse zu; zuletzt wagte er, ihm eine Frage zu stellen.

»Und gibt es in Rom unter dem Volke viele Sozialisten?«

Diesmal ließ die Antwort noch länger aus sich warten.

»Sozialisten, Herr Abbé? Gewiß, ein paar, aber viel weniger als in anderen Städten ... Das sind Neuheiten, bei denen die Ungeduldigen mithalten, ohne daß sie vielleicht besonders viel davon verstehen ... Wir Alten, wir waren für die Freiheit, aber wir sind nicht für Brennen und Morden.«

Er fürchtete wohl, in Gegenwart der Damen und der Herren zu viel zu sagen, und begann zu stöhnen, indem er sich auf seinem Strohsack ausstreckte. Mittlerweile nahm die von dem Geruch etwas belästigte Contessina Abschied, nachdem sie dem Priester zugeflüstert hatte, daß es besser sei, ihr Almosen der Frau unten zu geben.

Tomaso hatte bereits seinen Platz am Tisch wieder eingenommen und stützte das Kinn mit den Händen; dabei grüßte er seine Gäste, ohne sich aber durch ihr Weggehen mehr als durch ihr Kommen aufregen zu lassen.

»Auf Wiedersehen! Es hat mich sehr gefreut, Ihnen dienen zu können.«

Aber auf der Schwelle brach Narcisses Begeisterung los. Er drehte sich um, um den Kopf des alten Ambrogio noch einmal zu bewundern.

»Mein lieber Abbé, sehen Sie nur, was für ein Meisterwerk! Das ist herrlich, das ist schön! Viel weniger banal als das Gesicht des Mädchens! ... Hier bin ich doch gewiß, daß kein geschlechtlicher Fallstrick mich in eine unsaubere Versuchung führt. Ich gerate nicht wegen niedriger Ursachen in Bewegung ... Und dann, was für eine Unendlichkeit liegt in diesen Runzeln, was für ein Geheimnis in der Tiefe dieser verblichenen Augen, in diesem gesträubten Bart und Haar! So denkt man sich einen Propheten, einen Gottvater!«

Unten saß Giacinta noch immer mit ihrem Säugling auf den Knieen auf der halb eingebrochenen Kiste. Ein paar Schritte von ihr entfernt stand Pierina vor Dario und sah mit entzückter Miene zu, wie er seine Cigarrette fertig rauchte, während Tito, wie ein sich sonnendes Tier ins Gras gedrückt, noch immer keinen Blick von ihnen ließ.

»Ach, Signora!« fuhr die Mutter mit ihrer ergebenen, klagenden Stimme fort; »Sie haben es jetzt gesehen; es ist kaum bewohnbar. Das einzige Gute dabei ist, daß man wirklich Platz genug hat. Andererseits herrscht ein Zug, daß man sich abends und morgens den Tod holen kann. Außerdem ängstige ich mich um die Kinder, wegen der Löcher.«

Sie erzählte die Geschichte von einer Frau, die eines Abends, als sie aus den Treppenabsatz hinauszutreten glaubte, sich geirrt und ein Fenster für eine Thür gehalten hatte; sie stürzte auf die Straße hinab und war sofort tot. Auch ein kleines Mädchen hatte sich beide Arme gebrochen, indem es von einer geländerlosen Treppe hinabstürzte. Außerdem hätte man da drin sterben können, ohne daß jemand davon erfuhr, ohne daß es jemand einfiel, einen aufzulesen. Erst tags zuvor hatte man im Hintergrunde eines entlegenen Zimmers die Leiche eines alten Mannes gefunden, den der Hunger bereits vor etwa einer Woche erdrosselt haben mußte; er wäre sicherlich dort liegen geblieben, wenn der verpestete Geruch den Nachbarn nicht seine Anwesenheit verraten hätte.

»Und wenn man wenigstens nur zu essen hätte,« fuhr Giacinta fort, »aber wenn man nicht ißt und daher nähren muß, so hat man keine Milch. Der Kleine da saugt mir das Blut aus! Er wird böse, will was bekommen, und ich – ich fange an zu weinen, denn es ist nicht meine Schuld, wenn er nichts kriegt.«

Wirklich stiegen ihr Thränen in die verblichenen Augen. Plötzlich aber wurde sie zornig, als sie bemerkte, daß Tito sich noch immer wie ein Tier in der Sonne auf dem Grase wälzte; sie hielt dies für unhöflich gegen diese seinen Leute, die ihr sicherlich ein Geldgeschenk hinterlassen würden.

»He, Tito, Nichtsthuer, kannst Du nicht aufstehen, wenn man zu Dir auf Besuch kommt?«

Er stellte sich anfangs taub, aber zuletzt erhob er sich, doch mit sehr übellauniger Miene; Pierre interessirte er, und er bemühte sich, ihn zum Reden zu bringen, sowie er oben den Vater und Oheim ausgefragt. Er vermochte nur kurze, mißtrauische und ärgerliche Antworten aus ihm herauszuziehen. Da es keine Arbeit gab, bliebe einem nichts übrig als schlafen. Die Dinge würden sich nicht ändern, auch wenn man sich nicht aufregte. Das Beste war also zu leben, so gut es ginge, ohne sich das Leben noch mehr zu verderben. Sozialisten? Ja, vielleicht gäbe es welche, aber er kannte keine. Aus seiner schlaffen, gleichgiltigen Haltung ging deutlich hervor, daß, wenn auch der Vater für den Papst und der Oheim für die Republik war, er, der Sohn, entschieden für nichts wäre. Pierre erkannte darin das Ende eines Volkes, besser gesagt, das Schlummern eines Volkes, in dem eine Demokratie noch nicht erwacht ist.

Als jedoch der Priester wissen wollte, wie alt er sei, in welche Schule er gegangen, in welchem Viertel er geboren sei, unterbrach ihn Tito plötzlich kurz, indem er, mit dem Finger in der Luft auf seine Brust deutend, mit ernster Stimme sagte:

»Io son Romano di Roma!«

In der That, war das nicht die Antwort auf alles? »Ich bin ein Römer aus Rom.« Pierre lächelte traurig und schwieg. Noch nie hatte er den Hochmut der Rasse, das uralte, so schwer auf den Schultern lastende Erbteil des Ruhmes besser empfunden. In diesem degenerirten Knaben, der kaum lesen und schreiben konnte, lebte die unumschränkte Eitelkeit der Cäsaren wieder auf. Dieser Hungerleider kannte seine Stadt, hatte instinktmäßig die schönsten Seiten ihrer Geschichte hersagen können. Die Namen der großen Kaiser und der großen Päpste waren ihm vertraut. Wozu also arbeiten, nachdem man die Herren der Erde gewesen war? Warum sollte man in der schönsten Stadt, unter dem schönsten Himmel nicht in Vornehmheit und Trägheit leben?

