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Zur Bedeutung des indischen Tantra-Yoga

I

Der rituale Lebensweg des Hindu ist mit Sakramenten bestanden, von Bräuchen, Festen und Observanzen eingefaßt, wie eine Landstraße von Bäumen. Von ihnen überschattet wandelt er dahin; sie umfangen ihn, ehe er geboren wird, und wissen ihn zu finden, wenn er schon lange tot ist. Sie stehen neben den Mythen von Göttern und Menschen, die in Epen und alten Überlieferungen ohne Ende das alle verbindende und leitende Gut an Sinnbildern und Formeln für die Wirklichkeit der Welt und des menschlichen Schicksals enthalten. Das moralische Element, Vorbild und Warnung, das die Mythen im Ablauf ihres Geschehens vorführen, verdichtet sich in den Observanzen zu formendem, erziehendem Zugriff auf den Menschen. In ihrer seelenführenden Funktion sind solche Observanzen dem Yogawege verwandt und aus ihrer Eigenart fällt Licht auf die seine.

Ein junger Bengali erzählte mir einige Observanzen, an die er sich aus seiner Kindheit im ländlichen Elternhaus erinnerte; es war wie Heimweh ihn ihm, als er von dieser noch in sich geschlossenen indischen Lebenswelt sprach, aus der er durch seinen anglo-indischen Bildungsgang ins Kosmopolitisch-Westliche entwurzelt worden war.

Da gibt es eine Observanz, »das Hinschenken der Frucht«, – sie wird von der Mutter geübt, die einen Sohn geboren hat. Einen Sohn zur Welt zu bringen, ist höchste Pflicht und höchstes Glück der Hindufrau; dazu ist sie geheiratet worden, daß durch sie der Mannesstamm des Gatten nicht abreiße, daß sie den Gatten und seine Vorväter im Sohne wiedergebäre. Durch diese höchste Frucht erhält ihr Leben einzig Sinn und Recht. Aber so sehr sie an der wahrhaften Frucht ihres Lebens hängt, – sie hat den Sohn nicht zur Welt gebracht, um ihn für sich zu bewahren, sondern um ihn an die Welt dahin zu schenken, wenn er reif ist, von ihren Knien in die Welt hinauszustreben.

Die große Bindung zwischen Mutter und Kind, naturhaft und innig, birgt in sich die Gefahr einer tiefen, kaum löslichen Lebenskrise, für die Mutter wie für den Sohn, wenn das Dasein der Mutter mit religiöser Ausschließlichkeit auf diese Bindung wie auf weniges andere gestellt ist. Und die Gefahr dieser Lebenskrise kann die Beziehung und den Sohn vergiften. Aber die natürliche, notwendige und schmerzlichste Ablösung des Sohnes von der Mutter, daß sie die Frucht (phala) ihres Sohnes als Gabe (dāna) an die Welt dahingibt, wird durch die Observanz (vrata) des Hinschenkens der Frucht (phaladāna-vrata) möglich gemacht.

Wer so Großes opfern will, muß mit kleinen Dingen anfangen und sich an ihnen auf das große Opfer hin erziehen. Der Anfangszeitpunkt dieser Observanz ist unbestimmt, er liegt etwa um das fünfte Lebensjahr des Sohnes herum, doch ist auch späterer Beginn möglich. Die Observanz läuft über eine unbestimmte Zahl von Jahren und währt alljährlich einen Monat lang. Der Haus-Brahmane und geistliche Lehrer der Familie (Guru) leitet sie und bestimmt ihren Gang; er entscheidet, wann die Mutter reif zu dem Abschluß ist: früher oder später nach voraufgehenden Opfern das eigentliche Opfer des Sohnes darzubringen. Die Frau beginnt mit dem Opfern von kleinen Früchten, die sie sehr gern hat. Sie verzichtet darauf, sie zu essen und bringt sie täglich mit Reis und allerlei Gemüse dem Hausbrahmanen als Spende dar. Sie fastet morgens und reicht dem Guru diese Gabe, wenn er im Laufe des Vormittags das Haus besucht; er ißt davon und reicht ihr auch eine Kleinigkeit, die sie andächtig verzehrt. Sie fastet dann weiter bis zum Abend, da darf sie wieder kochen und essen. Jedesmal wenn er kommt, erzählt der Guru der Mutter eine mythische Geschichte von einer Frau, die Alles zu opfern wußte und daraus die Kraft zog, Alles zu bewirken; stumm und aufmerksam, heiliges Gras in den zusammengelegten Händen, lauscht ihm die Frau, nimmt seine Worte in sich auf und bewegt sie in ihrem Herzen.

Jedes Jahr steht eine andere, wertvollere Frucht sinnbildlich im Mittelpunkt dieses Hinschenkens. Von Früchten schreitet das Opfer fort zu Metallen, von Eisen über Kupfer und Bronze schließlich zu Gold. Das sind die Metalle, aus denen der Schmuck der Frauen gefertigt ist. Eigentlich ist hiermit wohl die – mindestens teilweise, jedenfalls schrittweise – Hinopferung des Schmuckes der Frau gemeint. Denn ihr Schmuck ist mit den Kleidern der einzige persönliche Besitz der Frau, an dem sie hängt; – aber es können Gegenstände aus diesen Metallen an seine Stelle treten, die eigens dafür bestimmt sind, ihn sinnbildlich in dieser Observanz zu vertreten.

Die letzte, äußerste Steigerung dieses Opferganges ist ein völliges Fasten: die Frau reicht dem Guru frische Kokosmilch und muß den ganzen Tag Durst leiden. Brahmanen, Verwandte und Gesinde (Untertanen) wohnen der Zeremonie bei; sie vertreten als Zeugen die Welt, an die der Sohn dahingegeben werden muß. Zum Abschluß der Observanz werden zwölf Brahmanen, ein paar Bettler und Angehörige des fünften Standes der »Unberührbaren« zeremoniell gespeist: höchste und niederste Kaste, Spitze und Sockel der sozialen Pyramide stellen sinnbildlich und als Zeugen die gesamte soziale Welt dar, an die der Herangewachsene aus Heim und Mutterbanden überantwortet werden muß. Auch ein Verwandter vom Mannesstamm muß dabei zugegen sein, er vertritt den Teil der Welt, den das mütterliche Opfer des Sohnes an die Welt zumeist angeht. Die Observanz findet ihr Ende darin, daß der Guru die Mutter für reif erklärt, das Hinschenken des Sohnes an die Welt zu vollziehen. Dann bringt sie das Opfer der Frucht ihres Lebens, –: schweigend und innerlich.

Mythos und Ritus verflechten sich in dieser Observanz, um die notwendige Verwandlung an der Mutter zu vollziehen: sie von dem Liebsten zu lösen, das sie an sich gebunden weiß und immer an sich gebunden halten möchte. Der Ritus sinnbildlichen Hinschenkens erhält sein Licht aus den Mythen vorbildlicher Gestalten, mit deren immer erneutem Vortrag der Guru die Schritte des Opferganges begleitet. Ihre Haltung wird aus dem Unbewußten der Frau erweckt, um ihr Wesen nach sich zu gestalten, um sie zu erlösen und zu bewahren vor der triebhaften Gewalt der Bindung, die Mutter und Kind zum Schaden beider vergewaltigen kann. An die Stelle der rührenden aber bedrohlichen Dämonie des elementaren Gefühls tritt ein sinnbildliches Wesen im Innern, das diese Gefühlsflut in seinen Kontur aufnimmt und in seine Haltung verwandelt.

Liebe kann sich so gut in eifersüchtigem Umklammern wie in segnendem Freigeben bewähren. Wir haben die Möglichkeit zu allem in uns. Aber wir sind nicht imstande, sie mit Vernunft und bewußtem Willen aus ihrem tiefen Schlummer zu wecken, wenn es not täte. Aber das Sinnbildliche, im Mythos immer wieder vernommen, im Ritus immer neu geübt, hat diese zaubernde, beschwörende Macht über unser Unbewußtes, aus dessen Schoß die Dämonie des Triebhaften steigt, uns vergewaltigend, und wir können uns ihrer nicht erwehren. Wir sind nicht Herr unserer Gefühle, aber Leitbilder, mit Riten uns ins Unbewußte gesenkt, führen und formen unser Gefühlsleben.

Das ist der Sinn einer anderen Observanz, die von Schwestern an Brüdern geübt wird. Das Familienleben, zumal in der indischen Großfamilie, wo die erwachsenen Söhne mit Frau und Kind oft im Hausstande der Eltern leben, ist voller Reibungen. Die angeheirateten Frauen der Männer und deren Schwestern im Hause, – wie verträgt sich das? In der Familie lebt man beieinander mit allen kleinen Plagen und Sorgen des Tages, reibt sich an den Eigenheiten des anderen, – wann wird man sich bewußt, wie nahe man einander ist: ein Blut, ein Leben. Da werden wichtige Gefühlsfunktionen vernachlässigt, verkümmern, schlafen, und oft erwachen sie, wenn es zu spät ist.

Die Observanz »bhrātri-sphota« (bengali »bhai-phota«), das »Stirnzeichen des Bruders«, wird in der zweiten Nacht des zunehmenden Mondes im Oktober geübt. Alle Schwestern der Familie tun sich zusammen und laden ihre Brüder ein; der Ritus, den sie üben, dient dazu, ihre Brüder vor dem Tode zu bewahren. Er wird als ein Opfer dargebracht, den Tod zu überwinden. – Andere Opfer werden geübt, einen Gott zu verehren, seine Huld zu gewinnen; hier kommt kein Gott in Frage; das Opfer besteht darin, daß die Schwester sich selbst darbringt an den Tod. So tat es einst die einzige Schwester des ersten Menschen für ihren Bruder Yama. Der erste Mensch, Yama (– das ist »Zwilling«), hatte eine Zwillingsschwester Yamunā (im vedischen Mythos »Yamī« genannt), die hat für ihn den Tod überwunden. Indem sie sich täglich für ihn dem Tode opferte, wurde er zum todüberwindenden König im Reiche der Seligen, wurde zum Herrscher der Totenwelt. Diese mythische Begebenheit ist das Vorbild für die Schwestern, sie wiederholt sich in ihrer Observanz. Das Ganze ist eine Frage der Willenskraft und des Glaubens: weil Yamunā mit ihrer Willenskraft fähig war, ihren Bruder unsterblich zu machen, muß jede Schwester in sich den Glauben entwickeln, mit ihrer Willenskraft an ihrem Bruder das gleiche Wunder zu vollbringen.

Alle Schwestern laden alle Brüder bei einer von sich ein. Sie fasten und richten den Brüdern ein besonderes Mahl, eine kleine Speise. Sie besteht aus lauter ganz reinen, lebendigen Dingen. Nach Mitternacht gehen die Schwestern aus und sammeln den nächtlichen Tau von den Blättern, reinstes Wasser vom Himmel, die Lebensmilch aus der oberen Welt, die alle Kreatur erquickt und aufbaut. Ein reines Herz voll sorgender Liebe ist es, deß diese Observanz bedarf, und diese liebevolle Mühe, die den reinen Tau nächtlich zum Tranke sammelt für den Bruder, zeigt das reine Herz an. Zum Tauwasser kommt Reis, er ist rein und lebendig, da er frisch enthülst wird; dazu Banane, rein und lebend aus der Schale, und frische Kokosmilch aus der eben zerspaltenen Frucht.

Als Sinnbild erneuerten frischen Lebens erhalten die Brüder neue reine Gewänder von den Schwestern; sie legen sie an, nachdem sie gebadet haben. Dann nehmen sie das kleine Mahl entgegen. Die Zeremonie findet ihren Höhepunkt darin, daß die Schwestern den Brüdern mehrmals ein Zeichen (sphota oder tilaka) zwischen den Brauen auf die Stirn tupfen. Sie nehmen dazu Lampenruß, Sandel, Honig, Dickmilch und zerlassene Butter, die sie, jedes für sich, mit dem kleinen Finger der linken Hand verrühren und auftragen. Mit diesen Stoffen, die Leben bedeuten, zeichnete Yamunā die Stirn ihres Bruders, um ihn gegen den Griff des Todes zu feien. So ist auch die Speise aus reinsten Stoffen, aus Himmelstau und lebendiger Frucht, ein Abbild des Trankes »Todlos«, von dem die Götter ihr ewiges Leben haben. Während dieser Zeremonie wird erzählt, so habe Yamunā an Yama gehandelt, und dadurch habe er den Tod überwunden und sei unsterblich geworden. Zum Abschluß der Observanz bekommen die jüngeren Schwestern von den größeren Brüdern ein kleines Geschenk, – meist Süßigkeiten, – und die älteren Schwestern beschenken die kleineren Brüder.

Es handelt sich hier nicht nur um einen Zauber, der die Brüder gegen den Tod feien soll durch die Liebe der Schwestern. Die Nachahmung des alten Zaubers, den Yamunā an Yama übte und dessen mythischer Erfolg die Wirksamkeit der Observanz beglaubigt, hat ebenso sehr seinen Sinn darin, die Möglichkeit eines idealen Verhältnisses zwischen Bruder und Schwester, die auf dem Grunde dieser Beziehung überall im Leben verborgen liegt, zur inneren Wirklichkeit aufzurufen, auf daß sie die Gegenkräfte des Alltags und der menschlichen Unzulänglichkeit, die Ströme möglicher Verstimmung und Entfremdung, Gleichgültigkeit und Verfeindung paralysiere und durch ihr Gegenteil ersetze. Das mythische Urbild soll, was der Tag vielleicht verschüttet hat, aus der Tiefe des Unbewußten, in die es abgesunken sein mag, erwecken und aus seiner Verkümmerung zu beherrschender Entfaltung ins Leben der Person heraufbringen.

Wen solche Bräuche auf Schritt und Tritt umfangen und tragen, daß sein Weg recht unwillkürlich immer in den Geleisen läuft, die sie ihm ziehen, der braucht sich nicht bewußt zu werden mit Fragen und Entscheidungen, wie er sich halten und wohin er schreiten soll. Das ist schon für ihn vorgesorgt in der Weisheit der großen Kult- und Lebensgemeinschaft, die ihn sakramental empfing und segnete, ehe er geboren ward, und die ihn immer wieder segnet, – gerade auch wenn sie mit eigentümlicher Strenge sinnbildliche Opfer und Entsagungen von ihm verlangt. Er schwimmt, von der Strömung ritual-sakramentaler Observanzen getragen, zeitlebens sich selber unbewußt, – gleichsam unter Wasser treibt er im Strome des Unbewußten dahin. So fährt er im Einklang mit sich selbst und den Gehalten des ewigen Lebens einher, die mit Aufgaben, Beglückungen, Opfern und Leiden in jedes Leben treten.

