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Viertes Kapitel.

Marjolin war auf dem alten Innocenz-Markte gefunden worden, mitten in einem Kohlhaufen, unter einem riesigen Weißkohlkopfe, der mit einem seiner großen Blätter das rosige Gesichtchen des schlafenden Kindes bedeckte. Es blieb für immer unbekannt, welche erbärmliche Hand ihn da ausgesetzt hatte. Er war schon ein Knäblein von zwei, drei Jahren, sehr dick, sehr lebensfroh, aber sonst so wenig entwickelt, daß er kaum einige Worte stammeln und nichts als lachen konnte. Als eine Gemüsehändlerin ihn unter dem großen Weißkohlkopfe entdeckte, stieß sie einen Schrei der Überraschung aus, auf den die Nachbarinnen erstaunt zusammenliefen; der Kleine, noch im Kleidchen, in ein Stück von einer Decke gehüllt, streckte die Händchen nach den Weibern aus. Er konnte nicht sagen, wer seine Mutter sei. Er riß nur erstaunt die Äuglein auf und schmiegte sich an die Schulter einer dicken Kaldaunenhändlerin, die ihn in ihre Arme genommen hatte. Bis zum Abend beschäftigte sich der ganze Markt mit diesem Funde. Er war zutraulicher geworden, aß Butterbrot und lachte den Weibern zu. Die dicke Kaldaunenhändlerin behielt ihn bei sich; dann kam er zu einer Nachbarin und einen Monat später fand er Unterkunft bei einer dritten. Wenn man ihn fragte: »Wer ist deine Mutter?« machte er eine reizende Gebärde, die Hand zeigte mit einer Kreisbewegung alle Marktweiber zugleich. Er wurde das Kind der Hallen, klammerte sich an die Röcke der einen und der anderen, fand immer einen Winkel in einem Bette, aß seine Suppe überall, ward vom lieben Gott gekleidet und hatte immer einige Sous in den löcherigen Taschen. Ein schönes rotes Mädchen, das Heilkräuter verkaufte, hatte ihn Marjolin benannt, man wußte nicht warum.

Marjolin war fast vier Jahre alt, als die Mutter Chantemesse auf dem Fußweg der Dionysiusstraße an der Ecke des Marktes ein kleines Mädchen fand. Die Kleine mochte zwei Jahre alt sein, aber sie schwatzte schon wie eine Elster, in ihrem kindlichen Geplauder die Worte verstümmelnd; die Mutter Chantemesse glaubte diesem Geschwätz zu entnehmen, daß das Kind Cadine heiße und daß seine Mutter es am vorhergehenden Abend unter einer Toreinfahrt abgesetzt habe, mit dem Geheiß, sie da zu erwarten. Die Kleine hatte da übernachtet; sie weinte nicht und erzählte, daß sie oft Prügel bekomme. Dann folgte sie der Mutter Chantemesse, sehr munter und ganz entzückt von diesem großen Markte, wo soviele Leute und soviele Gemüse waren. Die Mutter Chantemesse, die im kleinen verkaufte, war eine würdige Person, sehr griesgrämig, nahe an die sechzig Jahre; sie liebte die Kinder sehr, denn sie hatte drei Knaben noch in der Wiege verloren. Sie dachte, dieses Straßenkind habe eine gar zu lose Zunge, um unterzugehen, und nahm Cadine an Kindesstatt an.

Eines Abends, als die Mutter Chantemesse nach Hause ging und Cadine an der rechten Hand führte, ergriff Marjolin ohne Umstände die Linke der alten Hökerin.

He, mein Junge, sagte die Alte und blieb stehen, der Platz ist besetzt... Bist du nicht mehr bei der langen Therese? Du bist aber ein rechter Gassenjunge, hörst du?

Er schaute sie lachend an, ohne ihre Hand loszulassen. Sie konnte ihm nicht grollen, so hübsch war er mit seinem rotblonden Lockenkopf.

Kommt, Rangen, brummte sie. Ihr sollt beisammen schlafen.

Und sie ging mit einem Kinde an jeder Hand nach der Speckgasse, wo sie wohnte. Marjolin blieb bei der Mutter Chantemesse. Wenn sie zuviel Lärm machten, gab sie ihnen einige Kopfnüsse; sie war ordentlich froh, schreien und zetern zu können, sie zu waschen und unter eine Bettdecke zu stecken. In einem alten Gemüsekarren ohne Räder und ohne Deichsel hatte sie ein kleines Bett für sie eingerichtet. Es war wie eine breite Wiege, ein wenig hart, noch mit dem Geruch der Gemüse behaftet, die sie solange darin unter nassen Tüchern frisch gehalten hatte. Cadine und Marjolin schliefen da mit vier Jahren Arm in Arm beisammen.

So wuchsen sie zusammen auf; man sah sie immer nur, wie sie einander um den Leib faßten. Nachts hörte die Mutter Chantemesse sie leise plaudern. Das feine Stimmchen Cadines erzählte stundenlang endlose Geschichten, die Marjolin mit stummem Staunen anhörte. Sie war sehr boshaft; sie ersann Geschichten, um ihm Furcht einzujagen, erzählte ihm, daß sie neulich nachts am Fuße ihres Bettes einen weißen Mann gesehen, der sie betrachtete und dabei eine lange, rote Zunge heraustreckte. Marjolin trat der Angstschweiß auf die Stirne, und er fragte sie nach Einzelheiten; sie neckte ihn und nannte ihn schließlich einen großen Tölpel. Ein anderes Mal waren sie unartig und stießen sich unter der Decke mit den Füßen. Cadine zog die Beine ein und kicherte leise, wenn Marjolin sie verfehlend mit aller Kraft an die Wand stieß. Dieses Mal mußte die Mutter Chantemesse aufstehen, um die Decke zurecht zu rücken; mit einem wuchtigen Schlag auf das Kopfkissen schläferte sie beide ein. So war für sie das Bett lange Zeit ein Ort der Erholung; sie nahmen ihr Spielzeug mit ins Bett, aßen da die gelben und weißen Rüben, die sie gestohlen hatten. Jeden Morgen fand die Mutter Chantemesse zu ihrer Überraschung daselbst allerlei seltsame Gegenstände, Kiesel, Blätter, Äpfelstrünke, Puppen aus Lumpen zurechtgemacht. An sehr kalten Tagen ließ sie die Kinder länger schlafen, Cadines schwarzes Haar mit Marjolins rotem Haar vermengt, beider Lippen so nahe beisammen, daß sie sich gegenseitig mit ihrem Atem zu erwärmen schienen.

Diese Kammer in der Speckgasse war ein großer, verfallener Bodenraum, den ein einziges Fenster mit regengeblendeten Scheiben erhellte. Da spielten die Kinder Versteck in dem hohen Schrein von Nußholz und unter dem riesigen Bette der Mutter Chantemesse. Es waren da auch einige Tische, unter denen sie herumkrochen. Es war reizend; denn es war halbdunkel im Zimmer, und in den Winkeln lagen allerlei Gemüse herum. Auch die Speckgasse, schmal und wenig belebt, war sehr ergötzlich mit ihrem Bogengang, der sich auf die Leinenstraße öffnete. Die Haustüre lag auf der Seite des Bogenganges; es war eine niedrige Türe, von der nur ein Flügel sich auf die schmutzige Wendeltreppe öffnete. Dieses alte, dunkle, feuchte Haus mit seinem Vordach und der Ausladung der grün gewordenen, bleiernen Dachrinnen in jedem Stockwerk, war an sich ein großes Spielzeug. Cadine und Marjolin verbrachten ihre Vormittage damit, daß sie von unten Steine in die Dachrinnen schleuderten; die Steine fielen unter lautem Gepolter durch die Dachrinnen herab, was sehr ergötzlich war. Aber sie schlugen zwei Fenster ein und füllten die Dachrinnen dermaßen mit Kieseln an, daß die Mutter Chantemesse, die seit dreiundvierzig Jahren im Hause wohnte, Gefahr lief, die Kündigung zu erhalten.

Dann richteten Cadine und Marjolin ihre Angriffe gegen die Möbelwagen, Kübel und Karren, die in der einsamen Straße standen. Sie erstiegen die Räder, wiegten sich auf den Kettenenden, erkletterten die Kisten, die aufgehäuften Körbe. Die Magazine der Spediteure der Töpferstraße lagen nach der Speckgasse; es waren dunkle, große Räume, die jeden Tag gefüllt und wieder geleert wurden und jede Stunde neue Schlupfwinkel boten, wo diese zwei Gassenkinder unter getrockneten Früchten, Orangen und frischen Äpfeln Verstecke fanden. Wenn sie müde geworden, suchten sie die Mutter Chantemesse auf dem Innocenz-Markte auf. Arm in Arm und unter hellem Gelächter kamen sie daselbst an, keck die Straßen durchquerend, ohne Furcht, von den Wagen umgerissen zu werden. Sie kannten das Pflaster und versanken mit ihren Beinchen oft bis zu den Knien in den Gemüseabfällen; sie glitten nicht aus und lachten nur, wenn irgendein Fuhrmann, mit seinen schweren Stiefeln über eine Artischocke ausrutschend hinfiel, daß er alle vier von sich streckte. Sie waren die pausbäckigen Kobolde dieser schmutzigen Gassen. Man sah nur sie. An Regentagen spazierten sie wichtig einher unter einem riesigen, ganz zerfetzten Schirm, mit dem Mutter Chantemesse zwanzig Jahre lang ihren Verkaufsstand geschützt hatte; sie pflanzten den Schirm in einem Winkel des Marktes auf und nannten das »ihr Haus«. An sonnigen Tagen rannten sie herum, daß sie am Abend sich kaum mehr rühren konnten. Sie nahmen Fußbäder im Becken des Springbrunnens; machten Schleusen, indem sie die Gosse verrammelten, verbargen sich unter Gemüsehaufen und blieben da im Kühlen und plauderten, wie des Nachts in ihrem Bette. Oft hörte man im Vorübergehen aus einem Berg von Lattichen oder Salaten unterdrücktes Geplauder. Wenn man die Salatköpfe hinwegräumte, sah man sie da nebeneinander auf einem Lager von Blättern ausgestreckt, mit lebhaften Augen und geängstigt wie Vöglein, die in der Tiefe eines Gebüsches entdeckt werden. Cadine konnte Marjolin nicht mehr missen und Marjolin weinte, wenn er Cadine verlor. Wenn sie getrennt wurden, suchten sie sich hinter den Röcken der Hallenweiber, in den Kisten, unter den Kohlhaufen. Besonders unter den Kohlhaufen wuchsen sie heran und liebten sie sich.

Marjolin war fast acht und Cadine sechs Jahre alt, als die Mutter Chantemesse ihnen ihre Trägheit vorhielt. Sie sagte, sie wolle sie an ihrem Kleinverkauf beteiligen; sie versprach ihnen einen Sou für den Tag, wenn sie ihr behilflich sein wollten, die Gemüse zu schälen. Die ersten Tage zeigten die Kinder einen schönen Eifer. Sie ließen sich zu beiden Seiten des Verkaufsstandes nieder und machten sich, mit schmalen Messern ausgerüstet, aufmerksam an die Arbeit. Geschälte Gemüse waren die Eigenart der Mutter Chantemesse. Auf ihrem Tische, der mit einem Stück angefeuchteten Wollzeugs belegt war, gab es ganze Reihen von Kartoffeln, weißen Rüben, gelben Rüben, weißen Zwiebeln, zu vier und vier in kleinen Pyramiden geordnet, drei als Unterbau und einer als Spitze, völlig bereit, um in die Kasserollen der verspäteten Hausfrauen zu wandern. Sie hatte auch ganze Bunde für den Fleischtopf, vier Blatt Schnittlauch, drei gelbe Rüben, eine Pastinakwurzel, zwei weiße Rüben, zwei Schnitten Sellerie, dazu kamen die Suppenkräuter, fein geschnitten, auf Papierblättern bereit liegend, Kohlköpfe in vier Teile geteilt, Häuflein Tomaten und Schnitten Kürbis, die inmitten der sorgfältig gewaschenen weißen Gemüse rote Sterne und gelbe Halbmonde bildeten. Cadine erwies sich viel geschickter als Marjolin, obgleich sie jünger war. Sie schälte die Kartoffeln so dünn, daß man durch die Schale durchblicken konnte; sie machte die Bunde für den Fleischtopf so geschickt, daß sie Blumensträußen glichen; aus drei gelben oder weißen Rüben wußte sie Häuflein zu machen, die sehr groß schienen. Die Vorübergehenden blieben lachend stehen, wenn sie mit ihrer schrillen Kinderstimme rief:

Madame, kommen Sie hierher! ... Zwei Sous das Häuflein!

Und sie hatte Kunden; ihre Häuflein waren wohlbekannt. Die Mutter Chantemesse, die zwischen den beiden Kindern saß, lachte innerlich, wenn sie beide so emsig bei der Arbeit sah. Sie gab ihnen regelmäßig ihren Sou für den Tag. Allein die Kinder fanden schließlich die Häufchen langweilig. Sie wurden größer und dachten an einträglichere Beschäftigungen. Marjolin blieb sehr lange kindisch, was Cadine ärgerte. Er sei dumm wie ein Kohlstrunk, pflegte sie zu sagen. In der Tat erfand sie vergebens für ihn allerlei Mittel, Geld zu erwerben; er erwarb keines und wußte nicht einmal, einen Auftrag zu besorgen. Sie hingegen war sehr pfiffig. Mit acht Jahren ließ sie sich von einer jener Zitronenhändlerinnen anwerben, die in der Umgebung der Hallen mit einem Korb voll Zitronen auf einer Bank sitzen und ihre Ware durch kleine Mädchen verkaufen lassen. Sie bot die Zitronen in ihrer Hand zum Verkaufe aus, zwei Stück für drei Sous, lief den Leuten nach, steckte ihre Zitronen den Frauen unter die Nase und holte sich neuen Vorrat, wenn ihre Hand leer war. Sie erhielt zwei Sous für jedes Dutzend Zitronen und erwarb so, wenn es gut ging, fünf bis sechs Sous des Tages. Im nächsten Jahre verkaufte sie Hauben zu neun Sous; da war der Nutzen schon größer; allein man mußte auf seiner Hut sein, denn dieser fliegende Handel war verboten. Sie witterte die Polizisten auf hundert Schritte; die Hauben verschwanden unter ihren Röcken, während sie mit harmloser Miene an einem Apfel knusperte. Später verkaufte sie kleine Kuchen, Pfeffernüsse, Kirschenkuchen, schönen, gelben Maiszwieback, auf Weidengeflecht ausgelegt; allein Marjolin aß alles weg und so kam sie dabei nicht auf. Mit elf Jahren endlich führte sie einen großen Gedanken durch, der sie seit langer Zeit beschäftigte. Sie sparte in zwei Monaten vier Franken, schaffte sich eine kleine Butte an und begann einen Handel mit Vogelfutter.

Das war ein Ereignis. Sie stand frühmorgens auf; kaufte bei den Großverkäufern ihren Vorrat an Vogelfutter, Hirsekorn, Spritzkuchen ein und machte sich auf den Weg, ging über die Seine, durchlief das Studentenviertel von der Jakobstraße bis zur Dauphine-Straße und bis zum Luxemburg. Marjolin begleitete sie. Sie wollte nicht zugeben, daß er die Butte trage; sie sagte, er tauge nur zum Schreien und so schrie er denn in einem vollen, schleppenden Tone:

Vogelfutter! Vogelfutter!

Sie wiederholte mit ihrer hellen Flötenstimme und mit einer Betonung, die in einem hohen, langgezogenen Ton endigte:

Vogelfutter! Vogelfutter!

Sie gingen jeder auf einem Fußsteige und schauten in die Höhe. Zu jener Zeit trug Marjolin eine große, rote Weste, die ihm bis zu den Knien reichte; es war die Weste des verstorbenen Vaters Chantemesse, der zeit seines Lebens Droschkenkutscher gewesen. Cadine trug ein blau und weiß gewürfeltes Kleid aus einem alten Umhängetuch der Mutter Chantemesse zugeschnitten. Die Zeisige in allen Dachstuben des Studentenviertels kannten sie; wenn sie vorüberkamen und abwechselnd ihren hellen Ruf vernehmen ließen, ward in allen Käfigen fröhlicher Gesang angestimmt.

Cadine verkaufte auch Kresse. »Zwei Sous das Bund! Zwei Sous das Bund!« Marjolin trat in die Kaufläden ein und bot »schöne Brunnenkresse, gut für die Gesundheit!« – zum Kaufe an.