»Io son Romano di Roma!«

Benedetta hatte der Mutter ihre Gabe in die Hand gedrückt, und Pierre wie Narcisse, die sich ihrem guten Werke anschließen wollten, thaten dasselbe. Da auf einmal hatte Dario, der gleichfalls dem Beispiel seiner Base gefolgt war, einen hübschen Einfall. Er wollte Pierina, der er kein Geld anzubieten wagte, nicht vergessen, legte die Finger leicht auf seine Lippen und sagte mit leisem Lächeln:

»Für die Schönheit!«

Und dieser durch die Luft geschickte Kuß, dieses etwas spöttische Lachen, dieser vertrauliche Fürst, der wie in einer Liebesgeschichte aus der alten Zeit die stumme Anbetung der schönen Perlenarbeiterin erweckte, war wirklich etwas Reizendes und Hübsches.

Pierina wurde vor Freude ganz rot; sie verlor den Kopf, stürzte sich auf die Hand Darios und preßte in einer unüberlegten Bewegung, in die sich ebenso viel Dankbarkeit als verliebte Zärtlichkeit mischte, ihre heißen Lippen darauf. Aber die Augen Titos flammten vor Zorn auf; er packte seine Schwester roh beim Rock und stieß sie dumpf murrend mit der Faust beiseite.

»Hör Du, Du weißt, ich bringe Dich um und ihn auch!«

Es war hohe Zeit zu gehen, denn andere Frauen, die Geld witterten, traten herzu, streckten die Hände aus und schoben heulende Kinder vorwärts. Eine heftige Erregung hatte das elende Viertel mit den großen, verlassenen Bauten ergriffen, ein Notschrei stieg aus den toten Straßen mit den klangvollen Marmortafeln auf. Was thun? Allen konnte man doch nicht geben. Es blieb nichts übrig als die Flucht, während das Herz bei diesem Schluß der ohnmächtigen Nächstenliebe vor Trauer überfloß.

Als Benedetta und Dario zu ihrem Wagen zurückgekehrt waren, stiegen sie eilig ein und schmiegten sich, froh, diesem Alpdrücken entkommen zu sein, an einander. Dennoch war Benedetta glücklich, daß sie sich vor Pierre tapfer gezeigt hatte, und drückte ihm wie eine gerührte Schülerin die Hand, als Narcisse erklärte, daß er den Priester zurückbehalten wolle, um ihn zum Frühstück in das kleine Restaurant am Petersplatz zu führen, von wo man eine so interessante Aussicht aus den Vatikan hatte.

»Trinkt Gonzano Weißwein,« rief ihnen Dario nach, der wieder sehr munter geworden war. »Es gibt nichts Besseres, um sich die finsteren Gedanken zu vertreiben.«

Aber Pierre wollte noch weitere Einzelheiten hören; er war unersättlich. Unterwegs fragte er Narcisse über das römische Volk, sein Leben, seine Gewohnheiten, seine Sitten aus. Der Unterricht war fast gleich Null. Keinerlei Industrie, keinerlei Außenhandel. Die Männer übten die wenigen gangbaren Handwerke aus, der ganze Verbrauch beschränkte sich auf den Platz. Unter den Frauen gab es Perlenarbeiterinnen, Stickerinnen, und religiöse Artikel, Medaillen, Rosenkränze, wie die Erzeugung lokaler Schmucksachen hatten jederzeit eine gewisse Anzahl von Arbeitern beschäftigt. Sowie aber die Frau heiratete und Mutter dieser wie durch ein Wunder aufwachsenden Kinderschwärme wurde, arbeitete sie nicht mehr. Mit einem Worte, die Bevölkerung lebte dahin, arbeitete gerade genug, um essen zu können, begnügte sich mit Gemüsen, Nudeln, geringem Hammelfleisch – ohne Empörung, ohne Ehrgeiz für die Zukunft, einzig und allein der Sorge um dieses unsichere Leben, von der Hand in den Mund lebend. Die beiden einzigen Laster waren das Spiel und der weiße und rote Wein der römischen Schlösser; es war ein Wein, der zu Streit und Totschlag trieb, der am Abende von Festtagen beim Verlassen der Schenken die Straßen mit röchelnden, von Messerstichen durchbohrten Männern bedeckte. Die Mädchen waren selten liederlich; solche, die sich vor der Heirat hingaben, waren zu zählen. Das kam daher, weil die Familie sehr einig, vollständig der unumschränkten Autorität des Vaters unterworfen war. Die Brüder selbst wachten über die Ehre der Schwestern, so wie jener Tito so hart, mit wilder Sorgfalt die Pierina behütete; das geschah nicht aus irgend welcher geheimen Eifersucht, sondern um des guten Rufes, um der Familienehre willen. Und dabei herrschte keine wirkliche Religiosität, sondern eine höchst kindische Götzendienerei; alle Herzen flogen der Madonna und den Heiligen zu: sie allein existirten, sie allein flehte man an, mit Außerachtlassung Gottes, an den zu denken niemand einfiel.

Daraus erklärte sich leicht das Stillestehen des gemeinen römischen Volkes. Jahrhunderte ermutigter Faulheit, geschmeichelter Eitelkeit, eines weichlichen Lebens lagen hinter ihm. Wenn diese Römer keine Maurer, Schreiner oder Bäcker gewesen waren, so waren sie Bediente; sie dienten den Priestern und standen mehr oder minder unmittelbar im Solde des Papsttums. Daher schieden sie sich in zwei Parteien: in die ehemaligen Carbonari, die späteren Mazzinianer und Garibaldianer, welche freilich am zahlreichsten und die Blüte von Trastevere waren, und in die Schützlinge des Vatikans, in alle, die mehr oder minder von der Kirche lebten und das Verschwinden des Papst-Königs bedauerten. Aber auf der einen wie auf der andern Seite blieb es immer bei Ansichten, von denen man sprach, ohne daß je der Gedanke entstand, eine Anstrengung zu machen, sich einer Gefahr auszusetzen. Es hätte einer jähen Leidenschaft bedurft, die die feste Vernunft der Rasse hinwegfegen und sie in einen kurzen Wahnsinnstaumel versetzt haben würde. Wozu auch? Das Elend dauerte schon so viele Jahrhunderte, der Himmel war so blau, die Siesta in den heißen Stunden mehr wert als alles. Nur eines schien erworben worden zu sein: der Patriotismus. Die Mehrheit war entschieden für die Hauptstadt Rom, für diesen wieder erworbenen Ruhm, so daß in der Leostadt beinahe ein Aufruhr entstanden wäre, als sich das Gerücht von einer Einigung zwischen Italien und dem Papst verbreitete, deren Grundlage die Wiederherstellung der weltlichen Herrschaft des letzteren über diese Stadt sei. Wenn das Elend dennoch größer geworden zu sein schien und der römische Arbeiter sich noch mehr beklagte, so lag dies darin, weil er bei den ungeheuren Arbeiten, die fünfzehn Jahre lang in seiner Stadt ausgeführt wurden, wirklich nichts gewonnen hatte. Vorerst hatten mehr als vierzigtausend Arbeiter Rom überschwemmt; sie kamen zumeist aus dem Norden, arbeiteten für niedrigen Lohn und waren mutiger und widerstandsfähiger. Zweitens hatte er, selbst wenn er seinen Anteil an der Arbeit erhalten, besser gelebt, ohne Ersparnisse zu machen. Als daher die Krise losbrach und die vierzigtausend Arbeiter in die Provinzen zurückgeschickt werden mußten, stand er so wie früher da – in einer toten Stadt, wo alle Werkstätten feierten und lange Zeit keine Hoffnung auf Arbeit war. So fiel er denn wieder in seine alte Lässigkeit zurück; im Grunde war er es ganz zufrieden, daß er nicht mehr von allzu viel Arbeit geplagt wurde, und hauste von neuem, so gut es ging, mit seiner alten Liebe, dem Elend, beisammen – ohne einen Groschen, aber als großer Herr.

