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Erstes Kapitel

Inmitten der tiefen Stille zogen durch die menschenleere, ansteigende Allee die Karren der Gemüsegärtner nach Paris mit dem gleichmäßigen Kreischen ihrer Räder, dessen Widerhall an die Mauern der Häuser schlug, die zu beiden Seiten der Straße hinter den verschwommenen Linien der Ulmen in nächtlicher Ruhe dalagen. An der Brücke von Neuilly waren ein Karren Kohl und ein Karren Bohnen zu den acht Karren weißer und gelber Rüben gestoßen, die von Nanterre kamen; die Pferde gingen allein gesenkten Kopfes mit ihrem ausdauernden, trägen Schritt, den der ansteigende Weg noch verlangsamte. Auf ihrer Gemüseladung oben, zugedeckt mit ihren schwarz und grau gestreiften Mänteln, schlummerten die Kärrner mit den Zügeln in der Faust. Trat ein Wagen aus einem in Schatten liegenden Straßenabschnitt heraus, dann beleuchtete das Gaslicht die Nägel eines Schuhes, den blauen Ärmel einer Bluse, die Spitze einer Mütze mitten unter den riesigen Bündeln roter und weißer Rüben, dem überquellenden Grün der Bohnen und der Kohlköpfe. Und auf der Straße wie auf den benachbarten Wegen, vorwärts und rückwärts kündigte das ferne Knarren von Fuhrwerken gleiche Züge an, einen ganzen Markt, der durch die Dunkelheit und den Schlaf der zweiten Morgenstunde sich bewegte und die im Schatten liegende Stadt in dem Geräusch dieses Zuges von Nahrungsmitteln wiegte.

Balthasar, das Pferd der Frau François, ein allzu fettes Tier, schritt an der Spitze des Zuges einher. Halb im Schlummer und leise die Ohren bewegend, ging es fürbaß, als auf der Höhe der Longchamp-Straße ein plötzlicher Schreck es zwang, sich auf alle vier stemmend stillzustehen. Die anderen Tiere stießen mit dem Kopf an das Hinterteil der Karren, und der ganze Zug hielt still mit einem lauten Klirren der Eisenbeschläge und unter den Flüchen der plötzlich aufgewachten Kärrner. Frau François, die auf einem vor dem Gemüsehaufen quer angebrachten Brettchen saß, blickte umher, sah aber nichts bei dem spärlichen Lichte der an der linken Seite des Karrens angebrachten Laterne, die nur eine Flanke Balthasars beleuchtete.

He, Mutter François, vorwärts! rief einer der Männer, auf seinem Rübenhaufen kniend. Es wird irgendein betrunkener S.....l sein.

Sie hatte sich hinabgeneigt und sah rechts, fast unter den Füßen des Pferdes, eine schwarze Masse, die den Weg verlegte.

Man kann doch die Leute nicht überfahren, sagte sie und sprang vom Karren zur Erde.

Es war ein Mann, der bäuchlings in seiner ganzen Länge mit ausgestreckten Armen im Straßenstaube lag. Er schien von ungewöhnlicher Länge zu sein und dürr wie ein Brett. Es war ein Wunder, daß Balthasar ihn nicht mit einem einzigen Hufschlag zu Tode getreten hatte. Frau François hielt ihn für tot; sie hockte vor ihm nieder, nahm eine seiner Hände und fühlte, daß sie warm war.

He, Mann! sagte sie mit sanfter Stimme.

Doch die anderen Kärrner wurden ungeduldig. Der auf seinen Rüben kniete, rief jetzt mit seiner heiseren Stimme:

Haut doch ein, Mutter François! Der Kerl ist voll; stoßt ihn in die Gosse!

Der Mann hatte indes die Augen geöffnet. Mit erschreckter Miene und ohne sich zu rühren, betrachtete er Frau François. Sie dachte, daß er in der Tat betrunken sein müsse.

Sie dürfen da nicht bleiben, sonst werden Sie überfahren, sagte sie ... Wohin gehen Sie?

Ich weiß es nicht, erwiderte er mit sehr müder Stimme. Dann blickte er sich unruhig um. Ich ging nach Paris und bin gefallen ... mehr weiß ich nicht.

Sie sah ihn jetzt genauer an; er hatte ein recht klägliches Aussehen mit seinem fadenscheinigen, zerfetzten, schwarzen Rocke und ebensolchem Beinkleide, die an seinem hageren, knochigen Leibe schlotterten. Seine Mütze von grobem, schwarzem Tuche, scheu bis zu den Augenbrauen herabgezogen, beschattete zwei große, braune Augen von eigentümlicher Sanftmut in einem Gesichte, in das die Leiden ihre harten Furchen gezogen hatten. Frau François dachte, daß er wirklich zu mager sei, um getrunken zu haben.

Wohin gingen Sie in Paris? fragte sie weiter.

Er antwortete nicht sogleich; dieses Verhör schien ihm unbequem zu sein. Er schien mit sich zu Rate zu gehen; dann sagte er zögernd:

Dorthin, nach den Hallen.

Mit unsäglicher Mühe hatte er sich aufgerichtet und schickte sich an, seinen Weg fortzusetzen. Die Krautgärtnerin sah, wie er sich wankend auf die Gabeldeichsel des Karrens stützte.

Sind Sie müde? fragte sie.

Ja, sehr müde, flüsterte er.

Da drängte sie ihn vorwärts und rief:

Rasch, rasch, auf meinen Wagen! Wir verlieren Ihrethalben zu viel Zeit! ... Ich fahre nach den Hallen; dort will ich Sie mit meinen Gemüsen abladen.

Da er sich weigerte, hob sie ihn mit ihren kräftigen Armen auf den Karren, warf ihn fast auf den Rübenhaufen hin und rief zornig:

Lassen Sie uns jetzt in Frieden! Sie ärgern mich, mein Bester! Ich sage Ihnen ja, daß ich nach den Hallen fahre! ... Schlafen Sie, ich werde Sie schon wecken ...

Sie stieg wieder auf den Karren, setzte sich auf das quer liegende Brett und ergriff die Zügel Balthasars, der sich wieder in Gang setzte, schläfrig, leise die Ohren bewegend. Die übrigen Karren folgten, die ganze Reihe nahm in dem nächtlichen Dunkel ihren Weg wieder auf und sandte den Widerhall des Räderknarrens gegen die schlummernden Häuser. Auch die Kärrner schliefen unter ihren Mänteln wieder ein. Der die Mutter François angerufen hatte, streckte sich wieder aus und brummte:

Das wäre schlimm, wenn man die Trunkenbolde von der Straße auflesen müßte. Ihr seid gar zu besorgt, Mutter!

Die Karren rollten dahin, die Pferde zogen ihres Weges mit gesenkten Köpfen, ohne erst angetrieben zu werden. Der Mann, den die alte Küchengärtnerin auf ihren Karren genommen, lag auf dem Bauche und steckte die Beine in den Rübenhaufen, der den hinteren Teil des Wagens füllte; sein Antlitz lag in den gelben Möhren gebettet, deren Bündel sich unter ihm ausbreiteten; erschöpft, mit ausgebreiteten Armen die riesige Gemüseladung umfangend, weil er fürchtete, daß ein Ruck ihn vom Wagen schleudern könne, betrachtete er vor sich die zwei endlos sich hinziehenden Reihen von Gaslaternen, die näher kamen und sich oben in einer Menge anderer Lichter verloren. Am Gesichtskreise schwebte weithin ein weißer Rauch und tauchte das schlafende Paris in den leuchtenden Dunstkreis all dieser Flammen.

Ich bin aus Nanterre und heiße Frau François, sprach die Krautgärtnerin nach einer Weile. Seitdem ich meinen armen Mann verloren habe, gehe ich jeden Morgen nach den Hallen. Das ist hart, glauben Sie mir's! ... Und Sie?

Ich heiße Florent und komme von weit her ... erwiderte der Unbekannte verlegen. Entschuldigen Sie: ich bin dermaßen ermüdet, daß es mir schwer fällt zu sprechen.

Er hatte keine Lust zu plaudern. Da schwieg sie denn still und ließ die Zügel lockerer auf den Rücken Balthasars fallen, der sicher seines Weges zog wie ein Tier, das jeden Pflasterstein kennt. Die Blicke auf das Lichtmeer von Paris gerichtet dachte Florent über die Geschichte nach, die er verheimlichte. Nachdem er aus Cayenne geflohen war, wohin die Dezembertage ihn verschlagen hatten, und nachdem er zwei Jahre im holländischen Guyana herumgestreift war mit dem wahnsinnigen Verlangen heimzukehren und zurückgehalten durch die Furcht vor der kaiserlichen Polizei, hatte er endlich diese teure, große, heiß ersehnte Stadt vor sich. Da wollte er sich verbergen, sein friedliches Leben von einst wieder aufnehmen. Die Polizei sollte nichts davon erfahren; übrigens mußte er ja längst für tot gelten. Dann erinnerte er sich seiner Landung in Havre, wo er nicht mehr als fünfzehn Franken in einem Zipfel seines Schnupftuches fand. Bis Rouen konnte er noch mit dem Postwagen fahren. Von Rouen brach er zu Fuße auf, denn er besaß nur mehr dreißig Sous. In Vernon hatte er für seine letzten zwei Sous Brot gekauft. Was weiter geschah, dessen erinnerte er sich nur undeutlich. Er glaubte, mehrere Stunden in einem Graben geschlafen zu haben. Einem Gendarm, der des Weges kam, hatte er die Papiere zeigen müssen, mit denen er sich versehen.

All dies wirbelte ihm durch den Kopf. Er war von Vernon gekommen, ohne zu essen, Wut und Verzweiflung im Herzen, die Blätter der Hecken kauend, an denen er vorbeikam; und er ging immer weiter, von Krämpfen und Schreckensanfällen ergriffen, mit leerem Magen, trüben Augen, schmerzenden Beinen, ohne sich all dessen bewußt zu sein, immer nach dem fernen, sehr fernen Paris dort hinter dem Gesichtskreise, das ihn rief, das ihn erwartete. Als er in Courbevoie ankam, war es stockfinstere Nacht. Paris, das einem auf die schwarze Erde niedergefallenen Stück gestirnten Himmels glich, erschien ihm streng und gleichsam verdrossen über seine Rückkehr. Da überkam ihn eine Schwäche und er stieg mit schlotterigen Beinen den Abhang hinab. Über die Brücke von Neuilly kommend lehnte er sich an die Brustwehr und neigte sich zur Seine hinab, die zwischen den dichten Massen der Ufer ihre dunklen Fluten wälzte; eine rote Schiffslaterne folgte ihm unten gleich einem blutigen Auge. Es galt jetzt hinanzusteigen, Paris dort oben zu erreichen. Die Allee schien ihm unendlich lang. Die Hunderte von Meilen, die er zurückgelegt hatte, waren nichts; dieses Stück Weges hingegen brachte ihn in Verzweiflung; er glaubte, jene von Lichtern gekrönte Höhe niemals zu erreichen. Die flache Allee dehnte sich dahin mit ihren zwei Reihen großer Bäume und niedriger Häuser, ihren breiten, grauen Fußwegen, auf welche die Schatten der Zweige fielen, und mit den dunkeln Höhlen der Querstraßen in ihrer ganzen Stille und Finsternis; die in regelmäßigen Zwischenräumen stehenden Gaslaternen allein brachten das Leben ihrer kurzen, gelben Flammen in diese gleichsam ausgestorbenen Straßen. Florent glaubte, daß man nicht von der Stelle komme; die Allee dehnte sich noch immer in unendlicher Länge dahin, ließ Paris in den Hintergrund der Nacht zurückweichen. Ihm war, als würden die Gaslaternen mit ihrem einzigen Auge rechts und links dahinlaufen und die Straße mitnehmen; in diesem Wirbel strauchelte er und fiel wie eine tote Masse auf das Pflaster hin.

Auf dieser Ladung Grünzeug gelagert, die ihm weich wie ein Federbett dünkte, fuhr er jetzt ganz sachte dahin. Er hatte ein wenig das Kinn gehoben, um die leuchtende Dunstwolke zu sehen, die über den am Horizont nur undeutlich sichtbaren schwarzen Dächern immer größer wurde. Er kam endlich an; er wurde getragen und brauchte sich nur den jetzt verlangsamten Stößen des Karrens zu überlassen. Bei dieser mühelosen Annäherung vergaß er alles Leid, nur den Hunger nicht. Der Hunger war erwacht, unerträglich und grausam. Seine Glieder waren erschlafft, er fühlte nichts als seinen Magen, der sich zusammenkrampfte und gleichsam von einer rotglühenden Zange festgehalten wurde. Der frische Geruch der Gemüse, in denen er lag, dieser durchdringende Möhrengeruch betäubte ihn dermaßen, daß er schier das Bewußtsein verlor. Er drückte mit allen seinen Kräften seine Brust an dieses tiefe Lager voll Nahrung, um seinen Magen zusammenzupressen, am Knurren zu verhindern. Und die anderen neun Karren hinter ihm mit ihren Bergen von Kohl, Bohnen, Artischocken, Salaten, Sellerien, Lauchpflanzen schienen langsam über ihn hinwegzufahren und ihn, der Hungers starb, unter einem Berge von Lebensmitteln zu begraben. Jetzt hielt man still und laute Stimmen wurden vernehmbar. Man war an den Zollschranken angekommen und die Zolleinnehmer untersuchten die Karren. Dann zog Florent in Paris ein, ohnmächtig, die Zähne aufeinander gepreßt, auf einem Möhrenhaufen gelagert.