Doch die Zentralmarkthalle war inzwischen fertig geworden; die Kleine war bezaubert von der Blumenallee, die den Früchtepavillon durchschneidet. Die Verkaufsbänke, die sich der ganzen Länge nach wie Blumenbeete zu beiden Seiten eines Pfades hinziehen, blühen und sprießen mit ihren dicken Sträußen; es ist eine duftige Ernte, zwei dichte Rosenhecken, zwischen denen die Mädchen des Stadtviertels zu lustwandeln lieben; sie lächeln dabei wonnig, und der starke Geruch verschlägt ihnen schier den Atem. Oben auf den Auslaggestellen sind Kunstblumen; Blätterwerk aus Papier, an dem Gummitropfen den Tau nachahmen, Grabkränze aus schwarzen und weißen Perlen mit blauem Widerschein. Cadine öffnete das rosige Näschen mit dem sinnlichen Behagen einer Katze; sie weilte gern mitten in dieser rosigen Frische und nahm, soviel sie konnte, von den Düften mit. Wenn sie ihren Kopf Marjolin unter die Nase steckte, sagte dieser, es rieche nach Veilchen. Sie schwor, daß sie sich keiner Pomade mehr bediene, daß es genüge, einmal durch die Blumenallee zu gehen. Sie ruhte nicht eher, als bis sie in den Dienst einer Blumenhändlerin eintreten konnte. Marjolin fand jetzt, daß sie wohlrieche vom Kopfe bis zu den Füßen. Sie lebte unter Rosen, Flieder, Nelken und Maiblümchen. Er roch scherzweise lange an ihren Röcken, schien nachzudenken und sagte: »Das riecht nach Maiblümchen.« Dann roch er höher, an der Taille, am Leibchen, sog stärker den Duft ein und sagte: »Das riecht nach Nelken.« An den Ärmeln, bei den Handknöcheln roch es nach Flieder. Am Nacken, auf den Wangen, auf den Lippen roch es nach Rosen. Cadine lachte, nannte ihn einen Tölpel und hieß ihn aufhören, weil er sie mit der Nase kitzele. Ihr Atem roch nach Jasmin; sie war ein lebendiger, warmer, blühender Blumenstrauß.

Zu jener Zeit stand die Kleine schon um vier Uhr morgens auf, um ihrer Dienstherrin beim Einkauf behilflich zu sein. Jeden Morgen wurden ganze Arme voll Blumen von den Blumengärtnern der Umgegend gekauft, ganze Bündel Moos, Farn- und Eisenkraut, um die Sträuße damit zu umgeben. Cadine staunte die Brillanten und Spitzen an, die die Töchter der großen Gärtner von Montreuil trugen, die inmitten ihrer Rosenladungen ankamen. An den Tagen der heiligen Maria, des heiligen Peter, des heiligen Joseph, der stark gefeierten Schutzheiligen, begann der Verkauf schon um zwei Uhr morgens; es wurden da für zweimalhunderttausend Franken abgeschnittene Blumen verkauft; einzelne Wiederverkäuferinnen verdienten bis zu zweihundert Franken in wenigen Stunden. An solchen Tagen sah man von Cadine nur die lockigen Haarflechten unter den Bündeln von Stiefmütterchen, Reseda und Maßliebchen heraus; sie versank völlig unter Blumen. Den ganzen Tag wand sie Sträuße mit Hilfe von Binsenhalmen. In wenigen Wochen hatte sie bei dieser Beschäftigung eine große Geschicklichkeit und eine ganz eigentümliche Anmut erlangt. Ihre Sträuße gefielen nicht jedem; durch einen Zug roher Einfachheit riefen sie ein Lächeln oder ein Gefühl der Beunruhigung hervor. Das Rote herrschte da vor, durchschnitten von grellen Tönen, von Blau, Gelb, Violett, das Ganze von einem barbarischen Zauber. An solchen Vormittagen, an denen sie Marjolin gezwickt und geneckt hatte, daß er darüber weinte, waren ihre Sträuße wild, Sträuße eines zornigen Mädchens, Sträuße mit rauhen Gerüchen und grellen Farben. An anderen Vormittagen, wenn sie durch irgendeinen Kummer oder irgendeine Freude gerührt war, ersann sie Buketts von einem sanften Silbergrau, gleichsam in einen Schleier gehüllt, von einem eigenartigen Dufte. Dann nahm sie Rosen, blutigrot wie offene Herzen inmitten eines Rades von weißen Veilchen; gelbe Siegwurz, die flammend zwischen zartem Grün emporragte; Smyrnateppiche mit komplizierter Zeichnung, Blume an Blume gefügt, wie auf einer Stickerei; im Wasserglanze schillernde Fächer, die sich zart wie Spitzen ausbreiteten; sie ersann Zusammensetzungen von wunderbarer Reinheit und plumpe, dicke Sträuße; sie hatte Sträuße für Fischweiber und Sträuße für Gräfinnen; in diesen Sträußen offenbarte sich die Ungeschicklichkeit der Jungfrau und die sinnliche Glut der Dirne, die volle köstliche Phantasie eines Mädchens von zwölf Jahren, in dem das Weib erwachte.

Cadine achtete nur zwei Gattungen Blumen: weißen Flieder, von dem ein Bund mit acht bis zehn Zweiglein im Winter fünfzehn bis zwanzig Franken kostet; und Kamelien, die noch teurer sind, die dutzendweise in Schachteln ankommen, auf ein Mooslager gebettet und mit Watte zugedeckt. Sie faßte sie zart und behutsam an, als seien es Juwelen, und hielt den Atem zurück, aus Furcht, sie mit einem Hauch zu verderben; mit unendlicher Sorgfalt befestigte sie ihre kurzen Stengel an Binsenhalmen. Sie sprach in ernstem Tone von ihnen. Sie sagte Marjolin, daß eine schöne weiße Kamelie ohne Rostfleck ein seltenes und überaus prächtiges Ding sei. Als sie ihn eines Tages eine solche Blume bewundern ließ, rief er aus:

Ja, sie ist hübsch; aber mir ist dein Hals, da, unter dem Kinn, doch lieber; das ist glatter und durchsichtiger, als die Kamelie ... Und es sind blaue und rosige Äderchen da, die Blumenadern gleichen.

Er streichelte sie mit den Fingerspitzen; dann kam er mit der Nase näher und brummte:

Schau, heut riechst du nach Orangen.

Cadine hatte einen sehr schlimmen Charakter. Sie konnte sich nicht in die Rolle einer Dienerin finden; darum begann sie denn auch bald einen selbständigen Handel. Da sie erst dreizehn Jahre alt war und nicht daran denken durfte, einen Handel im großen mit einem eigenen Verkaufsstand in der Blumenallee zu betreiben, verkaufte sie Veilchensträußchen zu einem Sou, die in einem Moosbette saßen, auf einem flachen Korbe, der an ihrem Halse hing. Mit ihrem Korbe, der einem Stück veilchenbesetzten Rasen glich, trieb sie sich den ganzen Tag in den Hallen und um die Hallen herum. Dieses fortwährende Herumstreifen, das ihr die Beine gelenkig machte, war ihre Freude; sie brauchte jetzt nicht stundenlang mit eingebogenen Knien auf einem niedrigen Stuhl zu sitzen und Sträuße zu binden. Sie wand ihre Veilchensträußchen im Herumspazieren; sie drehte sie wie Spindeln, mit einer erstaunlichen Leichtigkeit der Finger. Je nach der Jahreszeit zählte sie sechs bis acht Blumen ab, knickte einen Binsenhalm ein, fügte ein Blättchen hinzu und umwickelte das Ganze mit einem angefeuchteten Faden, den sie mit ihren Wolfszähnchen entzweibiß. Sie machte ihre Sträußchen so rasch, daß sie aus dem Mooslager ihres Korbes hervorzusprießen schienen. Die Fußsteige entlang mitten im drängenden Gewühl der Straße blühten ihre flinken Finger, ohne daß sie darauf achtete, weil sie keck in die Höhe schaute, die Kaufläden und die Vorübergehenden betrachtete. Dann ruhte sie einen Augenblick vor einem Haustor aus und zauberte an den Rand der Gosse, die das Schmutzwasser abführte, ein Stück Frühling, einen Waldsaum mit seinen blauen Blümchen hin. Ihre Sträußchen verrieten noch immer ihre Anwandlungen von schlimmer Laune, sowie ihre Augenblicke der Rührung; es gab schrecklich zerfahrene, die in ihrer zerknüllten Tüte zu grollen schienen; und es gab andere, die friedlich, fast verliebt, in ihrer netten Halskrause lächelten. Wenn sie vorüberging, ließ sie einen lieblichen Duft zurück. Marjolin, der Tölpel, folgte ihr überallhin. Sie war jetzt ein einziger Duft vom Kopf bis zu den Füßen. Wenn er sie faßte, um sie abzuriechen von den Röcken bis zum Leibchen, von den Händen bis zum Antlitz, dann sagte er, daß sie nichts als Veilchen, ein einziges großes Veilchen sei. Seinen Kopf an sie drückend wiederholte er:

Du erinnerst dich doch des Tages, da wir nach Romainville gingen? Es riecht ganz so wie dort, besonders da in deinem Ärmel ... Bleib dabei; du riechst zu gut.

Sie blieb dabei. Es war ihr letztes Handwerk. Doch die zwei Kinder wurden größer; oft vergaß sie ihren Blumenkorb, um im Stadtviertel herumzustreichen. Bei dem Bau der Zentralmarkthalle gab es für sie tausend Gelegenheiten zu kindischen Streichen. Durch einen Spalt der Bretterumfriedung drangen sie in die Werkplätze ein; sie stiegen in die Kellergewölbe hinab, erkletterten die ersten gußeisernen Säulen; jeder Winkel, jeder Balken sah ihre Spiele, ihre kleinen Raufereien. Die Pavillons erhoben sich unter ihren Kinderhänden. Daher rührte ihre Liebe für die großen Hallen, eine Liebe, die die Hallen ihnen wieder vergalten. Sie waren vertraut mit diesem Riesenschiffe, als alte Freunde, die seine kleinsten Bolzen hatten niederlegen sehen. Sie hatten keine Furcht vor diesem Ungeheuer, schlugen mit ihrer mageren Faust auf seine Riesengröße, behandelten es als gutmütigen Jungen, als Kameraden, mit dem man sich keinen Zwang antut. Und die Hallen schienen zu lächeln über diese zwei Kinder der Gasse, die der freie Gesang, die kecke Idylle ihres Riesenbauches waren.

Cadine und Marjolin schliefen bei Mutter Chantemesse nicht mehr beisammen in dem alten Grünzeugkarren. Die Alte, die die beiden des Nachts immer plaudern hörte, bereitete dem Jungen ein besonderes Lager auf der Erde, vor dem Schrein; allein am Morgen fand sie ihn am Halse der Kleinen, unter der nämlichen Bettdecke. Nun schickte sie ihn zu einer Nachbarin schlafen. Dies machte die Kinder sehr unglücklich. Bei Tage, wenn die Mutter Chantemesse nicht da war, faßten sie sich, angekleidet wie sie waren, um den Leib und legten sich auf den Estrich, wie auf ein Bett, und dies machte ihnen viel Spaß. Später trieben sie es spitzbübischer; sie suchten die dunkelen Winkel der Stube auf, verbargen sich häufiger in der Tiefe der Magazine der Speckstraße, hinter den Äpfelhaufen und Orangenkästen. Sie waren frei und schamlos wie die Spatzen, die sich am Rande eines Daches paaren.

Im Keller des Geflügelpavillons fanden sie gleichfalls Gelegenheit, beisammen zu schlafen. Es war dies eine liebliche Gewohnheit, ein Gefühl wohltuender Wärme, eine Art aneinander geschmiegt einzuschlafen, die sie nicht mehr entbehren konnten. In der Nähe der Schlachttische standen große Körbe voll Federn, in denen sie bequem Platz hatten. Wenn die Nacht gekommen war, stiegen sie hinab und blieben da die ganze Nacht, und hielten sich warm umschlungen, glücklich auf diesem weichen Lager, bis über die Augen in Federn versinkend. Gewöhnlich zogen sie ihren Korb vom Gaslicht weg; sie waren allein, mitten in den scharfen Gerüchen des Geflügels, wach erhalten durch plötzliche Hahnenschreie, die aus dem Schatten erklangen. Sie lachten, küßten sich in lebhafter Zuneigung, die sie sich nicht zu erklären wußten. Marjolin war sehr dumm. Cadine prügelte ihn, von Zorn erfaßt, ohne zu wissen warum. Mit der Keckheit einer Straßenläuferin klärte sie ihn auf. Allmählich erfuhren sie viel in ihren Federkörben. Es war ein Spiel. Die Hühner und Hähne, die neben ihnen schliefen, wußten nicht mehr.

Später waren die Hallen voll mit ihren Liebeleien sorgloser Spatzen. Sie liebten wie junge glückliche Tiere, ihrem Willen überlassen, ihre Begierden befriedigend inmitten dieser Haufen von Nahrung, unter denen sie emporgewachsen waren wie Pflanzen aus Fleisch. Mit sechzehn Jahren war Cadine eine Entlaufene, eine schwarze Zigeunerin des Pflasters, sehr lecker und sehr sinnlich. Mit achtzehn Jahren war Marjolin ein ausgewachsener Mann, einfältig wie ein Vieh, nur durch die Sinne lebend. Sie blieb häufig des Nachts aus, um mit ihm im Geflügelkeller zu schlafen; am andern Morgen lachte sie der Mutter Chantemesse frech ins Gesicht und flüchtete vor dem Besen, mit dem die Alte herumfuchtelte, ohne die Nichtsnutzige zu treffen, die sich mit seltener Schamlosigkeit über die Alte lustig machte, indem sie sagte, sie habe gewacht, um zu sehen, ob der Mond, Hörner kriege. Marjolin strich herum; in den Nächten, wo Cadine ihn allein ließ, blieb er bei der Schildwache in den Pavillons; er schlief auf Säcken, Kisten, im erstbesten Winkel. Schließlich verließen die beiden die Hallen nicht mehr. Es war ihr Käfig, ihr Stall, ihr riesiges Futterhaus, wo sie lebten, schliefen, sich liebten, auf einem ungeheuren Lager von Fleisch, Butter und Gemüsen.

Aber eine besondere Vorliebe behielten sie für die Federkörbe; ihre Liebesnächte verbrachten sie da. Die Federn waren nicht ausgesondert; es gab da lange, schwarze Truthahnfedern und weiße, glatte Gansfedern, die sie an den Ohren kitzelten, wenn sie sich umdrehten; dann gab es Entenflaum, in dem sie versanken, wie in Watte, die leichten Hühnerfedern, goldgelb und scheckig, von denen sie mit jedem Hauch ein Wölkchen auffliegen ließen, gleich einem Schwarm Mücken, die im Sonnenlichte summen. Im Winter schliefen sie auch im purpurnen Gefieder der Fasane, in den aschgrauen Federn der Lerchen, in der fleckigen Seide der Rebhühnern, Wachteln und Krammetsvögel. Die Federn hatten noch ihren warmen, lebendigen Geruch. Die beiden fühlten zwischen ihren Lippen gleichsam das Zittern der Flügel, die Wärme des Nestes. Diese Federn waren ihnen wie der breite Rücken eines Vogels, auf dem sie sich ausstreckten und der sie – die einander selig in den Armen lagen – entführte. Am Morgen mußte Marjolin Cadine suchen, die sich im Korbe verloren hatte, als ob es auf sie geschneit hätte. Sie erhob sich ganz struppig, schüttelte sich, ging wie aus einer Wolke hervor, mit ihren Haarflechten, in denen immer einige Hahnenfedern staken.