Pierre fiel jedoch vor allem der verschiedenartige Charakter des Pariser und des römischen Elends auf. Gewiß, der Mangel war hier noch vollständiger, die Nahrung noch unreinlicher, der Schmutz noch widerwärtiger. Warum also besaßen diese furchtbar armen Leute mehr Ungezwungenheit und wirkliche Heiterkeit? Wenn er an den Winter in Paris dachte, an die elenden Kämmerchen, die er so oft besucht hatte, wo es zum Dach hineinschneite, wo ganze brotlose Familien vor Frost klapperten, da wurde sein Herz von einem rasenden Mitleid ergriffen, wie er es auf den Prati del Castello lange nicht so lebhaft empfunden hatte. Nun endlich begriff er: das Elend in Rom war kein frierendes Elend. Ach ja, ein fortwährender Sonnenschein, ein gütiger Himmel, der aus Mitleid mit den Unglücklichen fortwährend blau blieb, war ein gar süßer und ewiger Trost! Was lag an dem Schrecken der Wohnung, wenn man im Freien schlafen und sich von dem lauen Winde streicheln lassen konnte! Was lag sogar am Hunger, wenn die Familie auf sonnigen Straßen, im trockenen Grase auf das Glück des Zufalls warten konnte! Das Klima machte nüchtern; es gab keinen Nebel, dem man mit Alkohol oder schwarzem Fleisch entgegentreten mußte. Das göttliche Nichtsthun ergötzte sich an den goldigen Abenden; die Armut wurde in dieser köstlichen Luft, wo das bloße Glück des Lebens der Kreatur zu genügen schien, ein freier Genuß. In Neapel, erzählte Narcisse, in den engen, ekelhaften, mit trocknenden Wäschestücken beflaggten Straßen am Hafen und in S. Lucia verstrich das Leben des Volkes im Freien. Frauen und Kinder, die nicht unten aus der Straße waren, lebten auf den leichten Holzbalkonen, die sich unter allen Fenstern hinzogen. Dort wurde genäht, gesungen, dort wusch man sich. Aber hauptsächlich die Straße war das gemeinsame Wohnzimmer; hier zogen sich die Männer die Hose vollends an; hier lausten halbnackte Frauen ihre Kinder und kämmten sich selber, und hier war für dieses verhungerte Volk immer der Tisch gedeckt. Auf kleinen Tischen, auf Wagen fand unaufhörlich ein Markt von sehr billigen Eßwaren statt. Da gab es überreife Granaten und Melonen, gekochte Nudeln, gekochte Gemüse, gebackene Fische, Muscheln, alles fix und fertig, beständig bereit, so daß man im Freien essen konnte, ohne daß je in der Küche ein Feuer angezündet werden mußte. Und was für eine wimmelnde Menge! Die Mütter fuchtelten unaufhörlich mit den Armen umher, die Väter saßen in einer Reihe längs des Trottoirs, die Kinder galoppirten endlos hin und her – alles inmitten eines rasenden Getöses, inmitten von Geschrei, Gesang, Musik, der seltsamsten Unbekümmertheit! Rauhe Stimmen lachten laut auf, braune, unschöne Gesichter besaßen bewunderungswürdige Augen, die unter dem zerzausten, tintenschwarzen Haar in Daseinsfreude stammten. Ach, armes, heiteres, kindisches, unwissendes Volk, dessen einziger Wunsch sich auf die paar Centesimi beschränkte, die notwendig sind, um auf diesem fortwährenden Markt den Hunger zu stillen! Gewiß, noch nie ist sich eine Demokratie ihrer selbst weniger bewußt gewesen. Da es hieß, daß es ihnen um die einstige Monarchie leid that, unter der ihre Rechte auf dieses Leben sorgloser Armut gesicherter erschienen waren, mußte man sich fragen, ob es notwendig sei, sich ihretwegen zu erregen, ihnen wider ihren Willen mehr Wissen und Bewußtsein, mehr Wohlsein und Würde zu erobern. Dennoch stieg beim Anblicke dieses vom Rausch und der Bethörung der Sonne hervorgerufenen Frohsinns der Hungerleider im Herzen Pierres eine unendliche Traurigkeit auf. Ja, der schöne Himmel war es, der die lange Kindheit dieses Volkes bewirkte; er war die Erklärung dafür, warum diese Demokratie nicht rascher erwachte. Gewiß, die Armen von Rom und Neapel litten an allem Mangel, aber in ihrem Herzen blieb nicht der Groll der schrecklichen Wintertage zurück, der finstere Groll, daß sie vor Kälte zittern mußten, während die Reichen sich an großen Feuern wärmten; sie kannten nicht die wütenden Träumereien in den schneegepeitschten, elenden Hütten vor der dünnen, dem Erlöschen nahen Kerze – sie kannten nicht das dann aufstammende Bedürfnis, Gerechtigkeit zu schaffen, nicht die Pflicht der Empörung, um Frau und Kinder vor der Schwindsucht zu retten, um auch ihnen ein warmes, menschenwürdiges Nest zu schaffen. Ach ja, das frierende Elend ist das Uebermaß der sozialen Ungerechtigkeit, die schrecklichste Schule, in der der Arme sein Leben kennen lernt, sich darüber empört und schwört, ihm ein Ende zu machen, selbst wenn die alte Welt darüber zusammenbrechen müßte!