Es macht die Genialität solcher Observanzen aus, daß sie völlig treffend sind in ihrer Sinnbildlichkeit, – so völlig treffend wie unsere tiefen Träume und für die Vernunft manchmal so dunkel wie diese. Sie treffen das Unbewußte als den Regenten unseres Lebens in uns mit eben der Gewalt des Sinnbildlichen, in der die eigentliche Genialität des Unbewußten besteht, wenn es unsere Träume hervorbringt oder sonst durch unwillkürliche Handlungen uns Zeichen gibt.

Solche Bräuche sind ja auch von einem Unbewußten geschaffen, nämlich geformt vom kollektiv-überpersönlichen Geiste der Kult- und Lebensgemeinschaft, und sie sind bestimmt, ein Überpersönliches in uns, eben das tiefere Unbewußte, anzusprechen. Sie sollen es leiten, auf daß unsere Person sich im Überpersönlichen menschlichen Zusammenlebens richtig verzahne und auf daß sie den ewigen Gehalten des Lebens gewachsen sei, die auch ein Überpersönliches an Schicksal und Anforderung sind, jenseits aller individualen, biographisch-geschichtlichen Situation, in die sie sich jeweils verlarven, uns gemeinsam mit aller lebendigen Natur.

Dieses Unbewußte als überpersönliche Sphäre unserer Tiefe ist voll gestaltigen Gehalts; hier hat sich, wie die Psychologie der Träume und anderer Äußerungen des Unbewußten zeigt, in Sinnbildern, in Urbildern niedergeschlagen, was der Mensch von je, seit und ehe er sich aus der Reihe der Tiere löste, an Schicksalhaftem erfahren hat. Unsere tieferen Träume bringen es uns herauf, und es ist nichts anderes als was die Mythen aller Zeiten an Figuren, Situationen und sinnbildlichem Requisit bewahrt haben. – Darum bedient sich die Weisheit solcher Observanzen, die den Lebensgang der Person aus ihrem Unbewußten her steuern wollen wie durch unsichtbare Klippenzonen, in denen wir unversehens scheitern können, mythischer Gestalten, um den Menschen durch jene notwendigen Gehalte des Lebens, die seine naturhaft unausweichlichen Krisenpunkte bedeuten, ohne Schiffbruch zu geleiten. Die Urbilder oder Varianten von Urbildern in Mythos und Ritus treffen das Unbewußte, das keine vernünftige Mahnung und Tröstung erreicht; – sie aber treffen im Unbewußten ein ihnen Verwandtes, ein Urbild, das in seiner Tiefe webt, und wecken es als Werkzeug des Regenten in uns, als ein Leitbild aus dem Unbewußten, das Macht gewinnen kann über unsere Person, auf daß sie sich ihm angleiche in ihrem Verhalten.

So wirken solche Urbilder, aus ihrem Schlummer in uns zu Lichtbildern erweckt, Verwandlung an uns, indem sie, von ihresgleichen außen in Mythos und Observanz aufgerufen, in unserer Tiefe sich erheben und die Führung in uns an sich nehmen. Was unser bewußter Wille nicht in uns erwecken kann, erhebt sich aus uns zu leitender Funktion, daß es uns nach seinem Bilde verwandle und unsere formlosen Lebenskräfte leite, indem es sie in sich als eine bereite Urform aufnimmt und sich mit ihnen erfüllt, wie eine Form mit flüssigem Metall. Dann bewahrt uns das aufgerufene Urbild in uns davor, daß unsere formlosen Kräfte unter dem Druck der ewigen Lebensgehalte, die uns als aufgegebenes Schicksal beklemmen und zu zermalmen drohen, unsere Person zerreißen oder in die Irre jagen. Es gibt uns als altes, zeitlos gültiges Vorbild den Frieden mit dem unausweichlichen Schicksal der Kreatur. Das ist die hohe Funktion der heiligen Gestalten und anderer Figuren, die sich zum Range mythischer Sinnbildlichkeit erhoben haben, daß sie uns verwandeln können zu ihresgleichen in Tun und Leiden, wenn sie ihr Bild, das in uns ruht als Möglichkeit großer Haltung, zu erwecken vermögen über die Brücke unserer Hingabe und Sammlung auf ihr Wesen.

Eine andere solche Observanz, die wie das »Stirnzeichen des Bruders« mit einem mythischen Urbild wirkt, ist der Sāvitrī-Ritus, den die indische Witwe vollzieht. Das Schicksal der indischen Witwe gehört wohl zum Schwersten, was einem Menschen auferlegt sein kann. Die Hindu-Ehe ist ein Band für die Ewigkeit. Die Frau bleibt über den Tod hinaus die Frau dieses einen Mannes, d. h. der Mann ist unsterblich für sie. Aber, halb noch als Kind ihm anvermählt, verliert sie ihn oft, ehe sie ihn recht besessen hat. Mit dem seinen ist ihr Leben zu Ende. Was ihr nach seinem frühen Tode bleibt, ist kaum der Schatten eines Daseins.

Eine Observanz, alljährlich einen Monat lang geübt, soll der Witwe helfen, dem schicksalhaften Gehalt ihres Lebens gewachsen zu sein. In ihrem Mittelpunkt steht die sagenhafte Gestalt der Sāvitrī, einer Königstochter, die den Sohn eines vertriebenen Königs heiratete, obwohl sie wußte, was ihm verborgen war: daß seine Tage vom Gott des Todes gezählt waren. Als die Zeit kam, da der Todesgott das Leben ihres Mannes holen würde, fastete sie drei Tage lang und reinigte sich, dem Gotte zu begegnen. Sie wich nicht von ihres Mannes Seite und folgte ihm in den Dschungel; da war's beim Holzholen in der blühenden Wildnis, als alle Natur, vom Sommerregen erquickt in Blüte stand, daß der Gott des Todes kam und ihres Gatten Lebensfunke in seiner Schlinge fing. Aber sie sprach zu ihm von allem Heiligen und Guten, beschwor ihn und ließ nicht ab, bis sie das Leben ihres Mannes erbeten hatte, und das Augenlicht für seinen blinden Vater, Krone und Reich für den Vertriebenen dazu empfing und ihr selbst Söhne und Glück vom Gott verheißen waren.

Was Sāvitrī vor Zeiten vollbrachte, ihren Mann wieder zum Leben zurückzuführen, als ihn der Tod schon geholt hatte, das sucht jede Frau, der ihr Gatte gestorben ist, in ihrem Leben zu vollbringen. Das ist der Sinn dieser Observanz, die im gleichen Sommermonat von der Witwe geübt wird und in einer Neumondnacht enden soll, wie Sāvitrīs Geschichte ihr wunderbares Ende in einer Neumondnacht fand. Die Observanz enthält drei völlige Fasttage, entsprechend dem Fasten Sāvitrīs vor ihrer Begegnung mit dem Gotte. Sie wird im Hause der Witwe vor dem Bilde der Hausgottheit geübt, die Gottheit ist als Zeuge gegenwärtig. Ein Brahmane, der Guru der Witwe, kommt jeden Tag und erzählt ihr die Geschichte von Sāvitrī; die Frau, die bis zu seinem Kommen gefastet hat, lauscht ihm, heiliges Gras in den Händen haltend. Am Ende der Observanz wird der Frau ein weißer Seidenfaden neunmal um den linken Oberarm geschlungen, er bezeichnet und schafft die unlösliche Verbundenheit mit dem ungreifbar gewordenen Gatten. Sie trägt ihn, bis die Observanz sich im kommenden Jahre wiederholt. So soll sich das Wunder der Wiederkehr des Gatten, sein Lebendigsein für die Gattin, wenn nicht greifbar im Raume, innerlich für die Gattin vollziehen. Das Urbild der Liebe, die den Tod überwindet, wird in ihrem Herzen aufgerufen als der Sinn ihres Lebens und Schicksals. Die Variante des Urbilds in Gestalt der mythischen Sāvitrī erweckt es aus der Tiefe des Unbewußten zum Leben, auf das es die Person überwältige und ihre Lebenskräfte, die chaotisch im Schmerz oder Verlangen sie zerreißen oder in die Irre treiben können, in sich aufnehme und sie in ihrem Wesen umforme zu einem Ebenbild der Sāvitrī.

Dem Unausweichlichen gewachsen sein, ist die Weisheit des Lebens. Das Unbewußte allein, das alles weiß und sinnbildlich in sich bewegt, uns aber als Person davon nur soviel sehen läßt, als wir verdienen, wenn wir ihm zu lauschen vermögen, und nicht viel mehr als wir bedürfen, um unseren Weg durch die unausweichlichen Gehalte des Lebens zu wandeln, – das Unbewußte allein ist allem gewachsen. Es ist das Alterslose Ganze, dem nichts Neues geschieht, was auch mit uns geschehe, und das dem Gange des Ich zuschaut wie die kummerlose Natur dem Aufblühn und Vergehen ihrer Geschöpfe. Seine wachste Zeit in den meisten Menschen ist die Kindheit, daher ist sie das eigentliche geniale Alter: zauberhaft, unbestechlich und allem nahe.

Darum gibt es in Bengalen eine Observanz, die von Kindern geübt wird; sie lehrt den Menschen das einzige, das jeder bedarf: dem Unausweichlichen gewachsen sein. Es ist die Verehrung der Jamburī. Größere Kinder weihen die kleineren ein. Sie beginnen damit im fünften oder sechsten Jahre, und Kinder, die noch kleiner sind, beteiligen sich wenigstens in stummem Dabeistehen. Erwachsene dürfen nicht dabei sein, ja sie wissen nicht einmal genau, wann die Kinder den Ritus üben, denn diese Observanz darf, wie alle ihresgleichen, keine unbeteiligten Zuschauer haben. Sie geschehen ja alle um der Verwirklichung willen am Übenden selbst, nicht als Darstellung oder als ein sinnbildliches Zeremonial zur Belehrung und Weihung anderer. Darum muß der Ritus heimlich vor den Großen geübt werden. Er sieht fast aus wie ein Spiel der Kinder unter sich, die das rituale Leben der Großen mitangesehen haben, wie es das ganze Jahr durchspinnt, und die nun in ihrer kleinen Welt mit derselben Wichtigkeit des Geheimnisses jener Riten und mit dem unerschütterlichen Ernst des Kindes ein Gleiches tun, – aber mit welchem tiefsinnigen Ernst, der um Alles weiß!

Die Observanz läuft über fünf Jahre und wird in den Winternächten des kältesten Monats geübt, – im Monat Māgha, zur Zeit des Januar/Februar. Die Kinder stehen heimlich ganz früh morgens auf, wenn es noch dunkel ist, ehe noch ein Tier unterwegs ist, ehe noch ein Vogel seine Stimme erhebt. Jede Nacht formen sie eine neue kleine, kaum handgroße Figur der Jamburī aus Erde, – aus derselben Erde, in der sie tagsüber spielen und wühlen. Jeden Morgen, wenn der Ritus vorüber ist, wird die Figur weggeworfen, – so formen ja auch die Erwachsenen im Kult zu Haus sich täglich kleine Götterbilder aus Lehm, die nach der Andacht ins Wasser geworfen werden und darin zergehen. Die kleine Figur hat keine Arme und Beine, kaum angedeutet sind Auge und Mund. Mit einem kleinen Erdwall wird von ihr ein kleiner Teich geformt. Daran sitzt sie und darin wird ihr Wasser dargebracht, dazu Blumen und heiliges Gras. »Ich bringe dir Wasser, bevor die Krähe davon getrunken hat; ich bringe dir Blumen, ehe eine Biene sie besucht hat« – solche Sprüche begleiten die Darbietung, und dazu wird die Geschichte von Jamburī erzählt. Ihr Sinn, – und es ist der Sinn der Observanz, – ist: Jamburī hat keine Füße und keine Hände, keinen richtigen Mund und keine richtigen Augen, und doch kann sie alles vollbringen, alles verwirklichen, – denn sie hat einen Willen; das wollen wir von ihr lernen.

Die Gebräuche steigern sich jeden Tag, und der innere Vorgang, der, an ihnen geweckt, sie begleiten soll, durchläuft die sieben Stufen des Yogaweges, der sich an ein Götterbild heftet: von der Betrachtung des leibhaftigen Bildes bis zur Loslösung auf sein inneres Abbild, dessen Schau keines äußeren Haltepunktes mehr bedarf, und von der inneren Anschauung dieses Bildes im Gegenüber von Schauendem und Bild zur Vereinigung beider (samādhi), zur Verwirklichung des Bildgehaltes im Andächtigen –: beide tauchen ineinander und werden eins.

Die Darbringung von Wasser und Blumen ist dann nur eine einleitende Zeremonie; mit ihr bezeugt das opfernde Kind, daß es als echter ernster Schüler zur Jamburī kommt, wie ein Schüler zu seinem Guru: ehrfürchtig und dienstbereit, – bereit die Lehre der Jamburī in sich aufzunehmen und zu verwirklichen. Dann folgt die Belehrung, aufsteigend über die Yogastufen. Die Erzählung vom Mythos der Jamburī bildet, immer erneut, die Brücke, auf der die stumme starre Lehrerin, der kleine Erdenkloß, was er von seinem Wesen mitzuteilen hat, dem andächtigen Schüler gibt. – So gibt es ja auch heute noch Belehrung und Einweihung unter Erwachsenen (im japanischen und tibetischen Buddhismus), die im Gegenüber von Lehrer und Schüler erfolgt, begleitet von sinnbildlichen Gesten und festen Formeln, ohne daß dabei ein Wort der Belehrung gesprochen wird. Lehrer und Schüler haben sich in Askese gereinigt und in Übungen alle ihre Kraft darauf gesammelt, ein in Worten nicht Übertragbares einander mitzuteilen. Der Lehrer gibt, der Schüler empfängt etwas, das mehr als Wissen ist, –: eine Kraft, einen magischen Teil aus dem Wesen des Lehrers, der ins Ganze der Person, ins Unbewußte des Schülers dringt und aus der Tiefe ihn wandelt.

Das Ergebnis dieses aufsteigenden Prozesses ist: der kleine Schüler der Jamburī hat was sie ihn lehren kann, nämlich ihr Wesen, so in sich aufgenommen, daß es Wirklichkeit in ihm geworden ist, – seine neue Wirklichkeit, zu der er umgewandelt ist. Ihr Wesen ist in ihn hinübergeflossen und zu seinem wesenhaften Bestand geworden. Wie wäre das möglich, wenn es nicht keimhaft in ihm läge, als eine der zahllosen Bereitschaften seiner halb formfreien, immer formbaren und formbegierigen Lebenskraft, der »schakti« in ihm, die, wie die unendliche Kraft, die schakti des Allgottes, den Makrokosmos entfaltet und durchspielt, in der kleinen Welt seines Leibes waltet, vielfältig Gestalt annehmen und sich zu immer neuem Gebahren entfalten will?