Ein anderer Freudenort war für sie der Pavillon für den Großverkauf von Butter, Eiern, Käse. Es erheben sich da jeden Morgen riesige Mauern aus leeren Körben. Sie schlüpften unter die Körbe, durchbrachen die Mauer und höhlten sich ein Versteck aus. Dann schoben sie einen großen Korb vor und waren so gut wie eingeschlossen. Nun waren sie daheim, hatten ihr Haus, konnten sich ungestraft umarmen. Was ihnen Spaß machte, war, daß nur ein dünnes Korbgeflecht sie von dem Gewühl der Hallen trennte, deren lauten Lärm sie rings um sich her vernahmen. Oft brachen sie in ein Gelächter aus, wenn Leute zwei Schritte von ihnen entfernt stehen blieben, ohne zu ahnen, daß sie da seien; sie bohrten Gucklöcher in die Körbe und wagten mit einem Auge hindurchzulugen. Zur Kirschenzeit schnellte Cadine den alten Frauen, die vorübergingen, Kirschkerne an die Nase; dies ergötzte sie um so mehr, als die erschreckten Greisinnen niemals ahnen konnten, woher dieser Hagel käme. Sie machten auch Streifzüge durch die Keller, kannten daselbst die dunkelsten Winkel und wußten bei den bestgeschlossenen Gittertüren hindurchzukommen. Einer ihrer Lieblingsausflüge war, bis zur unterirdischen Eisenbahn vorzudringen, die durch damals geplante Linien mit den verschiedenen Bahnhöfen in Verbindung gebracht werden sollte; einzelne Teile dieser Bahn führen unter den gedeckten Gängen der Hallen hinweg und trennen die Keller der verschiedenen Pavillons; bei den Bahnkreuzungen sind sogar Drehscheiben angebracht, um in Tätigkeit gesetzt zu werden. In der Einfriedung, die die Eisenbahn schützt, hatten Cadine und Marjolin einen Balken entdeckt, der locker saß und hatten diesen völlig losgemacht, so daß sie da bequem hindurch konnten. Sie waren da abgeschieden von der Welt; über ihren Köpfen, auf dem Pflaster, hörten sie das Getrappel von Paris. Die Eisenbahn dehnte ihre Wege, ihre verlassenen Galerien aus, auf die unter den durch gußeiserne Gitter geschützten Luftlöchern das Tageslicht einen helleren Streifen warf; an den im Dunkel sich verlierenden Enden brannten Gasflammen. Sie spazierten da wie in einem ihnen gehörenden Schlosse herum, sicher, daß niemand sie störe, froh ob dieses gedämpften Summens, dieses Zwielichtes, dieser unterirdischen Heimlichkeit, wo sie in ihren kindischen Liebeleien erschauerten wie in einem Singspiel. Aus den benachbarten Kellern drangen durch die Einfriedung allerlei Gerüche bis zu ihnen: der fade Geruch der Gemüse, die Schärfe der Seefische, der Gestank der Käse, die lebendige Wärme der Geflügel. Es war ein unablässig nährender Hauch, den sie zwischen ihren Küssen einsogen, in dem schattigen Schlafraum, wo sie sich vergaßen, quer über die Schienen gelagert. Ein andermal wieder, in den schönen Nächten, in den hellen Morgendämmerungen erklommen sie die Dächer, stiegen sie die steile Leiter zu den Türmchen empor, die die Ecken des Pavillons zierten. Oben dehnten sich Zinkfelder dahin, Promenaden, Plätze, eine ganze künstliche Landschaft, deren Herren sie waren. Sie schritten die viereckigen Dächer der Pavillons ab, folgten den langgestreckten Dächern der Gänge, stiegen auf den abfallenden Dächern hinaus und hinab, verloren sich in endlosen Ausflügen. Und wenn sie des ersten Stockwerks überdrüssig waren, stiegen sie noch höher, wagten sich auf die eisernen Leitern, wo die Röcke Cadines gleich Fahnen flatterten. Sie liefen dann unter freiem Himmel, im zweiten Stockwerke der Dächer herum. Über ihren Häuptern flimmerten nur mehr die Sterne. Aus der Tiefe der tönenden Hallen stieg ein rollendes Getöse herauf einem nächtlichen, fernen Gewitter gleich. In dieser Höhe fegte der Morgenwind die schlimmen Gerüche, den übernächtigen Atem der Märkte hinweg. Bei anbrechendem Tage schnäbelten sie sich am Rande der Dachtraufen wie Vöglein, die unter den Dachziegeln kosen. Sie waren ganz rosig im Lichte der ersten Strahlen der Morgensonne. Cadine lachte vor Freude, im Freien zu sein, ihre Brust vom Tau benetzt wie die einer Taube; Marjolin neigte sich vor, um die noch dunkelen Straßen zu sehen; dabei klammerten seine Hände sich an das Zink wie die Füße einer Holztaube. Wenn sie wieder hinabstiegen noch froh der freien Luft und lächelnd wie Verliebte, die ganz struppig und mit zerdrückten Kleidern aus einem Weizenfelde hervortreten, sagten sie, sie kämen vom Lande.

In der Kaldaunenabteilung machten sie die Bekanntschaft des Claude Lantier. Sie gingen jeden Tag dahin mit der Blutgier und Grausamkeit von Straßenkindern, denen es Spaß macht, abgeschlagene Köpfe zu sehen. Rings um diesen Pavillon floß es rot in den Gossen; sie tauchten die Fußspitze hinein und warfen Haufen Blätter hinein, die die Gossen verstopften, daß die blutrote Flüssigkeit austrat. Die Ankunft der geschlachteten Tiere in den übelriechenden Karren interessierte sie. Sie sahen Pakete von Hammelfüßen abladen, die auf der Erde aufgehäuft werden gleich schmutzigen Pflastersteinen, die großer, starren Zungen, die den blutigen Riß der Kehle zeigten, die festen und losgelösten Ochsenherzen, die stummen Glocken glichen. Was sie ganz besonders erbeben machte, waren die großen, bluttriefenden Körbe voll Hammelköpfe mit ihren fetten Hörnern und dem schwarzen Maul, das frische Fleisch noch mit einem Fetzen wolliger Haut bedeckt; sie dachten an eine Guillotine, die die Köpfe zahlloser Herden in diese Körbe wirft. Sie folgten den Körben bis in den Keller, längs der Schienen, die auf die Treppenstufen gelegt waren und hörten das sägenartige Kreischen der Räder der aus Weidengeflecht bestehenden Wagen. Unten war es schauerlich schön; sie fanden da den Geruch einer Fleischkammer, gingen zwischen dunkelen Lachen herum, wo manchmal rote Augen aufzuflammen schienen; ihre Sohlen blieben am Boden haften; geängstigt und entzückt zugleich wateten sie in dem schauerlichen Unflat herum. Die Gaslaternen hatten eine kurze Flamme, einer blutigen, zuckenden Wimper gleichend. Sie näherten sich den Schraubstöcken, die rings um die Brunnen im matten Lichte der Kellerluken standen. Hier ergötzten sie sich daran, den Kaldaunenhändlern zuzusehen, wie sie, angetan mit ihren blutstarrenden Schürzen, die Hammelsköpfe, einen nach dem andern, mit einem einzigen Hiebe des Schlägels öffneten. So harrten sie stundenlang aus, bis die Körbe leer waren, festgebannt durch das Krachen der Knochen, um bis zum Schlusse mitanzusehen, wie die Zungen ausgerissen und die Gehirne bloßgelegt wurden. Zuweilen ging ein Marktwächter hinter ihnen vorüber, der mittelst des Spritzenschlauches den Keller reinigte; ganze Wasserbäche flossen mit dem Geräusch einer Schleuse dahin; der kräftige Strahl der Spritze fegte die Fliesen rein, ohne jedoch die Rostflecke und den Gestank des Blutes wegzubringen.

Gegen Abend zwischen vier und fünf Uhr waren Cadine und Marjolin sicher, Claude Lantier in der Abteilung für den Großverkauf von Rinderlungen zu finden. Er stand da mitten unter den mit dem Hinterteil den Fußsteigen zugekehrten Karren der Kaldaunenhändler, unter den vielen Männern in blauer Jacke und weißer Schürze, gedrängt und gestoßen, die Ohren schier zerrissen durch die lauten Verkaufsangebote; allein er fühlte die Stöße nicht; er stand entzückt vor den großen Lungen, die an den Haken der Ausrufabteilung hingen. Oft erklärte er Cadine und Marjolin, daß es nichts Schöneres gebe. Die Lungen waren von einer zarten rosa Farbe, die allmählich kräftiger wurde und unten einen karminroten Saum hatte. Er sagte, sie seien aus gewässertem Samt, weil er keinen Ausdruck fand, um diese Seidenweichheit zu bezeichnen, diese leichten Fleischstücke, die in breiten Falten herabfielen, wie die Röcke einer Tänzerin. Er sprach von Gaze und von Spitzen, die die Hüfte einer schönen Frau sehen lassen. Wenn ein Sonnenstrahl auf die großen Lungen fiel und gleichsam einen goldenen Gürtel um sie wob, leuchteten Claudes Augen vor Entzücken, und er war glücklicher, als wenn er die Nacktheiten griechischer Göttinnen und die Brokatgewänder romantischer Burgfrauen hätte vorüberziehen sehen.

Der Maler wurde der vertraute Freund dieser beiden Kinder der Gasse. Er hatte eine Vorliebe für schöne Naturkinder. Er träumte lange Zeit von einem Kolossalgemälde: Cadine und Marjolin sich liebend inmitten der Zentralhallen, unter den Massen von Gemüsen, Fleisch und Fischen. Er wollte sie auf ein Lager von Nahrungsmitteln setzen, einander umfangend und den Liebeskuß austauschend. Er erblickte darin eine künstlerische Offenbarung, den Positivismus in der Kunst, die völlig experimentale und materialistische moderne Kunst; er erblickte darin zugleich eine Verspottung der Gedankenmalerei, einen Faustschlag gegen die alten Schulen. Nahezu zwei Jahre lang begann er die Skizzen immer wieder von neuem, ohne die richtige Stimmung zu treffen. Er vernichtete etwa fünfzehnmal die Leinwand. Darob grollte er sich selbst, fuhr fort, mit seinen beiden Modellen zu leben, aufrecht gehalten durch eine Art hoffnungsloser Liebe für sein verfehltes Bild. Oft schlenderte, er, wenn er sie des Nachmittags auf ihren Streifzügen traf, mit ihnen durch das Hallenviertel, die Hände in den Taschen voll tiefen Interesses für das Straßenleben.

Alle drei wandelten schleppenden Ganges auf den Fußsteigen dahin, nahmen die ganze Breite ein und drängten die Leute von dem Fußsteig. Die Nase in die Luft gestreckt, sogen sie die Gerüche von Paris ein. Sie würden mit geschlossenen Augen jeden Winkel erkannt haben an dem alkoholschwangeren Lufthauch, der aus den Weinstuben kam, an dem warmen Geruch der Bäckerläden und Pastetenbäckereien, an dem unangenehmen Geruch der Früchtehandlungen. Sie machten weite Wege, kamen in die Rotunde der Getreidehalle, diesen riesigen und schwerfälligen steinernen Käfig, angefüllt mit Stößen weißer Mehlsäcke, wo unter dem stillen Gewölbe ihre Schritte widerhallten. Sie liebten die benachbarten Straßenecken, die öde, dunkel und traurig waren, wie der Winkel einer verlassenen Stadt, die Babille-Straße, die Sauval-Straße, die Zweitalerstraße, die Viarmes-Straße, die ganz weiß war wegen der Nachbarschaft der Müller und wo man um vier Uhr das Gewühl der Getreidebörse findet. Gewöhnlich brachen sie von da auf. Langsam durchschritten sie die Vauvillière-Straße, blieben vor verdächtigen Garküchen auf dem Pflaster stehen, zwinkerten sich zu und lachten über die große, gelbe Nummer eines Hauses mit geschlossenen Fenstervorhängen (eines Freudenhauses). In der engen Pröverinnenstraße blinzelte Claude mit den Augen und betrachtete gegenüber am Ende des gedeckten Ganges, eingerahmt in diesem Riesenschiffe, das einem modernen Bahnhofe glich, ein Seitenportal der Eustach-Kirche mit der Rosette und den übereinander geordneten Bogenfenstern. In seiner trotzigen Art behauptete er, das ganze Mittelalter und die ganze Renaissance fänden unter den Zentralhallen Platz. Während sie die breiten neuen Straßen durchschritten, die Pont-Neuf-Straße und die Hallenstraße, erklärte er den beiden Kindern der Straße das neue Leben, die prächtigen Fußwege, die neuen Häuser, den Luxus der Kaufläden; er kündigte eine ursprüngliche Kunst an, deren Kommen er ahnte, wie er sagte, und die zu entdecken er sich vergebens abquälte.

Doch Cadine und Marjolin zogen den Frieden der Pilgerstraße vor, wo man Ball spielen konnte, ohne Furcht, überfahren zu werden. Die Kleine tat schön, wenn sie vor Handschuh- und Putzmacherläden vorbeikamen, während in jeder Tür barhäuptige Kommis mit der Feder hinter dem Ohr erschienen und ihr mit gelangweilter Miene nachblickten. Sie liebten auch die stehen gebliebenen Reste des alten Paris, die Töpfergasse und die Leinengasse mit ihren bauchigen Häusern und ihren Butter- und Käseläden; die Eisengasse und die Nadelgasse, die schönen Gassen von ehemals mit den schmalen, dunkelen Läden; besonders aber die Courtalon-Gasse, ein schwarzes, schmutziges Gäßchen, das von dem Opportuna-Platze bis zur Dionysiusstraße reicht voll stinkender Höfe, wo sie, als sie noch jünger waren, Schindluder getrieben hatten. In der Dionysiusstraße betraten sie das Reich der Leckereien; hier lächelten ihnen die gebackenen Äpfel, das Süßholz, die überzuckerten Pflaumen, die mannigfachen kandierten Zucker bei den Gewürzkrämern und Drogisten. Ihre Streifzüge führten immer zu dem Verlangen nach feinen Sachen, zu der Gier, die Auslagen mit den Augen zu verschlingen. Dieses Stadtviertel war für sie eine große, allezeit gedeckte Tafel, ein ewiger Nachtisch, nach dem sie wohl gerne die Hände ausgestreckt hätten. Sie warfen kaum einen Blick auf den andern Block wackeliger Hütten, auf die Pirouette-Straße, Mondétour- Straße, Kleine Lumpengasse und die Große Lumpengasse, denn sie hatten nur ein geringes Interesse für die Niederlagen von Schnecken und getrockneten Kräutern, für die Kaldaunen- und Schnapsbuden; doch gab es in der Großen Lumpengasse eine Seifenfabrik, die inmitten der Gerüche der Nachbarschaft sehr lieblich roch und wo Marjolin gerne stehen blieb, um zu warten, bis jemand hineinging oder herauskam, damit er an der Türe den feinen Duft empfange. Sie kehrten dann rasch nach der Pierre-Lescot-Straße und Rambuteau-Straße zurück. Cadine liebte die eingesalzenen und saueren Sachen; sie stand voll Bewunderung vor den Bündeln geräucherter Heringe, vor den mit Anchovis und Kapern gefüllten Tonnen, vor den Gurken- und Olivenfäßchen, in denen große hölzerne Löffel steckten; der Essiggeruch prickelte ihr köstlich in der Kehle; der scharfe Geruch der gerollten Schellfische und der geräucherten Lachse, der Speckseiten und Schinken, der prickelnde Duft der Zitronenkörbe machten ihr den Mund wässerig, daß das Zünglein begehrlich spielte; sie liebte auch die in Stößen aufgehäuften Sardinenbüchsen, die inmitten der Säcke und Kisten Säulen von bearbeitetem Metall bildeten. In der Montorgueil-Straße und in der Montmartre-Straße waren noch schöne Gewürzläden und Restaurants, deren Kellerfenster sehr gut rochen, sehr liebliche Auslagen von Geflügel und Wildbret, Konservenhandlungen vor deren Türen offene Fässer voll gelben Sauerkrautes standen, zerschlissen wie alte Spitzen. In der Muschelstraße verweilten sie lange bei den duftigen Trüffeln. Hier gibt es eine große Niederlage von Genußmitteln; sie sendet einen so starken Geruch bis auf den Fußsteig, daß Cadine und Marjolin die Augen schlossen und sich einbildeten, daß sie köstliche Sachen äßen. Claude war verwirrt; er sagte, alles drehe ihm den Magen um; er kehrte durch die Oblin-Straße zur Getreidehalle zurück und musterte in dieser Gasse die Salatverkäuferinnen unter den Haustoren, das gewöhnliche Tongeschirr, das auf den Fußsteigen ausgeräumt war, und überließ die beiden »Wildlinge« ihrem Lustwandel in dem Geruch der Trüffel, dem schärfsten des ganzen Stadtviertels.

