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Siebentes Kapitel.

Die Umständlichkeit der Beisetzungsfeierlichkeit und einige Besorgungen hielten Lazare und Pauline zwei Tage in Caen zurück. Als sie nach einem letzten Besuche von dem Kirchhofe heimkamen, hatte sich das Wetter geändert, ein heftiger Sturm blies auf die Küsten. Sie fuhren von Arromanches bei strömendem Regen ab, der Wind wehte mit solcher Wut, daß das Verdeck des Wagens abgerissen zu werden drohte. Pauline gedachte ihrer ersten Reise, als Frau Chanteau sie von Paris abgeholt hatte: damals war ein ähnlicher Sturm gewesen wie dieser; die arme Tante hatte ihr verboten, sich aus dem Wagen zu beugen, und hatte ihr alle Augenblicke das Halstuch fester geknüpft. In seiner Ecke träumte auch Lazare; auch er sah seine Mutter auf der Landstraße, wie sie vor Ungeduld brannte, ihn bei seiner jedesmaligen Heimkehr zu umarmen: einmal im Dezember hatte sie zwei Meilen Wegs zu Fuß gemacht; er fand sie auf diesem Grenzstein sitzen. Der Regen strömte ohne Unterlaß, das junge Mädchen und der Vetter wechselten von Arromanches bis Bonneville kein Wort.

Als man ankam, hörte indes gerade der Regen auf; aber der Wind verdoppelte seine Wut; der Kutscher mußte absteigen und das Pferd am Zügel führen. Endlich hielt der Wagen vor der Tür; gerade rannte der Fischer Houtelard eilig vorbei. »Herr Lazare,« schrie er, »dieses Mal steht es verdammt schlecht!... Die See zertrümmert Ihnen Ihre Maschine.«

Von dieser Krümmung des Weges aus konnte man das Meer nicht sehen. Der junge Mann blickte nach oben und bemerkte Veronika auf der Terrasse, die Blicke dem Strande zugewandt. Auf der andern Seite, an seine Gartenmauer gelehnt, blickte aus Furcht, daß der Wind seine Sutane zerfetze, auch Abbé Horteur nach derselben Richtung.

»Es spült Ihre Palisaden weg!«

Lazare ging sofort zum Strande hinunter, und Pauline folgte ihm trotz des schlechten Wetters. Als sie am Fuße des Abhanges in das Freie getreten waren, blieben sie, von dem ihrer dort harrenden Schauspiele ergriffen, wie festgebannt stehen. Die Flut, eine mächtige Septemberflut, stieg mit ungeheurem Getöse; sie war zwar nicht als gefährlich angekündigt worden; der Sturm aber, der seit dem Tage vorher aus Norden wehte, schwellte sie so über alles Maß an, daß wahre Wasserberge sich am Horizonte erhoben, über die Klippen fortrollten und dort zerbarsten. In der Ferne war das Meer schwarz unter dem Schatten der Wolken, die an dem fahlen Himmel dahin jagten.

»Kehre um«, sagte der junge Mann zu seiner Base. »Ich will nur einen Augenblick schauen und komme gleich nach.«

Sie antwortete nicht, sondern folgte ihm an den Strand. Dort hatten die Balken und eine erst kürzlich angelegte Verpfählung einen fürchterlichen Anprall auszuhalten. Die immer mächtiger werdenden Wogen prallten wie Sturmböcke an, eine nach der andern; ihr Heer war zahllos, immer neue Massen rollten daher. Große, grünliche Rücken mit weißen Kämmen bäumten sich bis ins Unendliche und näherten sich unter einem Riesendrucke; dann flogen diese Ungeheuer in der Wut des Anpralls selbst als Wasserstaub in die Höhe und fielen schließlich wieder als weißer Gischt nieder, den die Flut zu trinken und mit sich fortzuspülen schien. Unter jeder dieser Erschütterungen krachten die Bindebalken des Bollwerkes. Einem waren bereits die Stützen gebrochen, und der lange, an einem Ende noch festhaltende Mittelbalken schwankte verzweifelt wie ein lebloser Rumpf, dem eine Kartätsche die Glieder weggerissen hatte. Zwei andere hielten besser stand, aber man fühlte, wie sie in ihren Lagen erzitterten, sich abmühten und inmitten der lockeren Umschlingung dahinschwankten, die sie erst abnutzen zu wollen schien, um sie dann zu zerbrechen.

»Ich habe es ja gesagt,« wiederholte Prouane stark betrunken, an den durchlöcherten Rumpf einer alten Barke gelehnt, »das hat man voraussehen können für den Fall, daß der Wind von oben wehe. Das Wasser macht sich lustig über die Zündhölzchen dieses jungen Mannes.«

Diese Worte wurden mit Hohngelächter aufgenommen. Ganz Bonneville war zugegen, Männer, Weiber und Kinder; alle waren höchst belustigt über die ungeheuren Schläge, welche die Verpfählungen auszuhalten hatten. Das Meer konnte ihre baufälligen Hütten zerschmettern, sie liebten es trotzdem mit furchtsamer Bewunderung und hätten es als einen persönlichen Schimpf empfunden, wenn es der erste beste Herr mit seinen vier Pfählen und seinem Dutzend Pflöcken gezähmt hätte. Es regte sie auf und erfüllte sie wie mit einem persönlichen Triumph, das Meer endlich aufwachen und mit einem einzigen Aufreißen des Rachens den Maulkorb fortschleudern zu sehen.

»Aufgepaßt,« schrie Houtelard, »seht nur den Hieb... Die hat ihm zwei Pfoten fortgerissen!«

Sie riefen einander zu. Cuche zählte die Wogen.

»Es gehören drei dazu, Ihr werdet sehen... Eine macht ihn lose! Die zweite hat schon ausgekehrt. Ah! dieses Biest, zwei haben ihr genügt!... Wirklich, ein rechtes Biest.«

In diesen Worten lag etwas wie Zärtlichkeit. Koseworte wurden laut. Der Kinderschwarm tanzte, wenn eine mächtige Ladung Wasser sich ergoß und die Stakete mit einem Schlage zerschmetterte. Noch eine! noch eine! Alle würden niedergeworfen und geknickt wie Meerflöhe unter den Holzschuhen eines Kindes. Die Flut stieg noch immer, die große Verpfählung hielt sich noch. Auf dieses Schauspiel wartete man, es war die entscheidende Schlacht. Endlich verfingen sich die ersten Wogen in dem Gerüst; man begann zu lachen.

»Schade, daß der junge Mann nicht da ist«, hörte man die höhnische Stimme des Lumpen Tourmal. »Er könnte sich anlehnen und sie stützen.«

Ein Pfiff brachte ihn zum Schweigen. Lazare und Pauline waren von einigen Fischern bemerkt worden. Die beiden hatten alles gehört und betrachteten das Unheil bleich und schweigend. Die gebrochenen Balken hatten noch nichts zu bedeuten, aber die Flut mußte noch zwei Stunden lang steigen, das Dorf würde sicher Schaden leiden, wenn das Gerüst nicht standhielt. Lazare hatte Pauline an sich gepreßt und seinen Arm um ihre Hüfte geschlungen, um sie vor den Windstößen zu schützen, die wie Sensenhiebe vorbeisausten. Ein düsterer Schatten senkte sich vom Himmel nieder, die Wogen heulten, die beiden standen in diesem umherfliegenden Wasserstaube, in dem Getöse, das immer mehr zunahm, unbeweglich, in tiefer Trauer da. Rings um sie her harrten die Fischer jetzt, den Mund von einem letzten Hohnlächeln verzerrt, in wachsender Unruhe.

»Das wird nicht lange dauern«, murmelte Houtelard.

Das Gerüst leistete dennoch Widerstand. Bei jeder Woge, die es mit weißem Schaum bedeckte, kamen die mit Teer überzogenen schwarzen Balken zwischen dem weißen Wasser zum Vorschein. Sowie aber ein Stück Holz gebrochen war, folgten die nächsten Stück für Stück nach. Seit fünfzig Jahren hatten die ältesten Leute keinen so starken Seegang gesehen. Man mußte sich bald entfernen, die losgerissenen Balken schlugen gegen die anderen und zertrümmerten die Wehr vollständig, deren einzelne Teile heftig zu Boden geschleudert wurden. Nur ein Stück blieb aufrecht stehen, ähnlich einer jener auf den Klippen aufgepflanzten Balken. Bonneville hörte auf zu lachen, die Weiber brachten ihre Kinder unter Tränen fort. Diese schändliche See band also wieder mit ihnen an; es herrschte eine ergebene Bestürzung, es kam der erwartete und geduldete Ruin in dieser engen Nachbarschaft mit dem großen Meere, das sie nährte und tötete. Es entstand ein Gewirre, ein Getrampel von schweren Schuhen; alle flüchteten hinter die Mauer von Sandsteinen, deren Linie allein noch die Häuser schützte. Einige Pfähle gaben schon nach, die Balken waren eingeschlagen, ungeheure Wogen stürzten über die zu niedrige Mauer. Nichts leistete mehr Widerstand, eine Wassermasse zertrümmerte bei Houtelard die Fensterscheiben und überschwemmte die Küche. Da entstand eine wilde Flucht, nur das Meer blieb siegreich und fegte den Strand.

»Geh nicht hinein«, rief man Houtelard zu. »Das Dach wird gleich einstürzen.«

Lazare und Pauline waren langsam vor der Flut zurückgewichen. Keine Hilfe war möglich, sie kehrten heim; auf der Mitte der Anhöhe warf das junge Mädchen einen letzten Blick auf das bedrohte Dorf.

»Arme Leute!« murmelte es.

Lazare aber verzieh ihnen ihr blödsinniges Gelächter nicht. Ins Herz getroffen durch diesen Zusammensturz, der für ihn eine Niederlage bedeutete, machte er eine zornige Bewegung und tat endlich die Zähne auseinander.

»Das Meer möge in ihren Betten schlafen, weil sie es so liebten. Ich werde es gewiß nicht daran hindern!«

Veronika kam ihnen mit einem Schirm entgegen, denn der Platzregen begann von neuem. Von der Mauer gedeckt, rief Abbé Horteur ihnen Worte zu, die sie nicht verstanden. Das entsetzliche Wetter, die zertrümmerten Bollwerke, das Elend des Dorfes, das sie in Gefahr zurückließen, gestaltete ihre Heimkehr noch trauriger. Als sie in das Haus traten, kam es ihnen kahl und eisig vor, nur der Wind strich mit unaufhörlichem Geheul durch die düsteren Räume. Sobald sie erschienen, begann der vor dem Koksfeuer eingenickte Chanteau zu weinen. Keines von beiden ging sich umzukleiden, um die entsetzliche Erinnerung an die Treppe zu vermeiden. Der Tisch war gedeckt, die Lampe angezündet, man speiste sofort. Es war ein trauriger Abend, die heftigen Stöße des Meeres, von denen die Mauern bebten, schnitten den kargen Wortwechsel ab. Als Veronika den Tee brachte, meldete sie, daß das Haus der Houtelards und fünf andere schon am Boden lägen; diesmal werde das halbe Dorf zugrunde gehen. Chanteau darüber verzweifelt, daß er in seinen Leiden noch nicht das Gleichgewicht gefunden habe, schloß ihr den Mund mit den Worten, er habe genug an seinem Unglück zu tragen und wolle nicht noch von dem der anderen hören. Nachdem man ihn zu Bette gebracht hatte, legten sich alle von Müdigkeit wie zerschlagen nieder. Lazare hielt bis zum Morgen Licht; und Pauline öffnete beunruhigt wohl zehnmal leise die Tür, um zu lauschen; aber es stieg aus dem jetzt leeren ersten Stockwerke nur ein totes Schweigen herauf.