Von hier ist der Blick auf jenen Yoga frei, der in täglicher Verehrung der Gottheit ihr inneres Schaubild im Andächtigen aufruft. Die Literatur der Tantras bietet zahllose Anweisungen für diese Form der »pūjā«, der Verehrung des Göttlichen in einem seiner unendlich vielen Aspekte. Sie lehrt einen inneren Kult voll gläubiger Hingabe (bhakti) an die Gottheit des Herzens, die »ischta-devatā«, – an die »Gottheit, der einer opfert« nach dem Ritual, in das ihn sein Guru eingeweiht hat. Wie in der Observanz der Jamburī dient ein kleines Kultbild als Mittelpunkt für den Ritus der Darbringung und Verehrung. Zugleich aber dient es als Ausgangspunkt für die innere Anschauung des Frommen, die sich an seiner äußeren sinnfälligen Erscheinung mählich vollsaugen soll, bis sie des greifbaren Bildes entraten kann. Dann wird der äußere Kult, der mit Schmücken der Kultfigur, mit Darbringungen, geflüsterten Sprüchen, Lichterschwenken und anderem Zeremonial den Empfang und die Bewirtung eines hohen Gastes mimt, hinfällig. Diese Kultübung wird in die Sphäre rein innerlicher Anschauung verlegt. In innerer Schau wird die Göttergestalt mit ihrem Gefolge und Requisit in dem ihr eigenen Raume (Palast, Landschaft, Sitz unter einem Baume usw.) aufgebaut. Das geschieht schrittweis; der ganze Bildgehalt wird Stück für Stück bis ins Detail innerlich visualisiert und stetig festgehalten. Die Göttergestalt wird mit »geistigen«, d. h. rein visualisierten Geschmeiden und Perlen geschmückt an Hals und Armen, Brust und Hüften, vom Diadem ihres Scheitels bis zu Ringen um die Knöchel; »geistige« Blumen werden ihr dargebracht, – in einem Prozeß fortlaufender Visualisierung soll sich das ganze äußere Zeremoniell abspielen.

Aber das ist, von der Endabsicht her gesehen, noch Vorbereitung; die angespannte Bemühung innerer Schau drückt die gläubige Hingabe und Verehrung des Frommen aus, wie die Spenden und Sprüche der Kinder und ihr nächtliches sich Mühen im Kult der Jamburī. Das eigentliche Ziel ist, daß dieses innere Bild der Gottheit und der es in uns innerlich erschaut, aus der Zweiheit ihres Gegenüber zur gegenseitigen Durchdringung gelangen, in Eins verschmelzen (samādhi). Dann erfährt der Gläubige, daß die Gottheit nicht von ihm verschieden ist, – sie webt nicht irgendwo draußen in der Welt und kam, ihn zu besuchen; auch thront sie in keinem Himmel über Himmeln, –: aus seinem eigenen gestaltlosen Innern baute er sie auf mit allen Einzelheiten und läßt sie am Ende der Andacht wieder in seine gestaltlose Tiefe innen zerrinnen, in die Urwasser des Unbewußten, wie der indische Gott die Welt, die er entfaltete, wenn sie zur Auflösung reif ist, wieder einschmilzt in sich selbst, die alleine nächtige Urflut. Aus dem Unbewußten zwang der Fromme sich die Erscheinung des Göttlichen herauf, nachdem das Unbewußte ihre Form nach dem Modell des äußeren Kultbildes sich einverleibt hatte, – nun kann es sie in täglichem Prozesse erinnern. Wie Brahmā auf dem Lotos sich an jedem Weltanfang aus den Urwassern hebt und hebt, demiurgisch die Welt zu entfalten, und wie die Welt am Ende eines Äon sich im welt- und raumlosen Meere des Anfangs wieder auflöst, erhebt sich die Gottesgestalt als Ausgeburt und Hieroglyphe aus dem Innersten des Adepten, – als eine wahre Gestalt seines ungreifbaren Wesens, die ihm als solche unbewußt geblieben war und auf keine andere Weise willentlich ins Bewußtsein zu heben geht.

Die Zahl der Götterbilder, deren Verehrung in innerem Heraufbeschwören, Anschauen und Verschmelzen gelehrt wird, ist Legion. In immer anderen Varianten der Erscheinung, der Tracht und Geste treten die großen und kleinen Götter des Hinduismus auf, mit wechselnden Waffen, Emblemen und Requisit, mit segnenden und drohenden Haltungen, gnädig und finster, und begleitet von ihren göttlichen Kräften (schakti) als ihren Frauen, die, wie Facetten des Kristalls die Farben des Lichts, das göttliche Wesen entfalten. Dem Gotte in gnädiger Erscheinung mit segnender und schenkender Gebärde steht oft seine Schakti drohend bluttriefend zur Seite, denn nur so ist er wahrhaft ganz, sein Wesen ist das Ganze. – Sie alle werden visualisiert als Ausgeburten unserer eigenen Tiefe, als Hieroglyphen unseres Wesens. Denn in uns allen ist Alles, – mindestens als Möglichkeit.

In uns ist die Anlage zu Allem: wir wollen hören und gehorchen, folgen und uns leiten lassen, dienen und uns abdanken; aber wir wollen auch aufschwellen und gebieten, herrschen und Blitze schleudern; wir wollen in Gemeinschaft aufgehen und einsam sein, keines anderen bedürftig. Alles Grauen schläft in uns und alle Untat, aber auch alle Möglichkeiten der Läuterung und Verklärung. Ein unaufhaltsam schnelles Nacheinander wie ein Rasen zuckender Blitze, ja ein ewiges Zugleich aller dieser widersprechenden Möglichkeiten wäre die totale, ideale Erfüllung des in uns angelegten Wesens, der schakti in uns; – und es würde uns selbst zerreißen und unsere Welt, wenn es so aus unserem Innersten hervorbräche, über uns hinaus strömte in die Wirklichkeit und sich projizieren wollte auf die Welt. Die reale Erfüllung solchen ungeheuren Spieles ist das Dasein Gottes, – nicht aber der Kreatur. Sein Abglanz liegt auf dem Gebaren des Kindes, solange es klein ist; da findet dieser Drang ein höheres Maß an Erfüllung als später, ohne daß der Mensch daran zerbricht. Da projiziert sich noch alles Innere hemmungslos nach außen, was später durch Gemeinschaft und Erziehung dann allmählich gehemmt, verlarvt und ins Unbewußte verdrängt wird. Es strömt sich aus, naiv und schrankenlos; alle Bosheit, lächelnde Fühllosigkeit, quälende Grausamkeit, alle Zärtlichkeit und hilfsbedürftiges, schmeichelndes sich Schmiegen, Witz und Angst und furchtloses Zuschauen, – in der souveränen Subjektivität der Kinderwelt hüllt es magisch die Grenzen einer objektiven Wirklichkeit in sein dichtes, dämonisch glühendes Gewölk.

Wer aber könnte alle Urbilder möglichen Gebarens, die in uns schlummern, in sich erwecken? Wer dürfte sie in der Gemeinschaft der Erwachsenen, in der Lebensordnung seiner Gesellschaft realisieren? Darum erfanden die Völker in frühen Zeiten zu Spielen, in denen Drang sich ausleben darf und doch durch Regeln gebändigt ist, die großen Feste: in ihrem Gepränge und Überschwang, in ihren eigentümlichen Bräuchen. Mit der zeitweisen Aufhebung strengster Moralvorschriften, mit der Verkehrung ihrer Grenzen und Zäune in Wege und Tore, daß erlaubt, ja geboten ward, was sonst verpönt hieß, schufen sie die Ergänzungen zu dem, was die Gemeinschaft des Alltags versagen muß, soll sie nicht in Stücke gehen, und alle mit ihr.

Wieviel bleibt durch die gemeinschaftliche Lebensordnung in jedem gestaut, denn jede Lebenskraft (schakti) in jedem könnte sich maßlos ausleben, wollte sie ihrem Wesen genügen, das Allheit ist. Auch der Narr will einmal König sein, und auch die gesalbte Majestät verlangt es, einmal den Narren zu spielen. Harun al Raschid und sein Vezir mischen sich verkleidet unter das Volk, unter Lastträger, Fischer und Negersklaven, es verlangt sie, das Gemeine und Vermischte zu kosten, das dem Beherrscher der Gläubigen auf seinem Throne nicht nahe kommen darf. Die Dauphine Marie Antoinette fährt aus der hoheitlichen Abgeschlossenheit des Parkes von Versailles verlarvt zum Karneval von Paris; auch dem keuschesten Gemüt haucht in einer lauen Nacht ein glühender Atem Wünsche und Bilder ein, vor deren Zuchtlosigkeit es in Grauen erstarrt: von einem Fremdesten fühlt es sich ganz beschmutzt, – aber es quoll wie aus seinem eigensten Inneren herauf. So will es die unerbittliche Schakti in uns, deren Wesen ist, sich grenzenlos zu allen Lebensgestalten und Gebärden des Verhaltens auszugebären.

Das faßt uns vor jenen Holzschnitten und Stichen Hans Baldung Griens und des Hausbuchmeisters, die den greisen Aristoteles zeigen: die Buhlerin Phyllis reitet auf ihm, nackt auf dem nackten, mit der Peitsche streicht sie seine verblühten Lenden und reißt ihn am Zaun in seinem Munde, – diesem Munde, der, als er jung war, dem göttlichen Platon Rede stand, dessen Worten nachmals der welterobernde Alexander ehrfürchtig lauschte. Der große Weise, dieses erzieherische Musterexemplar des auf zwei Beinen aufrecht schreitenden Homo sapiens, – da rutscht er auf allen vieren einher; ein Etwas in ihm verlangt danach, alledem abzudanken, wodurch er sich selbst vor der Welt und dem eigenen Auge groß und vorbildlich gemacht hat. Etwas in ihm, das er nie hatte aufkommen lassen, daß ihm nie bewußt ward, – »Eros, unbesiegter im Kampf« nennen es die thebanischen Mädchen bei Sophokles, – das verkrüppelt in ihm geblieben war und darum bös geworden, vom Antlitz zur Fratze, vom Reinen zum Schmutz verwandelt, – einmal stieg es denn doch herauf und ergriff die Herrschaft und nahm dämonisch grausame Rache an ihm. Ober was war es mit Nebukadnezar, dem großen Könige, der da sprach, »das ist die große Babel, die ich erbauet habe zum königlichen Hause durch meine große Macht, zu Ehren meiner Herrlichkeit« – es war wohl noch etwas anderes in dem gewaltigen König als Macht und Herrlichkeit und der Trieb, diese beiden grenzenlos auszuleben. Ungefähr das Gegenteil war auch in ihm, aber es kam nicht zu Wort unter der ehernen Notwendigkeit seines Loses, immer ein großer König zu sein, immer größer als alle Könige ringsum. Indem er aber so große Rede führte, »fiel eine Stimme vom Himmel« – und fiel ihm ins Wort: »dein Königreich soll dir genommen werden; und man wird dich von den Menschen verstoßen und sollst bei den Tieren bleiben, so auf dem Felde gehen; Gras wird man dich essen lassen wie Ochsen, bis daß über dir sieben Zeiten um sind ...« Und so geschah es ihm, er »ward verstoßen von den Menschen hinweg und er aß Gras wie Ochsen, und sein Leib lag unter dem Tau des Himmels und ward naß, bis sein Haar wuchs so groß wie Adlersfedern und seine Nägel wie Vogelsklauen wurden«.

Sieben Jahre lang vergaß Nebukadnezar seiner Herrlichkeit und lebte wie ein Tier auf der Weide. Eine Stimme, die stärker war als alle seine Macht und Größe, zwang ihn dazu. Es heißt nicht, daß er dabei unglücklich war. Er galt bloß für verrückt. Darum ward er von den Menschen ausgewiesen zu den Tieren, die lebten wie er. Es scheint nicht einmal, daß ihm dieser Zustand schlecht bekam, denn er erzählt, »nach dieser Zeit hob ich, Nebukadnezar, meine Augen auf gen Himmel und kam wieder zur Vernunft ... zur selbigen Zeit kam ich wieder zur Vernunft, auch zu meinen königlichen Ehren, zu meiner Herrlichkeit und zu meiner Gestalt. Und meine Räte und Gewaltigen suchten mich und ward wieder in mein Königreich gesetzt, und ich überkam noch größere Herrlichkeit«.

Verwandelt und erfrischt, ein Größerer noch, kehrt der König aus seinem Rückschreiten ins Tier zur höchsten Würde zurück. In der Abdankung aller Königs- und Menschenwürde lag die Möglichkeit verborgen, mit beiden in einem umfassenderen Sinne neu belehnt zu werden. Als er zum Tier ward, verschwand Nebukadnezar für die Menschen, ihnen war es, als wäre er gestorben. Er war weniger als sein Schatten; kein Schatten seiner Hoheit lag mehr auf ihm, seine »Gestalt« sogar schien von ihm genommen wie sein Diadem. Sein Gang ins Tier und wieder hervor war wirklich wie ein Gang ins Schattenreich und über die Schwelle der Proserpina, wie der antike Adept in den Mysterien der Isis ihn wandelt, und wie ein Eingeweihter kam er auch als ein Verwandelter zurück. Ihn trug ein neues Wissen und ein neues Gleichgewicht.

Ehe er ein Tier ward, hatte Nebukadnezar das herrscherliche Ich, als das er sich bewußt war, zur allbeherrschenden Funktion in sich gesteigert; er konnte sich in seinem Lebenslose des orientalischen Despoten eines großen Reiches wohl nur behaupten, wenn er Herrlichkeit und Macht über die große Babel mit umklammerndem Griff in seinen Händen preßte; diese Gebärde, immer sich steigernd, war es, aus der er lebte. In diesem Krämpfe, ihm nahegelegt von seiner Situation wie seiner Natur, lag die Drohung, das innere Gleichgewicht zu verlieren und nur mehr dieses Eine, dieses herrscherliche Ich zu sein und nicht Alles, was die Schakti in uns als unbewußte Fülle aller Möglichkeiten in sich trägt. Und eine völlig mißachtete, nie gelebte Seite seines Wesens, die im Unbewußten abgesunken blieb, mußte einmal, das Gleichgewicht der Ganzheit wiederherzustellen, so völlig und rücksichtslos die Herrschaft über Nebukadnezar an sich reißen, wie vor ihm die herrscherliche Idee. Darum ward er wie ein Tier.