Dies waren die großen Spaziergänge. Wenn Cadine allein mit ihren Veilchensträußen herumging, dehnte sie zuweilen ihren Weg weiter aus und besuchte besonders gewisse Läden, für die sie eine Vorliebe hatte. Ein lebhaftes Wohlgefallen fand sie an dem Bäckerladen der Frau Taboureau, wo ein ganzes Schaufenster der Pastetenbäckerei vorbehalten war; sie durchschritt die Turbigo-Straße und machte zehnmal denselben Weg zurück, um an den Mandelkuchen vorbeizukommen, an den Honoriuskuchen, Fladen, Früchtenkuchen, an den Tellern voll Rosinenkuchen und Kohlköpfchen mit Sahne; mit zärtlichen Blicken betrachtete sie auch die Becher voll trockener Kuchen, Maccaroni und Plätzchen. Der Bäckerladen, sehr hell mit seinen breiten Spiegelscheiben, seinen Marmortafeln, seinen Vergoldungen, seinen Brotkästen von geschmiedetem Eisen, seinem zweiten Schaufenster, wo lange, glänzende Brote schief aufgestellt waren, mit der Spitze auf einem Täfelchen von Kristall, weiter oben durch einen Messingring festgehalten, hatte die angenehme Wärme des gebackenen Teiges, eine Wärme, in der Cadine ordentlich erfrischt wurde, wenn sie der Versuchung nachgebend eintrat, um eine Butterbemme für zwei Sous zu kaufen. Ein anderer Laden gegenüber dem Innocenzplatze erregte eine leckere Neugierde in ihr, einen Heißhunger von unbefriedigten Begierden. Es war dies eine Spezialität von gefüllten Pasteten. Sie stand da in der Betrachtung der gewöhnlichen Pasteten, der Spießpasteten, der Gänseleberpasteten; in Träumerei versunken weilte sie lange vor dem Schaufenster und sagte sich, daß sie doch eines Tages davon werde essen müssen.

Cadine hatte auch ihre koketten Stunden. Sie kaufte sich dann im Geiste prächtige Toiletten, wie sie in den Auslagen der Kaufläden des Stadtviertels zu bewundern waren. Ein wenig verlegen durch ihren Korb unter den Hallenweibern, schmutzige Schürzen tragend, während die anderen sich sonntäglich putzen konnten, betastete sie die zur Schau gestellten Wollstoffe, Flanelle, Leinenzeuge, um sich von dem Faden und von der Geschmeidigkeit des Stoffes zu überzeugen. Sie gönnte sich ein Kleid von grellfarbigem Flanell, von Wollstoff mit einem Blumenmuster, von scharlachroter Popeline. Zuweilen wählte sie wohl auch unter den von geschickten Kommishänden geschmackvoll angeordneten Stücken einen zarten Seidenstoff von himmelblauer oder apfelgrüner Farbe, den sie mit rosa Bändern geziert zu tragen gedachte. Des Abends besichtigte sie die blendenden Auslagen der Juweliere in der Montmartre-Straße. Diese furchtbar große Straße betäubte sie mit ihren endlosen Wagenreihen; in dem unaufhörlichen Gedränge der Menschenmassen hielt sie sich auf und konnte sich nicht satt sehen an dem flammenden Glanze, unter der schimmernden Reihe von Lampen, die vor dem Laden hingen. Da war zunächst der bleiche Schimmer der Silbergegenstände, der Uhren, Ketten, kreuzweise gelegten Eßbestecke, Becher, Tafeltuchringe, Kämme, Tabakdosen, auf Gestellen aufgereiht; eine besondere Vorliebe hatte sie für die silbernen Fingerhüte, die auf kleinen Schemeln von Porzellan standen, das Ganze mit einem Glassturze zugedeckt. Auf der anderen Seite glänzte das Gelb des Goldes durch die Spiegelscheiben. Ein ganzes Feld langer Ketten floß von oben herab, in roten Lichtern glitzernd; die kleinen Damenuhren, mit dem Deckel nach außen gekehrt, zeigten flimmernde Rundungen, wie niedergefallene Sterne; die Eheringe waren in langer Reihe auf dünne Messingstäbe gefaßt; die Armbänder, die Busennadeln, die teureren Geschmeide funkelten auf dem schwarzen Samt der Schmuckkästchen; die Ringe, in großen viereckigen Schachteln sitzend, entzündeten flüchtige Flammen von blauer, grüner, gelber, violetter Farbe, während auf allen Gestellen die in zwei- und dreifacher Reihe ausgestellten Ohrgehänge, Kreuze und Medaillons die Tafeln von Kristallglas mit einem reichen Saum umgaben, wie ein Tabernakel. Der Widerschein all des Goldes warf gleichsam einen breiten Sonnenstrahl bis mitten in die Straße. Cadine glaubte in ein Heiligtum, in die Schatzkammer des Kaisers einzutreten. Sie betrachtete lange diese für die Fischweiber bestimmten Marktgeschmeide und las aufmerksam die an jedem Stücke in großen Ziffern angeschriebenen Preise ab. Sie entschied sich für ein Paar Ohrgehänge: Bienen aus falschen Korallen, an goldenen Rosen hängend. Eines Tages überraschte Claude das Mädchen in Entzücken schwimmend vor dem Schaufenster eines Perückenmachers in der Honoriusstraße. Mit einem Ausdruck tiefen Neides betrachtete sie die Haare. Oben gab es eine Reihe von Frauenperücken, offenem Haar, Zöpfen und Locken in allen Farben, rot, schwarz, goldblond, aschblond, sogar weiß für verliebte Damen mit sechzig Jahren. Unten waren die feineren Haartouren; englische Locken, fertig gekräuselt, pomadisierte und gekämmte Zöpfe lagen in sauberen Schachteln von Kartonpapier. Inmitten dieses Rahmens drehte sich gleichsam in einer Kapelle unter den flockigen Spitzen der ringsherum aufgehängten Haare eine Frauenbüste. Die Frau war mit einer Schärpe von kirschrotem Samt bekleidet, die vor der Brust durch eine Brosche zusammengehalten war. Sie hatte eine hohe Brautfrisur mit Orangenblüten und lächelte mit ihrem Puppenmunde; die Augen waren hell, die Augenwimpern steif und zu lang, die wächsernen Wangen und Schultern wie gebacken und vom Gas angeraucht. Cadine wartete, bis die Figur mit ihrem Lächeln sich wieder umdrehte; sie war entzückt in dem Maße, als das Profil immer deutlicher sichtbar ward und das schöne Weib sich langsam von links nach rechts drehte. Claude war entrüstet; er schüttelte Cadine und fragte, was sie da mache vor dieser Unsauberkeit, vor »dieser krepierten und aus der Morgue geholten Dirne«. Er schalt auf diese Leichennacktheit, diese Häßlichkeit des Schönen, indem er behauptete, daß man nur mehr Frauen so kämme. Die Kleine war nicht überzeugt, sie fand die Frau sehr schön. Dann riß sie sich von dem Maler los, der sie am Arme hielt, kratzte sich ärgerlich das schwarze Kraushaar und zeigte ihm einen riesigen roten Haarbusch, der sicherlich von dem starken Nacken einer Stute stammte, und gestand, daß sie diese Haare haben möchte.

Wenn diese drei, Claude, Cadine und Marjolin, auf ihren Wanderungen die Hallen umkreisten, bemerkten sie bei jeder Straßenecke ein Stück von dem gußeisernen Riesen. Es waren dies plötzlich auftauchende Schmalseiten, unvermutete Architekturen, derselbe Horizont unter immer neuen Gesichtspunkten sich darbietend. Claude wandte sich am liebsten in der Montmartre-Straße um, wenn sie an der Kirche vorbeigekommen waren. Die fernen Hallen, die er von hier schief stehen sah, entzückten ihn; ein großer Bogengang, ein hohes Riesentor tat sich klaffend auf; dann häuften sich die Pavillons mit ihren Doppeldächern, ihren endlosen Reihen von Tür- und Fensterläden, ihren riesigen Fenstervorhängen. Man glaubte die Profile von übereinander getürmten Häusern und Palästen zu sehen, ein Babel von Erz, von hindostanischer Leichtigkeit, durchbrochen von hängenden Terrassen, von Gängen in der Luft, von fliegenden Brücken im Leeren. Sie kehrten immer wieder hierher zurück zu dieser Stadt, die sie umkreisten, ohne sich weiter als hundert Schritte von ihr entfernen zu können. Sie kehrten zu den warmen Nachmittagen der Hallen zurück. Oben sind die Läden geschlossen, die Vorhänge herabgelassen. In den gedeckten Gängen rührt sich kein Hauch; die Luft ist aschgrau, durchschnitten von gelben Streifen, den Sonnenbalken, die durch die langen Fenster hereinfallen. Ein gedämpftes Gemurmel dringt aus den einzelnen Marktabteilungen hervor; die Schritte der wenigen geschäftigen Fußgänger tönen laut auf den Fußsteigen, während die Träger mit ihren Blechnummern auf der Brust in langer Reihe am Rande des Fußsteiges sitzen, die Stiefel abziehen und ihre geschwollenen Füße pflegen. Der Koloß ruht aus, und die Stille wird nur zuweilen von einem aus den Geflügelkellern kommenden Hahnenschrei unterbrochen. Oft schauten die drei zu, wie die leeren Körbe auf die Karren geladen wurden, die sie des Nachmittags abholten, um sie den Spediteuren zurückzubringen. Die mit schwarzen Buchstaben und Ziffern gezeichneten Körbe bildeten ganze Berge vor den Magazinen der Spediteure in der Hirtenstraße. Die Träger ordneten sie gleichmäßig in Stößen. Wenn der Haufe die Höhe eines Stockwerkes angenommen hatte, mußte der Mann, der unten geblieben war, um die Körbe im Gleichgewicht zu erhalten, einen Anlauf nehmen, um sie seinem Kameraden, der mit ausgebreiteten Armen auf dem Karren stand, zuzuwerfen. Claude, ein Freund der Kraft und Geschicklichkeit, folgte stundenlang diesem Flug der Körbe und lachte herzlich, wenn ein allzu kräftiger Schwung sie über das Ziel hinweg auf die Straße warf. Er verweilte auch gern auf dem Fußsteig der Rambuteau-Straße und der Pont-Neuf-Straße, an der Ecke des Obstmarktes, da, wo die Kleinverkäuferinnen stehen. Die im Freien auf Tischen, die mit schwarzer, nasser Leinwand bedeckt waren, aufgehäuften Gemüse entzückten ihn. Um vier Uhr tauchte die Sonne diesen ganzen grünen Winkel in flammendes Licht. Er schritt die Gänge entlang voll Neugierde für die verschiedenfarbigen Köpfe der Händlerinnen; die jungen, deren Haare durch ein Netz festgehalten wurden, schon tief gebräunt durch ihre harte Lebensweise; die alten, gebeugt und eingeschrumpft, das Gesicht ganz rot unter dem Kopftuch von gelber Seide. Cadine und Marjolin weigerten sich, ihm dahin zu folgen; denn sie erkannten schon von weitem die Mutter Chantemesse, die ihnen drohend die Faust zeigte, wütend darüber, daß die beiden wieder beisammen steckten und ihren Unfug trieben. Er fand sie dann auf dem anderen Fußsteig wieder. Quer über die Straße blickend, fand er einen prächtigen Vorwurf für ein Gemälde: die Hökerinnen unter ihren großen, verschossenen Sonnenschirmen in allen Farben; es waren rote, gelbe, grüne Schirme, auf langen Stäben befestigt; ihre Rundungen wölbten sich in dem lodernden Lichte der Abendsonne, die über den Rüben- und Kohlhaufen zur Rüste ging. Eine Alte von bald hundert Jahren hatte unter einem zerfetzten Schirme von roter Seide drei armselige Salatköpfe feil.

Mittlerweile hatten Cadine und Marjolin die Bekanntschaft Léons, des Lehrlings der Quenu-Gradelle gemacht. Es geschah eines Tages, als er eine Torte nach der Nachbarschaft zu bringen hatte. Sie sahen, wie er in einem dunkeln Winkel der Mondétour-Straße den Deckel von der Kasserolle abhob und behutsam mit den Fingern ein Pastetchen herausholte. Sie lächelten einander zu; dies brachte ihnen eine große Meinung von dem Jungen bei. Cadine faßte den Vorsatz, endlich einen ihrer heißesten Wünsche zu befriedigen. Als sie wieder einmal dem Kleinen mit seiner Kasserolle begegnete, tat sie schön mit ihm und ließ sich ein Pastetchen anbieten, das sie lachend und sich die Finger leckend verzehrte. Doch sie war einigermaßen enttäuscht; sie hatte geglaubt, es müsse besser schmecken. Indes fand sie den Jungen drollig, der ganz weiß gekleidet war wie ein Mädchen, das zur Kommunion geht, und der ein leckeres, verschmitztes Gesicht hatte. Sie lud ihn zu einem großen Frühstück ein, das sie unter den Körben der Butterabteilung gab. Alle drei – sie, Marjolin und Léon – versteckten sich zwischen den von den Körben gebildeten vier Mauern und waren da fern von der Welt. Ein breiter, flacher Korb war die Tafel. Es gab Birnen, Nüsse, weißen Käse, kleine Seekrebse, gebratene Kartoffeln und Radieschen. Der weiße Käse kam von einer Obsthändlerin der Cossonnerie-Straße; es war ein Geschenk. Ein Ausbrater aus der Großen Lumpengasse hatte für zwei Sous gebratene Kartoffeln auf Pump geliefert. Der Rest – die Birnen, die Nüsse, die kleinen Krebse, die Radieschen – war in den Hallen zusammengestohlen. Es war ein köstliches Mahl. Léon wollte in der Gastfreundschaft auch nicht zurückstehen und vergalt das Frühstück mit einer Abendmahlzeit um ein Uhr morgens in seiner Kammer. Er wartete mit kalter Wurst auf mit Saucißchen, Pökelfleisch, kleinen Gurken und Gänseschmalz. Der Wurstladen der Quenu-Gradelle hatte alles geliefert. Jetzt nahm die Geschichte kein Ende: auf köstliche Frühstücke folgten feine Abendessen, auf Einladung folgte Einladung. Dreimal in der Woche gab es trauliche Feste unter den Körben in der Markthalle und in der Dachkammer Léons, wo Florent in schlaflosen Nächten bis zum Tagesanbruch das gedämpfte Geräusch von kauenden Kinnladen und leises Kichern vernahm.

Bei allem gewann die Liebschaft Cadines und Marjolins nur an Festigkeit. Sie waren jetzt vollkommen glücklich. Er machte den Galanten und führte sie in ein Sonderkabinett, – in irgendeinen dunklen Kellerwinkel – wo sie rohe Äpfel und süße Sellerieknollen naschten. Eines Tages stahl er einen geräucherten Hering, den sie auf dem Dache des Pavillons für Seefische am Rande der Dachrinne aßen. Es gab kein schattiges Plätzchen in den Hallen, wo sie mit ihren zärtlichen Liebesmahlen nicht Schutz gesucht hätten. Das Stadtviertel, diese langen Reihen offener Läden voll Obst, Kuchen, Konserven, war nicht mehr ein verschlossenes Paradies, vor dem ihr gieriger, neidischer Hunger vergeblich umherirrte. An den Auslagen vorüberkommend, brauchten sie nur die Hand auszustrecken, um eine Pflaume, eine Handvoll Kirschen, ein Stück Schellfisch zu stehlen. Sie versorgten sich auch in den Hallen, beobachteten die Gänge der verschiedenen Marktabteilungen, lasen alles auf, was zu Boden fiel und halfen zuweilen mit einem Ruck der Schultern nach, daß Körbe zu Boden fielen. Trotz dieser Raubzüge wuchs die Forderung des Ausbraters in der Großen Lumpengasse immer mehr an. Dieser Ausbrater, dessen Krambude sich an ein baufälliges Haus lehnte, das durch moosgrüne Balken gestützt war, hatte Miesmuscheln, die in einer großen irdenen Salatschüssel in klarem Wasser schwammen, dann kleine Sandaale, gelb und steif unter ihrer allzu dicken Teiglage, Stücke Fettdarm, die in einem Ofen in Fett schmorten, am Rost gebratene Heringe, schwarz und verkohlt, so hart, daß sie klapperten wie Holz. In mancher Woche schuldete Cadine bis zu zwanzig Sous; diese Schuld drückte sie sehr; sie mußte eine Unzahl von Veilchenbuketts verkaufen, denn auf Marjolin konnte sie nicht zählen. Überdies war sie genötigt, Léon seine Gefälligkeiten zu erwidern; sie fühlte sich sogar ein wenig beschämt darob, daß sie ihm niemals mit einem Fleischgericht hatte aufwarten können. Léon stahl schließlich ganze Schinken. Gewöhnlich verbarg er alles unter seinem Hemde. Wenn er des Abends aus der Küche der Wurstmacherei auf seine Stube kam, zog er Wurststücke, Pastetenschnitten, ganze Bündel Speckschwarte aus der Brust hervor. Es fehlte an Brot; auch hatten sie nichts zu trinken. Eines Nachts überraschte Marjolin Léon dabei, wie er zwischen einem Bissen und dem anderen Cadine küßte. Dies brachte ihn zum Lachen. Er hätte den Kleinen mit einem einzigen Faustschlage zu Boden strecken können; allein er war auf Cadine nicht eifersüchtig; er behandelte sie wie eine alte Freundin, die man schon lange besitzt.