Vom folgenden Morgen an begannen für den jungen Mann die endlosen und brennenden Stunden, die einer großen Trauer folgen. Er erwachte aus ihr wie aus einer Ohnmacht nach einem Falle, von dem seine Gliedmaßen für immer eine Steifheit zurückbehalten; er hatte jetzt wieder seinen Kopf, eine klare Erinnerung frei von der Beklemmung, die soeben mit den trüben Bildern des Fiebers hinter ihm lag. Alle Einzelheiten erwachten wieder, er durchlebte seine Schmerzen noch einmal. Die Tatsache des Todes, mit der er zuvor noch nie in Berührung getreten, war jetzt da bei ihm, in Gestalt seiner in wenigen Tagen schnell dahingerafften Mutter. Das Entsetzen, nicht mehr zu sein, ward jetzt handgreiflich; man war zu vieren, und es wurde ein Loch gegraben, man blieb zu dreien vor Jammer bebend zurück, man mußte sich eng aneinander schmiegen, um von der verlorenen Wärme ein wenig wiederzufinden. Das hieß also sterben? Das war das Niewieder, diese zitternden, sich um einen Schatten schließenden Arme, der von sich nichts als ein schreckensvolles Bedauern zurückließ.

Er verlor seine arme Mutter von neuem zu jeder Stunde, jedesmal, wenn der Tod sich in ihm aufrichtete. Anfangs hatte er nicht soviel gelitten, weder als seine Base hinuntergekommen war und sich in seine Arme stürzte, noch während der grausam langen Bestattung. Er empfand den schrecklichen Verlust erst nach der Rückkehr in das leere Haus; und sein Kummer verbitterte sich noch mehr durch die Gewissensbisse darüber, daß er angesichts des ihm durch den Todeskampf versetzten Schlages, als etwas von der Verschwindenden noch auf Erden war, nicht mehr geweint habe. Die Furcht, seine Mutter nicht geliebt zu haben, quälte ihn, erstickte ihn manchmal. Er beschwor sie fortwährend herauf, ihr Bild suchte ihn beständig heim. Stieg er die Treppe hinauf, meinte er, sie müsse mit ihren kleinen behenden Schritten aus ihrem Zimmer treten und über den Flur eilen. Manchmal drehte er sich um, weil er sie zu hören glaubte; so voll war er von ihr, daß ihm seine Sinne das Streifen eines Kleides hinter der Tür vorspiegelten. Sie war nicht erzürnt, sie blickte ihn nicht einmal an; sie war nur eine vertraute Erscheinung, ein Schatten des früheren Lebens. Des Nachts wagte er nicht die Lampe auszulöschen, flüchtige Geräusche näherten sich seinem Bette, ein Atem streifte in der Dunkelheit seine Stirn. Anstatt daß sich die Wunde schloß, wurde sie täglich größer; bei der geringsten Erinnerung empfand er eine nervöse Erschütterung, sah er eine handgreifliche, schnell auftauchende und ebenso schnell wieder verschwindende Erscheinung, welche die Bangigkeit des »Niemalsmehr« in ihm zurückließ.

Alles im Hause erinnerte ihn an seine Mutter. Das Zimmer war unberührt, die Möbel am gewohnten Platze geblieben, ein Fingerhut lag neben einer Stickerei auf einem Tischchen. Auf dem Kamin zeigte die stehengebliebene Stutzuhr auf sieben Uhr siebenunddreißig Minuten, die letzte Stunde. Er vermied es, dort einzutreten. Dann wieder, wenn er hastig die Treppe hinaufstieg, trieb ihn ein plötzlicher Entschluß dort hinein. Das Herz klopfte ihm in mächtigen Schlägen, es schien ihm, als hätten die alten, wohlbekannten Möbel, der Schreibsekretär, das Spiegeltischchen und besonders das Bett eine sie verwandelnde Erhabenheit angenommen. Durch die beständig geschlossenen Vorhänge drang ein bleicher Schimmer, dessen unbestimmtes Licht Lazares Verwirrung erhöhte, während er das Kopfkissen küßte, auf dem das Haupt der Verblichenen erkaltet war. Eines Morgens, als er eintrat, wurde er tief ergriffen: durch die weitgeöffneten Vorhänge drang in breiten Lichtströmen der helle Tag, eine fröhliche Decke von Sonnenschein hatte sich über das Bett bis zum Kopfkissen gebreitet; auf den Möbeln standen in allen aufzutreibenden Gefäßen Blumen. Da erinnerte er sich, daß ein Jahrestag gefeiert wurde, der Geburtstag derjenigen, die nicht mehr da war, ein Tag, der alle Jahre festlich begangen wurde, den seine Base nicht aus dem Gedächtnis verloren hatte. Es waren nur armselige Herbstblumen, Astern, Gänseblümchen, die letzten schon vom Frost berührten Rosen, aber es sprach dennoch das Leben aus ihnen, sie umschlossen mit ihren heiteren Farben den toten Rahmen, in dem die Zeit stille zu stehen schien. Diese fromme Aufmerksamkeit erschütterte ihn. Er weinte lange.

Auch das Eßzimmer, die Küche, selbst die Terrasse waren voll von seiner Mutter. Er fand sie in den kleinsten Gegenständen, die er auflas, in Gewohnheiten, die ihm plötzlich fehlten. Das wurde ihm zu einer beständigen Plage, aber er sprach nicht davon, ein unstetes Schamgefühl ließ ihn die stündlichen Qualen, die beständige Unterhaltung mit der Toten verbergen. Da er sogar den Namen derjenigen auszusprechen vermied, von der er heimgesucht wurde, hätte man glauben können, daß bereits ein Vergessen eingetreten sei, daß er nicht mehr an sie dachte, während doch kein Augenblick verstrich, wo er nicht im Herzen das schmerzliche Zucken einer Erinnerung gefühlt hätte. Nur der Blick seiner Base durchschaute ihn. Dann wagte er zu lügen, er versicherte, seine Lampe bereits um Mitternacht ausgelöscht zu haben, behauptete, in eine Arbeit vertieft gewesen zu sein, und war sogleich aufgebracht, wenn man weitere Fragen an ihn stellte. Sein Zimmer war seine Zuflucht; er stieg dort hinauf, um sich seinen Gedanken hinzugeben. Er fühlte sich ruhiger in diesem Winkel, in dem er aufgewachsen war, weil er dort nicht das Geheimnis seines Leidens den anderen preiszugeben fürchten mußte.

Von den ersten Tagen an hatte er wohl versucht auszugehen und seine langen Spaziergänge wieder aufzunehmen. Zum mindesten wäre er dann der plumpen Schweigsamkeit der Magd und dem peinlichen Anblick seines niedergeschlagen im Lehnstuhl sitzenden Vaters entgangen, der nicht wußte, was für Zerstreuung er seinen zehn Fingern verschaffen sollte. Aber er hatte eine unbesiegbare Abneigung vor diesen Gängen bekommen, er langweilte sich draußen bis zum Ekel. Dieses Meer mit seinem ewigen Geschaukel, seiner Flut, deren mächtige Wogen zweimal täglich gegen den Strand schlugen, ärgerte ihn wie eine törichte, seinem Schmerze fremde Gewalt, die bereits seit Jahrhunderten die nämlichen Steine abnutzte, ohne je über einen menschlichen Tod geweint zu haben. Es war zu groß, zu kalt, und er beeilte sich heimzukehren, sich einzuschließen, um sich weniger klein, weniger zu Boden gedrückt zu fühlen als zwischen der Unendlichkeit des Himmels. Eine einzige Stätte zog ihn an, der die Kirche umgebende kleine Friedhof. Seine Mutter war zwar nicht dort zu finden, aber er dachte dort an sie, dort beruhigte er sich wunderbar trotz seines Entsetzens vor dem Nichts. Die Gräber schlummerten dort unter dem Rasen, der Taxus war unter dem Schutze des Kirchenschiffes emporgeschossen, man vernahm nur das Pfeifen der vom Seewind geschaukelten Wettervögel. Er vergaß sich dort stundenlang, ohne auch nur die Namen der alten Toten zu lesen, welche die Regengüsse von den Grabsteinen verwischt hatten.

Hätte Lazare wenigstens noch den Glauben an die andere Welt besessen, hätte er wenigstens glauben können, daß man die Seinen jenseits der schwarzen Mauer wiedersehen werde. Aber selbst dieser Trost fehlte ihm, er war zu sehr von dem persönlichen Ende des Seins überzeugt, man starb und verlor sich in die Ewigkeit des Lebens. Es gab eine verkappte Auflehnung in seinem Ich, das nicht enden wollte. Welche Freude, anderswo unter den Sternen ein neues Dasein mit seinen Eltern und Freunden zu beginnen! Wie süß mußte es den Todeskampf machen, wenn man wußte, daß man sich mit den verlorenen Lieben wieder vereinigen werde, wie es bei der Begegnung Küsse regnen werde; wie zufrieden und heiter werde man in gemeinsamer Unsterblichkeit von neuem zu leben beginnen! Er rang mit dem Tode angesichts dieser barmherzigen Lüge der Religionen, deren Mitleid den Schwachen die entsetzliche Wahrheit verbirgt. Nein, alles starb mit dem Tode, keine unserer liebevollen Empfindungen erstand wieder, das Lebewohl war auf ewig gesprochen. Niemals, niemals! Das war das fürchterliche Wort, das seinen Geist in den Wirbel der Leere entführte!

Als Lazare eines Morgens im Schatten der Taxusbäume stehen geblieben war, bemerkte er den Abbé Horteur in seinem Gemüsegarten, der nur durch eine niedrige Mauer von dem Friedhofe getrennt war. Mit einer alten grauen Bluse und Holzschuhen angetan, grub der Priester eigenhändig ein Kohlbeet um; und mit seinem von der scharfen Meeresluft gegerbten Gesicht, dem sonnverbrannten Nacken sah er einem alten, über die harte Erde gebeugten Bauer ähnlich. Kaum bezahlt, ohne gelegentliche Einnahmen in diesem verlorenen Kirchspiel, würde er vor Hunger gestorben sein, wenn er sich nicht etwas Gemüse gezogen hätte. Sein bißchen Geld ging für Almosen auf, er lebte allein, von einem kleinen Mädchen bedient und oft genötigt, seinen Suppentopf selbst auf das Feuer zu stellen. Um das Maß seines Mißgeschickes voll zu machen, war der Boden auf diesem Felsen nichts wert; der Wind verdorrte ihm seine Salatstauden, es war wirklich kein Entgelt, sich mit dem Gestein herumzuschlagen, um klägliche Zwiebeln zu ernten. Trotzdem verbarg er sich, wenn er seine Bluse anzog und zwar aus Furcht, daß man darüber die Religion verspotten könne. Lazare wollte sich deshalb zurückziehen, als er ihn eine Pfeife aus der Tasche nehmen, sie mit dem Daumen kräftig stopfen und mit einem lauten Schmatzen seiner Lippen anzünden sah. Eben als der Abbe selig die ersten Züge schmauchte, bemerkte er seinerseits den jungen Mann. Er machte eine hastige Bewegung, um die Pfeife zu verbergen, dann begann er jedoch zu lächeln und rief:

»Sie schöpfen Luft ... Treten Sie näher und sehen Sie sich meinen Garten an.«

Als Lazare neben ihm stand, fügte er heiter hinzu:

»Nicht wahr! Sie ertappen mich bei einer Ausschweifung ... Ich kenne aber nur die eine, mein Freund, und Gott fühlt sich dadurch gewiß nicht beleidigt.«

Von da an rauchte er geräuschvoll weiter und nahm die Pfeife nur aus dem Munde, um einige kurze Sätze hinzuwerfen. So war der Pfarrer von Verchemont sein steter Gedanke. Ein glücklicher Mann, der einen herrlichen Garten hatte, einen guten Boden, in dem alles gedieh. Wie schlecht es auch stehen mochte, jener Pfarrer machte nicht einen einzigen Strich mit der Egge. Dann klagte er über seine Kartoffeln, sie fielen seit zwei Jahren ab, obgleich die Erde ihnen wohl bekommen mußte.