Aber er erkannte die Gewalt, die ihn niederwarf und so verwandelte; er nannte sie Gott: »nach dieser Zeit hob ich, Nebukadnezar, meine Augen auf gen Himmel und kam wieder zur Vernunft und lobte den Höchsten. Ich pries und ehrte den, so ewiglich lebt, des Gewalt ewig ist und deß Reich für und für währet; gegen welchen alle so auf Erden wohnen, als nichts zu rechnen sind. Er macht's wie er will, mit beiden: mit den Kräften im Himmel und mit denen, so auf Erden wohnen; und niemand kann seiner Hand wehren, noch zu ihm sagen: »was machst du?« – Er nannte den Regenten in uns, der solches Alles an uns wirken kann, den »König des Himmels« und schloß die Erzählung seiner wunderbaren Wandlung, die im Buche Daniel aufgezeichnet steht, mit den Worten, »darum lobe ich, Nebukadnezar, und ehre und preise den König des Himmels; denn all sein Tun ist Wahrheit und seine Wege sind recht, und wer stolz ist, den kann er demütigen«.

Was Nebukadnezar am Himmel des Makrokosmos fand, das fühlt der Adept des Tantra-yoga sich leiblich innewohnen in der Tiefe seines Mikrokosmos und nennt es, wie der König von Babel, »Gott«. Ihm weiht er sich in innerer Verehrung und ruft es auf in einer der zahllosen Möglichkeiten, in denen es Gestalt annehmen kann. Damit will er sich bewußt machen, denn nur als ein Gestaltiges kann etwas uns ins Bewußtsein treten, für unser Bewußtsein da sein. Die göttliche Erscheinungsform des Unbewußten, die er heraufruft, schmückt er mit allem Reiz, aller Hoheit und allen Kräften; so verehrt er sie geziemend samt der allgestaltig-allgewaltigen formlosen Macht, die sich in ihr verleibt. Damit strömt er zugleich alle Möglichkeiten, Reiz, Hoheit und Größe als die Dämonie seines eigenen Wesens aus sich zu gebären und nach ihren Gestalten im Räume zu greifen und sie dämonisch an sich zu reißen, aus sich empor und formt sie zu Schmuck und Ausdruck der göttlichen Gestalt. Anstatt nach außen in die Welt projiziert er auf die innere Gottheit alle unbewußten Möglichkeiten seiner Lebenskraft, die seine menschliche Lebenssituation ja nur ganz schattenhaft, nur in Bruchteilen ihm auszuleben erlaubt. Denn diese Möglichkeiten sind unendlich in ihrer Dimension, unersättlich in ihrem Drang, gemessen an der schmalen Situation der meisten Menschenleben. Er projiziert sie alle auf das Götterbild als dessen Reiz und Größe, – so zerreißen sie ihn nicht in ihrem Ausbruch, so verkehren sie sich nicht in ein Böses, Teuflisches, wenn sie verdrängt gehalten werden. Aus der Gefahr, ins Unbewußte abgedrängt zu bleiben, ungelebt zur bösen Fratze zu verkümmern, werden sie erlöst, heraufgeholt und umgeformt zur Substanz und zum Geschmeide der innerlich sichtbaren Gottheit des Herzens. Auf ihr Bild werden sie alle projiziert und abgeladen in der Haltung gläubiger Hingabe (bhakti), die dem Ich der Person dabei abdankt und zur Gottheit spricht: »Du bist mein wahres Wesen, – nicht ich. Nicht ich bin's, du bist es, der diesen Kosmos meiner Person und Welt wirkt. Alles ist Dein.«

In dieser Haltung dankt der Fromme seinem bewußten Ich ab und gibt sich gläubig ganz dem Unbewußten in ihm selbst anheim, dem Unbewußten in ihm selbst anheim, dem Regenten in uns. So vermeidet er das Heer der Gefahren, das in uns selbst, in uns allein lauert, – die Legionen der Hölle, die aus uns brechen können, deren spielende Gewalt aus dem Bild des Aristoteles und Nebukadnezar auf allen vieren mit einer kleinen sinnfälligen Geste zu uns spricht.

Die zahllosen Erscheinungsformen des Göttlichen als Götter und Göttinnen, hoheitsvoll und in Jugendreiz, majestätisch gelassen oder grimmig drohend, und alle Heere des Dämonischen, – alle tun als Vorbilder von außen dem inneren Reichtum der Lebenskraft, der schakti, Genüge. Sie entsprechen den zahllosen Grundgebärden und elementaren Möglichkeiten des Unbewußten im Frommen, sich zu dieser oder jener Haltung auszugebären. Diese Möglichkeiten sind im einzelnen menschlichen Typus in verschiedener Stärke angelegt, keimhaft ungleich ausgeprägt. Wir haben den Samen zu Allem in uns, aber nicht alles wird keimen und aufschießen, viele Früchte, die unser Garten tragen könnte, werden niemals reifen. Aber was unter Allem keimhaft in uns Angelegten so geartet ist, daß es wirklich keimen kann, was keine vage aber aktuelle Möglichkeit uns zu gebären, an uns ist, bildet eigentlich den Typus an uns, der Anderem widerstrebt oder wahlverwandt ist. Typus, Temperament und Lebensalter, dazu Gewöhnung halten uns spontan in der Nähe der einen oder anderen Ausprägung des Göttlichen oder Dämonischen; die in uns keimbereiten Möglichkeiten sind dem einen oder anderen Vorbild aus Mythos und Geschichte wahlverwandt.

Darum gehört es zur Weisheit des geistlichen Lehrers, der den formbegierigen Drang der unbewußten Lebenskräfte in uns lenken will, daß er ihnen dämonische Vorbilder verbiete und andere ihnen fernhalte, die ihnen nicht gemäß sind, ein wahlverwandtes aber darbiete in Observanz und Kult, auf daß sie sich darauf fixieren und in sein Wesen wandeln. Manchem weiblichen Gemüt innerhalb der katholischen Christenheit ist die heilige Anna im geheimen nahe, und wenn ihr Vorbild dem formbegierigen Drange des Unbewußten geboten wird, kann er seine Entsprechung innen hervorbringen, daß sie den Menschen forme und leite; der Fromme kann von ihr lernen, wie das Kind von der Jamburī, und die gestaltträchtigen Urwasser des Unbewußten kosmogonisch zu ihrem Wesen ausgebären. Anderen bietet die hl. Agnes oder die hl. Magdalena ein Gleiches; der Jugend reicht man gern den hl. Aloysius als Vorbild. Franziskus und Ignatius, der Bräutigam der Armut und der Soldat Christi, schließen einander aus als Leitbilder zur Selbstverwandlung und Auskristallisation der aus sich selbst strömenden, mit sich selbst übersättigten Schakti; so schließen einander Vischnu und Schiva aus als zwei verschiedene höchste Aspekte des göttlichen Allwesens, und auf mittlerer Ebene göttlicher Gestalt, der elefantenköpfige reisbäuchige Ganescha, der Gott bäuerlicher Wohlfahrt, und sein Geschwister, der geschmeidige Knabe Kriegsgott, der sieben Tage nach seiner Geburt die Welt von einem Dämon befreite, der alle Götter von ihren Ämtern gestürzt und tyrannisches Wirrsal über die Welt gebracht hatte. Wie Sāvitrī das Ideal aufopfernder Gattenliebe darstellt, der Liebe, die dem Tod trotzt, wie Yamunā höchste Liebe zwischen Geschwistern verkörpert und Jamburī die Kraft, Allem gewachsen zu sein, so verkörpern alle Urbilder des Unbewußten in Mythos und Kult eine spezifische Haltung und Gebärde des Menschen in idealer Reinheit. Hier findet sich in sinnbildlichen Gestalten alles Lautere und alles Dämonische zusammen: alles Grauen und aller Unflat, aber auch alle erzengelgleiche Gewalt des Hohen, die den Schlüssel zum Abgrund und die große Kette in Händen führt, mit denen sie Satan bändigt.

In den Buddhas und Bodhisattvas stellt sich die durchschauende Erkenntnis dar als eine höchste Möglichkeit der Schakti in uns, wenn sie ihr Aggregat von verwölkender Leidenschaft und animalischer Dumpfheit ganz geläutert hat, das naturhafte Walten ihrer eigenen Wut, sich auszugebären und sich hinaus zu projizieren als ihre gestaltige Welt, zu überwinden, – stellt sich das Wunder der Umkehr an ihr dar, den eigenen Drang zu stillen, der sie treibt, mit Projektion ihrer formbegierigen Kräfte sich als Māyā grenzenlos spielen zu lassen und den Prozeß ihrer Welt im Schwunge zu halten. In ihnen verkörpert sich das erhabene Erbarmen, das alle Welt von sich als Welt, als ständig aufschießendes Produkt dieser weltschaffenden Potenz erlösen will, – das Erbarmen, das die Welt vom Banne ihrer selbst befreien will, in dem sie sich mit Lust und Qual herumwirft wie ein Träumer in Schlafes Bann, den lockende und fürchterliche Gesichte in atemberaubender Fülle bedrängen.

Alle Figuren, die in Kult und Mythos leben, sind solche leibhaften Ideen; als Varianten von Urbildern, die in uns schlummern, können sie je nach unserer Anlage und Schicksalssituation uns Vorbilder werden zum Guten und Schlimmen. Aber wir können nicht frei wählen: etwa Indisches für uns und Christliches für den Osten, – da liegt die Klippe für alle Mission und Aneignung, – denn unser westliches Unbewußtes enthält dasselbe Urbild wie das östliche in einer anderen Variante ausgeformt. Wir sind kleine Blüten am alten Baum des Westens, in unserem Unbewußten drängt sein Saft zum Licht, – was er in sinnbildlichen Varianten keimhaft in sich trägt und ausgebären kann, ist seine besondere Art.

Das bezeichnet unsere Ferne schon zu den mythischen Gestalten der Griechen, bei aller werbenden Liebe, sich schmiegenden Nähe des Humanismus zu der Welt der Alten. Im griechischen wie im deutschen Mythos gibt es den zauberkundigen Schmied, den wunderbaren Techniker: Dädalus hier, Wieland bei uns. Das alte Wunder, daß der Mensch es fand, aus starrem Fels das flüssige Metall zu schmelzen und es in alle Gestalten zu gießen, schuf einen neuen Weltstand. Etwas völlig Dämonisches war da am Werke: das Härteste ward bezwungen durch die Glut, war wie Wasser und ließ sich doch ballen. Der Stein, Waffe und Werkzeug einer Weltzeit, gab aus dem eigenen Schoße seinen vielgestaltigen Überwinder frei. Das Wunder dieser prometheischen Tat senkte sich ins Unbewußte der Menschen in der Gestalt des mythischen Schmiedes, des Magiers der Erze, – davon hat sein Beruf noch heute (z. B. in England der Schmied von Gretna Green, vor dem man Ehen schließt) einen magischen Schimmer. Aber wie verschieden ist die Hieroglyphe vom kollektiven Unbewußten griechischer und deutscher Überlieferung gestaltet. Der mythische Schmied löst die Menschen aus dem Gefängnis des Steinzeitalters, so löst er sich selbst aus der Haft des Königs, der ihn frohnden läßt. Er gewinnt die unendliche Weite einer neuen Menschenzeit; auf den Flügeln, die er sich schuf, entfliegt er himmelauf. Wie tragisch ist die neue Freiheit bei den Griechen: die Flügel, die Ikarus und Dädalus erlösen, bringen Ikarus den frühen Tod. Der vogelgleich Ätherische, Euphorions Bruder im Geiste, hob sich, vom Geist des neuen Weltalters getragen, zu stürmisch der Sonne entgegen und fand den Tod im Meer. Der Vater zahlte für seine titanische Erfinderkraft mit dem schwersten Opfer: sein anderes Ich, den Sohn, seine wiedergeborene Zukunft, mußte er dafür drangeben. Das Erschauern des Griechen vor dem Maßlosen der neuen Möglichkeit, vor dem Titanischen der Naturbezwingung und Verstörung steinern alter Ordnung fand in dieser Buße den Ausgleich mit den Mächten, die der technische Magier vergewaltigt hatte.

Daneben Dädalus' dunkler Bruder Wieland, der dumpfe Rächer seiner Gefangenschaft und der Sehnen seiner Füße, die ihm der König zerschneiden ließ, daß ihm der Wundermann nicht auskäme; – auch seine glückhafte Flucht muß schuldloses Leben mit dem Tode bezahlen. Aber nicht das Pathos eines Fluges in die Sonne vergoldet das Dunkel. Die abgeschlagenen Häupter der beiden Königsknaben, die sich verlangend über Wielands Schatz beugen, die Schändung der Königstochter, die mit dem zerbrochenen Goldreif seiner Geliebten zum Schmiede kam und die er betrunken machte, sie zu schänden, – diese maßlose Rache, die den König in seinem Liebsten trifft, seinem zweiten Leben, seiner Zukunft, die aus Hirnschalen, Augen und Zähnen der Knaben Schmuck und Gerät gestaltet und dem König einen Bastard vermacht, legt sich beklemmend und boshaft um die dämonische Gestalt des magischen Erfinders. Wie das kollektive Unbewußte beider Kulturen durch ganz verschiedenes Kolorit sich eigene Varianten derselben Urfigur stilisiert, sie über die Zeiten erinnert in Dichtungen und Überlieferung, das spiegelt den Unterschied zwischen den Hellenen und der Nacht des Nordens.

Im Mythos vieler Kulturen gibt es die Gestalt des wunderbaren Sängers und Musikanten, der zauberische Kräfte hat. In ihm hat die magische Gewalt der Musik, die wie nichts Anderes unmittelbar ins Unbewußte greift und es erregt und sänftigen kann, ihren sinnbildlichen Niederschlag im Zeichenschatz des kollektiven Unbewußten gefunden. In Indien ist es Krischna, der menschgewordene Allgott Vischnu, der mit einem Bruchteil seines unendlichen Wesens in die Welt hinabgestiegen ist, um sie von der Tyrannei der Dämonen zu befreien, die sich in menschliche Gewaltherrscher verlarvt haben. Wie Zeus als Bringer eines neuen Weltstandes geweissagt, wie Zeus schon im Mutterleibe verfolgt aber wunderbar geborgen, wächst er unerkannt bei Hirten und Herden auf, bis die Stunde reif ist zur weltordnenden Heilstat. Als Knabe bezwingt er inzwischen Dämonen der Wildnis, die das Idyll der Hirten verstören und dem Jugendlichen den Garaus machen sollen, ehe er herangewachsen ist. Halb Knabe noch und schon Mann ist er die verzaubernde Lieblichkeit selbst; Hirtenfrauen und -mädchen vergöttern ihn. Im Spiel und Tanz der mondhellen Nächte gibt er ihnen einen Vorgeschmack der himmlischen Freuden, mit ihm in seinem Paradiese vereint zu sein. Er singt und tanzt mit ihnen und führt den herbstlichen Reigen an; mit dem Pfeil seiner Blicke ihr Herz versehrend, weiht er sie in die Geheimnisse des Eros ein, – des Eros, der dem Leben huldigt und der mit Gott vereint. Dazu bläst er die Flöte, – ein Rattenfänger der Frauenherzen; verführerisch in seinem Schmelz. Alle Herzen fliegen ihm zu und hangen an ihm in schmerzhafter Süße. Ein Rattenfänger, – aber wie verschieden von seinem dunklen Bruder der Hamelner Stadtsage, dieser deutschen Variante des magischen Musikanten.