In dieser Milde des Himmels fand Pierre auch eine Erklärung für den heiligen Franziskus, diesen göttlichen Bettler aus Liebe, der auf den Wegen umherzog und den köstlichen Zauber der Armut feierte. Er war zweifellos ein unbewußter Revolutionär und legte durch diese Rückkehr zur Liebe der Armen, zur Einfachheit der Urkirche auf seine Weise Verwahrung gegen den überströmenden Luxus des römischen Hofes ein. Aber niemals hätte ein solches Erwachen der Unschuld und Nüchternheit in einer nordischen, von den Dezemberfrösten erstarrten Gegend stattfinden können. Dazu bedurfte es des Zaubers der Natur, der Mäßigkeit eines von der Sonne genährten Volkes, dazu mußte der Bettlerstand immer mit warmen Straßen gesegnet sein. Nur auf diese Weise hat er zum vollständigen Vergessen seiner selbst gelangen können. Und da drängte sich eine zuerst verwirrende Frage auf: wie hat ein heiliger Franziskus, eine Seele, die alle Kreaturen, die Tiere, die Dinge mit so brennender Bruderliebe umgab, einst auf dieser Erde entstehen können, die heutigen Tags so wenig barmherzig, so hart gegen die Armen ist, die ihr gemeines Volk verachtet und nicht einmal ihrem Papste Gaben spendet? Hatte also der uralte Hochmut die Herzen vertrocknet? Oder führte die Erfahrung sehr alter Völker zuletzt zum Egoismus? Denn die Seele Italiens schien in seinem dogmatischen und pomphaften Katholizismus eingeschlafen zu sein, während die Rückkehr zum evangelischen Ideal, die Liebe zu den Armen und Leidenden heutzutage auf den traurigen Ebenen des Nordens, unter den der Sonne beraubten Völkern erwachte. Alles das wirkte zusammen; und das war insbesondere der Grund, warum der heilige Franziskus, nachdem er so fröhlich seine Dame, die Armut, erkoren hatte, sie nun mit nackten Füßen und nur halb bekleidet durch den herrlichen Frühling, durch Bevölkerungen führen konnte, in denen damals ein feuriges Mitleids- und Liebesbedürfnis brannte.

Während des Sprechens waren Pierre und Narcisse auf dem Platz vor St. Peter angelangt. Sie ließen sich vor der Thüre des Restaurants, in dem sie bereits einmal gefrühstückt hatten, an einem der kleinen, mit Tischtüchern von zweifelhafter Weiße belegten Tische nieder, die dort längs des Pflasters standen. Aber die Aussicht war wirklich herrlich: gegenüber lag die Basilika, rechts über der majestätischen Entwicklung der Kolonnaden der Vatikan. Pierre hob sofort die Augen und begann abermals den Vatikan zu betrachten, der ihn fortwährend verfolgte. Insbesondere beobachtete er das zweite Stockwerk mit den stets geschlossenen Fenstern, wo der Papst wohnte, wo nie etwas Lebendes zum Vorschein kam. Dann, als der Kellner die Hors d'oeuvres, Finocchi und Anschoven, auftrug, stieß der Priester einen leichten Schrei aus, um die Aufmerksamkeit Narcisse Haberts auf sich zu ziehen.

»Ach, sehen Sie doch, lieber Freund ... dort an jenem Fenster, von dem man mir gesagt hat, daß es das des heiligen Vaters ist ... sehen Sie nicht eine weiße, unbewegliche Gestalt dort stehen?«

Der junge Mann begann zu lachen.

»Das muß der heilige Vater in eigener Person sein. Sie wünschen so sehr, ihn zu sehen, daß Ihr Wunsch ihn herausbeschwört.«

»Ich versichere Sie,« wiederholte Pierre, »dort hinter den Scheiben steht eine ganz weiße Gestalt, die uns ansieht.«

Narcisse, der sehr hungrig war, aß, indem er fortfuhr zu scherzen. Plötzlich aber sagte er:

»Nun, mein Lieber, da der Papst uns ansieht, ist es ganz an der Zeit, sich wieder mit ihm zu beschäftigen ... Ich habe Ihnen versprochen, Ihnen zu erzählen, wieso er die Millionen vom Erbgut Petri in jener schrecklichen Finanzkrise verloren hat. Sie sahen eben ihre Ruinen, und ein Besuch in dem neuen Viertel auf den Prati del Castello wäre ohne diese Geschichte als Abschluß nicht vollständig.«