»Wenn ich Ihnen nicht lästig falle,« sagte Lazare zu ihm, »bleiben Sie nur ruhig bei Ihrer Arbeit.«

Der Abbé griff sofort wieder zum Spaten.

»Ich möchte wohl. Aber die Schlingel kommen bald zum Katechismus, und ich möchte vorher das Beet fertig haben.«

Lazare hatte sich auf eine Granitbank niedergelassen, einen alten Grabstein, der an die kleine Kirchhofsmauer gelehnt war. Er schaute zu, wie der Abbé sich mit den Schiefern herumschlug, er hörte ihn mit der scharfen Stimme eines alten Kindes plaudern; und ein heißes Verlangen erfaßte ihn, so arm und so einfach wie der Mann zu sein mit leerem Schädel und ruhigem Fleische. Man hielt den braven Alten zweifellos für eine große Unschuld an Geist, denn sonst hätte ihn das Bistum gewiß nicht auf dieser elenden Pfarre alt werden lassen. Übrigens gehörte er zu jenen, die sich nie beklagten, und deren Ehrgeiz befriedigt war, wenn sie nur Brot zu essen und Wasser zu trinken hatten.

»Es ist nicht gerade besonders angenehm, unter diesen Kreuzen zu leben«, dachte der junge Mann laut.

Der Abbé hielt erstaunt inne.

»Wie, nicht angenehm?«

»Ja, man hat den Tod beständig vor Augen und muß Nachts davon träumen.«

Er nahm die Pfeife aus dem Munde und spie tüchtig aus.

»Ich denke nie daran. Wir sind alle in Gottes Hand.«

Er nahm seinen Spaten wieder vor und versenkte ihn mit einem Tritt des Absatzes in den Boden. Sein Glaube bewahrte ihn vor Furcht; er ging nicht über den Katechismus hinaus: man sterbe und gehe zum Himmel ein, nichts sei einfacher und beruhigender. Er lächelte etwas von oben herab. Der fixe Gedanke an das Heil füllte seinen engen Schädel völlig aus.

Von jenem Tage an ging Lazare beinahe jeden Morgen in den Gemüsegarten des Pfarrers. Er setzte sich auf den alten Stein, verlor sich in den Anblick des seinen Gemüsegarten bearbeitenden Geistlichen und beruhigte sich für einen Augenblick angesichts dieser blinden Unschuld, die vom Tode lebte, ohne einen Schauer vor diesem zu empfinden. Warum konnte nicht auch er wieder zum Kinde werden wie dieser Greis? In ihm lebte die geheime Hoffnung, den entschwundenen Glauben in diesen Unterhaltungen mit einem schlichten Kopfe wieder erwachen zu sehen, dessen ruhige Unwissenheit ihn entzückte. Er brachte sich auch eine Pfeife mit, sie rauchten zusammen und plauderten über die Schmerlen, die den Salat fraßen oder über den zu teuren Dünger; der Priester sprach selten von Gott, denn ihn sparte er sich in seiner Duldsamkeit und in seiner Erfahrung als alter Beichtvater für sein persönliches Seelenheil auf. Die anderen gingen ihren Angelegenheiten nach, er den seinen. Nach dreißigjährigen nutzlosen Belehrungen hielt er sich genau an sein Amt mit der wohlgeordneten Barmherzigkeit des Bauern, der bei sich selbst den Anfang macht. Es war sehr liebenswürdig von dem jungen Manne, täglich so bei ihm einzutreten, und da er ihn nicht quälen, noch gegen seine Pariser Anschauungen kämpfen wollte, hielt er ihn lieber mit unendlichen Gesprächen in seinem Garten auf, während der Jüngling, dem der Kopf von dem unnützen Geschäft brummte, sich manchmal dem glücklichen Alter der Unwissenheit wieder nahe glaubte, in dem man keine Furcht empfindet.

Aber die Morgen folgten aufeinander, und des Abends fand sich Lazare in seinem Zimmer mit den Erinnerungen an seine Mutter wieder, ohne den Mut zum Auslöschen der Lampe zu haben. Der Glaube war tot. Eines Tages rauchte er mit dem Abbé Horteur, beide saßen auf der Bank; plötzlich ließ der letztere bei einem Geräusch von Schritten hinter den Birnenbäumen seine Pfeife verschwinden. Es war Pauline, die ihren Vetter holen kam.

»Der Doktor ist hier«, erklärte sie, »und ich habe ihn zum Frühstück eingeladen! ... Du kommst gleich heim, nicht wahr?«

Sie lächelte, denn sie hatte die Pfeife unter der Bluse des Abbé bemerkt. Dieser zog sie mit dem Lachen sofort wieder hervor, das er stets aufsteckte, wenn man ihn rauchen sah.

»Das ist zu dumm,« sagte er, »man könnte glauben, ich beginge ein Verbrechen ... Warten Sie, ich werde sie gleich vor Ihnen wieder in Brand setzen.«

»Wissen Sie, Herr Pfarrer,« rief Pauline heiter, »Sie frühstücken bei uns mit dem Doktor, dann können Sie die Pfeife zum Nachtisch rauchen.«

»Gut, ich nehme an ... Gehen Sie voraus, ich will nur meine Sutane anziehen. Ich bringe meine Pfeife mit, auf Ehrenwort!«

Das war das erste Frühstück, bei dem man wieder ein Lachen im Speisezimmer vernahm. Beim Nachtisch rauchte der Abbé Horteur, was die Gesellschaft sehr belustigte; er leistete sich dieses Geschenk, aber mit solcher Treuherzigkeit, daß es sogleich als etwas Natürliches erschien. Chanteau hatte sehr viel gegessen und reckte sich, erleichtert von diesem Hauche des Lebens, der wieder in das Haus drang. Doktor Cazenove erzählte Geschichten von Wilden, während Pauline vor Glück über diesen Lärm strahlte, der Lazare vielleicht aus seiner düsteren Stimmung riß und ihn zerstreute.

Von da ab wollte das junge Mädchen die sonnabendlichen Mahlzeiten, die durch den Tod der Tante unterbrochen waren, wieder aufnehmen. Pfarrer und Doktor kamen regelmäßig, das Leben von ehemals begann von neuem. Man scherzte, der Witwer klopfte sich auf die Beine und versicherte, daß er ohne diese verdammte Gicht noch tanzen werde, so heiter sei noch sein Gemüt. Nur der Sohn war mit seinen Gedanken anderswo; wenn er sprach, geschah es mit einer sichtbar krankhaften Erregung; ein jähes Erzittern befiel ihn inmitten seines Schwalles von Worten.

An einem Sonnabend war man gerade beim Braten angelangt, als der Abbé Horteur zu einem Sterbenden abgerufen wurde. Er leerte sein Glas nicht und ging, ohne auf den Doktor zu hören, der den Kranken noch besucht hatte, ehe er zu Tische gekommen war und ihm jetzt nachrief, daß er seinen Mann bereits tot vorfinden werde. An diesem Abend hatte sich der Priester von so armseligem Geiste gezeigt, daß Chanteau selbst hinter seinem Rücken erklärte:

»Es gibt Tage, wo er nicht sehr gescheit ist.«

»Ich möchte an seiner Stelle sein«, sagte Lazare rauh. »Er ist glücklicher als wir.«

Der Doktor begann zu lachen.

»Vielleicht! Auch Mathieu und Minouche sind glücklicher als wir. Daran erkenne ich unsere jungen Leute von heutzutage, die an den Wissenschaften genascht haben und krank sind, weil sie damit ihre alten, mit der Muttermilch eingesogenen Gedanken vom Absoluten nicht befriedigen konnten. Ihr möchtet in der Wissenschaft mit einem Schlage und in Bausch und Bogen alle Wahrheiten finden, die wir kaum enträtseln, da sie zweifelsohne nie etwas anderes als eine ewige Untersuchung bleiben werden. Dann verleugnet ihr sie, werft euch auf den Glauben, der nichts mehr von euch wissen will und verfallet in den Pessimismus ... Ja, das ist die Krankheit der Jahrhundertneige; ihr seid wiedergekommene Werther.«

Er erwärmte sich, das war sein Lieblingssatz. Bei ihren Verhandlungen übertrieb Lazare seinerseits die Verneinung jeder Gewißheit, seinen Glauben an das allgemeine Endübel.

»Wir leben,« fragte er, »wenn einem zu jeder Stunde die Dinge unter den Füßen krachen?«

Der Greis nahm einen Anlauf zu jugendlichem Eifer.

»Aber so leben Sie doch! Ist es nicht genug, daß man lebt? Die Freude besteht in der Tätigkeit.«

Er wandte sich plötzlich an Pauline, die lächelnd zuhörte.

»Sagen Sie ihm doch, wie Sie es anfangen, immer zufrieden zu sein.«

»Ich,« antwortete sie in scherzhaftem Tone, »ich versuche zu vergessen, aus Furcht traurig zu werden, und denke an die anderen, was mich beschäftigt und jedes Übel mit Geduld hinnehmen läßt.«

Diese Antwort schien Lazare aufzubringen, der aus Bedürfnis nach einem boshaften Widerspruche behauptete, daß die Frauen Religion haben müssen. Er stellte sich, als begreife er nicht, warum sie so lange nicht mehr gebeichtet habe. Sie gab mit ihrer friedfertigen Miene ihre Gründe dafür an.

»Das ist sehr einfach, die Beichte hat mich verletzt; ich meine, viele Frauen fühlen wie ich ... Sodann ist es mir unmöglich, an Dinge zu glauben, die mir unvernünftig scheinen. Wozu lügen, wozu ihr Gutheißen heucheln? ... Außerdem beunruhigt mich das Unbekannte nicht, es kann nicht anders als logisch sein; das Beste ist: so vernünftig wie möglich abwarten.«

»Schweigt, da kommt der Abbé«, unterbrach sie Chanteau, den die Unterhaltung langweilte.

Der Mann war gestorben, der Abbé beendete ruhig seine Mahlzeit, und man trank ein Gläschen Chartreuse.