Claude nahm an diesen Festmahlen nicht teil. Als er Cadine einmal dabei ertappte, wie sie eine Zuckerrübe stahl und in ihrem mit Heu gefüllten Handkörbchen verbarg, zog er sie bei den Ohren und nannte sie eine Nichtsnutzige. Das habe ihr noch gefehlt, sagte er. Aber er fühlte unwillkürlich eine gewisse Bewunderung für diese sinnlichen, diebischen, gierigen Tiere, die sich an allem letzten, was herumlag und die von der Tafel eines Riesen gefallenen Brosamen auflasen.

Marjolin war in den Dienst Gavards eingetreten, froh, daß er nichts anderes zu tun hatte, als die endlosen Geschichten seines Dienstherrn anzuhören. Cadine fuhr fort, Veilchensträuße zu verkaufen und gewöhnte sich an die Scheltworte der Mutter Chantemesse. Schamlos setzten sie ihr Kinderleben fort und überließen sich in treuherziger Lasterhaftigkeit ihren Begierden. Sie waren Pflanzen dieses schmutzigen Pflasters des Hallenviertels, wo man selbst bei schönem Wetter in schwarzem, klebrigem Schlamme watet. Das Mädchen hatte mit sechzehn Jahren, der Jüngling mit achtzehn Jahren noch die liebliche Schamlosigkeit der Kinder bewahrt, die hinter dem Ecksteine niederhocken. Indes stieg in Cadine zuweilen eine gewisse Beklemmung auf, wenn sie auf den Fußsteigen dahinschritt und die Veilchenstengel drehte wie Spindeln. Auch Marjolin empfand ein Unbehagen, das er sich nicht erklären konnte. Er verließ zuweilen die Kleine, verlor sich bei einem Spaziergang, blieb bei einem Festmahl weg, um Frau Quenu durch die Spiegelscheiben des Wurstladens zu betrachten. Sie war so schön, so dick, so rund, daß sie seinen Augen wohltat. Bei ihrem Anblick empfand er eine Sattheit, als ob er etwas Gutes gegessen oder getrunken habe, und wenn er wegging, nahm er einen Hunger und Durst, sie wiederzusehen, mit. Das dauerte monatelang. Anfänglich hatte er für sie die achtungsvollen Blicke, die er den Schaufenstern der Gewürzkram- und Pökelfleischläden widmete. Wenn aber die Tage der großen Streifzüge kamen, träumte er bei ihrem Anblicke davon, die Hände nach ihrer kraftvollen Gestalt, nach ihren dicken Armen auszustrecken, etwa so wie er sie in einem Olivenfäßchen oder in einer Apfelkiste versenkte.

Seit einiger Zeit sah Marjolin die schöne Lisa jeden Morgen. Sie kam bei dem Stande Gavards vorüber und blieb einen Augenblick stehen, um mit dem Geflügelhändler zu plaudern. Sie sagte, sie wolle selbst ihren Einkauf besorgen, um weniger betrogen zu werden. Die Wahrheit war, daß sie Gavard zum Schwatzen bringen wollte; im Wurstladen traute er sich nicht recht; in seinem Laden hingegen ließ er seiner Rede freien Lauf und erzählte, was man wollte. Sie hatte sich gesagt, sie werde von ihm genau erfahren, was bei Herrn Lebigre vorgehe; denn zu ihrer Geheimpolizei – Fräulein Saget – hatte sie nur wenig Vertrauen. So erfuhr sie von dem furchtbaren Schwätzer allerlei verworrene Dinge, die sie sehr erschreckten. Zwei Tage nach der Auseinandersetzung, die sie mit Quenu gehabt, kam sie sehr blaß von dem Markte heim. Sie winkte ihrem Gatten, ihr in das Speisezimmer zu folgen. Nachdem sie hier die Türen sorgfältig geschlossen hatte, brach sie los:

Dein Bruder will uns auf das Schafott bringen? ... Warum hast du mir verheimlicht, was du weißt?

Quenu schwor, daß er nichts wisse, daß er seither nicht bei Herrn Lebigre gewesen und auch nicht mehr hingehen wolle. Doch sie zuckte mit den Achseln und fuhr fort:

Daran wirst du wohl tun, wenn du nicht deine Haut dort lassen willst ... Florent ist mit bei irgendeinem schlimmen Streich, ich ahne es. Ich habe genug davon erfahren, um zu erraten, wohin sein Weg ihn führt ... Er kommt wieder auf die Galeeren, hörst du?

Nach einer Weile fuhr sie in ruhigerem Tone fort:

Ach der Unglückliche! ... Er war da wie der Vogel im Hanfsamen; er konnte wieder rechtschaffen werden, er sah nur gute Beispiele vor sich. Nein, es liegt im Blute; er wird sich mit seiner Politik noch den Hals brechen ... Das muß ein Ende nehmen, hörst du? Ich habe dich gewarnt.

Sie sprach diese letzten Worte mit großem Nachdruck. Quenu senkte den Kopf und harrte seines Urteils.

Vor allem, sagte sie, wird er nicht mehr hier essen. Es ist genug, daß er hier Unterkunft hat. Er erwirbt Geld, er mag sich verpflegen.

Er wollte widersprechen; allein sie schloß ihm den Mund, indem sie in heftigem Tone hinzufügte:

Dann wähle zwischen ihm und uns. Ich schwöre dir, daß ich mit meiner Tochter weggehe, wenn er länger da bleibt. Soll ich es dir sagen? Dieser Mensch ist zu allem fähig ... er ist ein Störenfried zwischen uns. Aber ich will beizeiten Ordnung schaffen ... Du hast gehört: er oder ich!

Quenu blieb stumm; Lisa aber kehrte in den Laden zurück, um einer Käuferin ein halbes Pfund Leberpastete zu geben, was sie mit dem leutseligen Lächeln der schönen Wursthändlerin tat. In einem politischen Gespräch mit Gavard, das sie geschickt herbeigeführt, hatte der Geflügelhändler sich dermaßen erhitzt, daß er ihr sagte, man werde schon sehen, daß alles niedergerissen werden solle, und daß zwei beherzte Männer wie er und ihr Schwager genügten, um »der Bude den roten Hahn aufs Dach zu setzen«. Dies war der böse Streich, von dem sie sprach; irgendeine Verschwörung, auf die der Geflügelhändler fortwährend Anspielungen machte, mit geheimnisvoller Miene und mit einem hämischen Lächeln, das vieles erraten lassen wollte. Sie sah schon im Geiste eine Schar Polizisten in den Wurstladen eindringen, sie, Quenu und Pauline knebeln und in einen tiefen Kerker werfen.

Beim Essen am Abend benahm sie sich eisig kalt; sie legte Florent nicht vor, wie sonst, und sagte wiederholt:

Es ist merkwürdig, wieviel Brot wir in letzter Zeit essen!

Florent begriff endlich. Er fühlte, daß er als ein Verwandter behandelt wird, den man vor die Türe setzen will. In den letzten zwei Monaten hatte Lisa ihn mit den alten Beinkleidern und Röcken Quenus bekleidet, und da er ebenso hager wie sein Bruder dick war, standen diese Kleidungsstücke ihm sehr sonderbar. Sie gab ihm auch die alte Leibwäsche ihres Mannes, zwanzigmal geflickte Taschentücher, zerschlissene Tafeltücher, Leintücher, die nur mehr als Wischlappen gut waren, abgenützte Hemden, für den großen Bauch seines Bruders zugeschnitten und so kurz, daß sie ihm als Jacken hätten dienen können. Er sah sich nicht mehr von dem warmen Wohlwollen der ersten Zeit umgeben. Das ganze Haus zuckte mit den Achseln, weil man sah, daß die schöne Lisa es tat. August und Augustine kehrten ihm auffällig den Rücken, während Pauline – als wahres Schreckenskind – grausame Bemerkungen über seine fleckigen Kleider und seine löcherige Leibwäsche machte. Die letzten Tage litt er hauptsächlich bei Tische. Er wagte kaum mehr zu essen, weil er sah, daß Mutter und Kind ihm auf die Hände schauten, wenn er sich Brot abschnitt. Quenu beugte sich hartnäckig auf seinen Teller nieder und vermied es aufzublicken, um sich in die Vorgänge nicht einmengen zu müssen. Florent plagte jetzt hauptsächlich der Gedanke, wie er den Platz räumen solle. Eine Woche lang drechselte er in Gedanken einen Satz, mit dem er ankündigen wollte, daß er künftig außerhalb des Hauses seine Mahlzeiten nehmen werde; und er fand nicht den Mut, diesen Satz auszusprechen.

Dieser zartsinnige Mensch lebte in solcher Täuschung, daß er seinen Bruder und seine Schwägerin zu kränken fürchtete, wenn er nicht mehr da essen werde. Mehr als zwei Monate hatte er gebraucht, bis er die geheime Feindschaft Lisas merkte; zuweilen glaubte er noch sich zu täuschen und fand sie sehr gütig zu ihm. Seine Selbstlosigkeit ging so weit, daß er seine Bedürfnisse vergaß; es war keine Tugend mehr, sondern der äußerste Gleichmut, der absolute Mangel alles Persönlichen. Niemals – selbst dann nicht, als er sich allmählich aus dem Hause verjagt sah – dachte er an die Erbschaft des alten Gradelle, an die Rechnung, die seine Schwägerin ihm hatte legen wollen. Er hatte übrigens im voraus seine Geldausgaben berechnet; mit dem Gelde, das Frau Verlaque von seinen Bezügen übrig ließ, und mit den monatlichen dreißig Franken für eine Unterrichtsstunde, die die schöne Normännin ihm verschafft hatte, berechnete er, daß er achtzehn Sous für sein Frühstück und sechsundzwanzig Sous für sein Mittagbrot werde ausgeben können. Dies genügte vollauf. Endlich faßte er sich eines Morgens ein Herz; er benutzte die neue Lektion, die er gab, als Vorwand, um zu erklären, es sei ihm unmöglich, sich zu den Mahlzeiten im Wurstladen einzufinden. Diese mühselig ersonnene Lüge brachte er nur errötend vor. Er entschuldigte sich noch:

Ihr dürft mir deshalb nicht zürnen, mein Schüler ist nur zu diesen Stunden frei. Das tut nichts; ich werde außerhalb des Hauses einen Bissen essen und mich des Abends nach eurem Befinden erkundigen.

Die schöne Lisa blieb kühl, was ihn noch mehr in Verwirrung brachte. Sie hatte ihm nicht den Abschied geben wollen, um nicht das Unrecht auf ihrer Seite zu haben; sie zog vor, daß er selber ermüde. Jetzt ging er, und man war ihn los; sie vermied jede Freundschaftsbekundung, die ihn hätte zurückhalten können. Nur Quenu sagte leicht verlegen:

Tue dir keinen Zwang an; iß außer dem Hause, wenn es dir besser paßt. Du weißt ja, daß wir dich nicht wegschicken. Du wirst zuweilen, am Sonntag, bei uns essen.

Florent ging eilig fort; ihm war das Herz schwer. Als er nicht mehr da war, fand Lisa nicht den Mut, ihrem Gatten seine Schwäche, die Einladung für den Sonntag, vorzuwerfen. Sie blieb Siegerin und atmete frei in dem Speisezimmer mit den hell gestrichenen Eichenmöbeln; am liebsten hätte sie ausräuchern mögen, um den Geruch der krankhaften Magerkeit zu verscheuchen, den sie da verspürte. Im übrigen stellte sie sich auf den Standpunkt der Abwehr. Ja, noch mehr: nach Verlauf einer Woche ward sie von lebhafter Unruhe erfaßt. Sie sah Florent nur selten, des Abends, und träumte von schrecklichen Dingen, von einer Höllenmaschine, die oben in dem Zimmer Augustines fabriziert wird, oder von geheimen Signalen, die von der Terrasse erwartet wurden, um das Stadtviertel mit Barrikaden zu bedecken. Gavard trug eine düstere Miene zur Schau; er antwortete nur mit Kopfschütteln und überließ tagelang seinen Stand der Obhut Marjolins. Die schöne Lisa beschloß, sich volle Aufklärung zu verschaffen. Sie erfuhr, daß Florent einen Tag Urlaub habe, den er mit Claude Lantier bei Madame François in Nanterre zu verbringen gedachte. Da er bei Tagesanbruch aufbrechen und erst am Abend zurückkehren sollte, dachte sie daran, Gavard zum Essen einzuladen; dieser werde bei Tische sicherlich alles ausplaudern. Allein, sie konnte den Geflügelhändler den ganzen Vormittag nicht finden. Nachmittags ging sie abermals in die Hallen.

Marjolin war in dem Stande allein. Hier schlummerte er stundenlang und ruhte von seinen langen Streifzügen aus. Gewöhnlich setzte er sich auf einen Stuhl, legte die Beine auf einen zweiten und stützte den Kopf auf den kleinen Vorratsschrank, der im Hintergrunde des Standes sich befand. Im Winter entzückte ihn das zur Schau gestellte Wildbret; die Rehe, mit dem Kopfe nach unten gehängt, die Vorderfüße gebrochen und um den Hals gebunden, die Lerchen, die auf eine lange Schnur gefaßt den Stand umgaben, an den Halsschmuck der Wilden erinnernd; die großen, roten Hasen, die kleingefleckten Rebhühner, die bronzegrauen Wasservögel, die russischen Haselhühner, die in ein Gemengsel von Haferstroh und Kohl gepackt ankommen; die Fasane, so prächtig mit ihrer scharlachroten Haube, ihren samtgrünen Halsstück, ihrem goldgelben Mantel, ihrem langen, flammenden Schweife, der Schleppe einer Hofrobe gleich. Alles Gefieder erinnerte ihn an Cadine und die Nächte, die sie in den weichen Geflügelkörben zugebracht hatten.

An diesem Tage fand die schöne Lisa Marjolin mitten im Geflügel. Der Nachmittag war mild; ein warmer Lufthauch wehte in den schmalen Gängen des Pavillons. Sie mußte sich bücken, um ihn zu entdecken, wie er im Hintergrunde des Standes, unter dem rohen Fleische dalag. Oben hingen fette Gänse an den eisernen Haken des Balkens; der Nagel saß in der blutigen Wunde des langen, steifen Halses, darunter die breite Masse des Bauches, rötlich unter dem feinen Flaum, sich blähend wie ein nackter Leib inmitten der Weiße des Schwanzes und der Flügel. Vor dem Balken hingen ferner mit gespreizten, wie zu einem gewaltigen Sprung ausholenden Beinen und mit hängenden Ohren Hasen mit grauem Halse und einem weißen Haarbüschel am Schwänze; der Kopf mit den scharfen Zähnen und den gebrochenen Augen zeigte das blöde Grinsen der toten Tiere. Auf dem Auslagetische zeigten gerupfte Hühner die fleischige Brust, gespannt durch die Kanten des Spreißels; auf einem Korbe lagen Tauben mit dem zarten Schimmer ihrer nackten Haut; Enten mit rauherer Haut spreizten ihre Füße aus; drei prächtige Truthähne, bläulich schimmernd wie ein frisch rasiertes Kinn, schliefen auf dem Rücken mit zusammengenähtem Halse und fächerartig ausgebreiteten schwarzen Flügeln. Nebenan war auf Tellern Geflügelklein ausgelegt: die Leber, der Magen, der Hals, die Füße, die Flügel, während auf einer ovalen Schüssel ein abgehäutetes und ausgeweidetes Kaninchen lag, die vier Füße ausgespreizt, der Kopf blutig, der Bauch geöffnet und die zwei Nieren aufgedeckt; ein Blutfaden lief vom Rücken bis zum Schwanze und färbte da, Tropfen um Tropfen, die weiße Porzellanschüssel rot. Marjolin hatte sich nicht die Mühe genommen, das zum Zerkleinern des Geflügels dienende Brett abzuwischen, auf dem noch die Pfoten des Kaninchens lagen. Er schloß die Augen zur Hälfte; rings um ihn her, auf den drei Gestellen des Standes lagen noch mehrere Haufen toten Geflügels, Geflügel in Papiertüten, die man für Sträuße halten konnte, lange Reihen von eingeknickten Schenkeln und runden Brüsten, im Zwielichte des Standes sich verlierend. Mitten unter allen den Nahrungsmitteln hatte der große blonde Körper des Jungen – seine Wangen, seine Hände, sein mächtiger Hals mit dem rötlichblonden Haar – das feine Fleisch der prächtigen Truthähne und die Bauchrundung der fetten Gänse.