Die Dämonie der Musik, – bei uns Deutschen ist sie ein hergelaufener Pfeifer, der zum schlechten fahrenden Volk gehört, eine dunkle bedenkliche Erscheinung von anrüchiger Herkunft. Aber eben darum ist er im Bunde mit den Mächten, die der ehrenhafte Bürger, der wohlbehauste selbstgerechte Besitzende hinter Mauern und Türmen übermächtig um sich fühlt und nicht zu bannen vermag. Er ist der wahlverwandte Meister des Unheimlichen, er befreit die Stadt von der eklen Rattenplage, in der sie umzukommen droht. Diese Ratten, – welch grauenhaftes Sinnbild! das unreine, bösartige und gefährliche Tier, gemein wie kein anderes, aber dabei der Hausgenosse des Menschen, sich mästend von seinem Unrat und Wegwurf, – welch unheimliches und geniales Symbol des Unbewußten. Der unheimliche Musikant befreit die Stadt von ihrer selbstverschuldeten Plage, von dieser lebendig gewordenen, wimmelnden, um sich beißenden Gewalt ihres eigenen Unrats, von den Dämonen ihres eigenen Schmutzes in jedem Betracht. Aber was hilft's? – daß sie diesen Schmutz aus ihrer Ehrbarkeit und wohlverschanzten Selbstgerechtigkeit hervorbringt und immer neu in sich häufen muß, – von diesem ihrem Wesen kann er sie nicht erlösen. Den Augiasstall der Seele räumt uns kein Hergelaufener aus, und wär' es Herakles; den Schmutz der Seele auszukehren, müssen wir schon selbst Hand anlegen, – und der schwärzeste Schmutz in ihr ist der Undank. Daher die Strafe an der undankbaren Stadt, die den hergelaufenen Pfeifer, den rechtlosen Vaganten um den ausbedungenen Lohn meint prellen zu dürfen, – ihr wird das Leben in die Zukunft, Hoffnung und Unschuld, die auch am gemeinen Menschen wunderbar vorhanden sind, die Verheißung der lebendigen Ewigkeit genommen: der Pfeifer lockt die Kinder und sie müssen mit ihm ziehen wie die Ratten. Welch grauenhaftes Strafgericht, so erbarmungslos wie gerecht, – ein Pfeil, der unerbittlich ins Schwarze trifft. Und welch ein unheimliches Unbewußtes, das solche Pfeile sich selbst ins Schwarze schießt. Wie fern ist das dem Volk, bei dem der zauberische Musikant mit seinem Sang und Saitenspiel alle Natur aus dem Banne ihrer dumpfen Schwere, ihrer Angst und Wut erlöst, – zu Orpheus ätherischer Weise heben sich die in Wildnis durcheinandergeworfenen Felsblöcke auf, ihr Rhythmus setzt sie in Gang, ihre Harmonie fügt sie zu Mauern und Stiegen, zu Palast und Tor, Burg und Tempel, (denn »Harmonie« meint »ebenmäßige Fügung«). Und alle Tiere vergessen ihrer angeborenen Natur, das Reißende und das Verängstete in ihnen löst sich, sie scharen sich um den Sänger, dessen Harmonien das Widerstreitende sänftigend zueinanderfügen, auf dessen heiligen Namen das alte Griechenland seine geheimen Lehren taufte, wie der Mensch sich wandle zum Vollendeten und das Ewige in sich gewönne. Die dämonischen Kräfte, die sich selbst zerreißen, rasen verzweifelt ob ihrer Ohnmacht. Wenn sie den Magier seelenführender Musik, die das Dämonische bändigt, schließlich anfallen und zerreißen, müssen sie sich taub machen mit wahnwitzigem Gebrüll und Lärmen, daß sie die himmlische Stimme und sein Spiel nicht vernehmen; sonst wären sie gezwungen, ihrem Wesen abzudanken und friedfertig zu sein und voller innerer Harmonie wie sein Gesang.

Der Gläubige lebt aus den Urbildern, die Ritus und Mythos ihm im Schatze der ihnen jeweils eigenen Varianten als Leitbilder bereithalten. Wen keine Glaubensgemeinschaft mehr umfängt, die noch Ritus und Mythos besitzt, dem treten leitend die Dichter zur Seite. Der seltene wahre Dichter ist wie Priester und Guru Schatzwalter der Urbilder des kollektiven Unbewußten seiner Kultur. Nicht Erfinden, aber Wiederfinden und Beleben ist sein Amt. Ihn scheidet vom weltweiten Schriftsteller, daß er den zeitlosen Genien dient und ihr Bild über die Zeiten für die seine erneuert. Der Schriftsteller greift von der Straße auf, was seine Zeit und nur sie bewegt; so gehen seine Gebilde mit ihr dahin in die Totenkammer des schlechthin Gewesenen, fristen ein Scheindasein im Wachsfigurenkabinett der Literaturgeschichte. Schrifttum, das nicht zu den Urbildern, geprägt von kollektiver Erfahrung, hinabreicht, hat seinen Welthorizont im Sozialen und stirbt an seinem Wandel ab; mit ihm wird es belanglos. Notwendigerweise ist es offen oder geheim ironisch und untragisch, denn daß das Soziale die alles umfassende Sphäre sei der Kräfte, die über uns bestimmen, die wesentlich über unser Schicksal entscheiden, – das ist von der Ebene unseres tieferen Selbst, vom zeit-und todlosen Unbewußten her, eine große Ironie, ein gewaltiger Humbug. Der Gläubige weiß es anders, – so auch, wer auf den Regenten innen zu lauschen weiß. Daher der ironische Charakter der »Madame Bovary« und des ganzen sozialen Romans im 19. Jahrhundert, daher die reine Dreidimensionalität des sozialen und psychologischen Romans überhaupt. Sein Pathos kann nur darin liegen, daß er kritisch ist und kämpferisch für eine bessere soziale Wirklichkeit, z. B. bei Zola. Balzac bleibt dreidimensional, das ist seine Größe und Grenze, und eben diese Grenze wird so fühlbar, wenn der Gigant in ihm sich an ihr stößt, im Wunsche, sie zu überschreiten. Seine Versuche, die vierte Dimension, das Reich der Geister, Engel und Dämonen einzubeziehen (in »Séraphita« und »La Recherche de l'Absolu«) ist schon unangenehm in der Naivetät, mit der was nur Raum und Stil des Geschehens sein darf, zum Stoff gewählt ist. Es gibt kein Ding, das diese Dimension enthielte, daß man nur nach ihm zu langen brauchte, sie ist an keinen Gegenstand gebunden, kann sich aber an jedem als Stil enthüllen, – etwa in Goethes Märchen von der »Neuen Melusine« oder in seiner »Novelle«.

Christus und Buddha sind als Urbilder ins westliche und östliche Unbewußte eingegangen; ihr geschichtliches Leben hatte solche Gewalt, daß sie als eine Variante, Neuprägung und Entwicklung sich auf ein schon vorhandenes Bild im Unbewußten legten. Es bezeichnet ihren geschichtlichen Rang, daß sie in ältere, schon bereite Urbildformen eingehen konnten, die sie ersetzten und zu sich verwandelten, –: Christus in die altorientalische Gestalt des sterbenden, geopferten und wiederauferstehenden Jahresgottes, Buddha in den altindischen Sonnengott. Weil sie aus eigener Kraft so hohen Rang besaßen, daß keine geringere Form als diese hohen alten ihnen Genüge tat, in ihrer Schale sie über die Zeiten zu bewahren, haben sie die weltgeschichtliche Funktion, das Unbewußte zeitlos weit zu inspirieren, die Funktion, mit ihrem äußeren Bild ihr inneres in uns anzurühren wie mit magisch lebenspendendem Finger und aus dem Schlafe der Tiefe zu wecken, daß es uns leite und zu sich verwandle. Durch ihre Verschmelzung mit den älteren Urbildern vollzog das Unbewußte die feierliche Assumption ihrer geschichtlichen Erscheinung in die Ewigkeit der Sinnbilder, es versetzte sie unter die Gestirne am inneren Nachthimmel der Seelen.

Die gelehrte Frage, ob Christus oder Buddha geschichtliche Gestalten waren oder »nur« Abspaltungen eines mythischen Figurkomplexes in die historische Ebene, verliert unter dieser Perspektive ihr Relief; daß beide geschichtlich als Menschen bezeugte Gestalten so allgewaltig mythisch werden konnten, zeugt für ihre geschichtliche Realität. Mit Erfundenem und Gespinsten läßt sich das Unbewußte nicht speisen; Nebukadnezar, der es am eigenen Leibe so mächtig erfuhr, zeugt von ihm, »all sein Tun ist Wahrheit«. Das formbegierige Unbewußte bemächtigte sich ihrer Erscheinung als einer seltenen Möglichkeit, ein Urbild in sich um- und auszuprägen, Unendliches hängte sich an ihre Gestalt von Wirkungen und Kräften, ausgehend und in sie strömend, um sie kreisend. Darum sind sie allein ja lebendig, unsterblich, indes die Menschen der Jahrtausende von ihnen zu uns fast alle ganz verschollen sind kaum ein Name weitertönt. Dank dieser höchsten Lebendigkeit, die das Unbewußte ihm zuerkannte, heißt Jesus Gottes Sohn, wie Herakles den Griechen um der gleichen Kraft willen zum Sohne des Zeus ward und Krischna den Indern zu einem menschgewordenen Stück des Allgotts.

Diesen Christus in uns, und nur in uns, in keinem Paradiso über Himmeln, zu verehren, uns mit ihm zu durchdringen, indem wir seine ungeheure Möglichkeit als unsere persönlichste, in uns angelegte Wirklichkeit ausbilden an uns durch Erweckung seiner inneren Gegenwart, – das wäre wirklich »Nachfolge Christi«, das wäre in Vertrauen auf die Gnade, das heißt: im Glauben daran, daß er wirklich in uns schlummert und in uns aufstehen kann, – ein christlicher bhakti-yoga.

In der vollen Entfaltung seiner Lehre zum »Großen Fahrzeug« (Mahāyāna) geht der Buddhismus so weit, die geschichtliche Wirklichkeit seines Gründers zu leugnen. Es hat nie einen Buddha gegeben, freilich auch nie einen Orden, niemals einen Buddhismus, – so sprechen die Mönche, die sein Gewand tragen, in seinen Klöstern leben und Buddhabilder den Frommen zur Verehrung in ihren Mauern bereithalten. An solche Dinge glauben Weltkinder. – Damit wird der mönchische Adept des buddhistischen Yoga im Paradox gelehrt, sich von allem Raum-Zeitlichen, Benennbaren und Gestalthaften zu lösen, das er außer sich wähnen mag und woran er haftet, wenn seine Schakti sich noch in Ehrfurcht auf einen gewesenen Buddha projiziert. Gäbe es einen Buddha als letzte Realität, geschichtlich einmal auf Erden weilend oder ewig in irgendeinem Überhimmel, auf den der gläubige Laie hofft, – dann wäre auch das Ich eine letzte Realität. Es gilt aber gerade zu durchschauen, daß es nur eine reine phänomenale Ausgeburt des Unbegreifbaren Namenlosen ist, ein Phantasma, rein bedingt durch den Drang, mit dem es an sich selber haftet; – das gilt es zu erfahren, zu vollziehen. Für das tiefere Unbewußte existiert nichts real Geschehenes, keine Geschichte, nur Sinnbilder, die es aus allem Geschehenden bewahrt; es erinnert keine einzelne Welle, aber alle Figur, die Wellen haben können. Der Buddhismus spricht aus der Ebene dieses Unbewußten, wenn er lehrhaft betont, nie sei ein Buddha gewesen. Der Adept seines Yoga gibt sich verehrend einem reinen Sinnbild hin, in dem Wissen: der persönlich-geschichtliche Ursprung dieses Bildes sei in seiner Realität so wesenlos wie das eigene Ich, das nur bedingt ist durch die eigene Unvollkommenheit. Aber dieses Sinnbild einziger Vollkommenheit, der Buddha, dient ihm dazu, die verborgene Buddhaschaft in sich, die einzige Wirklichkeit zu wecken.

Die Form alles Bewahrens ist für das Unbewußte das mythische Sinnbild. Darum lehrt es, Buddha werden, obwohl es keinen geschichtlichen Buddha, nichts Geschichtliches anerkennt. An aller Individuation, die es durchläuft und als wechselndes Phänomen an sich hervorbringt, – welkende Blüte an immergrünem Laube, – bewahrt es nur, was über das ephemer Geschichtliche ins zeitlos Sinnbildliche, ihm Gemäße, hineinragt. Darum ist der Weg des buddhistischen Yogin ganz voll sinnbildlicher Taten: Opfer ohne Maß wollen als sinnbildliche Gesten des Nichthaftens an irgend etwas vollbracht werden. Der werdende Buddha (Bodhisattva) soll lernen, in sich selbst und jeder Situation, in die er sich aufopfernd sich verflicht, zu stehen wie das tiefe Unbewußte in uns steht: nicht an uns haftend, nicht gebannt durch seine eigene Geste an Ich und Welt; – zu wesen wie das Unbewußte: zeit- und todlos, unanrührbar.

II

Wir sind nichts Einfaches, und die Zweiheit »Leib-Seele« drückt unser Wesen nicht aus. Wie vielfältig sich die Alten das Wesen des Menschen dachten, lehrt ein antiker Vers, der davon handelt, wie es sich im Tode scheidet,

Ossa tegit terra, tumulum circumvolat umbra,
orcus tenet manes, spiritus astra petit.