Pauline stand jetzt mit der heiteren Würde einer guten Hausfrau der Wirtschaft vor. Die Einkäufe, die geringfügigsten Kleinigkeiten wurden von ihr in Augenschein genommen, und das Schlüsselbund rasselte an ihrem Gürtel. Es hatte sich ganz natürlich gemacht, ohne daß Veronika ärgerlich darüber zu sein schien. Seit dem Tode Frau Chanteaus blieb die Magd indessen mürrisch und wie verdummt. Etwas Neues schien sich in ihr zu vollziehen, eine Wiederkehr der Zuneigung für die Tote, während sie zu Pauline von einer mißtrauischen Widerwärtigkeit war. Jene redete ihr umsonst freundlich zu; ein Wort genügte, sie zu beleidigen, und man hörte sie dann sich ganz allein in ihrer Küche darüber beklagen. Wenn sie nach langem, eigensinnigem Schweigen mit lauter Stimme dachte, kam jedesmal das Entsetzen vor der Katastrophe wieder zum Vorschein. Wußte sie, daß die Frau sterben sollte? Sicher nicht, sonst würde sie es nie gesagt haben, was sie geäußert hatte. Gerechtigkeit vor allem, man dürfe nicht die Leute töten, selbst wenn sie Fehler hätten. Schließlich wusch sie sich ihre Hände rein, desto schlimmer für die Person, welche die wahre Ursache des Unglücks war! Aber diese Versicherung beruhigte sie nicht; sie fuhr fort, zu brummen und sich gegen ihr eingebildetes Vergehen zu wehren.

»Wozu plagst du dir das Hirn eigentlich so?« fragte Pauline eines Tages. »Wir haben unser Möglichstes getan, gegen den Tod vermag man nichts.«

Veronika schüttelte den Kopf.

»Lassen Sie, man stirbt nicht so ohne weiteres ... Die Frau war, was sie war, aber sie hatte mich, als ich noch ganz klein war, zu sich genommen, und ich würde mir die Zunge abschneiden, wenn ich dächte, daß ich mit irgend etwas in ihre Geschichte verwickelt wäre. Sprechen wir nicht mehr davon, es würde schlecht enden.«

Das Wort Heirat war zwischen Pauline und Lazare nicht mehr ausgesprochen worden. Chanteau, an dessen Seite sich das junge Mädchen mit seiner Näharbeit niedergelassen hatte, um seine Langeweile zu vermindern, hatte einmal eine Anspielung gewagt; er wollte jetzt, wo das Hindernis beseitigt, damit zu Ende kommen. Bei ihm war besonders das Bedürfnis, sie bei sich zu behalten, ausschlaggebend; ihn packte das Entsetzen, wieder in die Hände der Magd zu fallen, wenn er sie verlor. Pauline hatte zu verstehen gegeben, daß vor Ablauf der tiefen Trauer nichts entschieden werden könne. Nicht nur die Schicklichkeit allein gab ihr dieses Wort ein, sondern sie erhoffte von der Zeit eine Antwort auf eine Frage, die sie nicht einmal an sich selbst zu richten wagte. Ein so jäher Tod, dieser entsetzliche Schlag, von dem sie und ihr Vetter erschüttert blieben, hatte eine Art Waffenstillstand in ihrer tief verletzten Liebe hervorgerufen. Sie erwachten langsam und litten noch immer, da sie in dem unwiderbringlichen Verlust ihr eigenes Drama wiederfanden: Luise überrascht und fortgejagt, ihre zerstörte Liebe, ihr vielleicht verändertes Leben. Wozu sich jetzt entscheiden? Liebten sie sich noch immer, war die Heirat möglich und vernünftig? Das wogte in der Betäubung, in welcher sie die Katastrophe gelassen, auf und nieder, ohne daß die eine oder der andere ungeduldig eine Lösung vom Zaune brechen zu wollen schien.

Indessen hatte sich bei Pauline die Erinnerung an den erlittenen Schimpf gemildert. Sie hatte schon lange vergeben und war bereit, an dem Tage, an dem er bereuen würde, beide Hände in die seinen zu legen. Es sprach nicht in ihr der eifersüchtige Triumph, ihn gedemütigt zu sehen, sie dachte allein an ihn, so sehr, daß sie bereit war, ihm sein Wort zurückzugeben, falls er sie nicht mehr liebte. Ihre ganze Angst lag in diesem Zweifel: dachte er noch an Luise oder hatte er sie vergessen, um zu den alten Neigungen der Kindheit zurückzukehren? Wenn sie so davon träumte, eher auf Lazare zu verzichten als ihn unglücklich zu machen, unterlag ihr Wesen dennoch dem Schmerze; sie rechnete wohl darauf, den Mut zu haben, aber sie hoffte nachher auch daran zu sterben.

Seit dem Tode ihrer Tante war ihr ein großmütiger Gedanke gekommen, sie hatte geplant, sich mit Luise zu versöhnen. Chanteau konnte ihr schreiben, sie selbst wollte dem Brief ein Wort der Vergebung beifügen. Man war so allein, so traurig, daß die Anwesenheit dieses großen Kindes eine Zerstreuung für alle sein werde. Nach einer so schmerzlichen Erschütterung schien die Vergangenheit alt; sie empfand auch Gewissensbisse über ihre Heftigkeit. Jedesmal aber, wenn sie mit ihrem Onkel davon sprechen wollte, hielt ein Widerwille sie zurück. Hieß es nicht die Zukunft wagen, Lazare versuchen und ihn verlieren? Vielleicht hätte sie dennoch den Heldenmut und den Stolz gefunden, ihn diesem Versuche zu unterwerfen, wenn sich nicht in ihr der Gedanke an die Gerechtigkeit empört hätte. Der Verrat allein war unverzeihlich. Sollte sie nicht genügen, den Frohsinn wieder an das Haus zu fesseln? Warum eine Fremde herbeirufen, wenn sie selbst von Zärtlichkeit und Ergebung überströmte? Ihr unbewußt lag ein Stolz in ihrer Selbstverleugnung, sie verspürte eine eifersüchtige Barmherzigkeit. Ihr Herz flammte auf bei der Hoffnung, das einzige Glück der Ihren zu sein.

Von da ab war dies Paulinens Hauptstreben. Sie bemühte sich, das Haus um sie her glücklich zu machen. Sie hatte noch nie eine solche Tapferkeit in der fröhlichen Laune und Güte gezeigt. Das war jeden Morgen ein lächelndes Erwachen, eine Sorge um die Verheimlichung des eigenen Elends, um nicht mit ihm das der anderen zu erhöhen. Sie bot den Katastrophen Trotz mit ihrer Sanftmut zu leben, sie trug eine Gleichmut des Charakters zur Schau, der selbst das Übelwollen entwaffnete. Jetzt ging es ihr gut, sie war stark und gesund wie ein junger Baum und die Freude, die sie um sich her verbreitete, war der Strahlenglanz ihrer Gesundheit selbst. Der Beginn jedes neuen Tages entzückte sie, es machte ihr Vergnügen, das wieder zu tun, was sie am Tage vorher getan hatte, sie erwartete nichts mehr, sie hoffte auf das Morgen ohne Fieber. Veronika, die phantastisch geworden und von unerklärlichen Launen gequält wurde, brummte wohl vor ihrem Herde; ein neues Leben verjagte die Trauer aus dem Hause, das Lachen von ehemals erwachte wieder in den Zimmern und stieg in heiterem Schall die Treppe empor. Besonders entzückt davon erschien der Onkel, die Traurigkeit war ihm immer lästig gewesen, er trieb gern frohen Scherz, seitdem er den Lehnstuhl nicht mehr verlassen konnte. Für ihn wurde das Dasein unerträglich, und er klammerte sich daran mit der Heftigkeit eines Kranken, der selbst im Schmerze fortleben will. Jeder überlebte Tag war ein Sieg für ihn, seine Nichte schien das Haus mit einem guten Sonnenschein zu durchwärmen, in dessen Strahlen er nicht sterben konnte.

Pauline hatte dennoch einen Kummer: Lazare entzog sich ihren Tröstungen. Es beunruhigte sie, als sie ihn in seine düstere Stimmung verfallen sah. In der Tiefe der Trauer um seine Mutter erwachte in ihm auch das Entsetzen vor dem Tode. Seitdem die Zeit den ersten Kummer verwischt, tauchte dieses Entsetzen, durch die Furcht vor dem ererbten Leiden vergrößert, wieder auf. Auch er werde einst an einem Herzübel sterben; er gab sich der Gewißheit eines nahen und traurigen Endes hin. Und er hörte sich alle Augenblicke in einer solchen nervösen Erregtheit leben, daß er das Räderwerk der Maschine gehen hörte: es waren schmerzhafte Magenkrämpfe, rote Ausscheidungen der Nieren, dumpfe Hitzanfälle der Leber; doch mehr als durch die anderen Organe wurde er durch sein Herz betäubt, das sich mit seinen Schlägen in jedem seiner Gliedmaßen bis in die Fingerspitzen hinein vernehmbar machte. Wenn er den Ellbogen auf einen Tisch stützte, klopfte sein Herz im Ellbogen; lehnte er sein Genick an den Rücken eines Lehnstuhls, so klopfte sein Herz im Genick; wenn er sich setzte, wenn er sich niederlegte, schlug sein Herz in seinen Schenkeln, seinen Seiten, seinem Bauche; und dieses Gesumme brummte immer und immer, es maß sein Leben mit dem Gerassel einer ablaufenden Uhr. Unter der fortwährenden Plage des Studiums an seinem Körper glaubte er, daß jeden Augenblick alles in ihm zerberste, daß die Organe sich abnutzten und in Stücke fliegen würden, daß das ungeheuerlich angeschwollene Herz selbst mit mächtigen Hammerschlägen die Maschine sprengen werde. Das war nicht mehr Leben, sich so leben zu hören und in Erwartung des Sandkornes, das es vernichten werde, vor der Zerbrechlichkeit eines Mechanismus zu zittern.

Die Beklemmungen Lazares nahmen denn auch immer mehr zu. Schon seit Jahren streifte der Gedanke an den Tod beim Schlafengehen eisig über sein Gesicht und machte seinen Leib starr. Jetzt wagte er nicht einzuschlafen aus Furcht, daß er nicht wieder aufwache. Er haßte den Schlaf, er empfand Entsetzen vor der Ohnmacht seines Wesens, wenn er vom Wachen in den Strudel des Nichts versank. Sein plötzliches Erwachen erschütterte ihn noch mehr, denn es zog ihn aus der Finsternis, als habe ihn eine Riesenfaust bei den Haaren gepackt und in das Leben zurückgeschleudert mit dem stammelnden Entsetzen vor dem Unbekannten, aus dem er hervorgegangen. Mein Gott! Mein Gott! Es mußte gestorben sein; und noch nie hatten sich seine Hände zu einem solchen Ausbruche der Verzweiflung gefaltet. Jeden Abend wurde seine Qual derartig, daß er vorzog, nicht zu Bette zu gehen. Er hatte bemerkt, daß er ohne Erschütterung friedlich wie ein Kind schlief, wenn er sich tagsüber auf einem Sofa ausstreckte. Da war eine erquickende Ruhe, ein bleierner Schlummer; unglücklicherweise verdarben sie seine Nächte vollends. Nach und nach brachte er es zu regelrechter Schlaflosigkeit, weil er dem langen Nachmittagsschlaf den Vorzug gab und erst des Morgens einschlummerte, wenn die Morgenröte bereits die Furcht vor der Finsternis verscheuchte.