Als er die schöne Lisa bemerkte, erhob er sich rasch; er schämte sich, von ihr überrascht worden zu sein, wie er sich so hingelümmelt hatte. Er war vor ihr immer sehr schüchtern, sehr verlegen; und als sie ihn fragte, ob Herr Gavard da sei, stammelte er:

Nein ... ich weiß nicht. Er war soeben da und ist wieder fort.

Lächelnd betrachtete sie ihn; sie hatte großes Wohlwollen für ihn. Da sie eine Hand hängen ließ, fühlte sie plötzlich, daß ein warmer Gegenstand sich an dieselbe reibe, und stieß einen leisen Schrei aus. Unter dem Auslagetische waren in einer Kiste lebende Kaninchen, die die Köpfe hervorstreckten und ihre Röcke beschnupperten.

Ach, rief sie lachend, es sind Kaninchen, die mich kitzeln.

Sie bückte sich, um ein weißes Kaninchen zu streicheln; allein dieses flüchtete in einen Winkel der Kiste. Als sie sich wieder erhob, fragte sie weiter:

Kehrt Herr Gavard bald zurück?

Marjolin erwiderte von neuem, daß er es nicht wisse. Seine Hände zittertetn ein wenig. Mit zögernder Stimme fügte er hinzu:

Er ist vielleicht im Geflügelkeller. Mich dünkt, er wollte dort hingehen.

Ich möchte ihn erwarten, sagte Lisa. Man könnte ihn verständigen, daß ich da bin ... Oder, ich gehe vielleicht selbst hinunter ... Das ist ein Gedanke! ... Seit fünf Jahren schon will ich den Geflügelkeller sehen ... Du führst mich hin und erklärst mir alles, nicht wahr?

Er ward sehr rot. Mit raschen Schritten verließ er den Stand und ging vor ihr her. Die Auslage sich selbst überlassend, stammelte er:

Alles, was Sie wollen, Frau Lisa.

Unten fand die schöne Wursthändlerin die Kellerluft erstickend. Sie blieb auf der letzten Stufe stehen, erhob die Blicke, betrachtete das Gewölbe mit seinen Streifen aus roten und weißen Ziegeln, hergestellt aus glatten Bogen, eingefaßt von Rippen aus Gußeisen und gestützt durch Säulchen. Was noch mehr als die Dunkelheit sie zurückhielt, war ein warmer, durchdringender Geruch, ein Hauch von lebenden Tieren, der sie in der Nase und im Halse prickelte.

Das riecht sehr übel, murmelte sie; es ist nicht gesund, hier zu leben.

Ich befinde mich sehr wohl, erwiderte Marjolin erstaunt. Der Geruch ist nicht schlecht, wenn man erst daran gewöhnt ist. Und im Winter ist's hier sehr warm und behaglich.

Sie folgte ihm und sagte, der scharfe Geruch der Geflügel sei ihr widerwärtig, und sie könne zwei Monate lang kein Huhn essen. Die Verschläge, diese schmalen Zellen, wo die Händler das lebende Geflügel in Verwahrung halten, zogen sich in langen Zeilen dahin, einander in rechtem Winkel schneidend. Die wenigen Gasflammen verbreiteten nur ein schwaches Licht; die Zellengäßchen lagen in tiefer Stille da, gleich einem Dorfe, in dem die Bewohner zu Bett gegangen sind. Marjolin ließ Lisa das engmaschige Drahtgitter befühlen, das sich um den gußeisernen Rahmen der Zellen legte. Während sie ein Gäßchen entlang schritt, las sie die Namen der Mieter, die auf blauen Plättchen angeschrieben waren.

Herr Gavard ist ganz hinten, sagte der junge Mensch immer vorausgehend.

Sie wandten sich links und gelangten in ein Sackgäßchen, in einen dunklen Winkel, den kein Lichtstrahl erreichte. Gavard war nicht da.

Das tut nichts, sagte Marjolin. Ich will Ihnen dennoch unsere Tiere zeigen; ich habe einen Schlüssel zu dem Verschlag.

Die schöne Lisa betrat hinter ihm das stockfinstere Sackgäßchen. Hier fand sie ihn plötzlich mitten unter ihren Röcken. Sie glaubte zu nahe an ihn herangekommen zu sein und wich zurück, indem sie lachend ausrief:

Es ist hier finster wie in einem Backofen; wie soll ich da die Tiere sehen?

Er antwortete nicht sogleich; dann stammelte er, daß es in dem Käfig stets eine Kerze gebe. Doch es währte lange, bis er aufsperrte, er konnte das Schlüsselloch nicht finden. Als sie sich bückte, um ihm zu helfen, fühlte sie einen heißen Atem an ihrem Halse. Als er endlich die Tür geöffnet und die Kerze angezündet hatte, sah sie ihn dermaßen zittern, daß sie ausrief:

Großer Tölpel! Wie kann man in einen solchen Zustand geraten, weil man eine Tür nicht hatte öffnen können? Trotz deiner großen Fäuste bist du weichlich wie ein Fräulein.

Sie trat nun in den Verschlag. Gavard hatte zwei Abteilungen gemietet und daraus einen Hühnerstall gemacht, indem er die Zwischenwand entfernte. Am Boden, im Düngerhaufen wateten die größeren Tiere, die Gänse, Truthähne, Enten; oben in den drei Fächern der Gestelle waren in platten Käfigen mit durchbrochenem Deckel Hühner und Kaninchen. Das Drahtgitter des Verschlages war ganz staubig und dermaßen mit Spinngewebe überzogen, daß es mit grauen Vorhängen versehen zu sein schien; der Harn der Kaninchen verdarb den unteren Teil der Wände; der Mist des Geflügels bedeckte die Dielen mit weißlichgrauen Schmutzflecken. Doch Lisa wollte keinen weiteren Ekel zeigen, um Marjolin nicht noch mehr zu kränken. Sie steckte die Finger zwischen den Stäben der Käfige hindurch und beklagte das Schicksal der armen Hühner, die sich nicht einmal aufrecht halten konnten. Sie streichelte eine Ente, die mit einem gebrochenen Bein in einem Winkel hockte, während der junge Mensch ihr sagte, daß man die Ente noch den nämlichen Abend schlachten werde, aus Furcht, daß sie über Nacht umfallen könne.

Aber wie füttert man denn die Tiere? fragte sie.

Nun erklärte er ihr, daß das Geflügel im Finstern nicht fressen will. Die Geflügelhändler sind genötigt, eine Kerze anzuzünden und zu warten, bis die Tiere gefressen haben.

Mir macht dies Spaß, fuhr er fort; ich leuchte ihnen stundenlang. Man muß nur sehen, wie tüchtig sie mit ihren Schnäbeln zulangen. Wenn ich das Kerzenlicht mit der Hand verdecke, strecken alle die Hälse in die Höhe, als ob die Sonne untergegangen wäre ... Es ist verboten, wegzugehen und die brennende Kerze da zu lassen. Eine Geflügelhändlerin, die Sie kennen – Mutter Palette – hat es neulich getan und es hat wenig gefehlt, daß alles verbrannt wäre. Es scheint, daß eine Henne die Kerze umgeworfen und so das Stroh in Brand gesetzt hat.

Ah! dem Geflügel geht es gar nicht so übel, wenn man ihm zu jeder Mahlzeit gleich den Leuchter anzünden muß, rief Lisa heiter aus.

Marjolin lachte. Lisa trat aus der Zelle, wischte die Schuhe ab und hob ein wenig das Kleid, um es vom Unrat rein zu halten. Der Bursche blies die Kerze aus und verschloß die Zelle. Sie hatte Furcht, so im Finstern, an der Seite dieses großen Jungen den Rückweg anzutreten. Sie ging voraus, um ihn nicht so dicht an ihren Röcken zu haben. Als er sie eingeholt hatte, sagte sie:

Es ist mir doch lieb, alles gesehen zu haben. Es gibt unter den Hallen Dinge, von denen man keine Ahnung hat. Ich danke dir ... Ich will rasch hinauf gehen; in meinem Laden wird man nicht wissen, wo ich solange bleibe. Wenn Herr Gavard zurückkommt, sage ihm, daß ich sogleich mit ihm zu sprechen wünsche.

Aber, er ist gewiß bei den Schlachtsteinen, sagte der Bursche. Wir können nachsehen, wenn Sie wollen.

Sie schwieg, beklommen von der warmen Luft, die ihr Gesicht erhitzte. Sie war ganz rot und ihr straffes Leibchen, sonst so ruhig, ward von einem Zittern erfaßt. Der hastige Tritt des hinter ihr her keuchenden Marjolin beunruhigte sie, verursachte ihr ein Unbehagen. Sie trat zur Seite und ließ ihn vorausgehen. Die dunklen Zellengäßchen lagen noch immer in tiefer Stille da wie ein schlafendes Dorf. Lisa bemerkte, daß ihr Führer einen Umweg nehme. Als sie bei dem Schienengeleise anlangten, sagte er, daß er ihr die unterirdische Eisenbahn habe zeigen wollen. Sie blieben da einen Augenblick stehen und schauten über die dicken Balken der Einfriedung. Er machte sich erbötig, ihr die Eisenbahn zu zeigen, doch sie lehnte ab; es sei nicht der Mühe wert, sagte sie; man sehe ja, was daran sei. Als sie den Rückweg antraten, fanden sie die Mutter Palette vor ihrem Verschlage; sie war damit beschäftigt, die Schnüre von einem breiten, viereckigen Korbe loszumachen, in dem es heftig flatterte. Als sie den letzten Knoten gelöst hatte, erschienen plötzlich lange Gänsehälse, die den Deckel hoben. Die Gänse drängten wild aus den Körben und watschelten laut schnatternd und pfauchend in den finsteren Keller. Lisa konnte ein Lachen nicht unterdrücken trotz der Klagen der verzweifelten Geflügelhändlerin, die da fluchte wie ein Kärrner und zwei Gänse, die davon laufen wollten, am Halse packte. Marjolin war einer dritten nachgelaufen. Man hörte ihn durch die Gäßchen rennen, die Spur verlierend, an dieser Jagd sich ergötzend. Dann hörte man das Geräusch eines kurzen Kampfes und gleich darauf kam er mit der Gans zurück. Die Mutter Palette, ein altes, gelbes Weib, nahm die Gans in ihre Arme und drückte sie einen Augenblick an ihren Bauch, in der Stellung der antiken Leda.

Ein Glück, daß du da bist, sagte sie zu Marjolin ... Neulich hatte ich einen rechten Kampf mit so einem Beest; aber ich hatte mein Messer bei mir und schnitt ihr den Hals ab.

Marjolin war ganz außer Atem. Als sie bei den Schlachtsteinen ankamen, wo das Gas ein helles Licht verbreitete, sah Lisa, daß der Bursche in Schweiß gebadet sei und daß seine Augen ganz ungewöhnlich funkelten. Sonst schlug er vor ihr die Augen nieder wie ein Mädchen. Sie fand, daß er ein sehr hübscher Mann sei mit seinen breiten Schultern, seinem großen, rosigen Antlitz, umgeben von blonden Locken. Sie betrachtete ihn so wohlgefällig mit jener Miene ungefährlicher Bewunderung, die man den allzu jungen Burschen zeigen darf, daß er wieder einmal völlig eingeschüchtert wurde.

Du siehst wohl, daß Herr Gavard nicht da ist, sagte sie; ich verliere nur meine Zeit.

Nun erklärte er ihr in hastigem Tone das Schlachten. Fünf riesige Steinbänke waren in einer Reihe aufgestellt, auf der Seite der Rambuteau-Straße, unter dem fahlen Lichte der Fenster und der Gasflammen. An einem Ende schlachtete ein Weib die Hühner; er machte Lisa aufmerksam, daß die Schlächterin das Geflügel lebend rupfe, weil dies leichter sei. Dann verlangte er, sie möge von den riesigen Federnhaufen, die auf den Steinbänken lagen, einige Handvoll nehmen; er sagte, diese Federn würden ausgesucht und – je nach ihrer Feinheit – bis zu neun Sous das Pfund verkauft. Sie mußte auch in die mit Flaumen gefüllten großen Körbe die Hand stecken. Dann drehte er die Wasserhähne auf, die an jedem Pfeiler angebracht waren. Er war unerschöpflich in Einzelheiten; das Blut fließe über die Steinbänke auf die Fliesen hernieder und bilde da große Pfützen; die Knechte kommen alle zwei Stunden, um mit Wasser und Bürsten den Fußboden zu reinigen. Als Lisa sich über die Mündung des Abflußkanals neigte, hatte er neue Geschichten zu erzählen. Wenn es Gewitter gebe, dringe der Regen durch die Kanalmündung ein und überschwemme den Keller; einmal sei das Wasser dreißig Zentimeter hoch gestanden und man habe das Geflügel nach dem höher gelegenen äußersten Ende des Kellers retten müssen. Er lachte noch über den Rummel, den die scheu gewordenen Tiere verursachten. Und dann wußte er nichts mehr; da erinnerte er sich des Ventilators. Er führte sie in den Hintergrund und hieß sie in die Höhe blicken; da sah sie das Innere eines der Ecktürmchen, eine Art breiten Abzugsrohres, durch das die schlechte Luft des Geflügelkellers entwich.

Marjolin stand wortlos in diesem Winkel, wo alle die eklen Gerüche zusammenströmten. Es war der scharfe, alkalienhaltige Gestank des Guano. Doch ihn schien er zu stärken und zu erfrischen. Seine Nasenflügel zitterten und er atmete kräftig, wie von dreisten Begierden erfaßt. Seit einer Viertelstunde, die er in Begleitung der schönen Lisa in den Kellerräumen verbrachte, betäubten ihn der Geruch und die Wärme, die von allen lebenden Tieren ausströmten. Seine Schüchternheit war geschwunden und er war voll jener Brunst, die den Düngerhaufen der Hühnerställe unter dem platten Gewölbe der Keller durchhitzte.

Du bist ein wackerer Junge, sagte die schöne Lisa; es ist hübsch von dir, daß du mir alles gezeigt hast, und wenn du in den Wurstladen kommst, sollst du etwas geschenkt kriegen.

Sie faßte ihn am Kinn, wie sie es sonst oft getan und übersah, daß er schon ein großer Junge geworden. Sie war, um die Wahrheit zu sagen, ein wenig erregt infolge dieses unterirdischen Spazierganges. Es war eine angenehme Erregung, die ihr wohltat wie etwas Erlaubtes, das weiter keine Folgen hat. Sie ließ ihre Hand vielleicht etwas länger als sonst an dem Kinn dieses Jünglings ruhen, das sich so glatt anfühlte. Bei dieser liebkosenden Berührung folgte der Bursche dem Andringen seiner Gefühle. Nachdem er sich mit einem Blick überzeugt hatte, daß niemand in der Nähe sei, stürzte er sich mit der Kraft eines Stieres auf die schöne Lisa. Er hatte sie bei den Schultern gepackt und in einen großen Federkorb geschleudert, wo sie wie eine schwere Masse hinfiel; dabei flogen ihre Röcke bis zu den Knien hinauf. Und er schickte sich an, sie um den Leib zu fassen, wie er Cadine zu fassen pflegte, mit der Brutalität eines Tieres, das raubt und sich sättigt, als Lisa, ohne einen Ruf auszustoßen und ganz bleich angesichts dieses plötzlichen Angriffes, sich mit einem Satz in dem Korbe aufrichtete. Sie erhob den Arm, wie sie es bei den Schlachtbänken gesehen hatte, ballte ihre schöne Frauenfaust und streckte mit einem, zwischen die beiden Augen geführten Schlag den Jungen nieder, daß er hinfiel und an einer Kante des Schlachtsteines sich den Kopf spaltete. In diesem Augenblicke erscholl aus dem Dunkel – lang und rauh – ein Hahnenschrei.

Die schöne Lisa hatte ihre Kaltblütigkeit wieder erlangt. Ihre Lippen waren gespitzt; ihr Busen hatte wieder seine ruhige Rundung, die ihn einem Bauche gleich machte. Über ihrem Haupte vernahm sie das dumpfe Getöse der Hallen. Durch die Kellerfenster, die auf die Rambuteau-Straße gingen, drang das Geräusch der Straße in diese stillen unterirdischen Räume. Sie sagte sich, daß ihre kräftigen Arme allein sie gerettet hätten. Sie schüttelte die wenigen Federn ab, die noch an ihren Röcken klebten. Und in der Furcht, hier überrascht zu werden, ging sie von dannen, ohne Marjolin auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie atmete erst auf, als sie das Gitter hinter sich hatte und im Tageslichte die Kellertreppe emporstieg.