He, Mann da oben! rief Frau François plötzlich.

Und da der Mann sich nicht rührte, stieg sie hinauf und rüttelte ihn. Da setzte Florent sich auf. Er hatte geschlafen und verspürte den Hunger nicht mehr. Er war ganz verwirrt. Die Küchengärtnerin hieß ihn absteigen und sprach:

Sie helfen mir abladen, wie?

Er half ihr abladen. Ein dicker Mann mit einem Filzhut auf dem Kopfe, einem Stock in der Hand und einem Plättchen auf dem linken Umschlag seines Überrockes stand dabei; er gebärdete sich sehr ungeduldig und schlug mit dem Ende seines Stockes auf den Bürgersteig.

Vorwärts, macht rasch! rief er. Laßt den Karren weiter vor! Wie viel Meter haben Sie? Vier, nicht wahr?

Und er reichte der Frau François einen Schein, wofür die Küchengärtnerin einige Kupfermünzen bezahlte, die sie aus einem leinenen Sack hervorgeholt hatte. Dann ging der dicke Mann einige Schritte weiter, um dort ungeduldig zu schreien und mit seinem Stocke auf das Straßenpflaster zu stoßen. Die Krautgärtnerin hatte Balthasar am Zügel genommen und den Karren mit dem Hinterteil gegen den Fußweg aufgestellt. Nachdem das rückwärtige Brett weggenommen war und sie ihren Platz von vier Metern mittelst Strohwische ausgesteckt hatte, bat sie Florent, ihr Bund für Bund die Gemüse herabzureichen. Sie reihete sie auf dem viereckigen Raume in regelrechter Weise auf, wußte ihre Waren in zierlicher Weise auszulegen, ordnete die Blätter so, daß der ganze Haufe gleichsam mit einem grünen Bande eingesäumt war und errichtete mit merkwürdiger Raschheit ein ganzes Musterlager, das im Dunkel einem Gewebe mit gleichmäßig angeordneten Farben glich. Als Florent ihr einen riesigen Bund Petersilie, der am Boden des Karrens gelegen, hinabgereicht hatte, verlangte sie noch einen Dienst von ihm.

Seien Sie doch so gefällig, meine Ware zu hüten, bis ich den Karren untergestellt habe. Es ist nicht weit von hier, in der Montorgueil-Straße in der Herberge zum »goldenen Kompaß«.

Er versicherte ihr, sie könne ruhig sein. Die Bewegung hatte ihm nicht gut getan; er fühlte seinen Hunger wieder rege werden, seitdem er sich bewegte. Er setzte sich neben einen Haufen Kohl vor dem Standplatze der Frau François und hielt sich für wohl aufgehoben; er wollte sich nicht rühren und ruhig warten. Sein Schädel schien ihm ganz hohl, und er wußte sich nicht genau zu erklären, wo er sei. Zu Beginn des Monats September ist es am Morgen noch ganz dunkel. Rings um sich her sah er Reihen von Laternen, die sich im Schatten verloren. Er befand sich am Saume einer Straße, die er nicht erkannte. Sie dehnte sich weithin und verlor sich im nächtlichen Dunkel. Er sah nichts als die Waren, die er hütete. Jenseits waren längs der Straße die unbestimmten Umrisse anderer Gemüsehaufen wahrzunehmen. In der Mitte der Straße standen fremde Karren, und ein durch die Straße streichender Windhauch verriet die Anwesenheit einer ganzen Reihe von angeschirrten Pferden, die man nicht sehen konnte. Einzelne Rufe, das Geräusch eines Holzstückes oder einer Eisenkette, die auf das Straßenpflaster fiel, das dumpfe Gepolter einer Gemüseladung, die auf dem Platze ausgeschüttet wurde, der letzte Anprall eines Karrens an dem Randsteine des Fußweges: All dies vereinigte sich in der noch stillen Morgenluft zu dem gedämpften Geräusch eines weithin hallenden, furchtbaren Erwachens, das man aus all dem bebenden Dunkel näher kommen fühlte. Als Florent den Kopf wandte, bemerkte er jenseits seiner Kohlhaufen einen Mann, der wie ein Bündel in seinen Mantel gehüllt und den Kopf auf einen Korb voll Pflaumen gestützt, laut schnarchend schlief. Etwas näher, auf der linken Seite, sah er ein Kind von etwa zehn Jahren, das zwischen zwei Haufen Endivienkraut sitzend, mit einem engelsmilden Lächeln in seinem Antlitze schlummerte. Auf dem Fußweg war eigentlich noch nichts wach als die Laternen, deren Flammen am Ende unsichtbarer Arme flimmerten, und die gleichsam mit einem Sprunge über diese schlafende und des Tagesanbruches harrende Welt von Menschen und Gemüsen hinwegsetzten.

Überrascht blickte er auf die zu beiden Seiten der Straße sich erhebenden riesigen Pavillons, deren übereinander geschichtete Dächer zu wachsen, sich auszudehnen, in der Tiefe einer Wolke von zerstäubenden Lichtern sich zu verlieren schienen. In seinem verschwommenen Denken glaubte er eine Reihe von ungeheuren, regelmäßigen, kristalleichten Palästen vor sich zu haben, an deren Stirnseiten die Lichtstreifen der erleuchteten Fenster in endloser Reihe sich hinziehen. Diese schmalen, gelben Streifen zwischen den feinen Kanten der Pfeiler bildeten Lichtleitern, die zu den dunkelen Linien der ersten Dächer hinaufstiegen, dann die oberen Dächer erkletterten und so das Gerippe ungeheurer Säle beleuchteten, wo im gelben Gaslichte ein Durcheinander von grauen, verschwimmenden Formen schlummerte. Er wandte den Kopf verdrossen ab, weil er nicht wußte, wo er war, und beunruhigt durch den Anblick dieses ungeheuren, luftigen Baues. Als er die Augen erhob, sah er die beleuchtete Turmuhr der Sankt-Eustach-Kirche samt den grauen Umrissen des Gotteshauses. Er war also im Sankt-Eustach-Viertel.

Mittlerweile war Frau François zurückgekehrt. Sie stritt heftig mit einem Manne, der einen Sack auf der Schulter trug und ihr einen Sou für das Bund Möhren bot.

Ihr seid nicht recht gescheit, Lacaille ... Ihr verkauft den Parisern das Bund für 4–5 Sous ... leugnet nicht! Für zwei Sous lasse ich sie Euch.

Als der Mann weiterging, fügte sie hinzu:

Die Leute glauben, es wächst von selbst ... Er soll sich Möhren suchen für einen Sou das Bund ... der Trunkenbold Lacaille. Sie werden sehen, er kommt wieder.

Diese Worte hatte sie an Florent gerichtet. Dann setzte sie sich zu ihm und fuhr fort:

Wenn Sie schon lange Zeit von Paris fern sind, kennen Sie vielleicht die neuen Hallen nicht? Sie stehen höchstens erst fünf Jahre ... Dieser Pavillon da neben uns ist für die Früchte und Blumen, weiterhin Seefische und geschlachtetes Geflügel, dahinter schwerere Gemüse, Butter, Käse ... Es gibt sechs Pavillons auf dieser Seite; auf der anderen Seite gegenüber sind noch vier für Fleisch, Kaldaunen und lebendes Geflügel. Die Hallen sind sehr groß; aber im Winter ist's verteufelt kalt da drinnen. Man spricht davon, daß noch zwei Pavillons erbaut werden sollen; zu diesem Behufe sollen die Häuser, die die Getreidehalle umgeben, niedergerissen werden. Haben Sie all dies gekannt?

Nein, erwiderte Florent; ich war im Auslande ... Wie heißt die große Straße da vor uns?

Das ist eine neue Straße, die Pont-Neuf-Straße; sie geht von der Seine aus und mündet hier in die Montmartre- und Montorgueil-Straße. Wenn Tag wäre, würden Sie sich sogleich auskennen.

Jetzt erhob sie sich, weil sie eine Frau bemerkte, die ihre Rüben besichtigte.

Ihr seid's, Mutter Chantemesse? sagte sie freundlich.

Florent ließ die Blicke über die Montorgueil-Straße hinschweifen. Hier war's, wo in der Nacht vom 4. Dezember eine Schar von Polizisten ihn ergriffen hatte. Er ging gegen zwei Uhr nachmittags die Montmartre-Promenade hinauf ganz ruhig inmitten einer großen Menge und lächelte über die vielen Soldaten, mit denen die Machthaber des Elysée das Straßenpflaster überschwemmten, um ernst genommen zu werden, als die Soldaten auf die Menge zu schießen begannen und binnen einer Viertelstunde die Straßen säuberten. Gestoßen und zu Boden geworfen, fiel er an der Ecke der Vivienne-Straße nieder; dann wußte er nichts mehr, die Menge stürmte über ihn hinweg in wahnsinniger Furcht vor den Schüssen. Als er nichts mehr hörte, wollte er sich erheben. Eine junge Frau lag auf ihm; sie hatte einen rosa Hut auf dem Kopfe und ihr herabgeglittener Schal enthüllte ein fein gefälteltes Busentuch; zwei Kugeln hatten das Busentuch durchlöchert und waren oberhalb der Brust in den Körper eingedrungen. Als er die junge Frau sachte zur Seite schob, um seine Beine freizubekommen, floß aus den Schußwunden das Blut in zwei dünnen Fäden auf seine Hände. Da erhob er sich mit einem Satz und eilte davon, wahnsinnig vor Schreck, ohne Hut, mit blutfeuchten Händen. Bis zum Abend streifte er kopflos umher und sah immer die junge Frau vor sich, die quer auf seinen Beinen gelegen, mit ihrem bleichen Antlitz, ihren großen, offenen, blauen Augen, ihren schmerzlich verzerrten Lippen, ihrem Erstaunen über den so schnellen Tod an diesem Orte. Er war scheu; obgleich schon dreißig Jahre alt, wagte er es nicht, den Frauen ins Angesicht zu schauen; jenes Antlitz aber blieb für sein ganzes Leben seinem Gedächtnisse und seinem Herzen eingeprägt. Ihm war, als habe er sein eigenes Weib verloren. Am Abend, befand er sich noch völlig erschüttert von den fürchterlichen Szenen des Nachmittags – er wußte selbst nicht, wie es gekommen – in einer Weinstube der Montorgueil- Straße, wo Leute tranken und davon sprachen, Barrikaden errichten zu wollen. Er ging mit ihnen, half ihnen einige Pflastersteine aufreißen und setzte sich, müde von dem Herumlaufen durch die Straßen, auf der Barrikade nieder, indem er sich sagte, er werde sich schlagen, wenn die Soldaten kommen sollten. Aber er hatte nicht einmal ein Taschenmesser bei sich und war noch immer ohne Hut. Gegen elf Uhr schlummerte er ein; im Traume sah er die zwei Löcher des weißen, gefältelten Busentuches, und diese Löcher schauten ihn an wie zwei von Blut und Tränen gerötete Augen. Als er erwachte, hielten ihn vier Polizisten, die ihn mit Püffen traktierten. Die Barrikadenmänner hatten Reißaus genommen. Die Polizisten wurden wütend und wollten ihn erwürgen, als sie das Blut an seinen Händen sahen. Es war das Blut der jungen Frau.

Dieser Erinnerungen voll erhob Florent die Blicke zur Turmuhr der Sankt-Eustach-Kirche. Er sah nicht einmal die Zeiger. Es war bald vier Uhr morgens. In den Hallen herrschte tiefe Ruhe. Frau François stand noch immer bei der Mutter Chantemesse und feilschte über den Preis der Rüben. Florent erinnerte sich, daß er mit knapper Not dem Schicksal entronnen war, an der Mauer der Sankt-Eustach- Kirche erschossen zu werden. Ein Trupp Gendarmen hatte daselbst eben fünf Unglückliche, die auf einer Barrikade in der Grénéta-Straße ergriffen worden, niedergeknallt. Die fünf Leichen lagen auf dem Fußwege, wo Florent jetzt ein Häuflein roter Radieschen liegen sah. Er selbst war dem Erschossenwerden nur entkommen, weil die vier Polizisten nur mit Säbeln bewaffnet waren. Man brachte ihn auf den nächsten Wachposten und ließ ihn da zurück mit einem für den Postenkommandanten bestimmten, mit Bleistift geschriebenen Zettel: »Mit blutbedeckten Händen ergriffen; sehr gefährlich.« Bis zum Morgen wurde er von Posten zu Posten geschleppt, und überallhin begleitete ihn der Zettel. Man hatte ihm Handschellen angelegt und bewachte ihn wie einen Tobsüchtigen. Auf dem Posten in der Leinenstraße wollten betrunkene Soldaten ihn erschießen, als der Befehl kam, daß die Gefangenen nach dem Polizeigebäude zu schaffen seien. Am zweitnächsten Tage befand er sich in einer Kasematte des Fort Bicêtre. Seit jenem Tage litt er Hunger. In der Kasematte hatte er Hunger, und der Hunger verließ ihn nicht mehr. Es waren ihrer etwa hundert in diesem luftlosen Keller eingepfercht, wo sie das wenige Brot verschlangen, das man ihnen zuwarf wie eingeschlossenen Tieren. Ohne Verteidiger und ohne Zeugen vor den Untersuchungsrichter gebracht, wurde er beschuldigt, einem Geheimbunde anzugehören; als er schwor, daß es nicht wahr sei, zog der Untersuchungsrichter aus seinem Aktenbündel den Zettel hervor, auf dem geschrieben stand: »Mit blutbedeckten Händen ergriffen. Sehr gefährlich.« Das genügte. Man verurteilte ihn zur Verbannung. Nach sechs Wochen – es war im Jänner – ward er eines Nachts vom Kerkermeister geweckt und in einen verschlosssenen Hof geführt, wo man mehr als vierhundert Gefangene versammelt hatte. Eine Stunde später brach dieser erste Zug nach den Schiffen auf; sie trugen Handschellen und schritten zwischen zwei Reihen Gendarmen mit scharf geladenen Gewehren. Sie kamen über die Austerlitz-Brücke, gingen die Anlagen entlang und trafen endlich auf dem Bahnhof nach Havre ein. Es war in einer lustigen Karnevalsnacht; die Fenster der Restaurants in den Anlagen waren hell erleuchtet. In der Höhe der Vivienne-Straße an der Stelle, wo er noch immer die unbekannte Tote zu sehen glaubte, deren Bild nicht von ihm weichen wollte, sah Florent in einer großen Kalesche maskierte Weiber mit nackten Schultern und lachenden Gesichtern, die verdrossen darüber waren und sehr angeekelt taten, weil sie wegen »der Zuchthäusler, die kein Ende nehmen wollten«, nicht weiter konnten. Von Paris bis Havre bekamen die Gefangenen keinen Bissen Brot, keinen Schluck Wasser; man hatte einfach vergessen, vor der Abfahrt Nahrungsmittel unter sie zu verteilen. Sie aßen erst sechsunddreißig Stunden später, als man sie im Schiffsraum der Fregatte »Canada« eingepfercht hatte.