Aber es traten auch Pausen ein. Lazare wurde manchmal zwei oder drei Abende lang nicht vom Tode besucht. Eines Tages fand Pauline einen Kalender bei ihm voller Rotstiftstriche. Sie fragte ihn erstaunt.

»Was zeichnest du dir denn so auf? ... Das sind ja angestrichene Daten!«

Er stammelte:

»Ich vermerke mir nichts ... Ich weiß nicht ...«

Sie fuhr heiter fort:

»Ich glaubte, daß nur die jungen Mädchen den Kalendern Dinge anvertrauen, die man niemandem sagt ... Wenn du an allen diesen Tagen an uns denkst, bist du ja außerordentlich liebenswürdig ... Du hast Geheimnisse.«

Als er jedoch immer verwirrter wurde, hatte sie die Barmherzigkeit zu schweigen. Über die erbleichte Stirn des jungen Mannes sah sie einen ihr bekannten Schatten huschen, das verborgene Leiden, von dem sie ihn nicht zu heilen vermochte.

Seit einiger Zeit setzte er sie durch eine neue Sucht in Staunen. In der Gewißheit seines nahen Endes verließ er kein Zimmer, schloß er kein Buch, bediente er sich keines Gegenstandes, ohne zu glauben, daß dies seine letzte Handlung sei, daß er weder den Gegenstand noch das Buch und das Zimmer wiedersehen werde, und er hatte daher die Gewohnheit eines beständigen Abschiednehmens von. den Dingen angenommen, ein krankhaftes Bedürfnis, die Gegenstände noch einmal in die Hand zu nehmen, sie noch einmal wiederzusehen. Diese Angewohnheit mischte sich mit gewissen entsprechenden Gewohnheiten: drei Schritte nach links und drei nach rechts, die Möbel zu beiden Seiten eines Kamins oder einer Tür, ein jedes gleichmäßig oft berührt; ohne seiner jüngsten abergläubischen Vorstellung zu gedenken, daß eine gewisse Zahl von Berührungen, auf eine besondere Art verteilt, verhindere, daß der Abschied endgültig sei. Trotz seines lebhaften Geistes, seiner Verneinung alles Übernatürlichen, übte er diesen Blödsinn mit tierischer Fügsamkeit aus und verheimlichte sie wie eine schimpfliche Krankheit. Das war die Rache der nervösen Zerrüttung bei dem Pessimisten und dem Positivisten, der einzig an die Tatsache, an die Erfahrung zu glauben erklärte. Er wurde infolgedessen unerträglich.

»Was hast du nur herumzutrampeln?« rief Pauline. »Du gehst jetzt schon zum dritten Mal an diesen Schrank, um seinen Schlüssel zu berühren ... Er fliegt nicht davon.«

Abends war er nicht aus dem Eßzimmer herauszubringen, er stellte die Stühle nach einer bestimmten Ordnung, ließ die Tür eine gewisse Zahl zuschlagen, kehrte dann zurück, um erst die rechte, dann die linke Hand auf das Meisterstück seines Großvaters zu legen. Sie erwartete ihn an der Treppe und lachte schließlich:

»Was für ein Narr wirst du mit achtzig Jahren sein! ... Ich frage dich nur, ist es vernünftig, die Sachen so zu quälen? ...«

Mit der Länge der Zeit hörte sie auf, ihn zu necken, sein Unbehagen beunruhigte sie. Eines Morgens überraschte sie ihn dabei, wie er siebenmal das Holz des Bettes küßte, in dem seine Mutter gestorben war; sie erschrak gewaltig, denn sie erriet die Qualen, die ihm das Dasein vergifteten. Erbleichte er, wenn er in einer Zeitung ein zukünftiges Datum aus dem zwanzigsten Jahrhundert fand, so sah sie ihn mit ihrer mitleidigen Miene an, was ihn den Kopf umwenden ließ. Er fühlte sich verstanden, er eilte in sein Zimmer, um sich da zu verbergen mit der wirren Schamhaftigkeit einer Frau, die man in ihrer Nacktheit überrascht hatte. Wie oft schon hatte er sich der Feigheit angeklagt. Wie oft schon hatte er sich zugeschworen, gegen sein Leiden zu kämpfen! Er wollte Vernunft annehmen: dem Tode ins Antlitz schauen; um ihm zu trotzen, streckte er sich sofort auf seinem Bette aus, anstatt im Lehnstuhle zu wachen. Der Tod konnte kommen, er wartete auf ihn wie auf eine Erlösung. Aber ebenso schnell entführten die Schläge seines Herzens seine Schwüre, ein kalter Hauch ließ sein Fleisch zu Eis erstarren, er streckte mit dem Schrei: »Mein Gott! Mein Gott!« die Hände aus. Das waren schauderhafte. Rückfälle, die ihn mit Scham und Verzweiflung erfüllten. Das zärtliche Mitleid seiner Base drückte ihn jetzt vollends zu Boden. Die Tage wurden so schwer, daß er sie ohne die Hoffnung begann, ihr Ende zu erleben. Bei dieser Zerbröckelung seines Seins hatte er zuerst die Heiterkeit verloren, und jetzt verließ ihn auch seine Kraft.

Pauline wollte indes im Stolze ihrer Selbstverleugnung siegen. Sie kannte das Leiden, sie versuchte Lazare den Mut wiederzugeben, indem sie ihm Liebe zum Leben einflößte. Ihre Güte aber erlitt dabei einen beständigen Mißerfolg. Zuerst hatte sie beabsichtigt, ihn offen anzugreifen; sie begann mit ihren alten Neckereien über: »dieses häßliche Tier von Pessimismus«. Wie? War sie es jetzt, die dein großen Heiligen Schopenhauer die Messe sang, während er, wie alle diese Hanswürste von Pessimisten gern zustimmte, daß die Welt mit einer Bombe in die Luft gesprengt werden müsse, aber sich durchaus weigerte, bei dem Tanze zu sein? Bei diesen Neckereien schüttelte er sich in einem erzwungenen Lachen und er schien so darunter zu leiden, daß sie nicht wieder davon anfing. Später versuchte sie es mit Tröstungen, wie man die kleinen Leiden der Kinder zu stillen pflegt; sie bemühte sich, ihm eine liebenswürdige Umgebung, einen heiteren Frieden zu verschaffen. Er sah sie immer vergnügt, frisch, voller Freude am Leben. Das Haus war voller Sonnenschein. Er hätte nichts anderes tun brauchen, als sein Leben zu genießen, und er konnte es nicht; dieses Glück verschlimmerte sein Entsetzen vor dem Jenseitsnochmehr. Endlich gebrauchte sie eine List, sie träumte davon, ihn in eine große Arbeit zu schleudern, die ihn betäuben würde. Krank von Müßiggang, ohne Geschmack an irgend etwas, fand er sogar das Lesen zu mühselig, und verbrachte daher seine Tage damit, sich in seinem Jammer zu verzehren.

Einen Augenblick lang hoffte Pauline. Sie hatten einen kurzen Spaziergang am Strande gemacht, und Lazare ihr angesichts der Trümmer des Bollwerkes, von dem noch einige Balken übrig geblieben waren, ein neues Verteidigungssystem auseinandergesetzt und zwar von einer sicheren Widerstandsfähigkeit, wie er versicherte. Das Übel rührte von der Schwäche der Stützbalken her; man müsse ihre Stärke verdoppeln und dem Mittelbalken eine größere Senkung geben. Da seine Stimme erzitterte, seine Augen wie ehemals leuchteten, drängte sie ihn zum Werk. Das Dorf litt, jede Flut schwemmte ein Stück fort; wenn er zum Präfekten gehe, werde er ganz gewiß den Zuschuß erhalten. Außerdem bot sie ihm von neuem Vorschüsse an; es sei ein nach ihrer Meinung rühmliches Werk der Barmherzigkeit. Ihr besonderer Wunsch war, ihn zur Tätigkeit zurückzuführen, sollte sie auch den Rest ihres Geldes dabei verlieren. Aber schon zuckte er die Schultern. Wozu? Er war bleich geworden, denn der Gedanke war ihm gekommen, daß er, beginne er diese Arbeit auch, sterben werde, ohne sie beendet zu haben. Um seine Verwirrung zu verbergen, beschwor er sogar seinen Groll gegen die Fischer von Bonneville wieder herauf.

»Spitzbuben, die sich über mich lustig gemacht haben, als dieses teuflische Meer unter ihnen aufräumte... Nein, nein, möge es ihnen nur auch das letzte nehmen! Sie sollen nicht mehr über meine Zündhölzer lachen, wie sie sagten.«

Pauline versuchte ihn durch Sanftmut zu beruhigen. Die Leute seien so unglücklich! Seitdem die Flut Houtelards Haus, das festete von allen und drei andere Hütten der Armen fortgerissen hatte, nahm das Elend noch mehr zu. Houtelard, früher der reiche Mann des Dorfes, hatte sich jetzt zwanzig Meter weiter zurück in einem alten Kornspeicher eingerichtet; die anderen Fischer aber, die nicht wußten, wo unterkommen, kampierten jetzt in Hütten, die man aus den Gerippen alter Boote angefertigt hatte. Es war ein jammervolles Elend, ein Leben wie unter den Wilden, wo Frauen und Kinder in Ungeziefer und Lastern verkamen. Die Almosen der Gegend gingen in Schnaps auf. Diese Elenden verkauften die Naturalien, Kleider, Küchengeräte und Möbel, tun sich literweise den schrecklichen Calvados zu kaufen, der sie wie tot vor die Türen hinstreckte. Nur Pauline trat noch immer für sie ein; der Pfarrer ließ sie laufen, Chanteau sprach davon, sein Amt niederzulegen, denn er wollte nicht der Bürgermeister einer Schweineherde sein. Lazare wiederholte, wenn ihn seine Base für dieses vom Unwetter heimgesuchte Säufervolk zu erweichen versuchte, die ewige Redensart seines Vaters:

»Wer zwingt sie, hier zu bleiben?... Sie brauchen sich nur anderswo anzubauen. Man ist doch wahrhaftig nicht so dumm, sich derartig unter den Wogen festzukleben!«

Alle machten dieselbe Bemerkung. Man ärgerte sich und behandelte sie wie verwünschte Querköpfe. Sie nahmen dann die Mienen von mißtrauischen, unvernünftigen Tieren an. Warum sollten sie fortgehen? Sie waren doch hier geboren? Das dauere schon seit hundert und abermals hundert Jahren; sie hätten anderswo nichts zu suchen. Es war eben so, wie Prouane sagte, wenn er getrunken hatte; »von irgend etwas müsse der Mensch schließlich gefressen werden«.

Pauline lächelte, stimmte mit dem Kopfe bei, denn nach ihrer Meinung hing das Glück weder von den Leuten noch von den Dingen ab, sondern von der vernünftigen Art, wie man sich den Leuten und den Dingen anpasse. Sie verdoppelte ihre liebevolle Hilfe, verteilte die reichlichsten Gaben. Endlich hatte sie auch die Freude gehabt, Lazare für ihre Nächstenliebe zu interessieren; sie hoffte, ihn dadurch zu zerstreuen, ihn durch das Mitleid zu einem Vergessen seiner selbst zu führen. Er blieb jeden Sonnabend bei ihr, sie empfingen gemeinsam von vier bis sechs Uhr die kleinen Freunde des Dorfes, die Reihe zerlumpter Kinder, welche die Eltern zum Fräulein betteln schickten. Es war ein Haufe rotznasiger Bengel und kleiner Mädchen voller Ungeziefer.