Sehr ruhig, nur ein wenig blaß, kehrte sie in den Wurstladen zurück.

Du warst lang fort, sagte Quenu.

Ich habe Gavard nicht gefunden und ihn überall gesucht, sagte sie mit ruhiger Stimme. Wir werden unsere Hammelkeule ohne ihn verzehren.

Sie ließ den Schmalztopf füllen, den sie leer fand und schnitt Koteletten für ihre Freundin Frau Taboureau, die ihre kleine Magd gesandt hatte. Die mit dem Hackmesser geführten Schläge erinnerten sie an Marjolin, der im Geflügelkeller lag. Doch sie machte sich keinen Vorwurf. Sie hatte als ehrbare Frau gehandelt. Wegen dieses Jungen wird sie doch ihren häuslichen Frieden nicht preisgeben. Sie lebte so glücklich zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter. Dabei blickte sie nach Quenu; er hatte am Nacken eine rauhe Haut, eine rötliche Schwarte und sein rasiertes Kinn war runzelig wie knotiges Holz, während Nacken und Kinn des andern wie von rosigem Samt waren. Doch sie durfte nicht mehr daran denken und wird ihn nicht mehr berühren, da er an Unmögliches dachte. Es war ein kleines erlaubtes Vergnügen, das sie bedauerte, indem sie sich sagte, daß die Kinder wahrhaftig zu schnell heranwachsen.

Da eine leichte Röte ihre Wangen färbte, fand Quenu, daß sie »verflixt gut« aussehe. Er setzte sich zu ihr vor das Pult und sagte:

Du solltest häufiger ausgehen. Das tut dir wohl ... Wenn du willst, gehen wir an einem der nächsten Abende in das Lustspieltheater, wo Frau Taboureau das neue Stück gesehen hat, das so gut ist ...

Lisa erwiderte lächelnd, sie wolle sehen. Dann verschwand sie von neuem. Quenu dachte, sie sei gar zu gut, daß sie diesem Tölpel Gavard so nachlaufe. Er hatte nicht gesehen, daß sie die Treppe emporgestiegen war. Sie ging nach der Kammer Florents, deren Schlüssel stets in der Küche an einem Nagel hing. Sie hoffte, in dieser Kammer etwas zu erfahren, da sie auf den Geflügelhändler nicht mehr zählen konnte. Langsam machte sie die Runde in dem Zimmer, untersuchte das Bett, den Kamin, die vier Winkel. Das Fenster der kleinen Terrasse war offen, der knospende Granatenbaum war von dem Goldstaub der untergehenden Sonne übergössen. Es schien ihr, als habe ihr Ladenmädchen diese Stube noch nicht verlassen, als habe es noch in der letzten Nacht da geschlafen; sie roch den Mann nicht. Sie war sehr erstaunt, denn sie war darauf gefaßt, verdächtige Kisten, Möbelstücke mit großen Schlössern zu finden. Sie betastete das Sommerkleid Augustines, das noch immer an der Wand hing. Dann setzte sie sich an den Tisch und las eine begonnene, aber nicht beendete Schriftseite, auf der das Wort »Revolution« zweimal vorkam. Sie war erschreckt und öffnete das Schubfach, das voll mit Papieren war. Allein ihre Ehrbarkeit erwachte angesichts dieses Geheimnisses, das in diesem schlechten Tische von weichem Holze so schlecht behütet war. Sie saß über diese Papiere gebeugt und suchte sie zu verstehen, ohne sie zu berühren; aus ihrer Erregung riß sie der plötzliche laute Ruf des Finken, dessen Käfig von einem schrägen Sonnenstrahl erhellt war. Sie erbebte und schob das Fach zurück. Was sie da tun wollte, war sehr schlecht.

Während sie in Gedanken versunken am Fenster stand und sich sagte, daß sie den Abbé Roustan, einen klugen Mann, zu Rate ziehen sollte, sah sie unten, auf dem Pflaster der Hallen, eine Ansammlung von Menschen rings um eine Tragbahre. Die Nacht senkte sich schon herab; aber sie erkannte dennoch Cadine, die weinend mitten in einer Gruppe stand, während Florent und Claude, die Stiefel ganz weiß vom Staube, am Rande des Fußsteiges in lebhaftem Gespräch begriffen waren. Überrascht von der Rückkehr dieser beiden, beeilte sich Lisa hinunterzugehen. Kaum wieder vor ihrem Pulte sitzend, sah sie Fräulein Saget eintreten, die ausrief:

Dieser Halunke Marjolin ist im Keller mit gespaltenem Schädel gefunden worden ... Wollen Sie nicht auch sehen, Frau Quenu?

Sie ging über die Fahrstraße hinüber, um Marjolin zu sehen. Der junge Mensch lag ganz blaß mit geschlossenen Augen da; ein Haarbüschel steif von gestocktem Blute fiel auf die Stirne. In der Gruppe sagte man, es habe nichts zu bedeuten; der Junge sei selbst schuld an seinem Unfall; er treibe sich immer in den Kellern herum, wo er allerlei schlimme Streiche verübe. Man nahm an, daß er über eine der Schlachtbänke habe springen wollen – was eines seiner Lieblingsspiele war – und hierbei mit der Stirn auf einen Stein aufgeschlagen sei.

Fräulein Saget zeigte auf die weinende Cadine und brummte:

Sicher hat ihn die Dirne gestoßen; sie stecken immer in den Winkeln beisammen.

Durch die frische Luft der Straße zum Bewußtsein gebracht, schlug Marjolin erstaunt die Augen auf; er betrachtete die Leute um sich her. Als er Lisas Antlitz sah, das sich zu ihm herniederneigte, lächelte er ihr sanft und friedlich zu. Er schien sich an nichts mehr zu erinnern. Lisa war einigermaßen beruhigt und sagte, man solle ihn sogleich nach dem Krankenhause schaffen; sie werde ihn da besuchen, ihm Orangen und Zwieback bringen. Marjolins Kopf war wieder auf die Tragbahre zurückgesunken. Als man diese fortschaffte, folgte Cadine schluchzend mit dem Tragkorb am Halse; die Veilchen steckten in ihrem Moosbette, und sie netzte sie reichlich mit ihren Tränen, unbekümmert darum, daß sie die zarten Blumen mit ihrem heißen Kummer versenge.

Als Lisa nach dem Wurstladen zurückkehrte, hörte sie Claude, der mit einem Händedruck von Florent schied und brummte:

Der verdammte Schlingel verdirbt mir meinen Tag! Und wir haben uns doch so gut unterhalten! ...

Claude und Florent waren in der Tat ganz müde und zufrieden zurückgekehrt und hatten einen gesunden, frischen Landgeruch mitgebracht. Diesen Morgen hatte Frau François schon vor Sonnenaufgang ihre Gemüse verkauft. Alle drei begaben sich in die Herberge »zum goldenen Kompaß« in die Montorgueil-Straße, um den Karren aufzusuchen. Es war dies mitten in Paris gleichsam ein Vorgeschmack vom Landaufenthalt. Hinter dem Restaurant Philippe, dessen vergoldetes Getäfel bis zum ersten Stock hinansteigt, liegt ein alter Wirtschaftshof, wo es lebendig hergeht, nach frischem Stroh und heißem Dünger riecht. Ganze Scharen Hühner wühlen mit dem Schnabel in der weichen Erde; allerlei Gebäude von morschem, moosgrünem Holze, Treppen, Gänge, geborstene Dächer lehnen sich an die benachbarten alten Häuser; im Hintergrunde unter einem Schuppen von roh gezimmertem Gebälk wartete Balthasar, vollständig aufgeschirrt und angespannt, und fraß sein Futter aus einem um den Kopf gehängten Sack. Das Pferd lief in kurzem Trab die Montorgueil-Straße, gleichsam froh, daß es so früh nach Nanterre zurückkehren durfte. Aber es sollte nicht leer heimkehren; die Krautgärtnerin hatte mit der Unternehmung, die die Reinigung der Hallen besorgte, einen Vertrag abgeschlossen; zweimal in der Woche führte sie einen Karren voll Abfälle heim, die sie von dem Pflaster der Hallen mit der Heugabel auflesen durfte. Das gab einen sehr guten Dünger. In wenigen Minuten war der Karren voll. Florent und Claude streckten sich auf diesem weichen Lager von grünen Abfällen aus; Frau François ergriff die Zügel und Balthasar setzte sich in einen langsamen Gang, wobei er den Kopf hängen ließ, weil er heute so viele Leute zu schleppen hatte.

Schon seit langer Zeit hatten sie diesen Ausflug geplant. Die Gemüsegärtnerin lachte zufrieden. Sie mochte diese beiden Männer gut leiden und verhieß ihnen einen Pfannkuchen mit Speck, wie man ihn »in diesem lumpigen Paris« nicht auf den Tisch bekommt. Sie genossen im voraus das Vergnügen dieses mit müßigem Herumstreifen zu verbringenden Tages, dessen Sonne noch nicht aufgegangen war. In der Ferne verhieß ihnen Nanterre eine reine Freude, die sie alsbald genießen sollten.

Die Herren liegen doch bequem? fragte Frau François, als sie in die Pont-Neuf-Straße einbogen.

Claude schwor, »es sei weich wie ein Brautbett«. Auf dem Rücken liegend, die Hände unter dem Kopfe gekreuzt, betrachteten sie den bleichen Morgenhimmel, an dem die Sterne langsam erloschen. Die ganze Rivoli-Straße entlang beobachteten sie Stillschweigen; sie warteten, bis sie keine Häuser mehr sehen würden und hörten der wackeren Bäuerin zu, die mit Balthasar sprach und ihm sagte:

Mach' dir's bequem, Alter! Wir haben es nicht eilig; wir kommen früh genug heim.

Als man in den Champs-Elysées angekommen war und der Maler zu beiden Seiten der Straße nur mehr die Wipfel der Bäume, mit der dichten, grünen Masse der Tuileriengärten im Hintergrunde sah, erwachte er plötzlich und begann zu reden. An der Roule-Straße vorbeikommend, betrachtete er jenes Seitenportal der Eustach-Kirche, das man von ferne sieht oberhalb des Riesendaches eines gedeckten Ganges der Hallen. Er kehrte immer wieder zu diesem Gegenstande zurück, in dem er ein Zeichen erblicken wollte.

Ein seltsames Zusammentreffen, sagte er, dieser Winkel einer Kirche, eingerahmt in diese gußeiserne Straße ... Das Eisen wird den Stein töten, und die Zeit ist nicht mehr fern ... Glauben Sie an den Zufall, Florent? Mich dünkt, daß nicht die Notwendigkeit der geradlinigen Anordnung allein diese Rosette der Eustach-Kirche mitten unter die Zentralhallen verschlagen hat. Es ist dies eine förmliche Offenbarung: die moderne Kunst, der Realismus, der Naturalismus, wie Sie wollen, groß geworden angesichts der alten Kunst ... Sind Sie nicht dieser Meinung?

Und da Florent schwieg, fuhr er fort:

Diese Kirche zeigt übrigens eine zwitterhafte Baukunst: das Ersterben des Mittelalters und das Erwachen der Renaissance ... Haben Sie schon bemerkt, was für Kirchen man uns heutzutage baut? Das gleicht allem, was man will: den Bibliotheken, Sternwarten, Taubenschlägen, Kasernen; aber niemand ist überzeugt, daß der liebe Gott darinnen haust. Die Maurer des guten Herrgotts sind tot; das Klügste wäre, nicht mehr diese häßlichen Gerippe aufzuführen, wo wir niemanden unterzubringen haben ... Seit Beginn des Jahrhunderts hat man ein einziges originelles, nirgends kopiertes Monument aufgeführt, ein Denkmal, «das in natürlicher Weise aus dem Boden der Zeit selbst hervorgegangen ist: das sind die Zentralhallen, ein stolzes Werk, das – hören Sie, Florent? – nur eine schüchterne Offenbarung des zwanzigsten Jahrhunderts ist ... Darum ist's aus mit der Eustach-Kirche! Sie verliert sich da hinten mit ihrer Rosette und ist leer von Gläubigen, während die Hallen sich nebenan ausbreiten und voll frischen, fröhlichen Lebens sind ... Das sehe ich, mein Wackerer!

Wissen Sie, Herr Claude, rief Frau François lachend, daß die Frau, die Ihnen das Zungenband gelöst hat, ihre Sache sehr gut gemacht hat! Balthasar spitzt die Ohren, um Ihnen zuzuhören. Hü, Balthasar!

Der Karren fuhr langsam auf der ansteigenden Straße dahin. Zu dieser frühen Stunde war die Allee noch menschenleer, mit ihren eisernen Sesseln auf den beiden Fußsteigen und ihren Rasenplätzen, die sich in der Ferne unter den blauenden Baumdickichten verlieren. Am Rondell begegnete man einem Herrn und einer Dame, die in kurzem Trabe vorüber ritten. Florent, der sich aus einem Haufen Kohlblätter ein Kopfkissen zurecht gemacht hatte, schaute noch immer nach dem Himmel, an dem eine große rote Helle aufflammte. Zuweilen schloß er die Augen, um die Morgenkühle besser über seine Wangen streichen zu fühlen; er war so froh, sich von den Hallen entfernen, in die freie Luft gehen zu können, daß er sich ganz still verhielt und auch nicht hörte, was neben ihm gesprochen wurde.

Die sind auch nicht übel, die die Kunst in ein Schmuckkästchen stecken wollen, fuhr Claude nach einer Weile fort. Ihr Steckenpferd ist: man braucht keine Wissenschaft, um die Kunst auszuüben und die Industrie schlägt die Poesie tot. Und alle diese Schwachköpfe jammern über die Blumen, als ob es jemandem einfalle, den Blumen ein Leid zu tun. Mir ist das schließlich zuwider, und ich fühle mich versucht, auf all das Gewinsel mit stolzen, trutzigen Werken zu antworten. Es würde mir Spaß machen, diese braven Leutchen ein wenig in Aufruhr zu versetzen. Soll ich Ihnen sagen, welches mein schönstes Werk war, seitdem ich arbeite, jenes, dessen ich mich am meisten befriedigt erinnere? Das ist eine ganze Geschichte ... Als ich im vorigen Jahre am Tage vor Weihnachten bei Tante Lisa war, sah ich August – den Lümmel, den Sie ja kennen – damit beschäftigt, das Schaufenster zu ordnen. Der Jammermensch ärgerte mich aufs höchste durch die weichliche Art, wie er das Ganze einrichtete. Ich hieß ihn sich trollen, ich wollte ihm das einmal fein säuberlich vormachen. Sie begreifen, ich hatte alle kräftigen Töne zu meiner Verfügung: das Rot der gefüllten Zungen, das Gelb der Schinkenrinde, das Blau der Papierschnitzel, das Rosa der angeschnittenen Fleischstücke, das Grün des Heidekrautes und besonders das Schwarz der Blutwürste, ein prächtiges Schwarz, das ich auf meiner Palette niemals wiederfinden konnte. Der Vorhang im Hintergrunde, die Weißwürste, die Fleischwürste, die garnierten Schweinsfüße lieferten ein fein abgetöntes Grau. Ich schuf ein wahres Kunstwerk. Ich nahm die Schüsseln, Teller, Platten und Näpfe, mengte die Farben und schuf ein erstaunliches Stilleben, in dem es ein wahres Feuerwerk von scharfsinnig angeordneten Farben gab. Wie gierige Flammen lagen die roten Zungen da, und die schwarzen Blutwürste warfen in die helle Farbe der Saucißchen die Schatten einer ungeheueren Unverdaulichkeit. Ich hatte da die Gefräßigkeit der Christnachtsmahlzeit gemalt, die der Sättigung gewidmete Mitternachtsstunde, die Lüsternheit der bei den frommen Gesängen leer gewordenen Magen. Ganz oben zeigte ein großer Truthahn seine weiße Brust, mit den schwarzen Flecken der Trüffeln unter der Haut. Das Ganze war barbarisch und herrlich zugleich, gleichsam der Bauch in seiner Herrlichkeit, aber in einer solchen Farbengrellheit, mit einem solchen Ausbruch des Spottes, daß die Menge sich vor dem Schaufenster ansammelte, beunruhigt durch diese in so grellen Farben lodernde Auslage ... Als meine Tante Lisa aus der Küche zurückkam, erschrak sie, in der Meinung, ich hätte die Fettmassen ihres Ladens in Brand gesteckt. Besonders schien ihr der Truthahn so unschicklich, daß sie mich zur Türe hinauswarf, während August mit seiner gewohnten Tölpelhaftigkeit die alte Ordnung der Dinge in der Auslage herstellte. Niemals werden diese Dummköpfe die beredte Sprache verstehen, die ein roter Fleck neben einem grauen Fleck führt. Gleichviel: es war mein Meisterstück; ich habe niemals etwas Besseres geschaffen.