Nein, der Hunger hatte ihn nicht mehr verlassen. Er forschte in seinen Erinnerungen und konnte sich keiner Stunde der Sättigung erinnern. Er war eingedörrt, sein Magen hatte sich zusammengezogen, seine Haut klebte an den Knochen. Und er fand Paris wieder, voll, prächtig, von Nahrungsmitteln strotzend in diesem nächtlichen Dunkel; auf einem Lager von Gemüsen kehrte er zurück; durch eine unbekannte Welt von Lebensmitteln fuhr er dahin, deren Gewühl er rings um sich sah und die ihn beunruhigte. Die lustige Karnevalsnacht hatte also volle sieben Jahre gewährt. Er sah die hell erleuchteten Fenster an den Anlagen wieder, die lachenden Frauen, die lüsterne Stadt, die er in jener fernen Jännernacht verlassen. Es schien ihm, als sei all dies größer geworden und habe sich entwickelt in diesen ungeheueren Hallen, deren kolossalen, noch von den unverdauten gestrigen Genüssen schweren Atemzug er zu verspüren begann.

Die Mutter Chantemesse hatte sich endlich entschlossen, zwölf Bunde Möhren zu kaufen. Sie hielt sie in ihrer Schürze auf ihrem Bauche, was ihre breite Gestalt noch runder erscheinen ließ; so stand sie noch eine Weile und plauderte mit ihrer schläfrigen Stimme. Als sie fort war, stellte sich Mutter François zu Florent und sagte:

Die arme Mutter Chantemesse! ... Sie ist mindestens 72 Jahre alt. Ich war noch ein kleines Mädchen, als sie schon meinem Vater Rüben abkaufte. Sie hat keine Verwandten, nichts als eine leichtfertige Dirne, die sie Gott weiß wo aufgelesen und die ihr nur Kummer und Galle macht ... So lebt sie fort, verkauft ihre Gemüse im kleinen und macht sich dabei täglich ihre vierzig Sous. Ich könnte es in diesem verteufelten Paris nicht aushalten, wenn ich den ganzen Tag auf dem Bürgersteig hocken müßte. Wenn man doch wenigstens Verwandte hätte! ...

Da Florent noch immer schwieg, fragte sie ihn:

Haben Sie Familie in Paris? Er schien nicht zu hören. Sein Mißtrauen kehrte wieder. Er hatte den Kopf voll Polizeigeschichten, Sicherheitsagenten, die an allen Straßenecken lauern, Weibern, die Geheimnisse verkaufen, die sie armen Teufeln entrissen haben. Sie saß ganz nahe bei ihm und schien ihm ganz ehrbar zu sein mit ihrem großen, ruhigen Gesichte, das über der Stirne ein schwarz und gelb gestreiftes Seidentuch einrahmte. Sie war etwa fünfunddreißig Jahre alt, ein wenig stark, schön in ihrer Frische und ihrem fast männlichen Wesen, das durch schwarze, überaus sanfte und freundliche Augen gemildert ward. Sie war sicherlich neugierig, aber von einer durchaus gutmütigen Neugierde.

Ohne durch das Stillschweigen Florents sich gekränkt zu fühlen fuhr sie fort:

Ich hatte in Paris einen Neffen; aber er war ein Nichtsnutz und ging schließlich zum Militär ... Kurz: es ist schön, wenn man weiß, wo man abzusteigen hat. Ihre Verwandten werden vielleicht überrascht sein, Sie zu sehen. Es ist eine Freude heimzukehren, nicht wahr?

Während sie so sprach, ließ sie ihn nicht aus den Augen, ohne Zweifel gerührt von seiner großen Magerkeit. Sie merkte, daß in dem kläglichen schwarzen Rocke ein »Herr« stecke und fand nicht den Mut, ihm ein Silberstück in die Hand zu drücken.

Endlich sagte sie in schüchternem Tone:

Wenn Sie indes etwas benötigen sollten ...

Doch er lehnte mit unruhigem Stolze ab; er sagte, er habe alles, was er brauche, und wisse, wohin er gehe. Sie schien darob sehr zufrieden und wiederholte mehrere Male, wie um sich selbst über sein Schicksal zu beruhigen:

Ja, dann haben Sie nur den Tagesanbruch abzuwarten.

Eine große Glocke über dem Kopf Florents an der Ecke des Früchtepavillons begann jetzt zu läuten. Die langsamen und regelmäßigen Schläge schienen immer mehr und mehr die auf dem Marktplatze schlummernden Leute zu erwecken. Es kamen noch immer Karren; das Geschrei der Kärrner, das Peitschenknallen, das Rollen der Räder auf dem Pflaster und das Stampfen der Pferde – all der Lärm nahm immer mehr zu. Die Karren kamen nur noch ruckweise vorwärts, hielten sich in der Reihe, dehnten sich weithin außerhalb des Gesichtskreises, verloren sich in einem grauen Halbdunkel, aus dem ein verworrener Lärm hervordrang. Die ganze Pont-Neuf-Straße entlang wurde abgeladen, wobei die Karren mit dem Hinterteil der Gosse zugekehrt, die Pferde eng nebeneinander aufgestellt waren wie auf einem Markte. Florent interessierte sich besonders für einen ungeheuren Kehrichtwagen voll herrlicher Kohlköpfe, den man nur mit vieler Mühe hatte bis zum Fußweg zurückschieben können. Die Ladung überragte einen daneben stehenden großen Laternenpfahl, dessen Lampe ihr volles Licht auf den Haufen breiter Blätter warf, die gleich breiten, abgeschnittenen Stücken grünen, gepreßten Samtes herabhingen. Eine kleine Bäuerin von sechzehn Jahren in Jacke und Haube von blauer Leinwand, die auf dem Karren bis an den Schultern mitten in der Ladung stand, erfaßte einen Kohlkopf nach dem andern und warf sie jemandem zu, der auf dem Fußweg stand und im Dunkel nicht zu sehen war. Von Zeit zu Zeit verschwand die Kleine unter dem riesigen Kohlhaufen, dann tauchte ihr rosiges Näschen mitten in dem dichten Grünkram wieder auf; sie lachte, und die Kohlköpfe nahmen ihren Flug zwischen der Gaslaterne und Florent wieder auf. Dieser zählte sie unwillkürlich und war schier verdrossen, als der Wagen leer war.

Auf dem Abladeplatz dehnten sich jetzt die aufgeschichteten Haufen bis zum Fahrwege aus. Zwischen je zwei Haufen ließen die Krautgärtner einen schmalen Weg, damit man verkehren könne. Der Fußweg war in seiner ganzen Länge mit den dunklen Gemüsehügeln bedeckt. In dem grellen und schwankenden Lichte der Laternen sah man noch nichts als die fleischige Fülle eines Haufens Artischocken, das zarte Grün der Salate, die Korallenfarbe der roten Rüben, die Elfenbeinfarbe der weißen Rüben und diese Blitze voll satter Farben glitten mit dem Lichte der Laternen die Haufen entlang. Auf dem Fußweg wurde es lebendig; eine große Menschenmenge war erwacht und bewegte sich unter lebhaften Gesprächen und Zurufen zwischen den Warenhaufen. Eine starke Stimme rief in der Ferne: »He, die Salate heran!« Man hatte das Gittertor des Pavillons für schwere Gemüse geöffnet. Die Wiederverkäuferinnen dieses Pavillons in weißen Hauben mit einem Halstuch über dem schwarzen Leibchen, die Röcke mit Nadeln aufgesteckt, um sie nicht zu beschmutzen, machten ihren Einkauf für den Tag und füllten damit die zur Erde gestellten großen Butten der Träger. Vom Pavillon bis zum Fahrweg herrschte ein lebhaftes Kommen und Gehen der Butten inmitten der aneinander fahrenden Köpfe, der derben Worte, der lärmenden Stimmen, die sich heiser schrieen, indem sie eine Viertelstunde um einen Sou feilschten. Florent war erstaunt, wie die Gemüsegärtnerinnen mit ihren großen Umhängetüchern und ihrer gebräunten Gesichtsfarbe bei dieser geschwätzigen Knauserei ihre Ruhe bewahrten.

Hinter ihm wurde auf den Quadern der Rambuteau- Straße Obst verkauft. Ganze Reihen niedriger Körbe, mit Leinwand oder Stroh bedeckt, standen da und ein starker Geruch von überreifen Pflaumen verbreitete sich. Eine ruhige, langsame Stimme, die er seit längerer Zeit hörte, ließ ihn den Kopf wenden. Er sah eine reizende, kleine, braune Frau, die am Boden hockend feilschte.

Sprich, Marcel, gibst du ihn für hundert Sous?

Der Mann, der in seinen Mantel gehüllt dastand, antwortete nicht. Nach Verlauf von fünf Minuten begann die Frau wieder:

Sag, Marcel: Fünf Franken für diesen Korb und vier für den andern – willst du neun Franken?

Neues Stillschweigen.

Was willst du also?

Zehn Franken, ich sagte dir's ja! ... Und was machst du denn mit deinem Jules, Sarriette?

Die junge Frau lachte und zog eine Handvoll kleine Münzen hervor.

Ach, Jules! sagte sie; der schläft in den hellen Tag hinein. Er behauptet, die Männer seien nicht da, um zu arbeiten.

Sie zahlte und trug ihre zwei Körbe in den Pavillon für Früchte, der eben geöffnet worden war. Die Hallen zeigten noch immer die dunklen Umrisse ihres leichten Baues mit den tausend Lichtstreifen ihrer Fenster; in den großen, offenen Gängen sah man jetzt viele Leute, während weiterhin die Pavillons noch verödet waren inmitten des wachsenden Gewimmels auf den Bürgersteigen. Auf dem Sankt-Eustach-Platze öffneten die Bäcker und Weinhändler ihre Läden. Die Läden, ganz rot in dem grellen Gaslicht, das ihr Inneres beleuchtete, waren in der Reihe der grauen Häuser helle Flecke in dem Dunkel des anbrechenden Tages. Florent betrachtete einen Bäckerladen in der Montorgueil-Straße, links; der Laden war voll goldglänzenden frischen Gebäcks, und Florent glaubte den angenehmen Geruch warmen Brotes zu verspüren. Es war halb fünf Uhr morgens.

Inzwischen hatte sich Frau François ihrer Waren entledigt; es waren ihr nur einige Bunde Möhren übrig geblieben. Da erschien Lacaille mit seinem Sack wieder.

Nun, nehmt Ihr einen Sou? fragte er.

Ich wußte, daß Ihr wiederkommen würdet, erwiderte die Küchengärtnerin ruhig. Nehmt den Rest, es sind siebzehn Bunde.

Das macht siebzehn Sous.

Nein, vierunddreißig.

Sie einigten sich auf fünfundzwanzig Sous. Frau François hatte Eile fortzukommen. Als Lacaille mit den Möhren in seinem Sacke sich entfernt hatte, sagte die Gärtnerin zu Florent:

Sehen Sie, er hat mich belauert. Der Alte macht den ganzen Markt unsicher. Manchmal wartet er bis zum letzten Glockenschlag, um für vier Sous Ware zu kaufen ... Ach, diese Pariser! Das balgt sich für zwei Heller herum und vertrinkt dann in der Weinstube den letzten Sou.

Wenn Frau François von Paris sprach, geschah es nur im Tone des Spottes und der Verachtung; sie behandelte es wie eine sehr ferne, durchaus lächerliche und verächtliche Stadt, in die sie nur zur Nachtzeit den Fuß setzen wollte.