Eines Sonnabends regnete es, Pauline konnte ihre Verteilung nicht auf der Terrasse vornehmen, wie es sonst ihre Gewohnheit war. Lazare mußte eine Bank holen, die in der Küche aufgestellt wurde.

»Herr Lazare,« schrie Veronika, »will das Fräulein vielleicht dieses Lausezeug hier hereinbringen?... Das ist ja ein netter Gedanke; meinetwegen, wenn Sie durchaus Tiere in Ihrer Suppe finden wollen...«

Das junge Mädchen kam mit ihrer Tasche voll Silbermünzen und dem Medizinkasten. Sie antwortete lachend:

»Was da! Du kehrst nachher ein bißchen auf... Außerdem regnet es so stark, daß der Guß die armen Kleinen gehörig abgewaschen hat.«

In der Tat hatten die ersten, die kamen, ein rosiges, vom Platzregen gewaschenes Gesicht. Aber sie waren so durchnäßt, daß von ihren Lumpen Fluten auf die Fliesen strömten, und die üble Laune der Magd nahm noch zu, als ihr das Fräulein befahl, ein Bündel Reisig anzustecken, um sie ein wenig zu trocknen. Man trug die Bank vor den Herd. Bald saß da eine Schar fröstelnd aneinandergedrängter, frecher, heimtückischer Rangen, die mit den Augen das Umherliegende verschlangen, angegriffene Liter Wein, einen Fleischrest, ein auf einen Block hingeworfenes Bündel Möhren.

»Daß so etwas erlaubt ist,« fuhr Veronika zu brummen fort, »erwachsene Kinder, die schon ihren Lebensunterhalt verdienen müßten!... Sie lassen sich bis zu fünfundzwanzig Jahre wie Bälge behandeln, wenn es Ihnen so paßt.«

Das Fräulein mußte sie bitten, den Mund zu halten.

»Bist du zu Ende?... Wenn sie wachsen, macht sie das noch nicht satt.«

Pauline hatte sich der Bank gegenüber gesetzt, das Geld und die in Natur gegebenen Geschenke vor sich, als Lazare, der stehen geblieben war, zornig wurde, sowie er den Sohn Houtelards unter der Schar bemerkte.

»Ich hatte dir zu kommen verboten, großer Taugenichts... Schämen sich deine Eltern nicht, dich hierher betteln zu schicken? Sie haben doch zu essen, während andere vor Hunger sterben.«

Der Sohn der Houtelard, ein magerer, fünfzehnjähriger, zu schnell aufgeschossener Junge mit einem traurigen, furchtsamen Gesicht, fing an zu weinen.

»Sie schlagen mich, wenn ich nicht gehe. Die Frau hat den Strick genommen, und Vater hat mich hinausgejagt.«

Er schlug den Ärmel in die Höhe, um das blaue Mal eines Schlages mit einem geknoteten Stricke zu zeigen. Die Frau war eine von seinem Vater geheiratete ehemalige Magd, die ihn mit Schlägen fast umbrachte. Seit ihrem Ruin hatten die Härte und der Schmutz ihres Geizes noch zugenommen. Jetzt lebten sie im Schmutz und rächten sich an dem Kleinen. »Lege ihm einen Arnikaumschlag auf den Ellbogen«, sagte Pauline sanft zu Lazare.

Dann reichte sie dem Kinde ein Fünffrankenstück.

»Hier! Gib ihnen das Geld, damit sie dich nicht mehr schlagen. Wenn sie dich dennoch schlagen, wenn am nächsten Sonnabend dein Körper Spuren von Schlägen aufweist, bekommst du nicht einen Heller mehr, sage es ihnen.«

Längs der Bank kicherten die anderen Bälge, durch die Flamme, die ihren Rücken wärmte, heiter gestimmt, und stießen sich mit den Ellbogen in die Seiten. Ihre Kleider dampften, von ihren nackten Füßen fielen dicke Tropfen nieder. Einer von ihnen, ein ganz kleiner Kerl, hatte eine Rübe gestohlen, an der er heimlich knabberte.

»Cuche, stehe auf«, begann Pauline wieder. »Hast du deiner Mutter gesagt, daß ich darauf rechne, bald ihre Aufnahme in das Siechenhaus von Bayeux zu erlangen?«

Frau Cuche, die elende Verlassene, die sich allen Männern für drei Sous oder einen Speckrest in den Löchern des Strandes hingab, hatte sich im Juli ein Bein gebrochen; sie blieb davon verunstaltet, hinkte entsetzlich, ohne daß indessen ihre abstoßende Häßlichkeit, durch dieses Leiden erhöht, sie etwas von ihrer gewohnten Kundschaft einbüßen ließ.

»Ja, ich habe es ihr gesagt«, antwortete der Knabe mit heiterer Stimme. »Sie will nicht.«

Er war kräftig geworden und hatte das siebenzehnte Jahr erreicht. Aufrecht, stehend, mit den Händen schlenkernd, wiegte er sich linkisch hin und her.

»Was! Sie will nicht!« rief Lazare. »Und du nicht minder, du willst auch nicht, denn ich hatte dir gesagt, du solltest in dieser Woche im Gemüsegarten aushelfen, und ich erwarte dich noch.«

Er wiegte sich noch immer. »Ich habe keine Zeit gehabt.«

Als Pauline bemerkte, daß ihr Vetter erregt wurde, legte sie sich ins Mittel.

»Setze dich, wir werden gleich darüber sprechen. Überlege dir die Sache besser, sonst werde ich ebenfalls böse.«

Die kleine Gonin war jetzt an der Reihe. Sie zählte dreizehn Jahre und hatte sich ein rosiges Gesicht unter dem dichten Wulst ihrer blonden Haare bewahrt. Ohne gefragt zu sein, erzählte sie rohe Einzelheiten mit einer Flut geschwätziger Worte, daß ihrem Vater die Lähmung in die Arme und Zunge gefahren sei, und er nur noch ein Grunzen wie ein Tier ausstoßen könnte. Sein Vetter Cuche, der ehemalige Matrose, der ihm die Frau abspenstig gemacht habe, um sich an ihrem Tische und in ihrem Bette einzunisten, habe sich an demselben Morgen auf den Alten geworfen, um ihm den Garaus zu machen.

»Mutter prügelt auch auf ihm herum. Des Nachts steht sie im Hemde mit dem Vetter auf und leert Töpfe kalten Wassers über Vater aus, weil er so laut flennt, das stört sie... Wenn Sie sähen, wie sie ihn zugerichtet haben, er ist ganz nackt, Fräulein, er hat Wäsche nötig, denn er liegt sich durch.«

»Es ist gut, schweige!« unterbrach sie Lazare, während Pauline, mitleidig gestimmt, ein paar Bettücher holen ließ.

Er fand sie für ihr Alter viel zu durchtrieben. Obgleich sie manchmal Ohrfeigen zu kosten bekam, fiel sie nach seiner Meinung manchmal selbst über ihren Vater her; ohne zu rechnen, daß alles, was man ihr an Geld, Fleisch und Wäsche gab, statt an den Kranken zu gelangen, den Schmausereien des Weibes und des Vetters diente. Er fragte sie kurz:

»Was machtest du denn vorgestern in Houtelards Barke mit einem Manne, der das Weite suchte?« Sie lachte naseweis.

»Das war kein Mann, das war der da«, antwortete sie mit dem Kinn eine Bewegung nach dem Sohne der Guche machend... »Er hatte mich von rückwärts gestoßen...«

Er unterbrach sie von neuem.

»Ja, ja, ich habe es wohl gesehen, du hattest deine Lumpen über dem Kopfe. Mit dreizehn Jahren, das fängt früh an.«

Pauline hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt, denn alle anderen Kinder, selbst die jüngsten, blickten mit lachenden Augen auf, in denen schon frühzeitige Laster flammten. Wie die Fäulnis in diesem Haufen aufhalten, in dem Weiber, Männer und deren Kinder verdarben? Als Pauline der Kleinen ein paar Bettücher und einen Liter Wein gegeben hatte, sprach sie einen Augenblick leise mit ihr, sie versuchte ihr Furcht vor den Folgen dieser ekelhaften Dinge einzuflößen, die sie krank und häßlich machen würden, bevor sie noch zum Weibe gereift sei. Das war die einzige Möglichkeit sie in Schranken zu halten.

Um die Austeilung zu beschleunigen, hatte Lazare, den sie auf die Länge abstieß und ärgerte, die Tochter des Prouane zu sich gerufen:

»Deine Eltern haben sich gestern abend wieder betrunken... Man hat mir gesagt, du seist noch berauschter als sie gewesen.«

»O nein, Herr, ich hatte Kopfschmerzen.«

Er stellte einen Teller mit rohen Fleischklößen vor sie hin.

»Iß das.«

Sie war von neuem von den Skrofeln verheert, nervöse Störungen hatten sich in der kritischen Zeit der Mannbarkeit eingestellt. Die Trunksucht verdoppelte das Leiden, denn sie hatte angefangen, mit den Eltern gemeinsam zu trinken. Nachdem sie drei Klöße verschlungen, machte sie mit trotzigem Gesicht eine Bewegung des Widerwillens.

»Ich habe genug, ich kann nicht mehr.«

Pauline hatte eine Flasche ergriffen und sagte:

»Es ist gut, wenn du dein Fleisch nicht issest, bekommst du auch dein Gläschen Chinawein nicht.«

Da überwand das Kind, die glänzenden Augen auf das volle Glas geheftet, seinen Widerwillen; dann leerte sie es und goß es sich mit der flinken Faustbewegung eines echten Trinkers in die Kehle. Aber sie ging noch nicht, sie bettelte das Fräulein an, sie möge ihr die Flasche mitgeben; es ermüde sie zu sehr, alle Tage zu kommen; sie versprach, sich mit der Flasche zu Bett zu legen, sie so gut unter ihren Röcken zu verbergen, daß ihre Eltern ihr den Wein nicht wegtrinken könnten. Das Fräulein schlug es ihr rundheraus ab.

»Damit du sie auf einen Zug austrinkst, bevor du noch an den Strand heruntergekommen bist?« sagte Lazare. »Man traut dir nicht, du kleiner Weinschlauch.«

Die Bank leerte sich, die Kinder verließen sie eines nach dem andern, um Geld, Brot und Fleisch in Empfang zu nehmen. Einige wollten nach Einhändigung ihres Teiles noch ein wenig beim Feuer verweilen, aber Veronika, die bemerkt hatte, daß man ihr das halbe Bündel Rüben verzehrt, schickte sie heim und jagte sie mitleidslos in den Regen hinaus: hatte man je so etwas gesehen! Rüben, die noch voller Erde waren! Bald war nur noch der Sohn der Cuche da mit mürrischem dummen Gesicht in der Erwartung der Strafpredigt des Fräuleins. Sie rief ihn bei Namen, sprach halblaut lange mit ihm, händigte ihm jedoch schließlich wie alle Sonnabende das Fünffrankenstück und das Brot ein; er entfernte sich mit dem Gange eines bösen und störrischen Tieres und dem Versprechen zu arbeiten, aber fest entschlossen, es nicht zu halten. Die Magd stieß endlich einen Seufzer der Erleichterung aus; plötzlich aber schrie sie auf:

»Sie sind doch noch nicht alle fort? Da ist ja noch eine in der Ecke.«

Es war die kleine Tourmal, die Mißgeburt von der Heerstraße, die trotz ihrer zehn Jahre die Gestalt einer Zwergin behielt. Nur ihre Dreistigkeit wuchs, sie wurde noch greinender, noch gieriger, in den Windeln schon auf das Betteln abgerichtet wie die Wunderkinder, denen man für die Purzelbäume im Zirkus die Knochen ausrenkt. Sie hockte zwischen dem Küchenspind und dem Kamin eingepfercht, als habe sie sich aus Furcht, bei etwas Bösem ertappt zu werden, in diesem Schlupfwinkel versteckt.