Er begann zu erzählen, ohne sich einen Bissen entgehen zu lassen. Nach dem Tode Pius' IX. überschritt das Erbgut Petri zwanzig Millionen. Kardinal Antonelli, der spekulirte und im allgemeinen gute Geschäfte machte, hatte dieses Geld lange Zeit teils bei Rothschild, teils in den Händen verschiedener Nuntien liegen lassen, die somit den Auftrag hatten, es im Auslande zu fruktifiziren. Aber nach dem Tode des Kardinals Antonelli verlangte Kardinal Simeoni, der an seine Stelle trat, das Geld von den Nuntien zurück, um es in Rom anzulegen. Zu jener Zeit, gleich nach seiner Thronbesteigung, berief Leo XIII. eine Kommission von Kardinälen zur Verwaltung des Erbgutes. Monsignore Folchi wurde zum Sekretär ernannt. Dieser Prälat, der während zwölf Jahren eine bedeutende Rolle spielte, war der Sohn eines Beamten der Dateria, Päpstliche Kanzlei. der bei seinem Tode eine durch geschickte Unternehmungen erworbene Million hinterließ. Monsignore Folchi schlug in dieser Geschäftstüchtigkeit seinem Vater nach und erwies sich als ein Finanzmann ersten Ranges, so daß ihm die Kommission nach und nach alle Gewalt übertrug, ihn vollständig nach seinem eigenen Ermessen schalten ließ und sich damit begnügte, die von ihm in jeder Sitzung vorgelegten Berichte zu billigen. Das Erbgut trug nicht mehr als eine Million jährlich, und da das Ausgabenbudget sich auf sieben Millionen belief, mußten die sechs anderen irgendwo gefunden werden. Der Papst gab also Monsignore Folchi jährlich drei Millionen aus dem Peterspfennig, und der Prälat bewirkte während der zwölf Jahre seiner Verwaltung das Wunder, sie durch seine klugen Spekulationen und Anlagen zu verdoppeln. Man konnte daher dem Budget Rechnung tragen, ohne das Erbgut anzugreifen. So erzielte er in der ersten Zeit beträchtliche Gewinnste durch das Spiel in römischen Gründen. Er nahm Aktien von allen neuen Unternehmungen, spielte in Mühlen, Omnibussen, Wasserleitungen, abgesehen von der im Einverständnisse mit einer katholischen Bank, der Banca di Romano, gefühlten Agiotage. Der Papst war über diese Geschicklichkeit erstaunt. Bisher hatte er ebenfalls durch Vermittlung eines Vertrauensmannes, Namens Sterbini, spekulirt; nun entließ er ihn und beauftragte Monsignore Folchi, sein Geld arbeiten zu lassen, da er das des heiligen Stuhles so gewaltig arbeiten ließ. Dies war die Zeit, wo der Prälat in der größten Gunst stand, der Gipfel seiner Allmacht. Dann begannen die bösen Tage; der Boden krachte bereits, und wie mit Donnerschlägen brach alles zusammen. Unglücklicherweise bestand eine der Unternehmungen Leos XIII. darin, daß er den von der Spielwut gepackten, in Grund- und Baugeschäften verwickelten römischen Fürsten, denen es nun an Geld mangelte, große Summen borgte. Diese gaben ihm zur Bürgschaft Aktien, so daß der Papst, als der Zusammenbruch kam, nichts als Fetzen Papier in Händen hatte. Andererseits gab es noch eine sehr häßliche Geschichte: man hatte den Versuch gemacht, in Paris ein Bankhaus zu gründen, um Obligationen, die in Italien nicht anzubringen waren, in der frommen, aristokratischen Kundschaft Frankreichs abzustoßen; um sie zu ködern, sagte man, daß der Papst dabei sei, und das Schlimmste war in der That, daß er bei diesem Geschäft drei Millionen verlor. Kurz, die Lage wurde um so kritischer, als er zuletzt nach und nach die ihm zur Verfügung stehenden Millionen in die schreckliche Agiopartie gesteckt hatte, die in Rom unter den Fenstern seines Vatikans gespielt wurde. Sicherlich hatten ihn die großen Gewinnste verlockt, vielleicht aber auch die Hoffnung, daß er diese ihm durch Gewalt entrissene Stadt durch Geld zurückerobern könne. Die Verantwortlichkeit lag auf ihm allein, denn Monsignore Folchi wagte ein wichtiges Geschäft niemals, ohne ihn zu Rate zu ziehen. So war er durch seine Gewinngier, durch den sittlich höher stehenden Wunsch, der Kirche die moderne Allmacht des Großkapitals zu verleihen, der wirkliche Urheber des Unglücks. Aber so wie es einmal geht, wurde der Prälat das einzige Opfer. Er befaß ein gebieterisches und wenig umgängliches Wesen; die Kardinäle in der Kommission liebten ihn nicht, fanden die Sitzungen vollkommen überflüssig, da er als unumschränkter Herr handelte und man sich nur versammelte, um das, was er von seinen Unternehmungen bekannt zu geben geruhte, zu billigen. Als die Katastrophe losbrach, wurde eine Verschwörung angezettelt; die Kardinäle erschreckten den Papst durch die bösen Gerüchte, die im Umlaufe waren, und zwangen dann Monsignore Folchi, der Kommission Rechnung zu legen. Es stand sehr schlimm; ungeheure Verluste ließen sich nicht mehr vermeiden. So fiel er denn in Ungnade und hat seither Leo XIII. vergeblich um eine Audienz angefleht; dieser hat sich stets hart geweigert, ihn zu empfangen, als wolle er ihn für ihren gemeinsamen Fehler, für diese Gewinnsucht strafen, die beide verblendet hatte. Aber Monsignore Folchi hat sich nie beklagt, ist sehr fromm, sehr unterwürfig, beugt sich und bewahrt seine Geheimnisse. Niemand vermochte genau die Zahl der Millionen anzugeben, die das Patrimonium Petri in dieser Verwirrung des in ein Spielhaus verwandelten Rom gelassen hat; wenn die einen nur zehn Millionen zugestehen, so gehen andere bis zu dreißig. Man darf annehmen, daß der Verlust etwa fünfzehn Millionen betrug.

Nach den Koteletten mit Tomaten trug der Kellner ein Backhuhn auf.

»o, ich sagte es Ihnen ja bereits,« schloß Narcisse, »das Loch ist mit den beträchtlichen Summen verstopft worden, die der Peterspfennig abwirft, deren Höhe nur der Papst kennt und deren Verwendung er allein regelt ... Uebrigens ist er nicht geheilt; ich weiß aus guter Quelle, daß er noch immer spielt, wenn auch mit größerer Vorsicht. Auch heute ist sein Vertrauensmann ein Prälat, Monsignore Marzolini, glaube ich, der seine Geldgeschäfte besorgt ... Aber er hat ja ganz recht, mein Lieber! Teufel, man muß mit seiner Zeit gehen.«

Pierre hörte mit wachsender Ueberraschung zu, in die sich eine Art Schreck und Traurigkeit mischte. Das alles war ja ganz natürlich, sogar gerechtfertigt, aber in seinem Traum von einem Seelenhirten, der hoch oben, fern und frei von aller weltlichen Sorge thronte, hätte er nie geglaubt, daß so etwas existieren könne. Wie, der Papst, der geistige Vater der Armen und Leidenden, hatte mit Gründen, mit Börsenpapieren spekulirt! Der Nachfolger des Apostels, der Pontifex Christi, des Jesu des Evangeliums, des göttlichen Freundes der Armen hatte gespielt, hatte Kapitalien bei jüdischen Bankiers angelegt, hatte gewuchert, so viel Interessen als möglich aus seinem Gelde geschlagen! Und dann, welch schmerzlicher Gegensatz: da oben in den Zimmern des Vatikans, in der Tiefe irgend eines verschwiegenen Möbelstückes so viele Millionen – so viele Millionen, die fruchtbringend arbeiteten, ohne Unterlaß angelegt und herausgenommen wurden, damit sie mehr trugen, die gleich goldenen Eiern mit der leidenschaftlichen Zärtlichkeit eines Geizhalses ausgebrütet wurden! Und ganz in der Nähe, da unten, diese abscheulichen, unvollendeten Bauten des neuen Viertels, so viel Elend, so viele arme Leute, die in ihrem Schmutze Hungers starben – Mütter, die keine Milch für ihren Säugling hatten, Männer, die die Arbeitseinstellung zum Nichtsthun zwang, Greise, die sich wie Lasttiere abquälten, die man niederschlägt, wenn sie zu nichts mehr gut sind! O, Gott der Barmherzigkeit, Gott der Liebe, war das möglich? Gewiß hatte die Kirche materielle Bedürfnisse; sie konnte nicht ohne Geld leben, und es war ein weiser und hochpolitischer Gedanke, ihr einen Schatz zu gewinnen, damit sie ihre Gegner siegreich bekämpfen könne. Aber wie verletzend, wie beschmutzend war das! Sie stieg von ihrer göttlichen Königswürde herab, um nichts zu sein als eine Partei, eine ungeheure, internationale Vereinigung, die nur zu dem Zwecke geschaffen wurde, zu erobern und die Welt zu besitzen!