»Erde bedeckt das Gebein, den Hügel umschwebet der Schatten,
Seele sinkt unterweltwärts, sternenauf hebt sich der Geist.«

Die Vorstellung, daß die Seele als Lebensprinzip etwas einfaches ist, ist eine späte und schon wieder vergangene Meinung; die alten Ägypter und viele »Naturvölker« haben es anders gewußt, ein besonders vielgliedriges und beziehungsreiches Bild hat das alte China entwickelt. »Der Mensch besteht aus den wirkenden Kräften des Himmels und der Erde« heißt es im Buche Li-Ki, »er besteht aus der Vereinigung eines Kwei und eines Schen«. Kwei und Schen sind die zahllosen lebendig-feinsten Teilchen der unendlichen Kräfte der Erde und des Himmels, des Yin und des Yang; »der Odem ist die gesammelte Äußerung des Schen, und die ›Leibesseele‹ ist die gesammelte Äußerung des Kwei. Die Vereinigung von Kwei und Schen ist die höchste der Lehren. Alle lebenden Wesen müssen sterben; gestorben müssen sie zur Erde heimkehren, das nennt man Kwei. Knochen und Fleisch verfaulen unten im Grunde, geheimnisvoll werden sie Erde der Felder; aber der Odem hebt sich auf und steigt in die Höhe und wird zu himmlisch strahlendem Licht (ming).« Entsteht der Mensch, so entwickelt sich zuerst die »Leibesseele«, das Prinzip vegetativer Lebenskraft, die Erscheinungsform des Kwei/Yin, danach entfaltet sich der Anteil des himmlischen Yang, das ist die »Geistseele«; sie wird auch dem Odem gleichgesetzt. In der Berührung der äußeren Welt bildet sich die »feinste Kraft«, ihr Wachsen kräftigt Leibes- und Geistseele, wie deren Wachstum wieder stärkend auf die »feinste Kraft« zurückwirkt. Und so entwickelt sich schließlich Schen im Menschen, dem Odem und der Geistseele verwandt, das Himmlisch-Geistige, das in sich groß zu ziehen das Ziel aller ethischen und asketischen Erziehung ist. Wer zur Vollendung, zur Verklärung strebt, trachtet ein reiner Schen zu werden: Kraft vom Himmel, Licht von seinem Lichte (ming, – das Zeichen dafür ist Sonne und Mond beieinander als Inbegriff alles Strahlenden) – diese Läuterung und Erhebung ist der chinesische Gang zur Unsterblichkeit, der Weg zu göttlichem Sein.

In der Durchdringung von Kwei und Schen, d.i. von Yin und Yang ist der Mensch ein kleiner Kosmos, denn »das ganze Yin und das ganze Yang heißen Tao«, d.i. die im großen Lebensrhythmus der Gezeiten kreisende Welt. Die Leibesseele aber, ein Stück Yin im Menschen, verläßt den Leib niemals, darum wohnt sie mit ihm im Grabe: »sie ist das Edelste am stofflichen Teil des Menschen« und ihr wird das Grab mit peinlicher Sorgfalt und ehrfürchtiger Pflege zur Wohnung bestellt. »Nach dem Tode steigen Leib und Leibesseele in die Erde hinab«, – aber mit dem unaufhaltsamen Zerfall des Leibes, zerfällt mählich auch die Leibesseele: »Leib und Leibesseele lösen sich auf und schwinden dahin, Geist und Odem behält die Kraft zu fühlen und sich zu bewegen und vergeht nicht.«

Der altchinesische Mensch ist sich einer Vielheit von Lebenskräften in sich bewußt; seine Weltsicht der kosmischen Kräfte des Männlich-Himmlischen und des Weiblich-Erdhaften, deren Ineinanderspiel die Welt immer neu gestaltig wirkt, gibt ihm den Rahmen und die Anschauungen, zu fassen, was er in sich erfühlt als Spiel und Bestand von Kräften. Uns ist sein schließliches System ein Gleichnis und Hinweis, denn unser Forschen und Fragen, unser vorgebliches Wissen setzt an anderen Punkten ein, an überlieferten und gewonnenen: daß sie so verzweifelt und vordergründlich sind wie die altchinesischen, kann uns noch nicht deutlich sein. Doch wohnt diesen chinesischen Vorstellungen abseits von ihrer Verknüpfung mit dem kosmischen Dualismus des Tao in Yang und Yin ein ursprünglicher Zauber, eine angeborene Kraft ein: diese Leibesseele, als erstes im Leibe entstehend, an ihn gebunden und mit ihm zergehend, ein Geheimes, das den Toten, wie er da ruht, nicht ganz tot sein läßt, – das rührt nicht bloß an alte, verschüttete Vorstellungen in uns, die Frühere vor uns dachten und die wir in uns tragen wie Erinnerung als Erbgut unseres Leibes, – das bringt uns ein unmittelbares Empfinden herauf, das wir empfunden haben, immer wenn wir einen gestorben sahen, ob wir es uns eingestehen möchten oder nicht. Und jene »feinste Kraft«, Auslese und Essenz der Leibes- und Geistseele (»tsing« d.i. eigentlich feinster, »auserlesener Reis« entsprechend unserem Auszugsmehl) – ein Lauteres, dessen posthumer Name »Himmelslicht« ist, schließt das Höchste in sich, was der Mensch im Westen wie im Osten an die Vorstellung der Seele als Trägerin alles ewigen Schicksals, aller hohen Hoffnungen geknüpft hat.

In seinen tiefgreifenden Bemerkungen »über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen« erörtert Schopenhauer die antike Lehre vom Daimon, der über das bewußte Ich gesetzt, sein Leben schicksalhaft zu lenken berufen ist, er zitiert Menander,

»ein Dämon steht zur Seite jedem Menschen,
von der Geburt an ist er ihm ein Führer,
ein guter, durchs Geheimnis seines Lebens.«

Wie dieser Dämon und die Seele sich in der Totenwelt zusammenfinden, um gemeinsam den Gang durch ein neues Leben anzutreten, lehrt Platon in seiner Schilderung des Jenseits, »wenn aber alle Seelen sich ihre Leben erwählt haben, treten sie in der Reihenfolge, nach der sie ihre Lebenslose an sich genommen haben, vor die Parze hin. Diese aber gibt jedem den Dämon, den er sich erwählt hat, als Wächter mit auf den Weg für sein Leben und als den Erfüller der von ihm erwählten Schicksalslose;« – »nicht erwählt der Dämon euch, aber ihr werdet ihn an euch nehmen«.

Diese Lehre von einer Instanz in uns, die mächtiger ist als das Ich und als Regent seinen Gang führt, auch gegen seinen Willen, nach der Notwendigkeit eines vorgewählten Schicksals, blitzt in Senecas Wort auf, »den Willigen führt sein Schicksal, den Widerstrebenden schleift es« fata volentem ducunt, trahunt nolentem. Der Sternenglaube der Spätantike setzt diesen Dämon, der unseres Schicksals Schlüssel hält und es besser kennt als wir selbst mit unserem bewußten Willen, oben in die Sterne, aus deren Stand der Astrolog unser Schicksal, unser Wesen liest. Schopenhauer bemerkt dazu, »überaus tiefsinnig hat denselben Gedanken Theophrastus Paracelsus gefaßt, da er sagt, ›damit aber das Fatum wohl erkannt werde, ist es also, daß jeglicher Mensch einen Geist hat, der außerhalb ihm wohnt und setzt seinen Stuhl in die oberen Sterne‹.« Es steht uns nicht frei, die großen Zeichen anderer Zeiten und Räume uns anzueignen als unser Eigentum und von uns unmittelbar durch sie zu sprechen. Sie sind eine Bilderschrift, die uns aufruft, ein Wirkliches, das immer war, in uns wie je, zu fassen und in neuen Bildern und Begriffen aus ihm zu leben, wenn die Bilderschrift der eigenen Herkunft uns blind geworden ist oder so gleichnishaft wie jene anderer versinkender Geschichtsräume. Können wir unser geistiges Auge nicht zu Sternen heben, in die unser Regent seinen Stuhl gesetzt hat, so erfahren wir ihn mit Stimmen und Zeichen in unserem Inneren, wie es Sokrates geschah, – und ist die räumliche Angabe hier mehr als ein bildhaftes Element, eine metaphorische Veranschaulichung? wie steht in einem tiefern Betracht Außen zu Innen, Makrokosmos zu Mikrokosmos? Es ist das Verdienst der neueren Tiefenpsychologie, daß sie uns in einer Form, die unserer Stunde gemäß ist, das Zeitlose in uns aufgräbt, daß wir es fassen und aus ihm leben können. Nicht als ob sie, und in ihr die analytische Psychologie, mehr wäre als eine sinnbildlich-anschauliche Art, sich über unser Wesen zu verständigen, aus unserer Zeit und Not geboren und mit ihr zerrinnend, aber uns darum verständlich wie keine andere Hieroglyphenschrift; – gerade weil sie das ist: die uns allein mögliche Form, uns gültig zu klären, wie wir uns geschehen, setzt sie uns in Beziehung zu derselben Wirklichkeit, von der die nachgedunkelte Bilderschrift aller Zeiten in ihren verschiedenen Hieroglyphenreihen zeugt. Sie ist unsere Form, das ungreifbare Wirkliche in uns als ein Benanntes und Gestaltiges zu greifen, ist die besondere Form der Māyā, in der das Wirkliche der Seele für uns in unserem geschichtlichen Augenblick Erscheinung werden kann. Alle wesenhafte Lehre ist immer nur Pfeil und Bogen nach dem Wirklichen, das unfaßbar die Sphäre des Geistes und der Sprache übersteigt, aber der Pfeil kann sie berühren und unser Begreifen fliegt auf ihn. Jede Zeit hat andere Pfeile, – manchmal nur einen einzigen.

Die Tiefenpsychologie zerstörte den primitiven Dualismus Leib-Seele, als wäre das eine einfache Zweiheit. Dabei war zweierlei verkannt: als wäre das Seelische eine Einheit und als wäre der Leib nicht ein Stück der Seele. Die dunkle Flut des Unbewußten, auf der das kleine Schiff des Bewußtseins schwimmt, – eher ein Keim in seinem Fruchtwasser, von ihm gewiegt, von ihm genährt, – ist leibhaft greifbar als die vielfältige Organ- und Zellenwelt unseres Leibes. Mit ihren Leistungen, spontanem Ja und Nein, die Befehl und Verbot des Ich überspringen und seiner Ansprüche spotten in der Betätigung von Fehlleistungen und Versagen, lebt sich nach indischem Empfinden etwas Ungeheures aus. Die Inder nennen es »alle Götter«. Denn nach indischer Auffassung sitzen an unserem Leibe alle Götter der Welt als die Kräfte, die sie im Makrokosmos sind. Durch das Zeremonial des Handauflegens (nyāsa) unter innerer Sammlung auf die Wesenheiten der Götter und mit Flüstern der magischen Silben, die sie im Reiche des Schalls verkörpern, ruft der Adept des Tantra-yoga sie an sich auf und erweckt sich damit zum Bewußtsein, Inbegriff aller göttlichen Māyā zu sein, die alle Gestalt in Mikro- und Makrokosmos als Spiel der aus ihr differenzierten göttlichen Kräfte entfaltet. So sind die Götter nicht nur am Leibe des Menschen, und sind dieser ganze Leib selbst als Aggregat vielfältiger Kräfte und Funktionen, sie sind auch an allen anderen Leibern, – das ist ein Aspekt der Einheit der Welt, die aus einem fließend lebendigen Stoff, der Schakti des Gottes vielfältig gestaltet ist.

Die indische Elefantenmedizin (Hastyāyurveda, »das Wissen vom langen Leben der Elefanten« Vgl. Spiel um den Elefanten , ein Buch von indischer Natur, v. H. Zimmer, München, 1929. Neue Ausgabe: Düsseldorf/Köln 1976.) lehrt die Verteilung der vielfältigen stofflichen Kräfte der Götter (devaguna) am Leibe des Elefanten (III. 8) gelegentlich der Lehre vom Embryo, an dem sie sich entfalten: »Brahmā ist im Haupte, Indra im Halse, Vischnu im Rumpfe befindlich. Im Nabel (dem Zentrum der Leibeswärme) der Feuergott, der Sonnengott in beiden Augen, Mitra in den Hinterbeinen des Elefanten.« Zwei Aspekte des Weltschöpfers (Dhātar und Vidhātar) sind in den beiden Bauchseiten, »im Zeugungsgliede ist der ›Herr der Ausgeburten‹ (Prajāpati), in den Eingeweiden (den schlangengleich sich windenden Därmen) sind die Schlangengötter, die das Joch aller Welten tragen. Denn in den Elefanten weilt das alterslose unvergängliche, allem zugrund einwohnende Wesen (pradhā-ātman). In den Vorderfüßen sind die beiden reitenden Zwillingsgötter«, – sie entsprechen den beiden Armen am Menschen, von denen der hantierende Priester im alten Ritual der Veden sagt, »mit den beiden Armen der beiden reitenden Zwillingsgötter greife ich ...« – In den Ohren wohnen die Göttinnen der Raumrichtungen, die Walterinnen des Elementes Raum, das in der Muschel des Ohrs sich als Schall einfängt; der Regengott Parjanya wohnt im Herzen der Elefanten, denn sie sind mythische Geschwister der Regenwolken, ihre Nähe zieht magisch das Wasser ihrer himmlischen Urheimat an.

Alle Götter an unserem Leibe, – das bedeutet: der Leib ist rings besetzt, erfüllt mit Kräften, kraftartigen Individualitäten, die uns nicht untertan sind, sondern die ein eigenwilliges Leben zu führen vermögen. Sonst würde es ja nicht des langen und schwierigen Trainings im Yoga, hoher Willensanspannung und Zähigkeit und ehrfürchtigen Umganges mit diesen Göttern in uns durch pūjā und nyāsa bedürfen, um Herr im Hause unseres Leibes zu werden und ihn mählich zu den Betätigungen und Vorgängen zu erziehen, die der Yoga mit seinen Zielsetzungen von ihm fordert. Sie führen ihr Leben unabhängig von uns, werden krank und versagen, ohne uns zu fragen. Wir sind abhängig von ihnen in Furcht und Erwartung, abhängig von zwei Gebärden an ihnen, die in Indien wie in der ganzen Welt die wesentlichsten Gebärden aller Götter sind: die wunschverleihende, gabengewährende (varada) und die Gebärde »fürchte dich nicht!« (abhayada). Sie fehlen kaum an einem indischen Götterbild.

Alles in uns, – wir sind, nach des Dichters Wort »dei gorghi d'ogni abisso, degli astri d'ogni ciel« – »aus den Strudeln aller Abgründe, von den Sternen aller Himmel«. Alle Götter in uns, –: wir sind erfüllt von Einem, das mächtiger, unheimlicher und größer ist als wir selbst. Man kann nur suchen, sich gut mit ihm zu stellen, indem man ihm tägliche Aufmerksamkeit entgegenbringt in kultisch verehrendem Umgange. Auf die Regelmäßigkeit des Umgangs kommt es an, sonst entschlüpft das Mächtige uns, vielgestaltig, dunkel, geschmeidig. Es entzieht sich, neckt, überrascht und plagt uns mit unerwünschter An- und Abwesenheit, Verlarvung und Drohung. Gegen unsere Bedürfnisse bleibt es aus, wird uns beziehungsfremd, feindlich und koboldhaft, läßt sich nicht mehr ansprechen und erbitten. Durch den täglichen und ehrfürchtigen Umgang mit ihm (dazu gehört ein Wecken in nyāsa) versichert man sich seiner als nahe und geneigt.