»Was machst du da?« fragte Pauline.

»Ich wärme mich.«

Veronika schaute sich mit einem unruhigen Blick in der Küche um. An den vorhergehenden Sonnabenden waren, selbst wenn die Kinder auf der Terrasse saßen, unbedeutende Kleinigkeiten verschwunden. Es schien aber heute alles in Ordnung, und das Kind, das sich hastig aufgerichtet hatte, begann sie mit seiner schrillen Stimme zu betäuben.

»Vater ist im Krankenhaus, Großvater hat sich bei der Arbeit verwundet, Mutter hat kein Kleid zum Ausgehen... Haben Sie Mitleid mit uns, gutes Fräulein.«

»Willst du uns wohl in Ruhe lassen, du Lügnerin,« rief Lazare außer sich. »Dein Vater sitzt wegen Schmuggelei, und dein Großvater hat sich an dem Tage sein Handgelenk verrenkt, an dem er zu Roqueboise in den Austernbänken Verheerungen anrichtete. Wenn deine Mutter auch kein Kleid hat, so geht sie im Hemde auf Raub aus; denn man hat sie schon wieder angeklagt, dem Wirtshausbesitzer von Verchemont fünf Hühner erwürgt zu haben... Machst du dich über uns lustig, indem du uns Sachen vorlügst, die wir besser kennen als du? Geh, erzähle deine Geschichten den Leuten auf den Straßen.«

Das Kind schien nicht einmal gehört zu haben. Es begann von neuem mit seiner unverschämten Sicherheit.

»Haben Sie Mitleid, Fräulein, die Männer sind krank, und Mutter wagt sich nicht mehr heraus... Der liebe Gott wird es Ihnen vergelten...«

»Hier! lauf und lüge nicht mehr«, sagte Pauline und gab ihr ein Geldstück, um ein Ende zu machen.

Die Kleine ließ es sich nicht zweimal sagen. Mit einem Satze verließ sie die Küche und eilte, so schnell es ihre kurzen Beine erlaubten, über den Hof. Aber im nämlichen Augenblicke stieß die Magd einen Schrei aus.

»Ach! mein Gott, der Becher, der auf dem Küchenspinde stand! Sie hat Fräuleins Becher mitgenommen.«

Sie stürmte bereits der Diebin nach. Zwei Minuten später führte sie diese mit der grimmen Miene eines Gendarmen zurück. Man hatte alle Mühe sie zu durchsuchen, denn sie schlug um sich, biß und kratzte, wobei sie ein Geheul ausstieß, als wenn man sie umbringen wolle. Der Becher war nicht in ihrer Tasche, er steckte, an ihre Haut gepreßt, in dem Fetzen, der ihr als Hemd diente. Sie hörte zu weinen auf und behauptete frech, daß sie von nichts wisse, daß er auf sie gefallen sein müsse, als sie dort auf der Erde gesessen habe.

»Der Herr Pfarrer hatte ganz richtig vorausgesagt, daß sie Sie bestehlen würde«, wiederholte Veronika. »Ich ließe an Ihrer Stelle die Polizei holen!«

Lazare sprach ebenfalls vom Gefängnis, über die herausfordernde Art der Kleinen aufgebracht, die sich wie eine junge Natter aufbäumte, der man den Schwanz zertreten hat. Es juckte ihn ordentlich, sie zu ohrfeigen. »Gib wieder her, was man dir gegeben hat«, rief er. »Wo ist das Geldstück?«

Sie führte es bereits an ihre Lippen, um es zu verschlingen, als Pauline sie befreite und sagte:

»Behalte es nur und sage zu Hause, daß es das letzte gewesen ist. Ich werde in Zukunft selbst nachsehen, ob ihr etwas braucht... Fort!...«

Man hörte ihre nackten Kinderfüße in die Pfützen tappen, dann wurde alles still. Veronika stieß die Bank fort, bückte sich mit einem Schwamme, um von den Fliesen die Nässe aufzuwaschen, die von den Lumpen abgetropft war. Wahrhaftig! selbst ihre Küche war von diesem Elend so verpestet, daß sie alle Türen und Fenster aufriß. Das Fräulein nahm ernst, ohne ein Wort zu sagen, Geldbeutel und Medizinkasten, während der Herr mit empörter Miene, vor Widerwillen und Langeweile gähnend, an den Brunnen gegangen war, um sich die Hände zu waschen.

Das war Paulinens Kummer: sie sah, daß Lazare sich gar nicht für ihre kleinen Freunde aus dem Dorfe interessierte. Wenn er ihr auch des Sonnabends gern behilflich war, so tat er es einfach aus Gefälligkeit für sie; sein Herz war nicht dabei beteiligt. Sie stieß nichts ab, weder Armut noch Laster, während ihn die häßlichen Dinge ärgerten und betrübten. Sie blieb ruhig und heiter in ihrer Liebe zu den anderen, während er nicht aus sich selbst herauszutreten vermochte, ohne im Außenleben neue Ursachen der Verstimmung zu finden. Nach und nach begann er wirklich unter dieser unsauberen Schar zu leiden, in der bereits alle Sünden der Menschen gärten. Dieses Gezücht von Elenden verbitterte ihm vollends das Leben, er verließ sie gebrochen, mit Haß und Verachtung vor der menschlichen Herde. Diese zwei Stunden guter Werke machten ihn nur schlecht, er wollte die Almosen verweigern, er zog die Barmherzigkeit in das Lächerliche. Er rief, es sei das Klügste, dieses Nest Insekten mit dem Stiefelabsatze zu zermalmen, anstatt ihm beim Heranwachsen zu helfen. Pauline hörte ihn erstaunt über seine Heftigkeit an; sie war sehr bekümmert, daß ihre Empfindungen nicht die gleichen waren.

An jenem Sonnabend machte der junge Mann, als sie allein waren, seinem ganzen Leiden in einem Satze Luft.

»Ich glaube, einer Kloake zu entsteigen.«

Dann fügte er hinzu:

»Wie kannst du nur diese Ungeheuer lieben?«

»Ich liebe sie ihrethalben, nicht meinethalben«, antwortete das junge Mädchen. »Du würdest einen räudigen Hund von der Straße aufheben.«

Er machte eine abweisende Bewegung.

»Ein Hund ist kein Mensch.«

»Helfen, um zu helfen, ist das nichts?« begann sie wieder. »Es ist ärgerlich, daß sie sich nicht bessern, denn dadurch würde sich ihr Elend vielleicht vermindern. Aber wenn sie gegessen und sich gewärmt haben, genügt es mir, ich bin zufrieden: es ist immer ein Schmerz weniger... Warum sollen sie uns lohnen, was wir für sie tun?«

Sie schloß traurig:

»Mein armer Freund, ich sehe, es macht dir kein Vergnügen; da ist schon besser, du tust nicht mehr mit... Ich habe keine Lust, dein Herz zu entzweien und dich schlechter zu machen, als du bist.«

Lazare entschlüpfte ihr, sie blutete innerlich; denn sie war von ihrer Ohnmacht, ihn aus dieser Zeit des Schreckens und der Langeweile befreien zu können, überzeugt. Angesichts seiner Nervosität konnte sie nicht an die Verheerungen des unzugestandenen Leidens allein glauben, sie vermutete noch andere Gründe hinter dieser Traurigkeit, und der Gedanke an Luise erwachte von neuem in ihr. Sie erstarrte zu Eis, versuchte aber den Stolz ihrer Entsagung wiederzufinden und schwor sich selbst, soviel Freude um sich zu verbreiten, daß sie zum Glücke all der Ihren genüge.

Eines Abends sagte Lazare ein grausames Wort.

»Wie vereinsamt man hier ist!« meinte er gähnend.

Sie sah ihn an. War es eine Anspielung? Sie hatte nicht den Mut geradeheraus zu fragen. Ihre Güte lehnte sich dagegen auf, das Leben wurde ihr wieder zur Qual.

Eine neue Erschütterung harrte Lazares; seinem alten Mathieu ging es nicht gut. Die Hinterfüße des armen Tieres, das im März vierzehn Jahre alt geworden, wurden immer mehr mitgenommen. Wenn ihn die Anfälle steif machten, vermochte er kaum zu gehen, er blieb im Hofe in der Sonne ausgestreckt liegen und überwachte die Menschen, die das Haus verließen, mit seinen schwermütigen Augen. Lazare beunruhigten besonders die trüb gewordenen, von einem bläulichen Nebelschleier verdunkelten Augen von dem unbestimmten Blau der Erblindeten. Trotzdem sah der Hund und schleppte sich noch hin, um seinen dicken Kopf auf die Knie seines Herrn legen zu können; dann sah er ihn starr an mit dem traurigen Ausdruck jemandes, der alles versteht. Er war nicht mehr schön: sein weißes und gekräuseltes Fell war gelblich geworden, seine ehemals so schwarze Nase ausgebleicht; seine Unsauberkeit und eine Art Scheu machten ihn zu einer jämmerlichen Erscheinung, denn aus Furcht vor seinem hohen Alter wagte man nicht mehr, ihn zu waschen. Alles Spielen hatte aufgehört, er wälzte sich nicht mehr auf dem Rücken umher, er wandte sich nicht mehr nach seinem Schwanze um, er hatte nicht einmal mehr Zärtlichkeitsanfälle für Minouches Junge, wenn die Magd sie zum Meere trug. Er verbrachte seine Tage jetzt in dem Halbschlummer eines alten Mannes, und das Aufrichten kostete ihm eine solche Mühe, er schleppte sich so schwerfällig auf seinen erschlafften Pfoten, daß oft einer aus dem Hause ihm von Mitleid ergriffen aufhalf, ihn eine Minute lang unterstützte, bis er weitergehen konnte.

Blutverluste erschöpften ihn täglich mehr. Man hatte einen Tierarzt kommen lassen, der bei seinem Anblick in ein Gelächter ausgebrochen war. Wie? Man belästige ihn noch wegen eines solchen Hundes? Das beste sei, ihn totzuschlagen. Man müsse wohl das Leben eines Menschen zu verlängern suchen, aber wozu ein aufgegebenes Tier leiden lassen! Man hatte den Tierarzt an die Tür gesetzt und ihm seinen Besuch mit sechs Franken gelohnt.