Ich kann jetzt gehen, sagte sie und ließ sich neben Florent auf den Gemüsen einer Nachbarin nieder.

Florent blickte zur Erde; er hatte soeben einen Diebstahl begangen. Als Lacaille sich entfernt, hatte er – Florent – eine am Boden liegende Möhre bemerkt. Er hatte sie aufgehoben und hielt sie noch in seiner rechten Hand. Die Bündel Sellerie und Petersilie hinter ihm verbreiteten scharfe Gerüche, die ihm in die Kehle drangen.

Ich gehe jetzt, wiederholte Frau François.

Sie interessierte sich für diesen Unbekannten, denn sie merkte, daß er litt, wie er unbeweglich auf dem Fußwege dasaß. Sie bot ihm von neuem ihre Dienste an, doch er lehnte wieder ab, diesmal noch stolzer als früher. Er erhob sich sogar und richtete sich auf, um zu zeigen, daß er ganz stramm sei. Als sie den Kopf wegwandte, schob er die Möhre in den Mund; aber er mußte sie einen Augenblick im Munde behalten trotz seinem furchtbaren Verlangen, sie zu zerkauen; denn sie schaute ihm wieder ins Gesicht und befragte ihn in ihrer Neugierde einer wackeren Frau. Um nicht sprechen zu müssen, antwortete er nur mit Bewegungen des Kopfes. Dann aß er ganz sachte seine Möhre.

Die Krautgärtnerin schickte sich endlich an aufzubrechen, als plötzlich eine kräftige Stimme neben ihr ausrief:

Guten Tag, Frau François!

Es war ein magerer, grobknochiger, junger Mann mit großem Kopfe, bärtig, mit feingeschnittener Nase, kleinen und hellen Augen. Er trug einen formlosen, abgegriffenen Hut von schwarzem Filz und war in einen ungeheuren Überzieher eingeknöpft, der einst kastanienbraun gewesen, jetzt aber vom Regen ganz verwaschen, breite, grüne Streifen zeigte. Ein wenig gebeugt, von einem nervösen Zittern befallen, das bei ihm gewöhnlich zu sein schien, stand er da in seinen groben Schnürschuhen; das zu kurz, geratene Beinkleid ließ die blauen Strümpfe sehen.

Guten Tag, Herr Claude, erwiderte die Krautgärtnerin in heiterem Tone. Ich habe Sie am Montag erwartet, und weil Sie nicht kamen, Ihre Leinwand in Verwahrung genommen; sie hängt in meiner Stube an einem Nagel.

Sie sind zu gütig, Frau François. An einem der nächsten Tage komme ich hinaus, um meine Studie zu vollenden. Am Montag habe ich nicht können ... Ist Ihr großer Pflaumenbaum noch stark belaubt?

Gewiß.

Ich will ihn in einem Winkel meines Gemäldes anbringen links vom Hühnerstall; er wird sich da sehr gut ausnehmen. Die ganze Woche habe ich darüber nachgedacht ... Heute gibt's aber schöne Gemüse, he! Ich bin frühzeitig hergekommen, weil ich vermutete, es werde einen prächtigen Sonnenaufgang auf dem Gemüsemarkte geben. Damit streckte er den Arm über den ganzen, weiten Markt aus. Die Krautgärtnerin aber sagte:

Ich gehe jetzt. Leben Sie wohl, Herr Claude, und auf baldiges Wiedersehen!

Doch in dem Augenblicke, als sie gehen wollte, stellte sie noch Florent dem jungen Manne vor.

Der Herr kommt von weit her, wie es scheint, sagte sie. Er kennt sich in Eurem lumpigen Paris nicht mehr aus. Sie könnten ihm vielleicht nützliche Auskünfte geben.

Endlich ging sie, ganz froh darüber, die beiden Männer zusammengebracht zu haben. Claude betrachtete Florent mit Interesse. Diese lange, schmächtige, schwankende Figur schien ihm originell. Die Vorstellung durch Frau François genügte; mit der Vertraulichkeit eines Gewohnheitsspaziergängers, dem keine Begegnung mehr auffällig ist, sagte er ihm ruhig:

Ich begleite Sie. Wohin gehen Sie? Florent stand verlegen da. Er zögerte sein Geheimnis zu lüften; allein seit seiner Ankunft hatte er eine Frage auf den Lippen. Endlich wagte er schüchtern, eine betrübende Antwort fürchtend, die Frage:

Existiert noch die Pirouette-Straße?

Ja, gewiß! erwiderte der Maler. Sie ist ein gar merkwürdiger Fleck des alten Paris; sie dreht sich wie eine Tänzerin und ihre Häuser haben Bäuche wie die schwangeren Weiber. Ich habe von der Straße eine Zeichnung gemacht, die gar nicht übel ist. Wenn Sie zu mir kommen, will ich sie Ihnen zeigen ... Also dorthin gehen Sie?

Florent, erleichtert und erfreut durch die Nachricht, daß die Pirouette-Straße noch existiere, erklärte, daß er nicht dorthin gehe, und versicherte, daß er überhaupt nirgendshin zu gehen habe. Angesichts der Beharrlichkeit Claudes erwachte sein ganzes Mißtrauen wieder.

Das tut nichts, sagte letzterer; gehen wir immerhin nach der Pirouette-Straße. Zur Nachtzeit hat sie eine gar seltsame Farbe ... Kommen Sie, es ist ganz nahe.

Er mußte ihm folgen. Sie gingen nebeneinander hin wie zwei Kameraden über Körbe und Gemüsehaufen hinweg. Auf den Quadern der Rambuteau-Straße lagen riesige Haufen Blumenkohl, mit überraschender Regelmäßigkeit in Stößen geordnet wie die Kugeln. Das weiße, zarte Fleisch der Blumenkohlköpfe breitete sich aus gleich mächtigen Rosen inmitten großer, grüner Blätter, und die Haufen glichen Hochzeitssträußen, die in ungeheueren Blumenbehältern nebeneinander aufgereiht sind. Claude war stehen geblieben, und seine Bewunderung machte sich in leisen Ausrufen Luft.

In der Pirouette-Straße zeigte und erklärte er ihm jedes Haus. Eine einzige Gaslaterne brannte in einem Winkel der Straße. Die eng zusammengerückten, bauchigen Häuser schoben ihre Schutzdächer vor gleich den »Bäuchen schwangerer Weiber« – wie der Maler sich ausdrückte, neigten ihre Giebel zurück und lehnten sich aufeinander. Drei oder vier hingegen, in schattigen Winkeln verloren, machten Miene, vornüber zu stürzen. Die Gaslaterne beleuchtete eines, das sehr weiß war, frisch getüncht, die Gestalt eines alten, in die Breite geratenen Weibes hatte, das sich ganz weiß pudert und schminkt wie eine Junge. Dann zog sich die buckelige Reihe der anderen Häuser dahin und verlor sich im Dunkel, buntscheckig, von den Regengüssen grau und grün gefärbt, in einer solchen Regellosigkeit der Haltung und der Farben, daß Claude voll Behagen darüber lachte. Florent war an der Ecke der Mondétour-Straße stehen geblieben gegenüber dem vorletzten Hause links. Die drei Stockwerke dieses Hauses lagen noch im Schlummer da mit ihren zwei Fenstern ohne Läden in jedem Stockwerke und ihren hinter den Scheiben sorgsam zugezogenen kleinen weißen Vorhängen; ganz oben sah man hinter den Vorhängen des schmalen Giebelfensters ein Licht kommen und gehen. Doch der Laden unter dem Schutzdache schien bei Florent eine ganz besondere Bewegung hervorzurufen. Der Laden wurde eben geöffnet; es war ein Handel mit trockenen Kräutern; im Hintergrunde sah man einen Kessel schimmern; auf dem Auslagetische standen Näpfe mit runden, spitz zulaufenden Spinat- und Endivien-Klößen, rückwärts von kleinen Schaufeln durchschnitten, von denen man nur das Heft aus Weißblech sah. Dieser Anblick schien Florent im höchsten Grade zu überraschen, er erkannte den Laden nicht wieder. Er las den Namen des Händlers – Godeboeuf – auf einer roten Firmentafel und blieb ganz verdutzt stehen. Mit schlaff herabhängenden Armen betrachtete er die Spinatklumpen; dabei drückte sein Gesicht die Verzweiflung eines Mannes aus, dem irgendein schreckliches Unglück widerfahren ist.

Inzwischen war das Giebelfenster geöffnet worden; eine kleine Alte neigte sich heraus und blickte zuerst nach dem Himmel, dann nach den Hallen hinüber.

Schau! Fräulein Saget steht früh auf, sagte Claude emporblickend.

Und zu seinem Begleiter gewandt, fuhr er fort:

Ich hatte in diesem Hause eine Tante und kenne es daher. Es ist ein recht toller Käfig ... Ah, die Méhudins rühren sich auch schon; im zweiten Stockwerk ist Licht zu sehen.

Florent wollte ihn ausfragen, allein der andere flößte ihm in seinem abgefärbten, großen Überrock kein rechtes Vertrauen ein. Er folgte ihm wortlos, während Claude von den Méhudins sprach. Es waren Fischhändlerinnen; die Ältere war prächtig; die Jüngere, die Süßwasserfische verkaufte, glich unter ihren Karpfen und Aalen einer blonden Madonna von Murillo. Dabei ereiferte er sich und rief, Murillo male wie ein Halunke. Dann blieb er plötzlich in der Straße stehen: Aber wohin wollen Sie eigentlich?

Ich will nirgends hin, sagte Florent traurig. Gehen wir, wohin Sie wollen.

Als sie die Pirouette-Straße verließen, ward Claude von jemandem gerufen. Die Stimme kam aus dem Laden eines Weinhändlers an der Straßenecke. Claude trat ein und zog Florent mit sich. Es war nur ein Flügel des Fensters geöffnet. In der noch schläfrigstillen Trinkstube brannte eine Gasflamme; ein vergessener Wischlappen und die Spielkarten von gestern lagen noch auf den Tischen umher; der zur offenen Türe eindringende Luftzug brachte einige Frische in den dumpfen, warmen Weingeruch. Der Besitzer, Herr Lebigre, bediente seine Kunden in einer Ärmelweste; sein Rundbart war noch wirr, sein breites, regelmäßiges Gesicht ganz verschlafen. Vor dem Schanktische standen Männer in Gruppen und tranken hustend, speiend, mit schlaftrunkenen Augen, durch einen Schluck Weißwein oder Schnaps sich völlig erweckend. Florent erkannte Lacaille, dessen Sack jetzt bis an den Rand mit Gemüsen angefüllt war. Er trank jetzt sein drittes Glas in Gesellschaft eines Kameraden, der ihm lang und breit den Ankauf eines Korbes Kartoffeln erzählte. Als er sein Glas geleert hatte, zog er sich mit Herrn Lebigre in eine anstoßende, noch nicht beleuchtete Stube zurück, um mit ihm von Geschäften zu reden.

Was wollen Sie haben? fragte Claude Florent.

Beim Eintritt in die Weinstube hatte er dem Manne, der ihn gerufen, die Hand gereicht. Es war ein kräftiger, schöner Junge von höchstens zweiundzwanzig Jahren, rasiert, nur mit einem kleinen Schnurrbart, mit heiterer Miene, bekleidet mit einem ärmellosen Wams über einer blauleinenen Jacke und einem breiten, weißen Hute. Claude nannte ihn Alexander, schlug ihn kräftig auf den Arm und fragte ihn, wann sie nach Charentonneau gehen wollten. Sie sprachen von einer großen Kahnpartie, die sie zusammen auf der Marne gemacht hatten. Am Abend hatten sie einen Kaninchenbraten gegessen.

Was wollen Sie? wiederholte Claude.

Florent betrachtete verlegen den Schanktisch. An seinem Ende standen Kesselchen voll Punsch und Glühwein, umzüngelt von den blauen und rosigen Flammen eines Gasofens. Er gestand endlich, daß er gern etwas Warmes nehmen werde. Herr Lebigre füllte drei Gläser mit Punsch. Neben den Teekesseln stand ein Körbchen voll ganz frischer, noch warmer Buttersemmeln. Aber weil die anderen nicht davon nahmen, begnügte sich auch Florent, sein Glas Punsch zu trinken; das Getränk rann wie geschmolzenes Blei in seinen leeren Magen. Alexander zahlte die Zeche.

Ein guter Junge, dieser Alexander, sagte Claude, als die beiden wieder auf dem Fußweg der Rambuteau-Straße waren. Er ist sehr unterhaltend auf dem Lande; er macht die schönsten Kunststücke. Dabei ein hübscher, strammer Bursche. Ich habe ihn nackt gesehen; oh, wenn er mir im Freien Modell stehen wollte! ... Und jetzt, wenn's beliebt, wollen wir einen Gang durch die Hallen machen.