Und die seltsame Geschichte versetzte Pierre in noch größeres Erstaunen. Wer hat je ein unerwarteteres und packenderes Drama erdacht? Dieser Papst, der sich fest in seinem Hause einschloß, das wohl ein Gefängnis war – aber ein Gefängnis, dessen hundert Fenster auf die Unendlichkeit, auf Rom, die Campagna, die fernen Hügel hinausgingen; dieser Papst, der von seinem Fenster aus zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, zu jeder Jahreszeit seine Stadt mit dem Blick umfaßte, sie unaufhörlich zu seinen Füßen liegen sah – seine Stadt, die man ihm gestohlen hatte, deren Wiedergabe er mit einem ununterbrochenen Klagerufe forderte; dieser Papst, der so von Tag zu Tag, von allem Anfang an zugesehen hatte, was für Veränderungen seine Stadt erlitt, wie die alten Viertel niedergerissen, die Gründe verkauft wurden, wie die neuen Bauten sich nach und nach von allen Seiten erhoben und zuletzt einen weißen Gürtel um die alten roten Dächer bildeten; dieser Papst, der angesichts dieses täglichen Beispiels, dieser Bauwut, welche er vom Aufstehen bis zum Niederlegen verfolgen konnte, zuletzt von der gleich einem Rausch aus der ganzen Stadt aufsteigenden Spielwut ergriffen wurde; dieser Papst, der aus der Tiefe seines stoisch geschlossenen Zimmers selbst mit den Verschönerungen seiner alten Stadt zu spielen begann, der sich an der Geschäftsbewegung bereichern wollte, die die italienische, von ihm als Räuber behandelte Regierung veranlaßte, und der zuletzt plötzlich in einer gewaltigen Katastrophe, die er wohl hätte herbeiwünschen sollen, aber nicht vorausgesehen hatte, Millionen verlor! Nein, noch niemals war ein entthronter König einer seltsameren Eingebung erlegen, noch nie hatte sich ein entthronter König in einem tragischeren Wagnis bloßgestellt, das ihn wie eine Strafe traf! Und das war kein König, sondern das war der Abgesandte Gottes, es war in den Augen der vergötternden Christenheit Gott selbst!

Der Nachtisch, aus einem Ziegenkäse und Früchten bestehend, wurde aufgetragen, und Narcisse ward gerade mit einer Traube fertig, als er plötzlich aufblickte und rief:

»Sie haben ganz recht, mein Lieber; jetzt sehe ich auch diesen weißen Schatten da oben hinter den Fenstern im Zimmer des heiligen Vaters.«

Pierres Augen wichen nicht von diesem Fenster.

»Ja, ja, er war kurze Zeit verschwunden,« sagte er langsam, »aber er erschien wieder und steht noch immer da, weiß und unbeweglich.«

»Mein Gott, was soll er denn sonst thun?« fuhr der junge Mann mit einer schmachtenden Miene fort; man wußte nicht, ob er spottete oder nicht. »Er ist eben wie alle Welt und schaut zum Fenster hinaus, wenn er sich ein bißchen zerstreuen will. Um so mehr, als es wirklich ein sehenswerter Anblick ist, dessen man nie überdrüssig wird.«

Eben diese Thatsache war es, die sich Pierres immer mehr und mehr bemächtigte und ihn in eine zunehmende Erregung versetzte. Da man stets von einem fest verschlossenen Vatikan sprach, hatte er sich einen düsteren, von hohen Mauern umschlossenen Palast vorgestellt; niemand hatte ihm gesagt, niemand schien zu wissen, daß dieser Palast Rom beherrschte, und daß der Papst von seinem Fenster aus die Welt sah. Die Unermeßlichkeit dieser Aussicht kannte Pierre wohl, denn er hatte sie vom Gipfel des Janiculus, dann von den Loggien Raffaels und vom Dome der Basilika gesehen. Was nun Leo XIII., während er weiß und unbeweglich hinter den Scheiben stand, in dieser Minute betrachtete, das sah Pierre zu gleicher Zeit mit ihm. Leo XIII. sah im Mittelpunkte der ungeheuren, von dem Sabiner- und Albanergebirge begrenzten Wüste der Campagna die sieben berühmten Hügel: den Janiculus, der von den Bäumen der Villa Pamfili gekrönt wird; den Aventin, von dem nichts mehr übrig geblieben ist als drei vom Grün halb versteckte Kirchen; den noch vereinsamteren, von den reifen Orangen der Villa Mattei durchdufteten Coelius; den Palatin, den eine dünne, gleichsam auf dem Grabe der Cäsaren gesproßte Reihe von Cypressen begrenzte; den Esquilin, auf dem sich der dünne Glockenturm von S. Maria Maggiore erhob; den Viminal, der mit seinen wirren, kreidigen neuen Bauten einem aufgerissenen Steinbruch glich; das Kapital, das von dem viereckigen Kampanile des Senatorenpalastes kaum gekennzeichnet ward; den Quirinal, auf dem sich der Palast des Königs blendend gelb zwischen den dunklen Schatten der Gärten hinzog. Er sah außer S. Maria Maggiore alle Basiliken: S. Giovanni in Laterano, die Wiege des Papsttums, S. Paolo fuori le mura, S. Croce in Gerusallemme, S. Agnese – die Dome des II Gesu, von S. Andrea della valle, von S. Carlo, von S. Giovanni di Fiorentini und alle die vierhundert Kirchen von Rom, die die Stadt in ein mit Kreuzen bepflanztes heiliges Feld verwandeln. Er sah die berühmten Monumente, diese Zeugen der Hoffart aller Jahrhunderte: die Engelsburg, dieses in eine päpstliche Festung verwandelte Kaisergrab; dort drüben die Weiße Linie der anderen Gräber der Via Appia; dann die zerstreuten Ruinen der Thermen des Caracalla, des Hauses des Septimius Severus, der Säulen, der Portiken, der Triumphbogen; dann die Paläste und Villen der prunkliebenden Kardinäle aus der Zeit der Renaissance, den Palazzo Farnese, den Palazzo Borghese, die Villa Medici und alle, alle anderen – ein Gewimmel von Dächern und Fassaden. Vor allem sah er aber links, knapp unter seinem Fenster das abscheuliche, unvollendete Viertel auf den Prati del Castello. Wenn er am Nachmittag sich in seinen Gärten erging, die wie die Plattform einer Citadelle von der Mauer Leo IV. eingeschanzt waren, hatte er die furchtbare Aussicht auf das Thal, das man in der fieberhaften Zeit der Bauwut in den Fuß des Monte Mario gegraben hat, um dort Ziegeleien zu errichten. Die grünen Abhänge sind aufgerissen, und gelbliche Gräben laufen nach allen Seiten. Aber die nun geschlossenen Fabriken sind mit ihren hohen, toten Schornsteinen, aus denen der Rauch nicht mehr aufsteigt, nur noch klägliche Ruinen. Zu keiner Tagesstunde konnte er sich seinem Fenster nähern, ohne diese verlassenen Bauten, für die so viele Ziegelwerke gearbeitet hatten, vor Augen zu haben; diese Bauten waren gestorben, ehe sie gelebt hatten, und zu dieser Stunde war nichts mehr dort als das wimmelnde Elend von Rom, das hier wie der Kadaver alter Gesellschaften verfaulte.