Eines Sonnabends verlor Mathieu so viel Blut, daß man ihn in den Schuppen einsperren mußte. Er verstreute einen Regen großer, roter Tropfen hinter sich. Als Doktor Cazenove gerade frühzeitig kam, bot er Lazare an, sich den Hund anzusehen, den man wie ein Glied der Familie behandelte. Sie fanden ihn mit erhobenem Kopfe liegen, sehr schwach, aber noch lebhaften Auges. Der Arzt untersuchte ihn lange mit der nachdenklichen Miene, die er an jedem Krankenlager anzunehmen pflegte. Endlich sagte er:

»So reichlicher Blutverlust rührt von einer krebsartigen Entartung der Nieren her... Er ist verloren. Aber er kann sich noch ein paar Tage halten, falls er nicht von einer plötzlichen Blutung hingerafft wird.«

Der verzweifelte Zustand Mathieus trübte die Mahlzeit. Man rief sich ins Gedächtnis zurück, wie sehr Frau Chanteau ihn geliebt hatte, wie er die jungen Hunde erwürgte, und seine Jugendstreiche, die vom Rost gestohlenen Koteletten, die noch warm ausgeschlürften Eier. Als aber beim Nachtisch der Abbé Horteur seine Pfeife hervorzog, kam die Heiterkeit wieder zum Durchbruch, man hörte ihn Neues von seinen Birnbäumen berichten, die in diesem Jahr vorzüglich zu gedeihen versprachen. Chanteau sang trotz des Prickelns eines nahen Anfalles ein derbes Lied aus seinen Zwanziger-Jahren. Der Abend verlief allerliebst. Lazare selbst wurde heiter.

Plötzlich gegen neun Uhr, als man gerade den Tee reichte, rief Pauline:

»Da ist ja auch der arme Mathieu.«

In der Tat glitt dieser, auf seinen Pfoten taumelnd, blutend und abgemagert in das Speisezimmer. Sogleich vernahm man auch Veronika, die ihm mit einem Scheuerlappen nachlief. Sie erschien mit dem Ausrufe:

»Ich hatte in der Remise zu tun, da ist er entschlüpft. Bis zum Ende muß er sein, wo Sie sind; keine Möglichkeit, einen Schritt zu tun, ohne ihn in den Röcken zu haben... Vorwärts, komm, du kannst nicht da bleiben.«

Der Hund senkte mit sanfter und demütiger Gebärde seinen alten Kopf.

»Ach, laß ihn!« flehte Pauline.

Aber die Magd wurde ärgerlich.

»Diesmal nicht!... Ich habe es satt, das Blut hinter ihm her aufzuwischen. Seit zwei Tagen ist meine Küche voll davon. Es ist ekelhaft. Das Eßzimmer wird sauber aussehen, wenn er sich überall hinschleppt... Vorwärts, hopp! Willst du wohl schnell machen?«

»Laß ihn«, wiederholte Lazare. »Geh!«

Während Veronika wütend die Tür schloß, kam Mathieu herbei, als habe er verstanden und stützte seinen Kopf auf das Knie seines Herrn. Alle wollten ihm eine Freude bereiten, man zerbrach Zucker und versuchte ihn aufzumuntern. Früher bestand das abendliche Vergnügen darin, daß man weit von ihm entfernt, auf die andere Seite des Tisches ein Stück Zucker hinlegte; er machte dann schnell die Runde, aber schon hatte man das Stück fortgenommen und es an das andere Ende gelegt; so lief er unaufhörlich um den Tisch herum, bis er betäubt, bestürzt von dieser Taschenspielerei laut zu bellen anfing. Dieses Spiel versuchte Lazare mit ihm von neuem, in dem barmherzigen Gedanken, dem traurigen, schon mit dem Tode kämpfenden Tiere eine Erholung zu verschaffen. Der Hund wedelte einen Augenblick mit dem Schweife, ging einmal herum, dann stolperte er an Paulinens Stuhl. Er sah den Zucker nicht, sein abgezehrter Körper fiel auf die Seite, das Blut floß in roten Tropfen um den Tisch herum. Chanteau trällerte nicht mehr, das Mitleid schnürte jedem das Herz zusammen bei dem Anblick des armen, sterbenden Mathieu, der blind umhertastete; alle erinnerten sich der Streiche des gefräßigen Mathieu von ehemals.

»Ermüdet ihn nicht«, sagte der Doktor sanft. »Ihr tötet ihn.«

Der Pfarrer, der bisher still geraucht hatte, bemerkte, zweifelsohne um seine Teilnahme zu erklären:

»Diese großen Hunde sind, möchte man sagen, Menschen.«

Als um zehn Uhr der Priester und der Arzt fortgegangen waren, schloß Lazare selbst, ehe er in sein Zimmer hinaufstieg, Mathieu im Schuppen ein. Er bettete ihn auf frischem Stroh, sah nach, ob er seinen Napf Wasser hatte, umarmte ihn und wollte ihn dann allein lassen. Aber der Hund hatte sich schon unter mühseligen Anstrengungen erhoben und folgte ihm. Er mußte ihn dreimal niederlegen. Endlich fügte er sich; er blieb mit erhobenem Kopfe liegen und sah mit so wehmütigen Blicken seinen Herrn sich entfernen, daß dieser verzweifelt umkehrte und ihn noch einmal umarmte.

Oben versuchte Lazare, bis Mitternacht zu lesen. Dann legte er sich schließlich nieder. Aber er konnte nicht einschlafen, der Gedanke an Mathieu verließ ihn nicht. Er sah ihn noch immer auf dem Stroh liegen, den unsteten Blick der Tür zugewendet. Morgen war sein Hund tot. Wider Willen richtete er sich jeden Augenblick auf, horchte und meinte, ihn im Hofe bellen zu hören. Seine lauschenden Ohren vernahmen allerlei eingebildete Geräusche. Gegen zwei Uhr war es ein Stöhnen, das ihn vom Bette aufschreckte. Wo wurde denn geweint? Er ging auf die Treppe hinaus, das Haus war finster und still, kein Atemzug drang aus Paulinens Zimmer. Da konnte er dem Verlangen hinunterzugehen nicht mehr widerstehen. Die Hoffnung, seinen Hund noch wiederzusehen, trieb ihn zur Eile an. Er ließ sich kaum Zeit, in die Beinkleider zu schlüpfen, und ging hastigen Schrittes mit dem Licht hinunter.

Mathieu war in dem Schuppen nicht auf dem Stroh liegen geblieben. Er hatte sich eine Strecke weit, bis auf die festgestampfte Erde geschleppt. Als er seinen Herrn eintreten sah, fand er nicht einmal mehr die Kraft, den Kopf aufzuheben. Nachdem dieser das Licht zwischen alte Balken gestellt, hatte er sich niedergehockt, erstaunt über die schwarze Farbe des Bodens; mit schwerem Herzen fiel er auf die Knie, als er bemerkte, daß der Hund in einer großen Blutlache liegend mit dem Tode kämpfte. Es war sein entströmendes Leben, er wedelte schwach mit dem Schwanze, während aus seinen tiefen Augen ein Leuchten hervordrang.

»Ach, mein armer Hund!« murmelte Lazare. »Mein armer, alter Hund!«

Er sprach laut:

»Warte, ich werde dich an einen anderen Platz bringen... Nein, das tut dir weh... Aber du bist ganz durchnäßt! Und ich habe nicht einmal einen Schwamm... Willst du vielleicht trinken?...«

Mathieu sah ihn immer unverwandt an. Nach und nach bewegte ein Röcheln seine Flanken. Geräuschlos, wie aus einem verborgenen Quell genährt, vergrößerte sich die Blutlache. Leitern und bodenlose Tonnen warfen mächtige Schatten, das Licht brannte schlecht. Da raschelte das Stroh: es war die Katze, Minouche, die sich auf dem für Mathieu bereiteten Lager niedergelegt hatte und sich vom Lichte belästigt fühlte.

»Willst du trinken, mein armer, alter Hund?« wiederholte Lazare.

Er hatte einen Wischlappen gefunden, tauchte ihn in den Wassernapf und preßte ihn auf die Schnauze des sterbenden Tieres. Das schien ihm Erleichterung zu verschaffen, seine vom Fieber aufgesprungene Nase kühlte sich ein wenig ab. So verging eine halbe Stunde, er kühlte ihn unablässig mit dem Wischlappen, die Augen voll von dem jammervollen Schauspiel, die Brust von einer unendlichen Traurigkeit beklemmt. Wie an dem Bette eines Kranken überkamen ihn tolle Hoffnungen; vielleicht konnte er durch diese einfachen Waschungen das Leben zurückrufen.

»Was? Was?« sagte er plötzlich. »Du willst dich auf deine Pfoten stellen?«

Von einem Schauer durchrüttelt, machte Mathieu Anstrengungen, um sich aufzurichten. Er streckte seine Glieder, während ein Schlucken, ein hohles Schlagen der Flanken ihm den Hals schwellte. Aber das war das Ende, er stürzte zwischen den Knien seines Herrn zusammen, von dem er die Augen nicht abwandte; er versuchte ihn noch unter seinen schweren Augenlidern hervor zu erblicken. Durch diesen Blick eines Sterbenden außer Fassung gebracht, behielt ihn Lazare bei sich; der große Körper, lang und schwer wie der eines Menschen, kämpfte in seinen trostlos zitternden Armen einen menschlichen Todeskampf. Dann sah er wirkliche Tränen, dicke Tränen aus des Hundes verschleierten Augen rollen, während sich aus seinem krampfhaften Munde die Zunge zu einer letzten Liebkosung hervorstreckte.

»Mein armes, altes Hündchen!« rief Lazare, selbst in Schluchzen ausbrechend.

Mathieu war tot. Ein wenig blutiger Schaum floß aus seinen Lefzen. Als er ihn auf die Erde bettete, schien er zu schlafen.

Nun fühlte Lazare, daß wieder einmal alles zu Ende war. Jetzt starb sein Hund, es war ein maßloser Schmerz, eine Verzweiflung, in der sein ganzes Leben unterging. Dieser Tod erinnerte an die früheren Todesfälle; der Kummer war nicht schrecklicher gewesen, als er den Hof hinter dem Sarge seiner Mutter durchschritt. Die Monate verborgenen Schmerzes erstanden von neuem: seine unter Beklemmungen verbrachten Nächte, seine Spaziergänge nach dem kleinen Kirchhofe, sein Entsetzen vor der Ewigkeit des »Niemals mehr«.

Ein Geräusch machte sich hörbar, Lazare wendete sich um und sah Minouche, die sich ruhig auf dem Stroh putzte. Aber die Tür hatte geknarrt. Pauline kam, von dem nämlichen Gedanken wie ihr Vetter getrieben. Als er sie bemerkte, weinte er noch heftiger; er, der mit einer Art wilder Scheu den Kummer über seine Mutter zu verbergen sich bemüht hatte, schrie jetzt:

»Mein Gott! Mein Gott! sie liebte ihn so sehr! Erinnerst du dich? Sie hatte ihn ganz klein erhalten, sie gab ihm zu fressen, und ihr folgte er überallhin im Hause!«

Dann fügte er hinzu:

»Jetzt ist niemand mehr da, wir sind zu einsam!«

Paulinens Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte sich in dem fahlen Lichte der Kerze über den armen Mathieu gebeugt. Sie machte keinen Versuch, Lazare trösten zu wollen, sie hatte nur eine Bewegung der Entmutigung; sie fühlte sich unnütz und ohnmächtig.


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