Florent folgte ihm, überließ sich ihm. In der Tiefe der Rambuteau-Straße war es hell, der Tag kündigte sich an. Die laute Stimme der Hallen wurde vernehmlich; von Zeit zu Zeit zerschnitten Glockenklänge aus einem entfernten Pavillon dieses rollende, immer mehr anwachsende Geräusch. Sie betraten einen der gedeckten Gänge zwischen dem Pavillon für Seefische und dem Pavillon für geschlachtetes Geflügel. Florent erhob die Blicke und betrachtete das hohe Gewölbe, dessen inneres Holzgerüste zwischen dem schwarzen Spitzenwerk der gußeisernen Tragbalken schimmerte. Als er den großen Mittelgang erreichte, glaubte er eine seltsame Stadt vor sich zu haben mit ihren deutlich abgegrenzten Vierteln, ihren Vorstädten, Dörfern, Spazierwegen und Straßen, mit ihren Plätzen und Wegkreuzungen, eine Stadt, die irgendeine Riesenlaune an einem Regentage unter ein Dach gestellt hat. Der Schatten, der in den Höhlungen des Dachwerkes schlummerte, vervielfachte diesen Wald von Pfeilern, breitete ins Unendliche die zarten Rippen, die abgesonderten Galerien und Fensterreihen aus; und über dieser Stadt entfaltete sich bis in die Tiefe des Dunkels dort oben ein weites Wachsen, ein ungeheuerliches Sprießen und Entfalten von Metall, dessen Stengel, die in Bündeln emporstrebten, dessen Zweige, die sich krümmten und durcheinander schlangen, eine ganze Welt bedeckten mit ihrem leichten Laubwerk eines hundertjährigen Hochwaldes. Ganze Viertel schliefen noch hinter ihren verschlossenen Torgittern. Die Pavillons für Butter und Geflügel dehnten ihre kleinen vergitterten Verkaufsstände, ihre noch menschenleeren Gänge unter den Reihen von Gaslichtern dahin. Der Pavillon für Seefische war eben geöffnet worden; Frauen kamen und gingen über die blanken Steine des Pflasters, auf das da und dort ein vergessener Korb oder ein vergessenes Linnen seinen Schatten warf. In den Abteilungen für schwere Gemüse, Blumen und Früchte ward das Geräusch immer lauter; immer mehr erwachte das Leben in dieser Stadt, angefangen von dem volkreichen Viertel der Kohlköpfe, die schon um vier Uhr sich anhäufen, bis zu dem trägen und reichen Viertel, das erst um acht Uhr seine Häuser mit Fasanen und Truthühnern behängt.

In den großen, bedeckten Gängen ward es immer lebendiger. Längs der Fußwege an den beiden Rändern legten noch immer Küchengärtner, kleine Landwirte aus der Umgebung von Paris, auf Körben ihre Ernte vom gestrigen Abend zum Verkauf aus, einige Bunde Gemüse, einige Handvoll Obst. Inmitten des unaufhörlichen Kommens und Gehens der Menge fuhren Wagen unter den Gewölben ein und verlangsamten den widerhallenden Trab ihrer Pferde. Zwei dieser Wagen, die man in die Quere gestellt und so gelassen hatte, versperrten den Weg. Um vorbeizukommen, mußte Florent sich auf einen der grauen Säcke stützen, die Kohlensäcken glichen und unter deren ungeheuerer Last die Achsen sich bogen. Diese feuchten Säcke hatten einen Geruch von frischem Seegras; der eine war an einem Ende geplatzt, ihm entquoll ein Häuflein schwarzer Miesmuscheln. Sie mußten jetzt bei jedem Schritte stille stehen. Die Seefische kamen an; die Rollwagen folgten einander und führten hohe Holzkäfige herbei, voll mit Körben, welche die Eisenbahnen schwer beladen vom Meere herbefördert hatten. Vor den immer dichter eintreffenden Seefischkarren flüchteten sie unter die Räder der Butter, Eier und Käse führenden Wagen, große, gelbe, vierspännige Fuhrwerke mit farbigen Laternen; kräftige Arme hoben die Eierkisten, die mit Butter und Käse bepackten Körbe ab und trugen sie nach dem Ausrufpavillon, wo Beamte in Dienstkappen die anlangenden Waren bei dem Gaslichte in kleinen Heften verzeichneten. Claude war entzückt über diesen Lärm; bei einer neuen Lichtwirkung, bei einer Gruppe von Trägern, bei dem Abladen eines Karrens konnte er längere Zeit verweilen. Endlich rissen sie sich los. Da sie noch immer den großen Mittelweg entlang schritten, gingen sie inmitten eines köstlichen Duftes, der sie umschwebte und ihnen zu folgen schien. Sie befanden sich auf dem Blumenmarkte. Auf den Quadern rechts und links saßen Frauen mit viereckigen Körben, die mit Rosen-, Veilchen-, Dahlien- und Maßliebchensträußen gefüllt waren. Die roten Rosen dunkelten wie Blutflecke, die weißen schimmerten in zartem Silbergrau. Neben einem dieser Körbe war eine Kerze angezündet, die auf all das Schwarze ringsumher helle Töne warf, die bunten Farben der Vergißmeinnichte, das Blutrot der Dahlien, das Blau der Veilchen, die helle Fleischfarbe der Rosen. Man konnte sich nichts Lieblicheres, nichts Lenzhafteres denken, als das Zarte dieses Duftes, dem man auf einem Fußweg begegnete, nach den scharfen Gerüchen der Seefische und dem Mißduft der Käseabteilung.

Claude und Florent machten kehrt und verweilten unter den Blumen. Neugierig blieben sie vor den Frauen stehen, die regelmäßig gebundene Farrenkraut- und Weinlaubbüschel verkauften. Dann bogen sie in einen fast noch menschenleeren Gang ein, wo ihre Tritte widerhallten wie unter dem Gewölbe einer Kirche. Hier fanden sie einen kleinen Karren, mit einem ganz kleinen Esel bespannt, der sich ohne Zweifel langweilte und so laut und ausdauernd zu brüllen anfing, daß das Riesendach der Hallen davon erzitterte. Pferdegewieher antwortete darauf. In der Ferne hörte man ein Stampfen, ein Getöse, das anstieg, vorüberzog und sich wieder verlor. Gegenüber in der Hirtenstraße zeigten die weit geöffneten, kahlen Läden im grellen Gaslichte Haufen von Körben und Früchten zwischen den drei schmutzigen Mauern, die mit Rechnungen über und über bedeckt waren, die man mit dem Bleistifte darauf gekritzelt hatte. Während sie da standen, sahen sie eine fein gekleidete Dame, die in seliger Erschlaffung, in die Ecke eines Fiakers gedrückt saß, der durch dieses Gewühl von Menschen und Fuhrwerken sich gleichsam hindurchstahl.

Aschenbrödel kehrt ohne Pantoffel heim, sagte Claude lächelnd.

Sie plauderten jetzt, während sie nach den Hallen zurückkehrten. Claude, der die Hände in die Taschen steckte und sich ein Liedchen pfiff, sprach von seiner großen Vorliebe für diese Überfülle von Nahrungsmitteln, die jeden Morgen mitten in Paris sich ausbreitet. Er trieb sich ganze Nächte auf den Abladeplätzen herum und träumte von ungeheueren Naturstücken, von wundervollen Gemälden; er hatte sogar eines begonnen, wobei sein Freund Marjolin und die Dirne Cadine ihm Modell gestanden hatten; aber der Eindruck des Bildes war »zu hart«; diese verteufelten Gemüse, Früchte, Fische und Fleischmassen waren »zu schön«. Florent hörte mit knurrendem Magen diese Künstlerbegeisterung. Es war klar, daß Claude in diesem Augenblick gar nicht daran dachte, daß man alle diese schönen Dinge auch essen könne. Er liebte sie wegen ihrer Farbe. Dann schwieg er plötzlich, zog mit einer Handbewegung, die ihm zur Gewohnheit geworden, den langen, roten Gürtel enger zusammen, den er unter seinem grün schillernden Überröcke trug, und fuhr mit schlauer Miene fort:

Auch frühstücke ich hier, wenigstens mit den Augen, und das ist besser als nichts. Wenn ich manchmal am vorhergehenden Tag vergessen habe zu Mittag zu essen, überlade ich mir am Morgen den Magen, indem ich alle diese schönen Sachen ankommen sehe. An solchen Tagen ist meine Zärtlichkeit für die Gemüse noch größer. Nein, sehen Sie, mich erbittert es, und ich finde es ungerecht, daß diese lumpigen Spießbürger alles fressen.

Nun erzählte er von einem Abendessen, das einer seiner Freunde an einem Tage, da er einen gut gespickten Geldbeutel hatte, ihm bei Baratte gezahlt. Es gab Austern, Fische, Wildbret. Doch Baratte war ein überwundener Standpunkt; all das Zeug der ehemaligen Marktplätze galt heute nichts mehr; man lebte in der Zeit der Zentralhallen, dieses gußeisernen Kolosses, dieser neuen, so originellen Stadt. Die Schwachköpfe mochten reden, was sie wollten: die Zentralhallen waren das Bild der neuen Zeit. Florent wußte nicht mehr, ob er die malerische Seite oder das gute Essen bei Baratte verurteilte. Dann schimpfte Claude über das Romantische; diese Kohlhaufen seien ihm lieber als alle Fetzen aus dem Mittelalter. Schließlich klagte er sich selbst an wegen seiner Zeichnung der Pirouette-Straße; es sei eine Schwäche gewesen, meinte er. Die alten Hütten müßten niedergerissen und Modernes müsse geschaffen werden.

Schauen Sie dort an der Ecke des Fußweges, sagte er und blieb stehen. Ist das nicht ein fertiges Bild und viel menschlicher als all die vertrackte, schwindsüchtige Kleckserei?

In der ganzen Länge des Ganges bewegten sich jetzt Weiber, die Kaffee und Suppe verkauften. An der Ecke des Fußweges hatte um eine Verkäuferin von Kohlsuppe ein großer Kreis von frühstückenden Leuten sich gebildet. Der verzinnte Blechkessel mit seinem dampfenden und brodelnden Suppeninhalt stand auf einem niedrigen Ofen, dessen Löcher den matten Schein der Glut durchschimmern ließen. Mit einem großen Schöpflöffel bewehrt, füllte die Frau gelbe Tassen mit Suppe, nachdem sie vorher eine Handvoll dünner Brotschnitten, die sie aus einem mit Linnen überdeckten Korbe geholt, in die Tasse getan hatte. Es gab unter den Frühstückenden recht sauber gekleidete Handelsleute, Küchengärtner in Blusen, schmutzige Träger, deren Röcke an den Schultern die fettigen Spuren aller Lebensmittel zeigten, die sie zu schleppen hatten, dann zerlumpte, arme Teufel, kurz: alles Volk, das am frühen Morgen in den Hallen seinen Hunger stillt, sich mit der heißen Suppe den Mund verbrennt und beim Essen ein wenig vornüber gebeugt steht, um nicht den Suppenschaum auf die Kleider tropfen zu lassen. Der entzückte Maler zwinkerte mit den Augen, suchte den richtigen Gesichtspunkt, um mit dem Bilde einen guten Gesamteindruck hervorzubringen. Doch die verteufelte Kohlsuppe verbreitete einen schrecklichen Geruch. Florent wandte den Kopf weg, schmerzlich berührt durch den Anblick dieser vollen Tassen, die die Esser wortlos, mit einem fast tierischen, argwöhnischen Seitenblicke leerten. Da die Frau eben wieder einen neu Ankommenden bediente, ward Claude selbst durch den starken Dunst, der ihm aus dem vollen Löffel in die Nase stieg, am Magen gepackt.

Mit verlegener, lächelnder Miene zog er seinen Gürtel zusammen; dann nahm er seinen Gang wieder auf und sagte mit einer Anspielung auf das von Alexander gezahlte Glas Punsch zu Florent:

Es ist doch drollig ... Sie müssen es bemerkt haben ... Man findet immer jemanden, der uns zu trinken zahlt, aber nie jemanden, der uns zu essen zahlt.

Jetzt brach der Tag an. Am Ende der Cossonnerie- Straße sah man die Häuser der Sebastopol-Allee ganz schwarz, über der sich scharf abzeichnenden Linie der Schieferdächer bildete die hoch aufragende Wölbung des gedeckten Hauptganges an dem blaßblauen Morgenhimmel einen hellen Halbmond. Claude, der durch einige vergitterte Kellerlöcher hinabgeblickt hatte, die, in der Höhe des Fußweges gelegen, einen Einblick in die vom Gas nur schwach erhellten Kellerräume gestatteten, schaute jetzt hinauf zu den hohen Pfeilern und suchte auf den blauen Dächern am Rande des klaren Himmels. Er blieb wieder stehen, die Augen auf eine der dünnen eisernen Leitern gerichtet, die die zwei Stockwerke der Dächer verbinden und den Verkehr zwischen ihnen vermitteln. Florent fragte ihn, was er dort oben sehe.

Der verteufelte Marjolin, brummte der Maler, liegt sicher in irgendeiner Dachrinne, wenn er die Nacht nicht unter den Hühnern im Geflügelkeller zugebracht hat. Ich brauche ihn zu einer Studie.

Und er erzählte, daß sein Freund Marjolin eines Morgens von einer Gemüsehändlerin unter einem Kohlhaufen gefunden wurde und im Freien, auf dem Markte aufgewachsen sei, Als man ihn zur Schule schicken wollte, ward er krank; man mußte ihn wieder nach den Hallen zurückführen. Er kannte ihre geheimsten Winkel, liebte sie mit kindlicher Zärtlichkeit und lebte munter wie ein Reh in diesem gußeisernen Walde. Sie waren ein sauberes Paar, er und die Dirne Cadine, die Mutter Chantemesse eines Abends an der Ecke des alten Innocent-Marktplatzes aufgelesen hatte. Er war ein prächtiger Junge, blond wie ein Rubens, mit einem rötlichen Flaum, auf welchem das Sonnenlicht spielte; sie war klein und schmächtig und hatte ein pfiffiges Lärvchen unter dem Gestrüpp ihrer krausen, schwarzen Haare.