Auf die richtige Form des Umgangs kommt ebensoviel an, denn es ist das Mächtige und Vielgesichtige, Vielgliedrige. In seinem Wald von Händen hält es Alles zugleich: alle Waffen des Schutzes und der Rache, unserer Erhaltung wie Vernichtung, Geräte, Schmuck und Blumen, – Sinnbilder für alles. Und viele Gesichter zeigt es zugleich, nach allen Seiten blickt es zumal. Wenn sein uns zugekehrtes Gesicht uns lächelt, trägt ein anderes, das es uns gnädig abgewendet vorenthält, die grauenvollen Züge, die uns versteinen. In allen Gebärden spielt es zugleich, in liebender Fürsorge, schreckender Gewalt und weltüberhobenem Gleichmut; das Weibliche und das Männliche, das Lockende und das Mütterliche, das strahlend Heldische und das Hohnlachen der Vernichtung blitzen an ihm auf, darüber die göttliche Ruhe des Jenseits. Alle Tiergestalt in ihrer sprechend sinnbildlichen Gewalt des Dumpfen und Weichen, des Grausamen und Warmen, Reißenden und Sanften sind seine spielerischen Facetten.

Der richtige Umgang mit diesem Göttlichen und völlig Dämonischen in uns, mit Erscheinungsformen zahllos wie alles Leben, – denn wir sind ja das Leben selbst mit unserem Leibe, – kann nur auf einer langen Tradition beruhen, die vielfältige, bedenkliche Erfahrungen wechselnder Geschlechter gesiebt hat und aus ihr das immer Bewährte zum Kanon formte. Solcher Umgang mit dem Göttlichen ist der Umgang mit unserer Totalität in ihren wesenhaften Facetten, mit dem Unbewußten, dem Leibe, der Welt, in der die Götter hausen wie überall in der Welt. Wer sie nicht mehr in Wind und Fels, in Quell und Sternen verehrt, auch nicht an einer himmlischen oder überhimmlischen Stätte, sondern da, wo er sie einzig unmittelbar erfährt, am eigenen Leibe, dem kann sein Leib zur Welt werden, dem wird wie dem Yogin die Wirklichkeit seines Leibes zur Wirklichkeit schlechthin. Er entdeckt, daß sie alles enthält und daß aller Gehalt außen nur Spiegelreflex der Ausstrahlung seines Wesens innen ist, Projektion der Kraft, die ihn innen immerwährend aufbaut, – dem wird, was ihm geschieht, zum Geschehenden schlechthin.

Der tantrische Yogakult, der mit dem eigenen Unbewußten umgeht, dem Göttlichen, das in uns steckt, ist seine Beschwörung, Erweckung und zeremoniale Verehrung. Was im alten Kult der Veden zwischen den Feueraltären des Opferbezirks unsichtbar zwar doch außen vor sich geht: daß die Götter kommen auf ihren Wagen und nur der Priester sieht die Himmlischen leibhaft in innerer Visualisierung, getragen von den Strophen, die sie herbeizwingen in den Kultbezirk und ihre Herrlichkeit ehrfürchtig malen und ihr Sitzen auf der Streu von heiligem Gras zu gastlicher Bewirtung, – dergleichen geschieht hier im Innenraum des Leibes, im inneren Blickfeld, in das die Gestalt des Göttlichen aus seiner – unserer ungreifbaren Tiefe heraufsteigt.

Alle Götter in unserem Leibe, – nichts anderes meint das visuelle Schema des Kundalinī-yoga, dessen Adept die weltentfaltende, welttragende Lebensschlange des Mikrokosmos aus ihrem Schlummer der Tiefe den ganzen Leib hinauf in ihren überweltlichen Gegenpol führt. Auf ihrem Gang nach oben quert sie die Lotoszentren des Leibes, in denen alle Elemente, der Baustoff aller Gestalt und Gebärde der formgelüstigen Lebenskraft, versammelt sind; und in denselben Zentren werden die Erscheinungsformen des Göttlichen samt den Facetten ihrer Schakti erschaut und verehrt.

Daß alle Götter und Dämonen in uns sind und aus uns kommen, wenn sie uns wie von außen gegenübertreten, ist ein offenbares Geheimnis des Buddhismus in seiner entfalteten Form des »Großen Fahrzeugs« und wird auch im Vedānta gelehrt, der den Tantras als philosophische Doktrin unterbaut ist. Kaum irgendwo aber wird es anschaulicher und wirksamer ausgesprochen, ja zelebriert, als im tibetischen Totenbuche »Bardo Tödol«. W. Y. Evans-Wentz, The Tibetan Book of the Dead , Oxford University Press, London 1927; E. u. G. L. Dargyay, Das tibetische Buch der Toten , München 1979 2. Denn daß dem so sei, erfährt nach der Lehre dieses buddhistischen Rituals ein jeder, auch wenn er es bei Lebzeiten nicht geahnt hat oder nicht hat glauben mögen, in dem »Zwischenzustande« (bardo), der seinem Tode folgt und der neuen Verleihung seines Aggregats psychischer Kräfte und Bereitschaften voraufgeht.

Der Guru des Gestorbenen oder ein Lama, der ihm nahestand, spricht zu ihm und berät ihn während der Dauer des Zwischenzustandes, der ihn mit ungewohnten Schrecken und Gesichten befängt, –: »du siehst deine Angehörigen und sprichst zu ihnen, erhältst aber keine Antwort. Wenn du dann deine Familie weinen siehst, denkst du, »ach ich bin tot! was soll ich tun?« und fühlst große Not, wie ein Fisch, der aus dem Wasser auf rotglühende Asche geworfen ist. Solche Not wirst du jetzt leiden, aber Leiden wird dir nichts helfen ... Auch wenn du an deinen Verwandten in Liebe hängst, wird es dir nicht helfen. Darum häng nicht an ihnen. Bete zum Allerbarmenden Herrn (Buddha), sei ohne Kummer, Schrecken und Angst.«

Solcher Zuspruch geleitet den Verstorbenen auf seiner ganzen Wanderung durch das Zwischenreich und sucht ihn auf jedem neuen Stück seines Wegs der drohenden Wiedergeburt in oberen oder unteren Welten zu entreißen. Nur wer das Ziel des Yoga bei Lebzeiten erreichte, zu erfahren, daß alle Gestalt von Welt und Ich nur Ausgeburt des gestaltlos Ungreifbaren ist, Māyā, in die unser Wesen sich verlarvt, bedarf nicht der Deutungen und Hinweise, die hier am Toten ein Letztes versuchen, ihn vor dem Drange seiner eigenen Dämonie, vor der Befangenheit in sich selbst zu bewahren. Da leuchtet jedem, wenn er den Leib verlassen muß, das reine Licht der Wirklichkeit auf, gestaltlos leere, allerfüllende Helle, – aber nur wer schon als Yogin im Leben von ihm erleuchtet ward, schrickt nicht geblendet vor ihm zurück. Der in sich selbst Befangene begreift es nicht und kann es nicht ertragen und wandelt weiter den Weg seiner Bereitschaften zu Gebärde und Gestalt.

Die äußere Welt verblaßt um ihn, den ätherleichten, »... wenn du vom Wind des karman, der immer weht, getrieben wirst, wird dein Geist, der keinen Gegenstand findet, darauf zu rasten, wie eine Feder vor dem Winde hingetrieben sein, ... rastlos und willenlos wirst du wandern. Zu allen, die um dich weinen, wirst du sprechen: ›weine nicht, ich bin da ...‹ Aber sie hören dich nicht, und du wirst sagen, ›ich bin tot‹, und wirst dich sehr elend fühlen. Gib aber diesem Dich-elendfühlen nicht nach. – Ein grauer zwielichthafter Schein wird um dich sein bei Tag und Nacht, zu aller Zeit. In diesem Zwischenzustand wirst du ein oder zwei, drei, vier und fünf, sechs oder sieben Wochen sein, bis zum neunundvierzigsten Tag. Das Karman bestimmt, – wie lange es währt, ist nicht ausgemacht. Der schneidende Wind des Karman, schrecklich und schwer zu leiden, wird dich von rückwärts treiben mit schauerlichen Böen. Fürchte dich nicht, – er ist ein Wahn, der aus dir selber kommt. Dichte schreckende Finsternis wird dich ständig von vorn befallen und aus ihr werden drohende Rufe schallen, ›schlag zu! töte!‹, die dir Angst einjagen, fürchte dich nicht! – Bei Menschen mit viel schlimmem Karman werden reißende Dämonen, Ausgeburten ihres Karman, vielerlei Waffen schwingen und schreien, ›schlag zu! töte!‹ und einen grausigen Lärm machen. Sie werden sich auf einen stürzen, wie wetteifernd, wer von ihnen zuerst zupackt. Auch Phantasmata, als wäre man von vielerlei reißenden Tieren gehetzt, werden auftauchen. Schnee, Regen und Dunkel, schneidende Windstöße und Halluzinationen, als verfolge einen viel Volks, werden kommen, dazu ein Dröhnen, als fielen Berge nieder, als walle das Meer in zorniger Springflut über ... Wenn dieses Dröhnen schallt, flieht man entsetzt von ihm nach dieser und jener Seite und achtet nicht, wohin man flieht. Aber der Weg wird gesperrt sein durch drei schauerliche Abgründe, – einen weißen, einen schwarzen, einen roten. Sie werden schreckenerregend und tief sein, und es wird einem sein, als stürze man in sie hinab. Aber es sind keine wirklichen Abgründe, – es sind Zorn, Verlangen und Stumpfheit.«

Wenn die gewohnte Welt, die durch die Sinne auf den Lebenden eindringt, sich aufgelöst hat im gestaltlosen Grau des Zwischenreichs, das den vom Apparat der Sinne seines Leibes Abgelösten umfängt, dann tritt der Drang und die Gewalten seines Inneren als Räume und Gestalten wie von außen vor ihn hin. Er halluziniert sein eigenes Inneres als seine Sphäre um sich, wie ein Träumender, dem die Tagwelt entfiel, Spannungen und Dränge als Landschaften und Gestalten in sich halluziniert, die sein Traum-ich umfangen, locken und beklemmen.

Wie ein Träumender ist der Abgeschiedene ganz für sich allein, – aber wie man zu einem Träumenden sprechen kann und er vernimmt's im Traum, verwebt's darein, so spricht der seelenführende Lama zum Abgeschiedenen. Jetzt kommt heraus was in ihm war an Drängen und Bereitschaften zum Guten und Schlimmsten, – Gestalten der Heiligen, Götter und Dämonen; er muß sie anschauen, die Geister seines Herzens und Hirns, und kann ihnen nicht standhalten, den einen in blendendem Licht, den anderen in jagendem Schrecken. Aber die Stimme des Guru lehrt ihn beten, »möchte ich was immer erscheint, durchschauen als spiegelnde Reflexe meiner eigenen geistigen Natur, ... möchte ich die Scharen friedvoller und zornvoller Gestalten nicht fürchten, – sie sind Visionen meiner selbst«.

Im Tode, in dem das Bewußtsein schwindet, wird unser Unbewußtes frei, – nun bricht es allbeherrschend aus. Und alle Triebe und Bereitschaften, die unsere Lebenswelt bestimmten, wie sie jeden individuell umfängt mit ihrer besonderen Gewichtsverteilung und einer eigenen Fülle innerer Beziehungen, alle Wertungen, die wir den Dingen beilegen, alles Kolorit, mit dem wir sie anglühen in Liebe und Abwehr, an ihnen hangend und sie fliehend, – all das projiziert sich, wie es das ganze Leben lang geschah, nach außen. Aber da ist keine gestaltige Körperwelt mehr, Entsprechung unseres eigenen Körpers, die davon übermalt würde und aus neutralem Grau mit lockender und drohender Tönung überschminkt, – da ist nur das gestaltlose Grau des Zwischenreichs. Die Urbilder der heiligen, verführerischen und furchterregenden Gestalten, die wir im Leben auf Menschen projizierten, wenn wir sie verehrten, begehrten oder haßten, treffen jetzt auf kein gestaltiges Gegenüber einer unseren Körper umgebenden Körperwelt; sie fallen auf die graue Nebelwand des Zwischenreichs als glühende Fata Morgana unseres Inneren: da schaut es uns tausendfältig an, in unerträglicher Hoheit uns blendend, in rasender Dämonie uns scheuchend, – wie hielten wir ihm stand?

Aber die Stimme des Lama tönt dazu, »diese Gottesgestalten in höchster Vollkommenheit kommen aus deinem eigenen Herzen. Sie sind die Ausgeburt deiner eigenen reinen Liebe und leuchten. Erkenne sie! – diese Sphären kommen nicht von außen irgendwoher, ... sie kommen aus dir und strahlen dich an. Auch ihre Gottheiten kommen nicht von außen irgendwoher, – von Ewigkeit an sind sie in dir als Möglichkeiten deines eigenen Gemütes. Erkenne, daß dies ihr Wesen ist.«

Und wenn vom achten Tage an nach dem Tode den milden Ausgeburten des Herzens die grauenstarrenden des Hirnes folgen, flammenlodernd, alle Waffen der Vernichtung schwingend, Schädelschalen voll Menschenblut zum Trunke an die Lippe führend, tönt die Stimme des Guru, »fürchte dich nicht! wisse, das ist eine Verleiblichung deines eigenen Gemütes. Entsetze dich nicht, denn es ist deine eigene Schutzgottheit« ... erkenne: was dich als Teufel schreckt, hat auch einen erhabenen, buddhagleichen Aspekt, – »glaube an den! erkenne ihn und du wirst erlöst. Nenne ihn bei diesem Namen und halte dich davon durchdrungen, daß dieses das göttliche Wesen ist, das dir Schutz verleiht. Tauche in es hinein! schmilz hinein, bis du eines mit ihm bist (in samādhi) und du wirst deine verborgene Buddhaschaft erwecken«.