Vor allem aber bildete Pierre sich ein, daß der weiße Schatten dort oben, Leo XIII., zuletzt die ganze übrige Stadt vergaß, um seinen träumenden Blick auf den Palatin zu richten. Er ist nun entkrönt, und nur seine schwarzen Cypressen ragen in den blauen Himmel. Zweifellos baute er in Gedanken die Paläste der Cäsaren wieder auf, und vor seinem Blick erhoben sich hohe, ganz rote, mit dem Purpur bekleidete Schatten, seine Ahnen, die Kaiser und Pontifexe. Sie allein konnten ihm sagen, wie man als unumschränkter Herr der Welt über alle Völker herrscht. Dann schweiften seine Blicke hinüber zum Quirinal und vertieften sich stundenlang in den Anblick des gegenüberliegenden Königtums. Welch seltsames Zusammentreffen, daß diese beiden Paläste, der Quirinal und der Vatikan, sich anschauen, daß sie neben einander über das Rom des Mittelalters und der Renaissance emporragen, dessen von der brennenden Sonne verbrannte und vergoldete Dächer sich am Ufer des Tibers zusammendrängen und verschmelzen! Mit einem einfachen Opernglas können Papst und König, wenn sie sich ans Fenster stellen, einander sehr deutlich sehen. Sie sind nichts als unbedeutende, im grenzenlosen Raum verlorene Punkte; und welcher Abgrund liegt zwischen ihnen, wie viele Jahrhunderte der Geschichte, wie viele Generationen, die gekämpft und gelitten haben, welch tote Grüße und welch Samen für die geheimnisvolle Zukunft! Sie sehen sich und führen mit einander noch immer den ewigen Kampf um das Volk, das vor ihren Augen auf- und abflutet. Wem wird die unumschränkte Macht zufallen, dem Pontifex, dem Seelenhirten, oder dem Monarchen, dem Herrn der Körper? Pierre fragte sich, welchen Betrachtungen, welchen Träumereien Leo XIII. sich wohl hinter diesen Scheiben hingeben mochte, hinter denen er seine weiße, geisterhafte Gestalt noch immer zu sehen meinte. Sicherlich mußte er sich über die gewaltige Fehlgeburt der italienischen Regierung freuen, wenn er das neue Rom, die alten, verwüsteten Viertel, die von einem Unglückswinde gepeitschten neuen Viertel vor sich liegen sah. Man hatte ihm seine Stadt gestohlen, man hatte ihm sozusagen zeigen wollen, wie man eine große Hauptstadt schafft – und das Ende war diese Katastrophe mit den vielen häßlichen und unnützen Bauten. Man wußte nicht einmal, wie man sie fertig stellen sollte. Die schrecklichen Verlegenheiten, in die die usurpatorische Regierung geraten war, die politische und finanzielle Krise, die wachsende Nationalkrankheit, in die diese Regierung eines Tages zu stürzen drohte, mußte ihn entzücken. Und doch, schlug nicht auch in seiner Brust das Herz eines Patrioten, war nicht auch er ein liebender Sohn dieses Italien, dessen Genius und uralter Ehrgeiz in seinen Adern kreiste? Nein, nein, gegen Italien wollte er nichts unternehmen; im Gegenteil, er wollte alles thun, damit es wieder der Herr der Erde werde! Sicherlich stieg inmitten seiner freudigen Hoffnung ein schmerzliches Gefühl in ihm auf, wenn er sah, wie es zu Grunde gerichtet, vom Bankerott bedroht war, wie es dieses zerrüttete, unvollendete Rom gleich einem Bekenntnis seiner Ohnmacht zeigte. Aber wenn auch die Dynastie Savoyen eines Tages weggefegt werden mußte – war er nicht da, um sie zu ersetzen, um endlich wieder in den Besitz seiner Stadt zu treten, die seit fünfzehn Jahren eine Beute der Niederreißer und Maurer war, die er seit fünfzehn Jahren nur noch von seinem Fenster aus geschaut hatte? Dann wurde er wieder der Herr, herrschte über die Welt, thronte in der prädestinirten Stadt, der die Propheten die Ewigkeit und die Weltherrschaft zugesichert hatten.

Der Horizont erweiterte sich, und Pierre fragte sich, was Leo XIII. wohl jenseits von Rom, jenseits der römischen Campagna, jenseits des Sabiner- und Albanergebirges, in der gesamten Christenheit sähe. Seit achtzehn Jahren hatte er sich in seinem Vatikan eingeschlossen, schaute er die Welt nur durch das Fenster seines Zimmers. Was sah er von da oben, was für Wahrheiten und Gewißheiten drangen aus unseren modernen Gesellschaften zu ihm herauf? Manchmal mußten doch von den Höhen des Viminal, wo der Bahnhof sich befindet, die langen Pfiffe der Lokomotive bis zu ihm tönen: das war unsere wissenschaftliche Zivilisation, die Annäherung der Völker, die freie, der Zukunft zuschreitende Menschheit. Träumte er selbst von Freiheit, wenn er den Blick nach rechts wandte und dort drüben, jenseits der Gräber m der Via Appia das Meer ahnte? Hatte er je den Wunsch empfunden, fortzugehen, Rom und seine Ueberlieferungen zu verlassen, um anderswo das Papsttum der neuen Demokratie zu gründen? Es hieß, daß er ein so klarer, so durchdringender Geist sei; dann hätte er ja verstehen, dann hätte er zittern müssen, wenn aus gewissen kampflustigen Ländern ein fernes Geräusch zu ihm herüberdrang – zum Beispiel aus Amerika, wo revolutionäre Bischöfe im Begriffe waren, das Volk zu erobern? Arbeiteten sie für ihn oder für sich selbst? Stand nicht eines Tages ein Bruch zu befürchten, wenn er ihnen nicht folgen konnte, wenn er, auf allen Seiten vom Dogma und der Ueberlieferung gefesselt, störrisch in seinem Vatikan blieb? Und von fernher wehte ein drohender, das Schisma verkündender Wind, strich ihm über das Gesicht und erfüllte sein Herz mit wachsender Angst. Wohl aus diesem Grunde war er der Versöhnungsdiplomat geworden; er wollte in seiner Hand alle zerstreuten Kräfte der Kirche vereinigen, drückte über die Kühnheiten gewisser Bischöfe die Augen zu, soweit die Duldsamkeit es erlaubte, und bemühte sich selbst, das Volk zu erobern, indem er sich an seine Seite gegen die gefallenen Monarchen stellte. Aber würde er je noch weiter gehen? Würde er nicht einsehen, daß er hinter der Bronzethür, im Vatikan, in der strengen, katholischen Formel eingemauert war, an die Jahrhunderte ihn ketteten? Er mußte dabei beharren; es wäre ihm einfach nicht möglich, sich auf seine wirkliche Allmacht, auf diese rein geistige Macht, diese moralische Autorität des Jenseits zu beschränken, die die Menschheit zu seinen Füßen niederwarf, die bewirkte, daß die Pilgerzüge auf die Kniee sanken und Frauen in Ohnmacht fielen. Rom aufgeben, auf die weltliche Herrschaft verzichten, hieß den Mittelpunkt der katholischen Welt verrücken. Dann wäre er nicht mehr er, das Haupt des Katholizismus, sondern ein anderer, das Haupt von etwas anderem. Was für unruhige Gedanken mußten an diesem Fenster durch seinen Geist ziehen, wenn der Abendwind manchmal das unklare Bild jenes andern, die Furcht vor der neuen, noch wirren Religion mit sich brachte, die sich in dem dumpfen Stampfen der vorwärts marschirenden Nationen vorbereitete. Und dieses Stampfen drang von allen Punkten des Horizontes zugleich an sein Ohr.