Claude beschleunigte jetzt seine Schritte, während er mit seinem Gefährten plauderte. Er geleitete Florent auf den Sankt-Eustach-Platz zurück. Hier sank der Ausgehungerte kraftlos auf eine Bank neben der Haltestelle der Omnibus; seine Beine trugen ihn nicht weiter. Die Luft war kühl. Im Hintergrunde der Rambuteau-Straße fleckten rosige Lichter den milchfarbenen Himmel, der weiter hinauf von breiten, grauen Rissen durchzogen war. Diese Morgendämmerung hatte einen so balsamischen Duft, daß Florent sich einen Augenblick auf dem Lande, auf irgendeinem Hügel wähnte. Doch Claude zeigte ihm jenseits der Bank den Markt für duftende Kräuter. Längs des Kaldaunenmarktes gab es ganze Felder von Thymian, Lavendel, Knoblauch, Schalotte; die Händler hatten die jungen Platanen des Fußweges mit hohen Lorbeerzweigen umschlungen, die gleichsam ein grünes Festgewinde bildeten. Der mächtige Geruch des Lorbeers herrschte vor.

Das beleuchtete Zifferblatt der Turmuhr zu Sankt-Eustach erbleichte, wie ein Nachtlämpchen, das der Morgen überrascht hat. In den Weinschenken der benachbarten Straßen erlosch ein Gaslicht nach dem andern gleich Sternen, die ins Licht fallen. Florent betrachtete die großen Hallen, die aus dem Schatten, aus dem träumerischen Dunkel hervortraten, worin er sie ihre luftigen Bauten ins Unendliche hatte ausdehnen sehen. Sie nahmen jetzt in ihrer graugrünen Farbe feste Formen an und erschienen noch riesiger mit ihrem Wald von Eisenpfeilern, welche die schier endlosen Felder ihrer Dächer trugen. Sie häuften ihre starren Massen. Als innen alle Lichter ausgelöscht waren, als sie ihre gleichen, viereckigen Formen in dem Lichte des anbrechenden Tages badeten, erschienen sie wie eine moderne Maschine, die jedes Maß übersteigt, wie eine Dampfmaschine, wie ein Riesenofen, für die Verdauung eines ganzen Volkes bestimmt, ein ungeheurer Bauch von Metall, gebolzt und vernietet, aus Holz, Glas und Gußeisen hergestellt, von der Eleganz und Mächtigkeit einer Lokomotive, die mit der Hitze des Heizwerkes und mit den gewaltigen Bewegungen der Räder arbeitet.

Claude hatte in seiner Begeisterung sich auf die Bank gestellt. Er zwang seinen Gefährten, den über den Gemüsen heraufziehenden Morgen zu bewundern. Es war ein Meer, das zwischen den zwei Pavillongruppen von dem Sankt- Eustach-Platze bis zu den Hallen sich ausdehnte. An den beiden Enden, bei den Wegkreuzungen wuchs die Flut noch an; die Gemüse bedeckten das Straßenpflaster. Der Tag brach langsam in zartgrauem Lichte an und tauchte alles in eine helle Aquarellfarbe. Diese in eng gedrängten Wellen sich kräuselnden Haufen, dieser Strom von Grün, der in dem Einschnitte des Fahrweges dahin zu fließen schien wie die wilden Gewässer eines Herbstregens: sie nahmen feine, geperlte Schattierungen an, das zarte Violett, das mit Weiß gesättigte Rosa, das in Gelb getauchte Grün, alle die blassen Farben, die bei Sonnenaufgang dem Himmel die Farbe der schillernden Seide verleihen. In dem Maße, wie der Brand der Morgensonne mit seinen lodernden Strahlenbündeln aus dem Hintergrunde der Rambuteau-Straße heraufstieig, erwachten die Gemüse immer mehr und traten aus dem blauen Schatten heraus, der auf der Erde lagerte. Die Salate, Lattiche und Endivien, erschlossen und noch feucht von dem Erdreich, zeigten ihren schimmernden Kern; die Spinat- und Sauerampferpakete, die Artischockensträuße, die Erbsen- und Bohnenhaufen, die Stöße von breitblätterigem Lattich, durch Strohhalme zusammengebunden, zeigten die ganze Stufenleiter des Grün, von der grünen Lackfarbe der Schoten angefangen bis zu dem satten Grün der Blätter; eine fortlaufende Farbenleiter, die in den Streifen der Sellerieköpfe und der Lauche erstarb. Aber unter den hellen Farben die hellsten waren doch die der Möhren und Rüben, die in überreicher Menge auf dem ganzen Markte ausgestreut, mit ihren hellen Streifen einen bunten Ton in diese Farbenpracht setzten. An der Wegkreuzung der Hallen bildeten die Kohlköpfe ganze Berge; die riesigen Weißkohlköpfe, eng zusammengeschlossen und hart wie Kugeln aus einem weißen Metall; die Krauskohlköpfe, deren große Blätter flachen Becken von Bronze glichen; die Rotkohlköpfe, denen die Morgenröte eine prächtige Weinhefefarbe verlieh, mit dunkleren Streifen von Karmin und Purpur. Am andern Ende war bei der Wegkreuzung des Sankt-Eustach-Platzes der Eingang der Rambuteau-Straße von einer Doppelreihe gelber Riesenkürbisse verlegt; da und dort schimmerte der braunrote Glanz eines Korbes voll Zwiebeln, das Blutrot eines Häufleins Tomaten, das Blaßgelb einer Partie Gurken, das Dunkelviolett eines Kranzes Eieräpfel, während einzelne Reihen großer schwarzer Rettiche dunkle Flecken inmitten aller Farbenfreude des anbrechenden Tages bildeten.

Claude schlug bei diesem Anblick entzückt die Hände zusammen. Er fand diese »vertrackten Gemüse« ganz außerordentlich, erhaben. Und er behauptete, daß sie nicht tot seien, daß sie, am gestrigen Abend aus dem Boden geholt, jetzt auf dem Pflaster der Hallen der Morgensonne harrten, um ihr Lebewohl zu sagen. Er sah sie leben, ihre Blätter erschließen, als ob sie noch ruhig und warm in ihren Düngerbeeten säßen. Er behauptete da das Röcheln aller Küchengärten der Umgegend zu hören. Doch hatte inzwischen eine Flut von weißen Hauben, schwarzen Leibchen und blauen Blusen die schmalen Pfade zwischen den Gemüsehaufen überschwemmt. Es war ein Stück geräuschvollen Landlebens. Die großen Butten der Träger zogen schwerbepackt und die Köpfe überragend vorüber. Die Wiederverkäuferinnen, die Grünkrämer und die Obsthändler beeilten sich, ihre Einkäufe zu machen. Bei den Kohlhaufen sah man Korporale und Nonnengruppen feilschen; Schulköche gingen witternd umher, um einen wohlfeilen Kauf zu suchen. Es wurde noch immer abgeladen; Karren warfen ihre Last zur Erde wie eine Ladung Pflastersteine und vergrößerten so die Flut, die allmählich den jenseitigen Fußweg erreichte. Und aus der Pont-Neuf-Straße kamen noch immer neue Wagenreihen.

Es ist doch herrlich schön! murmelte Claude begeistert.

Florent aber litt inzwischen. Er glaubte, es sei eine übermenschliche Versuchung über ihn gekommen. Er wollte nichts sehen; er betrachtete die schräg gestellte Sankt- Eustach-Kirche, die wie eine Sepiazeichnung sich vom blauen Himmel abhob mit ihren Rosetten, breiten, gewölbten Fenstern, ihrem Glockenturm und ihren Schieferdächern. Er verweilte bei dem dunklen Verschwimmen der Montorgueil- Straße, wo grell bemalte Aushängeschilder glänzten; dann bei dem hier sichtbaren Stück der Montmartre-Straße, deren mit vergoldeten Lettern durchflochtene Balkongitter herüber schimmerten. Als seine Blicke zur Wegkreuzung zurückkehrten, blieben sie an anderen Firmenschildern haften; da gab es Drogerien und Apotheken, Mehl und trockene Gemüse, alles in großen roten oder schwarzen Buchstaben auf verwaschenem Grunde gemalt. Die Eckhäuser mit ihren schmalen Fenstern erwachten allmählich und zeigten in der breiten, luftigen, neuen Pont- Neuf-Straße einige gelbe, gemütliche Vorderseiten aus dem alten Paris. An der Ecke der Rambuteau-Straße standen in den leeren Schaufenstern des großen Modewarenmagazins sauber gekleidete Handlungsgehilfen mit Weste, knapp anliegendem Beinkleide und schimmernden breiten Manschetten, mit der Ordnung der Auslagen beschäftigt. Weiterhin stand das Haus Guillout, ernst wie eine Kaserne, und stellte in seinen Schaufenstern Pakete goldgelb schimmernden Zwiebacks und große Schüsseln kleiner Kuchen aus. Alle Läden waren jetzt geöffnet. Arbeiter in weißen Blusen mit ihrem Werkzeug unter dem Arm gingen eiligen Schrittes durch die Straße.

Claude war von seiner Bank noch immer nicht herabgestiegen. Er erhob sich auf die Fußzehen, um tiefer in die Straßen hineinsehen zu können. Plötzlich bemerkte er in der Menge, die er überragte, einen blonden Kopf mit vollem, wallendem Haar, gefolgt von einem kleinen schwarzen, ganz krausen und struppigen Kopfe.

He, Marjolin! he, Cadine! rief er.

Da seine Stimme in dem Getöse des Marktes ungehört verhallte, sprang er zur Erde und begann zu laufen. Dann erinnerte er sich, daß er Florent vergaß; mit einem Satz kehrte er zurück und sagte:

Ich wohne im Bourdonnais-Gäßchen; mein Name ist mit Kreide auf der Haustüre angeschrieben. Claude Lantier ... Kommen Sie zu mir, um meine Zeichnung von der Pirouette-Straße zu besichtigen.

Damit verschwand er. Er wußte den Namen Florents nicht; er verließ ihn wie er ihn gefunden hatte, am Rande eines Bürgersteiges, nachdem er ihm seine Lieblingsrichtung in der Kunst erklärt hatte.

Florent war allein. Zuerst war er froh ob dieser Einsamkeit. Seitdem Frau François ihn in der Neuilly-Allee aufgelesen, befand er sich wie in einem Traume, einem Leide, das ihm jede klare Vorstellung der Dinge unmöglich machte. Er war endlich frei; er wollte sich aufrichten, diesen unerträglichen Traum von ungeheuren Nahrungsmitteln abschütteln, von dem er sich verfolgt fühlte. Allein sein Kopf war hohl; er konnte in seinem Innern nichts anderes als eine dumpfe Furcht entdecken. Es ward immer heller; man konnte ihn jetzt sehen, und er betrachtete sein Beinkleid und seinen Rock, die in einem kläglichen Zustande waren. Er knöpfte den Rock zu, staubte das Beinkleid ab, suchte sein Äußeres ein wenig in Ordnung zu bringen, weil er glaubte, daß diese erbärmlichen Lumpen ganz laut verkündeten, woher er komme. Er saß mitten auf der Bank neben armen Teufeln, Nachtschwärmern, die hier den Sonnenaufgang erwarteten. Die Hallen bieten den Vagabunden gastliche Unterkunft für die Nacht. Zwei Polizisten gingen, noch in ihrer Nachtausrüstung, mit Kapuze und Käppi nebeneinander mit den Händen auf dem Rücken auf und ab; jedesmal wenn sie bei der Bank vorüber kamen, warfen sie einen Blick auf das Wild, das sie da witterten. Florent bildete sich ein, daß sie ihn erkannten und sich berieten, ihn festzunehmen. Da ergriff ihn die Angst, und es überkam ihn ein tolles Verlangen zu fliehen. Aber er wagte es nicht; er wußte nicht, wie er von dannen gehen solle. Die regelmäßigen Blicke der Polizisten, dieses langsame und kalte Prüfen war ihm eine Qual. Endlich verließ er die Bank; er mußte sich Gewalt antun, um nicht zu laufen, was seine Beine ihn tragen konnten, und entfernte sich mit langsamen Schritten, die Schultern einziehend, aus Furcht, die schweren Hände der Polizisten an seinem Kragen zu fühlen.