Er schwieg jetzt, lächelte und blieb in diese Erinnerung versunken. Der Karren war bei dem Triumphbogen angekommen. Kräftiger strömte die Luft durch die offenen Alleen, die ringsumher in diesem ungeheueren Platze mündeten. Florent setzte sich auf und sog mit vollen Lungen den Grasgeruch ein, der von den Festungswerken aufstieg. Er wandte sich um, blickte nicht mehr auf Paris, sondern wollte die ferne Landschaft sehen. Auf der Höhe der Longchamp-Straße zeigte Frau François ihm den Ort, wo sie ihn von der Straße aufgelesen hatte. Dies machte ihn sehr nachdenklich. Er betrachtete sie, wie sie so gesund und so ruhig dasaß und mit ein wenig gestreckten Armen die Zügel hielt. Sie war schöner als Lisa mit ihrem um die Stirne gebundenen Schnupftuche, ihrer rauhen Farbe, ihrer gutmütigen Miene. Wenn sie leicht mit der Zunge schnalzte, spitzte Balthasar die Ohren und begann flinker auszuschreiten.

In Nanterre wandte sich der Wagen links, fuhr in ein enges Gäßchen ein, kahle Mauern entlang und hielt endlich in einem Sackgäßchen. Es war am Ende der Welt, wie die Krautgärtnerin sagte. Man mußte die Kohlblätter abladen. Claude und Florent wollten nicht zugeben, daß der Gärtnerbursche, der eben Salat setzte, sich deswegen in seiner Arbeit störe. Sie ergriffen jeder eine Gabel, um die Blätter in die Düngergrube zu werfen. Dies machte ihnen Spaß. Claude sah den Dünger gern. Die Gemüseabfälle, der Kehricht der Hallen, der Mist, der von dieser Riesentafel fiel, blieb lebendig, kehrte dahin zurück, wo die Gemüse gewachsen waren, um andere Geschlechter von Kohl, weißen Rüben und gelben Rüben warm zu halten. Sie sprossen als prächtige Früchte wieder hervor und kehrten wieder, um sich auf dem Pflaster der Hallen auszubreiten. Paris brachte alles zum Welken, gab alles der Erde wieder, die, ohne jemals zu ermüden, den Tod wiedergutmachte.

Schau, sagte Claude, das letzte Häuflein Blätter zu Boden werfend; da ist ein Kohlstrunk, den ich wieder erkenne. Wenigstens zum zehntenmal sprießt er dort in jenem Winkel nahe bei dem Aprikosenbaum hervor.

Darüber lachte Florent. Doch er ward gleich wieder ernst und ging langsam in dem Gemüsegarten hin und her, während Claude eine Skizze von dem Stall entwarf und Frau François das Frühstück bereitete. Der Garten bildete einen langen Streifen Erde, in der Mitte durch einen geraden Weg in zwei Hälften gesondert. Er stieg ein wenig an und wenn man ganz oben in die Höhe blickte, konnte man die niedrigen Kasernen des Mont-Valérien sehen. Lebende Hekken sonderten den Garten von anderen Grundstücken ab; diese sehr hohen Weißdornhecken schlossen den Horizont wie mit einem grünen Vorhang ab, so daß man versucht war zu sagen, daß von der ganzen Umgebung der Mont-Valérien allein sich neugierig erhob, um in den Garten der Frau François zu schauen. Tiefer Frieden lag auf dieser Landschaft, die man nicht sah. Zwischen den vier Hecken den ganzen Garten entlang lagerte die wohltuende Wärme der Maisonne, eine Stille, die nur von dem Gesumme der Käfer unterbrochen ward, ein schlummernder Frieden voll frohen Wachstums. Da gab's ein Knistern, dort ein Flüstern; man glaubte die Gemüse wachsen und sprießen zu hören. Die Spinat- und Sauerampferbeete, die mit Radieschen, Möhren und Rüben besteckten Streifen, die großen Pflanzen der Kartoffeln und Kohlköpfe breiteten ihre regelmäßig gezogenen Felder, ihr schwarzes Erdreich aus, nur gestreift von dem Grün der Blätter. Die Salate, die Zwiebel, die Lauche, die Sellerie, in schnurgeraden Reihen gesetzt, schienen bleierne Soldaten, in Parade aufgestellt, während die Erbsen und Bohnen ihren dünnen Stengel um die Pfähle zu winden begannen, die sie im Juni in ein Dickicht verwandeln sollten. Da gab es nicht das geringste Unkraut; man hätte den Küchengarten für zwei parallel laufende Teppiche mit regelmäßigen Zeichnungen halten können, grün auf rotem Grunde, jeden Morgen sorgfältig gereinigt. Zu beiden Seiten des Weges war Thymian gepflanzt, der die Beete gleichsam mit grünen Fransen einsäumte.

Florent erging sich im Dufte des Thymians, den die Sonne erhitzte. Er freute sich innig ob des Friedens und der Reinlichkeit der Erde. Seit nahezu einem Jahre kannte er die Gemüse nur mehr zerdrückt durch das Rütteln der Karren, noch feucht von dem Erdreich, dem sie am Abend vorher entrissen worden. Er freute sich, sie hier zu Hause zu finden, ruhig in dem Erdreich, gesund an allen Gliedern. Die breiten Kohlköpfe hatten ein Aussehen von Wohlbehagen, die Möhren waren heiter, die Salatköpfe reihten sich mit dem Gleichmute von Müßiggängern aneinander. Die Hallen, die er am Morgen verlassen, schienen ihm jetzt ein riesiges Beinhaus, ein Ort des Todes, wo nur die Leichen der Wesen lagen, eine Leichenkammer voll Gestank und Verwesung. Er verlangsamte seine Schritte und erholte sich in dem Gemüsegarten der Frau François, wie nach einem langen Marsche durch betäubende Geräusche und scheußliche Gerüche. Der Lärm und die widerwärtige Feuchtigkeit des Seefischpavillons wichen von ihm; in der frischen Luft ward er gleichsam neu geboren. Claude hatte recht: in den Hallen starb alles ab. Die Erde war das Leben, die ewige Wiege, die Gesundheit der Welt.

Der Pfannkuchen ist fertig! rief Frau François.

Als sie in der Küche, zu deren offenen Tür die Sonne breit hineinschien, bei Tische saßen, langten sie so wacker zu, daß die Gemüsebäuerin Florent verwundert zusah und bei jedem Bissen wiederholte:

Sie sind nicht mehr der Nämliche, Sie sind um zehn Jahre jünger. In diesem lumpigen Paris haben Sie ein so trübseliges Aussehen bekommen. Jetzt haben Sie gleichsam einen Widerschein der Sonne in den Augen ... Das Leben in den großen Städten taugt nichts; Sie sollten hierher wohnen kommen.

Claude lachte und erklärte, Paris sei herrlich. Er verteidigte die Stadt bis auf die Rinnsale, behielt aber dabei seine alte Neigung für das Land. Nachmittags befanden sich Frau François und Florent allein in dem Küchengarten, in einem Winkel, wo einige Obstbäume standen. Sie saßen auf der Erde und redeten ernst miteinander. Sie gab ihm freundschaftliche Ratschläge in mütterlicher und zugleich zärtlicher

Weise. Sie richtete tausend Fragen über sein Leben an ihn, und was er später zu werden gedenke, und bot ihm in schlichter Weise ihre Dienste an, wenn er eines Tages ihrer bedürfen sollte, um glücklich zu werden. Er war sehr gerührt. Niemals hatte ein Weib so zu ihm gesprochen. Sie machte auf ihn den Eindruck einer gesunden und kräftigen Pflanze, die gleich den Gemüsen im Erdreich des Küchengartens herangewachsen war, während Lisa, die Normännin und alle die schönen Mädchen der Hallen ihm verdächtiges, für die Schaustellung aufgeputztes Fleisch schienen. Er genoß hier einige Stunden vollkommenen Wohlseins, frei von den Gerüchen der Nahrungsmittel, zwischen denen er dahinsiechte, neu auflebend in dem saftigen Wachstum des Landes, gleich dem Krautkopfe, von dem Claude behauptete, ihn mehr als zehnmal hier wachsen gesehen zu haben.

Gegen fünf Uhr nahmen sie Abschied von Frau François. Sie wollten zu Fuße nach der Stadt zurückkehren. Die Krautgärtnerin gab ihnen das Geleit bis zum Ende des Gäßchens; sie behielt einen Augenblick die Hand Florents in der ihrigen und sagte sanft:

Wenn Sie jemals einen Kummer haben sollten, kommen Sie hierher.

Eine Viertelstunde ging Florent dahin, ohne zu sprechen; er war wieder düster gestimmt und sagte, er lasse seine Gesundheit hinter sich. Die Straße nach Courbevoie war weiß vom Staube. Beide liebten die weiten Märsche; ihre schweren Schuhe klangen laut auf der harten Erde. Bei jedem Schritte flogen hinter ihnen kleine Staubwölkchen auf. Die zur Rüste gehende Sonne warf ihre Strahlen schräg über den Weg und verlängerte die Schatten der beiden Fußgänger so sehr, daß ihre Köpfe auf dem entgegengesetzten Fußwege dahinglitten.

Claude, der mit hängenden Armen und tüchtig ausschreitend des Weges ging, betrachtete wohlgefällig die beiden Schatten und freute sich des Gleichklangs seiner regelmäßigen Schritte, dem er auch mit der Schulter Nachdruck verlieh. Dann fragte er plötzlich, wie aus einer Träumerei auffahrend:

Kennen Sie den Krieg der Fetten und der Mageren?

Florent erwiderte überrascht: Nein. Da begeisterte sich Claude und sprach mit vielem Lob von dieser Reihe von Kupferstichen. Er führte gewisse Episoden daraus an: die Fetten, dick zum Platzen, rüsten die leckere Abendmahlzeit, während die Mageren, vom Fasten zusammengezogen, von der Straße mit der Miene neidischer Pfähle zusehen; dann wieder die Fetten bei Tische, wie sie mit vollen Backen kauend einen Mageren davonjagen, der die Keckheit gehabt, sich einzuschleichen, und der einem Kegel unter vielen Kugeln gleicht. Er erblickte hierin das ganze Drama des Menschengeschlechtes und teilte schließlich die Menschen in Magere und Fette, in zwei feindliche Gruppen, von denen eine die andere verschlingt, sich den Bauch mästet und genießt.

Sicherlich war Kain ein Fetter und Abel ein Magerer, sagte er. Seit dem ersten Totschlag waren es immer die Gierigen, die den Genügsamen das Blut ausgesogen haben. Es ist ein fortwährender Kampf des Schwächeren mit dem Stärkeren; jeder verschlingt seinen Nachbar und wird schließlich gleichfalls verschlungen ... Hüten Sie sich vor den Fetten, mein Lieber!

Er schwieg einen Augenblick und folgte mit den Augen ihren Schatten, die in der Abendsonne immer länger wurden. Dann murmelte er:

Wir sind Magere, Sie begreifen. Mit so platten Bäuchen, wie wir sie haben, nimmt man wenig Platz in der Sonne ein.

Florent betrachtete lächelnd die beiden Schatten. Doch Claude ereiferte sich und rief:

Sie haben unrecht, es spaßig zu finden. Ich leide darunter, einer von den Mageren zu sein. Wäre ich ein Fetter, ich könnte ruhig malen, hätte ein schönes Atelier, könnte meine Gemälde um schweres Gold verkaufen. Anstatt dessen bin ich ein Magerer, d. h. ich zermartere mir das Gehirn, um Dinge zu ersinnen, über die die Fetten nur mit den Achseln zucken. Ich werde sicherlich daran sterben, und die Haut wird mir an den Knochen kleben, so dünn, daß man mich zwischen zwei Blätter eines Buches wird legen können, um mich zu begraben. Und Sie erst! Sie sind ein ganz erstaunlich Magerer, der König der Mageren, auf Ehre! Sie erinnern sich wohl Ihres Streites mit den Fischweibern; es war prächtig: alle die riesigen Busen, losgelassen gegen Ihre schmale Brust; und sie handelten aus Instinkt, sie machten Jagd auf den Mageren wie die Katzen auf die Mäuse. Aus Grundsatz hat ein Fetter Abscheu vor einem Mageren so sehr, daß er das Bedürfnis fühlt, ihn aus dem Wege zu räumen, sei es mit Bissen oder mit Fußtritten. Darum würde ich an Ihrer Stelle meine Vorsichtsmaßregeln üben. Die Quenu sind Fette, die Mehudin sind Fette, kurz: Sie sind von lauter Fetten umgeben. Mich würde es ängstigen.

Und Gavard, und Fräulein Saget, und Ihr Freund Marjolin? fragte Florent, der noch immer lächelte.

Oh, wenn Sie wollen, erwiderte Claude, kann ich Ihnen alle unsere Bekannten einordnen. Seit langer Zeit habe ich ihre Köpfe in einem Karton, in meinem Atelier, mit Angabe der Gattung, zu der sie gehören. Es ist ein Kapitel Naturgeschichte ... Gavard ist ein Fetter, aber einer, der gern den Mageren spielt. Diese Abart ist häufig genug ... Fräulein Saget und Frau Lecoeur sind Magere, aber von einer furchtbaren Spielart: verzweifelte Magere, die zu allem fähig sind, um fett zu werden ... Mein Freund Marjolin, die kleine Cadine und die Sarriette sind drei Fette, die noch harmlos sind und nur die liebenswürdigen Begierden der Jugend haben. Es ist überhaupt zu bemerken, daß die Fetten, bis sie nicht alt geworden, angenehme Geschöpfe sind. Herr Lebigre ist auch ein Fetter, nicht wahr? Was Ihre politischen Freunde betrifft, so sind es im allgemeinen Magere, Charvet, Clémence, Logre, Lacaille. Eine Ausnahme mache ich nur mit dem dicken Vieh Alexander und dem wunderlichen Robine. Der letztere hat mir viel Mühe verursacht.

In diesem Tone fuhr der Maler fort, von der Neuilly- Brücke bis zum Triumphbogen. Er kam auf seinen Gegenstand zurück und vollendete gewisse Bilder mit einem charakteristischen Zug: Logre war ein Magerer, der seinen Bauch zwischen den Schultern trug; die schöne Lisa war lauter Bauch, die schöne Normännin lauter Busen; Fräulein Saget hatte sicherlich einmal in ihrem Leben eine Gelegenheit, fett zu werden, vorübergehen lassen; denn sie verabscheute die Fetten und verachtete zugleich die Mageren; Gavard kompromittierte seine Fette; er wird platt wie eine Wanze endigen.

Und Frau François? fragte Florent.

Claude war durch diese Frage in arge Verlegenheit gebracht. Er sann nach und stammelte:

Frau François ... Frau François ... Ich weiß nicht ... ich habe nie daran gedacht, sie einzureihen. Frau François ist eine wackere Frau, das ist alles. Sie gehört weder zu den Fetten noch zu den Mageren.

Darüber lachten beide. Sie standen jetzt vor dem Triumphbogen. Die Sonne ging hinter den Höhen von Suresnes unter und stand so tief am Horizont, daß ihre kolossalen Schatten über das weiße Monument ganz oben noch höher als die Riesenstatuen der Gruppen zwei schwarze Streifen legten, die wie mit Tusche gezogen waren. Claude ward noch heiterer, fuchtelte mit den Armen, duckte sich. Als er weiter ging, sagte er:

Haben Sie gesehen? Als die Sonne unterging, berührten unsere beiden Köpfe den Himmel.

Doch Florent lachte nicht. Paris nahm wieder Besitz von ihm, Paris, das ihn jetzt erschreckte, nachdem es in Cayenne ihm so viel Tränen gekostet hatte. Als er in den Hallen ankam, sank die Nacht herab; die Gerüche waren erstickend. Er ließ den Kopf hängen, als er wieder in den beklemmenden Traum von den gigantischen Nahrungsmitteln zurückkehrte, mit der lieblichen und traurigen Erinnerung an diesen Tag voll heller Gesundheit, durchduftet von Thymian.


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