Aber in diesem Augenblicke fühlte Pierre, daß der weiße, unbewegliche Schatten hinter den geschlossenen Scheiben vom Stolz, von der fortwährenden Siegesgewißheit aufrecht gehalten wurde. Wenn Menschenhand nicht genügte, würde ein Wunder dazu kommen. Er war fest überzeugt, daß Rom ihm wieder gehören würde; und wenn nicht ihm, seinem Nachfolger. Hatte die Kirche in ihrer unbezwingbaren Lebenskraft nicht die Ewigkeit vor sich? Und übrigens, warum nicht ihm? Vermag Gott nicht das Unmögliche? Wenn Gott wollte, würde seine Stadt ihm schon morgen durch irgend eine plötzliche Wendung der Geschichte wiedergegeben werden – allen menschlichen Einwendungen, aller scheinbaren Logik der Thatsachen zum Trotz. Ach, wie würde er die verlorene Tochter bewillkommnen, deren zweideutige Abenteuer seine thränenfeuchten Vateraugen unablässig verfolgt hatten! Wie rasch würde er die Uebertretungen vergessen, denen er achtzehn Jahre lang zu jeder Stunde und zu jeder Jahreszeit beigewohnt hatte! Vielleicht träumte er auch davon, was er mit den neuen Vierteln machen würde, mit denen man sie besudelt hatte: sollte man sie niederreißen oder als einen Beweis des Wahnwitzes der Usurpatoren stehen lassen? Sie würde wieder die erhabene, tote Stadt werden, die alle eitlen Sorgen um Reinlichkeit und materielles Behagen mißachtete und wie eine reine Seele in dem überlieferten Ruhme der vergangenen Jahrhunderte über der Welt strahlte. Und sein Traum spann sich weiter; er stellte sich vor, wie alles, zweifellos schon von morgen ab, sich gestalten würde. Alles war besser als das Haus Savoyen, selbst eine Republik. Warum nicht eine föderative Republik, die Italien nach der alten, nun abgesetzten politischen Einteilung zerstückeln, Rom ihm zurückgeben und ihn zum natürlichen Beschützer des derart wieder hergestellten Staates wählen würde? Dann flogen seine Blicke über Rom, über Italien hinaus; sein Traum erweiterte sich immer mehr und mehr, umschloß das republikanische Frankreich, Spanien, das es wieder werden konnte, sogar Oesterreich, das eines Tages gewonnen werden würde – alle katholischen Nationen, die dann die vereinigten Staaten von Europa werden und unter dem hohen Vorsitze des Pontifex Maximus friedlich und brüderlich mit einander leben würden. Und dann der höchste Triumph, wenn zuletzt alle anderen Kirchen verschwänden, alle andersgläubigen Völker zu ihm wie zu dem einzigen Hirten kämen, wenn Jesus in seiner Person über die universale Demokratie herrschte.

Pierre wurde plötzlich in diesem Traum, den er Leo XIII. zuschrieb, unterbrochen.

»O, mein Lieber,« sagte Narcisse, »betrachten Sie doch nur den Ton der Statuen dort auf der Kolonnade.«

Er hatte sich eine Tasse Kaffee serviren lassen und rauchte, einzig wieder den Beschäftigungen des spitzfindigen Aesthetikers hingegeben, schmachtend eine Cigarre.

»Sie sind rosa, nicht wahr? Und zwar von einem Rosa, das ins Malvenfarbige übergeht, als flösse das blaue Blut der Engel in ihren steinernen Adern ... Lieber Freund, was ihnen dieses überirdische Leben verleiht, das ist die römische Sonne; denn sie leben, ich habe es in gewissen schönen Zwielichtstunden gesehen, wie sie mir zulächelten und die Arme entgegenstreckten ... Ach, Rom, wunderbares, herrliches Rom! Man möchte in größter Not, arm wie Hiob, hier leben, in der beständigen Freude, seinen Zauber einzuatmen!«

Diesmal konnte Pierre nicht umhin, sich zu wundern, da er sich seiner nüchternen Stimme, seines so hellen und trockenen Geschäftsgeistes erinnerte. Dann kehrten seine Gedanken wieder zu den Prati del Castello zurück, und eine furchtbare Traurigkeit überflutete sein Herz bei dieser letzten Beschwörung von so viel Elend und so viel Leiden. Er sah abermals den schändlichen Schmutz vor sich, in dem so viele Geschöpfe zu Grunde gingen, diese furchtbare soziale Ungerechtigkeit, die die Mehrzahl zu einem verfluchten, freudlosen, brotlosen Tierleben verdammte. Als dann seine Blicke wieder zu den Fenstern des Vatikans zurückgingen und er zu sehen meinte, wie sich hinter den Scheiben eine weiße Hand erhob, da dachte er an den päpstlichen Segen, den Leo XIII. von dieser Höhe über Rom, über die Campagna und über die Berge hinweg den Gläubigen der gesamten Christenheit erteilte. Aber dieser Segen erschien ihm mit einemmal wie ein Hohn und ohnmächtig, da er so viele Jahrhunderte nicht einen einzigen Schmerz der Menschheit zu unterdrücken vermocht hatte, da es ihm nicht einmal gelungen war, für die Unglücklichen, die da unter dem Fenster sich quälten, ein wenig Gerechtigkeit zu schaffen.


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