Er hatte nur mehr einen Gedanken, ein Bedürfnis: sich von den Hallen zu entfernen. Er wird noch warten und später suchen, wenn der Platz frei ist. Die bei der Wegkreuzung zusammenlaufenden drei Straßen, die Montmartre-Straße, die Montorgueil-Straße und die Turbigo-Straße beunruhigten ihn; sie waren mit Fuhrwerken jeder Gattung angefüllt und Gemüse bedeckten die Fußwege. Er ging also geradeaus, bis zur Pierre-Lescot-Straße, wo er auf den Kressen- und Kartoffelmarkt stieß und nicht weiter konnte. Da zog er vor, durch die Rambuteau-Straße zu gehen. Doch hier geriet er in ein solches Wirrsal von Möbelwagen, Karren und Fuhrwerken, daß er kehrtmachte, um in die Saint-Denis-Straße einzubiegen. Hier befand er sich wieder mitten in den Gemüsen. An beiden Rändern der Straße hatten die Markthändler ihre Verkaufsstände – auf hohen Körben quer liegende Bretter – aufgeschlagen und die endlose Flut von Kohl, Möhren und Rüben begann von neuem. Die Hallen überquollen von ihrem Reichtum. Er suchte diesem Meer zu entkommen, das auf seiner Flucht ihn erreichte; er versuchte es mit der Cossonnerie-Straße, Hirtenstraße, mit dem Innocenzplatz, mit der Eisenstraße und mit der Hallenstraße. Endlich blieb er entmutigt und erschreckt stehen; er vermochte diesem höllischen Wirbel der Kräuter nicht zu entrinnen, die ihn umschwirrten und mit ihren dünnen grünen Fäden ihm die Beine fesselten. In der Ferne verlor sich bis zur Rivoli-Straße, bis zum Rathausplatz, die endlose Reihe der Räder und Pferde in dem Durcheinander der aufgeladenen Waren; große Möbelwagen führten den Einkauf der Obsthändler eines ganzen Stadtviertels hinweg; Fuhrwerke, deren Seiten unter der schweren Last schier barsten, fuhren nach den Vorstädten ab. In der Pont-Neuf-Straße verirrte er sich völlig; er war mitten in ein Gewühl von Handkarren geraten; die Grünkramhändler putzten da ihr rollendes Warenlager auf. Unter ihnen erkannte er Lacaille, der einen Karren voll Möhren und Blumenkohl durch die Honoriusstraße fuhr. Er folgte ihm in der Hoffnung, daß er ihm behilflich sein werde, aus dem Gewühl herauszukommen. Das Straßenpflaster war feucht geworden, obgleich trockenes Wetter war; Artischockenstengel, Krautblätter, Pflanzenabfälle allerart bedeckten den Boden und gefährdeten die Sicherheit der Fußgänger. Er strauchelte bei jedem Schritte. In der Vauvillers-Straße verlor er Lacaille. Auf der Seite der Getreidehalle waren die Eingänge der Straßen ebenfalls mit Wagen und Karren verlegt. Er versuchte nicht mehr zu kämpfen; die Hallen hatten ihn wieder, die Flut trug ihn zurück, er befand sich wieder auf dem Sankt-Eustach-Platze.

Er vernahm jetzt das anhaltende Getöse, das aus den Hallen kam. Paris kaute die Bissen für seine zwei Millionen Einwohner. Es war gleichsam ein großes Zentralorgan, das aus voller Kraft arbeitete und das Blut, den Lebenssaft, in alle Adern sandte; das Geräusch ungeheurer Kinnladen, der Lärm, den die Verpflegung der Riesenstadt verursachte, angefangen von dem Peitschenknallen der Großverkäufer, die nach den Märkten der verschiedenen Stadtviertel aufbrachen, bis zu dem Pantoffelschlürfen der armen Weiber, die mit ihren Handkörben von Tür zu Tür wandern, um einige Salatköpfe zu verkaufen.

Er betrat einen gedeckten Gang links in der Gruppe der vier Pavillons, deren große, stille Schatten er in der Nacht gesehen hatte. Er gedachte sich hierher zu flüchten, hier einen Schlupfwinkel zu finden. Allein um diese Stunde waren auch diese Pavillons erwacht wie die anderen. Er schritt bis ans Ende des Ganges. Lastwagen fuhren im Trab herein und füllten den Geflügelmarkt mit Käfigen voll lebenden Geflügels und viereckigen Körben, in denen geschlachtetes Geflügel hoch aufgeschichtet lag. Auf dem entgegengesetzten Fußwege luden andere Fuhrwerke ganze Kälber ab, die, in Tücher eingehüllt, der ganzen Länge nach – wie Kinder – in Körben lagen, aus denen nur die blutigen Fußstümpfe herausragten. Es gab auch ganze Hammel, Ochsenviertel, Keulen und Schulterstücke. Die mit großen weißen Schürzen versehenen Metzger versahen das Fleisch mit einem Stempel, ließen es auf Handkarren herbeiführen, wogen es und hängten es auf den Querbalken des Ausrufeplatzes aus, während Florent, das Gesicht an die Eisenstäbe der Gittertür gedrückt, diese Reihen toter Tiere betrachtete, diese blutigen Ochsen und Hammel, die blasseren Kälber, die mit geöffnetem Bauche dahingen und an denen das Fett und die Sehnen gelbe Flecke bildeten. Er ging dann zu dem Kaldaunenmarkte, wo es blasse Kalbsköpfe und Kalbsfüße gab, säuberlich zusammengerollte Kaldaunen in Büchsen, auf platten Körben ausgelegte Gehirne, blutige Lebern, violettfarbene Nieren. Er verweilte bei den langen, zweiräderigen, mit runden Decken verhüllten Karren, die halbe Schweine, auf einer Strohschichte gelagert, zu beiden Seiten an die Wagenleiter gehängt, herbeiführten; und auf dem Strohlager standen Büchsen von Weißblech voll Schweineblut. Da ward Florent von einer dumpfen Wut erfaßt; der fade Geruch des Fleisches, der scharfe Geruch der Kaldaunen erbitterte ihn. Er verließ den gedeckten Gang und zog es vor, noch einmal zum Fußweg der Pont-Neuf-Straße zurückzukehren.

Er war bis zum Äußersten erschöpft; es fror ihn in der Kühle des Morgens, seine Zähne klapperten und er fürchtete hinzufallen und am Boden liegen zu bleiben. Er suchte vergebens ein leeres Plätzchen auf einer Bank; er würde da geschlafen haben auf die Gefahr hin, von den Polizisten geweckt zu werden. Als ihm schwarz vor den Augen wurde, lehnte er sich an einen Baum; die Augen fielen ihm zu, und es summte ihm in den Ohren. Die rohe Möhre, die er verschlungen hatte, ohne sie zu kauen, zerriß ihm den Magen; der Punsch, den er getrunken, hatte ihn berauscht. Er war betäubt von Elend, Ermüdung und Hunger. Ein verzehrendes Feuer brannte abermals in seinem Innern; er preßte zeitweilig beide Hände an die Brust, wie um ein Loch zu verstopfen, durch das er sein Leben dahinschwinden zu fühlen glaubte. Ihm war, als schwanke der Bürgersteig um ihn her; sein Leiden ward dermaßen unerträglich, daß er lieber wieder gehen wollte, um es zum Schweigen zu bringen. Er ging also geradeaus vor sich hin und kam so wieder unter die Gemüse, wo er sich alsbald verirrte. Er betrat einen schmalen Weg, bog dann in einen andern ein, mußte wieder umkehren, verirrte sich von neuem und befand sich wieder mitten im Grünzeug. Manche Haufen waren so hoch, daß die Leute zwischen zwei Mauern, aus Paketen und Büchsen aufgebaut, dahinschritten. Nur die Köpfe ragten heraus, und man sah den weißen oder schwarzen Fleck der Kopfbedeckung vorüberziehen; und die großen, in wiegendem Schritte vorüber getragenen Butten glichen kleinen Kähnen von Weidengeflecht; die auf einem moosgrünen Teiche schaukeln. Florent stieß auf tausend Hindernisse, auf Träger, die sich mit ihrer Last beluden, auf Händlerinnen, die mit ihren rauhen Stimmen stritten. Er glitt aus auf der dicken Lage von Blättern und Strünken, die die Straße bedeckte; er erstickte schier in dem durchdringenden Geruch der zertretenen Abfälle. Völlig blöde blieb er schließlich auf einem Platze stehen und überließ sich den Stößen der einen, den Schmähworten der anderen; er war nur mehr eine Sache, die gedrängt und gestoßen, willenlos auf der steigenden Flut dahintrieb.

Er ward jetzt von einem Gefühl großer Feigheit ergriffen: er wollte betteln. Sein dummer Stolz in der vergangenen Nacht erbitterte ihn jetzt. Hätte er das Geschenk der Frau François angenommen, hätte er nicht vor Claude eine alberne Angst gehabt, er müßte jetzt nicht inmitten all dieser Lebensmittel nach Nahrung lechzen. Es verdroß ihn besonders, daß er den Maler in der Pirouette-Straße nicht um Hilfe angesprochen. Jetzt war er allein und konnte auf dem Straßenpflaster verenden wie ein verlaufener Hund.

Zum letztenmal erhob er die Blicke und betrachtete die Hallen. Sie flammten jetzt im Sonnenlichte. Ein breiter Strahl fiel hinten am Ende des gedeckten Ganges hinein und riß gleichsam ein Tor von Licht in die Masse der Pavillons; auch von den Dachfeldern rieselte die Helligkeit hernieder. Das ungeheure Gebälk von Gußeisen war in bläulichen Schatten getaucht und erschien nur mehr wie ein dunkles Profil in den lodernden Flammen der aufgehenden Sonne. Oben glühte ein Glasfenster auf, und ein Lichtstrahl ergoß sich bis zu den Dachrinnen längs der breit abfallenden Zinkplatten. Das Ganze glich einer geräuschvollen Stadt, die in eine Wolke von Goldstaub gehüllt ist. Immer lauter äußerte sich das erwachende Leben, angefangen von dem Schnarchen der in ihre Mäntel gehüllten Gemüsegärtner bis zu dem lebhafteren Rollen der Marktwagen. Die ganze Stadt erschloß jetzt ihre Torgitter; es summte und brummte auf den Verkaufsplätzen und in den Pavillons; alle Stimmen tönten, und es war gleichsam eine mächtige Entfaltung jenes Satzes, den Florent seit vier Uhr morgens im Dunkel dahinziehen und immer mehr anschwellen hörte. Rechts und links, auf allen Seiten, mengte das Geschrei der Ausrufer hohe Pickelflötentöne in das tiefe Gebrumme der Menge, es war bei den Seefischen, auf dem Buttermarkte, in der Geflügelabteilung, auf dem Fleischmarkte. Von Zeit zu Zeit ertönte eine Glocke, und dem Klang folgte der Lärm eines Marktes, dessen Eröffnung sie ankündete. Rings um ihn her tauchte die Sonne die Gemüsehaufen in die Fluten ihres Lichts. Er erkannte nicht mehr die zarte Aquarellfarbe der Dämmerung. Die erschlossenen Kelche der Salate brannten im Lichte, das Grün schimmerte prächtig, die roten Rüben schienen zu bluten, die weißen Rüben glühten in diesem sieghaften Glutofen. Zu seiner Linken schütteten noch immer Kohlkarren ihren Inhalt aus. Er wandte die Blicke und sah in der Ferne noch immer neue Fuhrwerke aus der Turbigo-Straße hervorkommen. Die Meeresflut stieg immer höher. Er hatte sie an seinen Knöcheln, dann an seinem Bauche gefühlt, jetzt drohte sie über seinem Haupte zusammenzuschlagen. Geblendet, ertränkt, mit klingenden Ohren, der Magen erdrückt von allem, was er gesehen, neue, unaufhörliche Massen von Nahrungsmitteln ahnend, flehte er um Gnade, und ein wahnsinniges Verlangen erfaßte ihn, Hungers zu sterben inmitten des strotzenden Paris, in diesem flammenden Erwachen der Hallen. Große, heiße Zähren rollten über seine Wangen.

Er war jetzt bei einem breiteren Gange angelangt. Zwei Frauen, eine kleine Alte und ein große Hagere, gingen plaudernd an ihm vorüber und lenkten ihre Schritte nach den Hallen.

Sie kommen, um Ihren Einkauf zu machen, Fräulein Saget? fragte die große Hagere.

Ach, Frau Lecoeur, mein Einkauf!... Sie wissen ja, eine allein stehende Frau; ich lebe sozusagen von nichts... Ich wollte eine Rose Blumenkohl kaufen, aber es ist alles so teuer ... Was ist denn heut der Preis der Butter?

Vierunddreißig Sous... Ich habe sehr gute, wenn Sie zu mir kommen wollen...

Schön, schön; ich weiß noch nicht; ich habe noch etwas Fett zu Hause...

Florent machte eine letzte Anstrengung und folgte den beiden Frauen. Er erinnerte sich, den Namen der kleinen Alten von Claude in der Pirouette-Straße nennen gehört zu haben, und er faßte den Vorsatz, sie anzusprechen, wenn sie die große Hagere verlassen hatte.

Und Ihre Nichte? fragte Fräulein Saget.

Die Sariette mag tun, was sie will, erwiderte Frau Lecoeur in herbem Tone. Sie hat sich selbständig niederlassen wollen; das geht mich weiter nichts an. Wenn die Männer sie aufgefressen haben, bekommt sie von mir nicht einen Bissen Brot.

Sie waren so gut zu ihr... Sie sollte trachten, Geld zu erwerben. Der Obsthandel ist heuer sehr vorteilhaft... Und Ihr Schwager?

Oh, der...

Frau Lecoeur rümpfte die Nase und schien nicht mehr sagen zu wollen.

Also immer derselbe? fuhr Fräulein Saget fort. Ein schöner Herr das!... Ich habe mir erzählen lassen, daß er sein Geld in einer Weise ausgibt!...

Weiß man denn, ob er sein Geld überhaupt ausgibt? sagte Frau Lecoeur grob. Das ist ja ein Geheimtuer, ein Geizhals, der mich krepieren ließe, eher er mir hundert Sous liehe... Er weiß sehr wohl, daß Butter, Käse und Eier dieses Jahr keinen guten Preis haben, während er nicht genug Geflügel auftreiben kann. Glauben Sie, daß er mir auch nur ein einziges Mal seine Dienste angeboten habe? Ich bin zu stolz, um etwas anzunehmen; aber eine Freude würde es mir dennoch bereitet haben.

Dort geht er, Ihr Schwager, sagte Fräulein Saget mit gedämpfter Stimme.

Die Frauen wandten sich um und sahen einem Mann nach, der quer über die Straße ging, um den gedeckten Hauptgang zu betreten.

Ich habe Eile, sagte Frau Lecoeur; ich habe meinen Laden allein gelassen. Übrigens will ich auch nicht mit ihm sprechen.

Florent hatte sich unwillkürlich ebenfalls umgewandt. Er sah einen kleinen, vierschrötigen Mann mit zufriedener Miene, die grauen Haare kurz geschnitten, unter jedem Arm eine fette Gans, deren Kopf ihm an die Schenkel schlug. Plötzlich lief in einer freudigen Regung Florent, alle Müdigkeit vergessend, dem Manne nach. Als er ihn erreicht hatte, rief er:

Gavard! und schlug ihn dabei auf die Schulter.

Der andere blickte auf und betrachtete mit überraschter Miene dieses lange, schwarze Gesicht, das er nicht erkannte. Dann rief er plötzlich äußerst betroffen aus:

Sie! Sie! Sind Sie es denn wirklich?

Es fehlte nicht viel und er hätte seine fetten Gänse zu Boden fallen lassen. Er konnte sich nicht fassen. Doch als er seine Schwägerin und Fräulein Saget bemerkte, die aus der Ferne neugierig dieser Begegnung zusahen, ging er weiter und sagte:

Kommen Sie, wir wollen nicht stehen bleiben; es gibt überall zu viel Augen und Zungen.

Unter dem gedeckten Gange setzten sie ihr Gespräch fort. Florent erzählte, daß er in der Pirouette-Straße gewesen. Gavard fand es sehr drollig; lachend erzählte er ihm, daß sein Bruder Quenu seit langem ausgezogen sei und seinen Wurstladen da in der Nähe, Rambuteau-Straße, den Hallen gegenüber eröffnet habe. Was ihn noch mehr ergötzte, war, daß Florent den ganzen Morgen mit Claude Lantier umhergestreift sei, einem schnurrigen Kauz, der just ein Neffe der Frau Quenu war. Er schickte sich an, ihn zu dem Wurstladen zu führen. Als er erfuhr, daß Florent mit falschen Papieren nach Frankreich zurückgekehrt sei, nahm er eine geheimnisvolle und ernste Miene an. Er wollte fünf Schritte vor ihm gehen, um nicht die Aufmerksamkeit zu erwecken. Nachdem er den Geflügelpavillon durchschritten, wo er seine zwei Gänse an seiner Auslage aufhängte, ging er durch die Rambuteau-Straße, immer gefolgt von Florent. Da blieb er in der Mitte des Fahrweges stehen und zeigte ihm mit einem Augenzwinkern einen schönen, großen Wurstladen.

Das Sonnenlicht fiel schräg in die Rambuteau-Straße und beleuchtete die Vorderseite der Häuser, zwischen denen die Öffnung der Pirouette-Straße eine dunkle Höhlung bildete. Das große Schiff der Sankt-Eustach-Kirche am anderen Ende der Straße war ganz vergoldet im Lichte der Morgensonne und glich einem riesigen Reliquienschrein. Inmitten der Menge kam aus der Straßenkreuzung hervor eine Armee von Straßenkehrern in langer Linie mit den regelmäßigen Bewegungen ihrer Kehrbesen heran, während die Kehrichtabfuhrleute das Kehricht mit ihren Schaufeln in die großen Wagen warfen, die alle zwanzig Schritte hielten, wobei es rasselte wie von zerbrochenem Eßgeschirr. Doch Florent hatte nur mehr Interesse für den Wurstladen, der weit offen, im hellen Lichte der Morgensonne dalag.

Der Laden bildete fast die Ecke der Pirouette-Straße und es war eine Freude, ihn zu betrachten. Er lachte jeden an, so hell war er mit seinen lebhaften Farben, die sich so schön von dem Weiß des Marmors abhoben. Auf dem Firmenschilde leuchtete der Name Quenu-Gradelle in fetten Goldbuchstaben, von einem Rahmen aus Blätterwerk umgeben, auf zartem Grunde gemalt, das Ganze mit einer Glastafel überdeckt. Die beiden Seitentafeln der Auslage, gleichfalls gemalt und unter Glas, zeigten kleine pausbäckige Liebesgötter, die mitten unter den Schweinsköpfen, Koteletten und Wurststrängen spielten; und diese von Schnörkeln und Rosetten umgebenen Abbildungen hatten einen solchen zarten Aquarellton, daß das rohe Fleisch die rosige Farbe der Konfitüren gewann. In diesem verführerischen Rahmen erhob sich die Auslage. Sie stand auf einer Unterlage von ausgezacktem, blauem Papier. Da und dort wurde durch die geschickte Einfassung mittelst Farrenkrautes einzelnen Schüsseln das Aussehen eines von Grün umgebenen Blumenstraußes gegeben. Es war eine ganze Welt von feinen, fetten, im Munde zerfließenden Sachen. Ganz unten knapp an der Fensterscheibe stand eine Reihe von Gurkenbüchschen, untermischt mit kleinen Senftöpfchen; darüber schöne, feine Schinken ohne Knochen mit ihrer gefälligen, runden Form, der gelben Rinde, in einem grünen Busch endigend. Dann kamen die großen Schüsseln, geräucherte Straßburger Zungen, rot und glänzend neben den blassen Würsten und Schweinsfüßen; ferner dunkelrote Blutwürste, zusammengerollt wie gutmütige Schlangen; Leberwürste, zu zwei und zwei zusammengebunden, schier platzend von Frische und Gesundheit; feine Würstchen in Hüllen von Silberpapier; Pastetchen, noch heiß, auf kleinen Fähnchen Name und Preis angeschrieben; große Schinken, große Stücke Kalb- und Schweinefleisch, von einer Sülze umgeben, die klar war wie kandierter Zucker. Da waren ferner tiefe, breite Schüsseln, in denen kalte Braten und Klumpen von gehacktem Fleisch in geronnenem Fett ruhten. Zwischen den Schüsseln und Tellern standen auf der Unterlage von blauen Papierschnitzeln Becher mit eingemachten Früchten, Kraftbrühen und Trüffeln, Näpfe mit Gänseleberpastete, Büchsen mit Tunfisch und Sardinen. Ein Kistchen mit Rahmkäse und ein zweites Kistchen mit Schnecken, die mit Petersilienbutter gefüllt waren, standen nachlässig in den beiden Ecken. Ganz oben hingen an einer mit großen, eisernen Nägeln besetzten Querstange Kränze von großen und kleinen Würsten jeder Art, gleich den Schnüren und Troddeln prächtiger Vorhänge, während im Hintergrunde eine Anordnung von Fransen ihre weißen, mit Seide übersponnenen Spitzen sehen ließ. Auf der obersten Stufe dieses dem Magen erbauten Altars aber, umspielt von den Spitzen der Fransen, stand zwischen zwei Sträußen purpurroter Schwertlilien ein Aquarium, mit Grottenwerk umkleidet, und darinnen schwammen zwei Goldfischchen.

Florent fühlte, wie ein Schauer seinen Körper überflog, als er eine Frau auf der Schwelle des Ladens bemerkte, vom Sonnenschein umflossen. Sie erhöhte durch ihre Erscheinung den Eindruck der Fülle und des Wohlbehagens, den alle diese schönen, erquicklichen Sachen hervorbrachten. Sie war eine schöne Frau. Sie füllte die Türöffnung aus, obgleich sie nicht zu stark war; ihr voller Busen verriet die Reife der Dreißigerin. Sie war eben erst aufgestanden und doch war ihr Haar schon geordnet und legte sich in schönen, glatten Strähnen über die Schläfen. Es gab ihr ein sehr sauberes Aussehen. Ihr ruhiges Fleisch hatte die durchsichtige Weiße, die feine, rosige Haut der Personen, die unter Fett und rohem Fleisch leben. Sie hatte ein sehr ruhiges, mehr ernstes Aussehen; nur die Augen heiterten ihr Antlitz auf. Ihr weißer, gesteifter Kragen, der sich eng um den Hals legte, ihre weißen Manschetten, die bis zu den Ellenbogen reichten, ihre weiße Schürze, die so lang war, daß sie die Spitze ihrer Schuhe verhüllte, ließen nur schmale Streifen ihres schwarzen Kaschmirkleides, die runden Schultern, das volle Leibchen sehen, das den Stoff außerordentlich straff anspannte. Auf all dem vielen Weiß brannte die Morgensonne. Doch in das Licht getaucht, mit ihrem blauschwarzen Haar, ihrem rosigen Fleisch, den schimmernden Ärmeln und der Schürze, stand sie da, ohne auch nur mit den Augen zu zwinkern, und nahm in aller Ruhe ihr morgendliches Lichtbad, mit ihren sanften Augen die überquellenden Hallen anlächelnd. Sie hatte ein überaus ehrbares Aussehen.

Das ist die Gattin Ihres Bruders, Ihre Schwägerin Lisa, sagte Gavard zu Florent.

Er hatte sie mit einem leichten Kopfnicken gegrüßt. Dann betrat er den kleinen Gang, der ins Haus führte; er benahm sich noch immer mit einer ganz außerordentlichen Vorsicht, denn er wollte nicht, daß Florent durch den Laden eintrete, der übrigens ganz leer war. Er war augenscheinlich sehr froh, sich in ein Abenteuer zu stürzen, das er für gefährlich hielt.

Warten Sie, sagte er; ich will nachsehen, ob Ihr Bruder allein ist. Wenn ich in die Hände klatsche, treten Sie ein.

Er öffnete eine Türe im Hintergrunde des Ganges. Doch als Florent die Stimme seines Bruders hinter dieser Türe vernahm, war er mit einem Satze im Hause. Quenu, der ihn sehr liebte, warf sich ihm an den Hals. Sie küßten sich wie Kinder.

Bist du es wirklich? stammelte Quenu. Wer hätte das erwartet? ... Ich hielt dich für tot ... Ich sagte gestern erst zu Lisa: »Der arme Florent ...«

Er hielt inne, steckte den Kopf zur Ladentür hinein und rief:

Lisa! He, Lisa!

Dann wandte er sich zu einem kleinen Mädchen, das sich in einen Winkel geflüchtet hatte, und sagte:

Pauline, rufe deine Mutter!

Doch die Kleine rührte sich nicht. Es war ein prächtiges Kind von fünf Jahren mit einem großen, runden Gesichte, der schönen Wursthändlerin sehr ähnlich. Sie hielt in den Armen eine große, gelbe Katze, die sich mit hängenden Beinen ihrem Behagen überließ. Das Kind drückte mit seinen kleinen Händen das Tier, unter dessen Last es sich beugte, fest an sich, als fürchte es, daß der schlecht gekleidete Fremde ihr die Katze stehlen könne.

Lisa kam langsam herbei.

Das ist Florent, mein Bruder, sagte Quenu.

Sie nannte ihn »mein Herr!« und benahm sich sehr freundlich. Sie betrachtete ihn ruhig vom Kopf bis zu den Füßen, ohne eine verletzende Überraschung zu verraten. Nur ihre Lippen waren leicht verzogen. Sie blieb da stehen und lächelte schließlich über die Umarmungen ihres Gatten. Dieser schien sich indes zu beruhigen. Jetzt erst bemerkte er die Magerkeit und Dürftigkeit seines Bruders.

Ach, armer Kerl! Du bist in fernen Landen nicht schöner geworden ... Ich habe dagegen Fett angesetzt ... Was will man machen?

Er war in der Tat fett, zu fett für seine dreißig Jahre. Er strotzte von Fülle in seinem Hemde, in seiner Schürze, in diesen weißen Linnen, die ihn einhüllten wie eine riesige Puppe. Sein rasiertes Antlitz hatte sich verlängert und hatte mit der Zeit eine ferne Ähnlichkeit mit dem Rüssel seiner Schweine angenommen, mit diesem Fleische, in dem seine Hände den ganzen Tag herumwühlten und lebten. Florent erkannte ihn kaum wieder. Er hatte sich gesetzt und betrachtete nacheinander seinen Bruder, die schöne Lisa und die kleine Pauline. Sie alle schwitzten sozusagen von Gesundheit; sie waren schön, kräftig und strahlend; sie betrachteten ihn mit dem Erstaunen sehr fetter Leute, die beim Anblick eines Mageren von einer unbestimmten Unruhe ergriffen werden. Und selbst die Katze, deren Haut vom Fett zu platzen drohte, riß die gelben Augen auf und betrachtete ihn argwöhnisch.

Du wartest bis zum zweiten Frühstück, nicht wahr? fragte Quenu. Wir essen früh, um zehn Uhr.

Ein starker Geruch drang aus der Küche herein. Florent sah seine furchtbare Nacht wieder, seine Ankunft mit den Gemüsewagen, seine Marter in den Hallen, diese unaufhörliche Anhäufung von Lebensmitteln, der er eben entronnen war. Da sagte er mit leiser Stimme und einem sanften Lächeln:

Nein, ich bin hungrig.


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