Nur wer, schon im Leibe lebend, als ein Yogin der Buddhaschaft zustrebte und diese Projektionen seiner Tiefe in ihrem Wesen durchschaut hat: daß sie es sind und nur sie, die allem außen das Kolorit verleihen, Wert und Gewicht ihm geben und ein Unbestimmtes als seine bestimmte Welt ihm schenken, die lockt und schreckt, nur ein Yogin ist diesem allmächtig ausbrechenden Māyāspiel seiner Schakti gewachsen. Darum ist das »Bardo Tödol« nicht nur ein Ritual für den Dahingegangenen, ihn zu lehren und zu leiten, sondern auch eine Yogalehre für den Lebenden, daß er sich an Hand seiner Schilderungen beizeiten mit den gestaltigen Ausgeburten seiner Tiefe vertraut mache in innerer Schau und Verehrung und furchtlos sie wiedererkenne, wenn sie ihm im Zwischenreiche begegnen. Wer schon bei Lebzeiten durch seinen Guru eingeweiht ist, kann ihrem Schrecken nachmals gewachsen sein und das reine Licht der Erkenntnis, das alles dies als Māyā hinter sich läßt, in sich verwirklichen. Das »Bardo Tödol« lehrt den buddhistischen Yogin die dämonischen Gewalten seines Inneren als seine eigenen Schutzgottheiten, zu verehren; dann braucht er keine Furcht vor ihnen zu haben, wenn er ihnen im Zwischenreich begegnet, er hat sie schon immer in Scheu verehrt. Wir müssen beizeiten lernen, mit den Nachtseiten unseres Wesens umzugehen, – nicht um mit ihnen dämonisch in die Welt zu wirken oder bei uns geheim zu spielen, das wäre schwarze Magie oder Teufelsbuhlerei, – aber wir müssen sie ehrfürchtig anerkennen als die dunklen gefährlichen Mächte, die in uns sind. Sie haben Gewalt und Hoheit, denn sie sind Formen unserer formgelüstigen Schakti, der göttlichen Lebenskraft in uns, so gut wie unsere gepriesenen engelgleichen Möglichkeiten, rein und schön zu sein. Wer die Augen vor ihnen schließt und ihnen die Anerkenntnis ihrer mächtigen Allgegenwart weigert, dem wird sie einmal von ihnen fürchterlich bewiesen; aber wer sie in Scheu verehrt, ohne sie für sich entfesseln zu wollen, mit dem leben sie Wand an Wand als seine Schutzgottheiten. Denn ihre teuflisch bleckende Gewalt ist nur der Nachtaspekt ihres Wesens, wenn wir sie vor unserem Bewußtsein nicht gelten lassen wollen; er ist die treffende Hieroglyphe unseres Unbewußten, in dessen Nacht sie abgedrängt sind, daß wir Grauen und Scham vor ihnen empfinden, anstatt uns zu ihnen zu bekennen. Es gilt die Ganzheit unseres Wesens anzunehmen und zu ehren, aus der wir nichts entfernen können, so wenig einer von seinem Leibe, was er schamhaft an ihm verbirgt, abtun und wegwerfen könnte, ohne davon ein völliges Monstrum zu werden.

Freilich dieser Umgang mit der Ganzheit unseres Wesens, die uns unbewußt zu bleiben droht und dann dämonisch uns verstört, fordert ein reines Herz. Wer diesen Umgang sucht, vom Wirbelstaub der Leidenschaft verwölkt, von bestialischer Dumpfheit getrübt, verfällt den Gewalten, die er beschwor, auf daß sie seinen Begierden dienten. Das ist der Sinn der Höllenfurcht, die aus den Geschichten dämonischer Zauberer spricht: den Doktor Faustus der alten Sage und den Doktor Kenodoxus von Paris (im Jesuitendrama des Barock) holt der Teufel, den sie riefen. Er diente ihnen, bis sie ihm ganz verfallen waren; er weiß im vornhinein: er ist der Stärkere, – wie könnte der Mensch der allgestaltigen Macht, die ihn mit Lockungen und Schrecken versucht, auf die Länge gewachsen sein! Das Unbewußte, das man weckt, um sich seiner zu bewußten Zwecken zu bedienen, anstatt es scheu zu verehren, ist gerade so viel mächtiger als das bewußte Ich, wie der Leib diesem Ich an Macht überlegen ist, – als Leib des Unbewußten – er zwingt das wache Ich, das wirken möchte, sich abzudanken in Schlaf, wann es ihm gefällt.

Indem das »Bardo Tödol« die gewollte Verschmelzung des Adepten mit den teuflischen Ausgeburten seiner eigenen Tiefe zur Rettung vor ihnen und der Flucht in drohende Wiedergeburt fordert, heißt es ihn, in die eigene Hölle fahren. Der Weg zu vollkommenerer Sphäre geht, wie bei Dante, nur durch sie. Diese schauerliche Niederfahrt in die eigene Schicksalstiefe liegt Ödipus im Sinn, wenn er nach jenem fluchbeladenen schicksalsvollen Kinde forscht, das sein Vater frühestem Tode weihte, – das er selbst war, ohne es zu wissen: da will er ganz werden und wird es auch; das ist sein vorbildlich tragischer Gang. Ihn ahnt, daß er auch noch ein Anderes ist, als der Retter Thebens, Held und König, Gemahl dieser Frau und Vater dieser Kinder. Er fühlt ein Anderes, das all dies auslöscht, ein Fürchterliches in sich, aber wie es beschaffen ist und heißen müßte, bleibt ihm ungreifbar, – wie sollte er's erinnern, da er sich selber unbewußt den Vater erschlug, die Mutter zur Frau nahm, diese Kinder in ihr zeugte. »Das Ganze vollendet sich nun!« – das ist sein ungeheurer Laut, als er sein eigenes Dunkel aufgegraben hat, das als Sphinx tödlich bleiern über ihm und seinem Reiche hing, nicht zu bannen, wie er vormals die andere Sphinx bezwang, die dunkle Schuld des Vaters, die Laios nicht bannen konnte. Nun ist er ganz geworden, ist das Eine und das Andere: Heilbringer und unheilbringender Verbrecher, sein Lichtes und sein Dunkles fließen mächtig in eins. Nun braucht er keine Augen mehr wie andere Menschen, – Augen, die gegeben sind, immer Eines vom Anderen zu sondern und zwischen Mehrerem einen Weg zu weisen; in seiner Ganzheit ist Eines das Andere, der Rettende ist das Opfer, seine Größe ist sein Fluch, seine Unschuld seine Schuld. Da wirft er seine Augen weg, – er könnte wie der rasend gewordene Ajas, sein tragischer Bruder bei Sophokles rufen, der den selbstgewählten Tod grüßt mit dem Laut, »Dunkel: du mein Licht!«

Ein Gleiches meint die christliche Gebärde: Jesu Ablehnung der Pharisäer, seine Hinwendung zu den sozial und moralisch Bemakelten, sein Hinweis auf das Kind als Vorbild, nicht weil es rein und unschuldig ist, aber noch unbefangen aus seiner Ganzheit lebt. Er zwingt die Jünger, stehen zu bleiben am Hundeaas, seinem Gestank standzuhalten und sein Schönes, die weißen Zähne, inmitten seiner Fäulnis zu sehen, es als einen Bestandteil des Schönen der Welt zu sehen, anstatt es als Ekel zu verwerfen mit dem Gewimmel seiner Fliegen und Verwesung. Das ist die Gebärde Sankt Julians, die Flaubert der Legende nacherzählt: der Fährmann bettet den aussätzigen Wanderer an seine Brust: da ist der ansteckende Abscheu der begnadende Heiland. Indem einer verschlingt, was ihm das Widerwärtige ist, und sich von ihm verschlingen läßt, kann er in den Besitz einer Ganzheit gelangen, in der das Widerwärtigste samt Allem, wovor man floh, wonach man langte, sich auflöst. Diese Gegensätze alle bedürfen einander und verlangen danach, aneinander in der Ganzheit, die sie bilden wollen, zu verschwinden. Dieses Untertauchen im Anderen, vor dem einer immer Abscheu empfand und das er doch als ihm zu eigen annehmen muß, ist wie das Bad der Sträflinge im Zuchthaus, in das ihr Schmutz zusammenkam, auf daß nach ihnen Oscar Wilde, »the king of life«, seinen Leib darein tauche und das Werk seines Lebens, das er als eigentlichen Gegenstand seines Künstlertums empfand, aus Gegensätzen zur Ganzheit brächte. Als gleichnishafter Ritus für diese Aufgabe, ganz zu werden, ließe sich eine Messe denken, deren Kelch nicht mit dem Blute Gottes gefüllt wäre, mit dem Lebenssafte des Lammes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt, aber mit allen Lästerungen des Heiligen und Reinen, allem Unflat des Priesters und der Gemeinde, – und indem der Priester all dies Uneingestandene, offenbar Gewordene als ungeheuerlichen Trank sich selbst und der Gemeinde darbringt, geschähe das Wunder der Wandlung: aus dem Grauenvollen, Unsäglichen würde das Lauterste, der Trank der Götter, der entsühnt und ein gottgleiches Dasein schenkt. Solch ein Dasein meint das »Bardo Tödol« mit der verborgenen Buddhaschaft des Adepten, die im Durchgang durch die eigene Höllenwelt sich offenbart: eine übergegensätzliche Ganzheit, unanfechtbar von Widersprüchen und Abgespaltenem. Dieses Durchdringen zur Herrlichkeit des Ganzseins ist in vielen Legenden der Werdenden Buddhas (Bodhisattva) dargestellt, die alle Opfer und Schrecken auf sich nehmen, weil sie begreifen, daß ihr Ich, das aufgelöst sein will, sich mindestens so sehr durch Abwehren und Abspalten aller Dinge, die ihm widerstreben, täglich neu kristallisiert, wie durch Gebärden des Zugriffs und umklammernden Bewahrens. Der Erleuchtete (buddha) aber ist »ohne Brache, ohne Ödland« in sich (a-khila) und darum »ganz« (a-khila meint auch »restlos« oder »ganz«), er hat kein Ich als Fruchtland ausgegrenzt aus der Ganzheit seines und alles Wesens und es wohl verwahrt gegen was ringsum in ihm als Wüste liegt, unbeachtet und drohend: so kann ihn kein Schrecken aus der eigenen Wüste mehr anspringen, kein Tier oder Dämon aus dem Dschungel des ihm unbewußten Teiles seiner Ganzheit sich erheben.

Alle Götter und Gewalten in uns, – da schwillt der Leib zum Kosmos, aber auch der Ernst, die Drohung dieser Situation, wenn wir ihren Ernst nicht würdigen, wird offenbar. Von diesem Göttlichen in uns gilt nicht, wie sonst wohl einer fragend von einem Gott gehöhnt hat, er schliefe wohl oder sei verreist; – wenn es zu schlafen scheint oder fern zu sein, dann ist es schon erzürnt, weil wir die Beziehung zu ihm verloren haben und es nicht zu halten vermochten. Dann sind wir schon nicht mehr im Stande seiner Gnade: es ist schon auf dem Wege, sich in einen gefährlichen Teufel zu verkehren, der sich bösartig gegen uns gebaren muß, wie alle Dummheit und Verzweiflung. Jeder hat das Göttliche in der Gestalt, in der er es verdient, die er in sich selber aufzunähren und zu halten vermag in täglicher Hingabe. Wir nähren den Gott in uns mit unseres Herzens Blut, wie auf Bildwerken der Azteken der Priester das Blut aus seiner Zunge dem Gotte darbringt. Novalis notierte sich, »jedes Wort ist eine Beschwörung; ein welcher Geist ruft, ein solcher erscheint«. Der aufgeklärte Gottesleugner, für den es alles das nicht gibt, hat nichts Göttliches mehr in seinem Herzen, – das ist seine Gnadenlosigkeit. Dafür plagen ihn die Teufel seines Hirns: »Zufall« oder »Macht der Verhältnisse« und »Unausweichlichkeit der Kausalität« oder »Schuld der Anderen« – denn außer sich muß er alle Dämonie suchen, die er in sich nicht finden und auflösen will. »Wo keine Götter sind, da sind« – nach einem Wort Novalis' »– Gespenster«. Sie entziehen sich, als rechte Gespenster, jedem wirklichen Zugriff mit ihrer Fähigkeit, in immer anderer, unerwarteter Gestalt zu geistern; wer ihre Dämonie nicht in sich selbst beschwören und in das Höhere, das sich in ihr verlarvt, verwandeln kann, lebt ohnmächtig in ihrer Sklaverei, – er ist sein eigener, böser und dummer Teufel.

Der Tantra-yoga lehrt, wie man in Achtung und Verehrung immer auf gutem Fuße mit dem Unbewußten bleibt; es wird zum Ausgleich heraufgerufen, ja Kern des tantrischen Yoga ist, sich immer wieder ganz in ihm zu ertränken. In der zum Steigen heraufbeschworenen dunklen Flut verschmilzt das bewußte Ich mit der glitzernden Welle, die sie als Gottesgestalt aufwirft. So lebt der Adept weiter, immer wieder unbeschwert, unabgespalten von seiner Tiefe, in voller Kommunikation mit ihr. »Wie alle strömenden Flüsse« nach einem Wort der Upanischad »im Meer zur Ruhe eingehen, Namen und Gestalt verlierend, so gelangt der Wissende, von Namen und Gestalt befreit, zum göttlichen Wesen, das höher als das höchste ist«, – so kehrt der Yogin mit täglicher Einschmelzung seines sich greifbaren Teils mit Gestalt und Namen, mit vorstellendem und denkend-benennenden Bewußtsein, in seine göttliche Gegenseite heim. Daraus zieht er die Kraft, Allem gewachsen zu sein.

III

Es ist schon öfter versucht worden, die indischen Yogalehren in unserer Sprache wiederzugeben und an solche Nachzeichnungen ihrer Umrisse hat sich allerlei Deutung gehängt, aber es wurde dabei nicht völlig klar, auf welche Art oder Sphäre von Wirklichkeit sich Yogaerfahrungen beziehen. Erst die neuere Psychologie des Unbewußten ist in die Sphäre vorgedrungen, in der Yogaerfahrungen zu Hause sind. Neben ihr stehen erhellend die Versuche eines Einsamen, die über den Kreis psychopathologischer Fachwissenschaft hinaus wenig bekannt geworden sind. Im Jahre 1912 veröffentlichte der kgl. Hochschulprofessor für Experimentalchemie am Lyzeum zu Freising in Bayern, Dr. Ludwig Staudenmaier ein erstaunliches Buch, Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft. Er war sich der Bedenken, die seine Ergebnisse im Kreise strenger Wissenschaft, dem er selbst angehörte und für den er sein Buch bestimmte, finden würden, wohl bewußt; darum unterbreitete er eine erste Ausarbeitung 1910 dem Urteil einer Autorität positivistischer Forschung, dem Chemiker Wilhelm Ostwald, dessen »umfassende wissenschaftliche Kenntnisse auf den einschlägigen Grenzgebieten genügend Garantie bieten mußten«, ob Staudenmaier »den Schritt der Veröffentlichung wagen dürfe«. Als Antwort nahm Ostwald seine Abhandlung in die Annalen der Naturphilosophie auf, sie steht im Jahrgang 1910 dieser führenden wissenschaftlichen Zeitschrift. – Die Psychiatrie wertet Staudenmaiers Buch wohl nur als die bemerkenswerte Selbstschilderung eines schizophren Erkrankten.

Staudenmaiers äußerer Lebensgang ist eher farblos und ereignisarm, desto bemerkenswerter ist, was ihm innerlich widerfuhr. Dies Widerspiel von Außen und Innen entspricht recht den Proportionen im asketischen Lebensgange eines Yogin oder Heiligen. Im Vorwort seines Buchs erzählt er von sich selbst, er habe 1884 ein bayerisches humanistisches Gymnasium absolviert, danach vier Jahre lang ein Lyzeum besucht, eine »Spezialhochschule für das philosophische und katholisch-theologische Studium« die Theologiestudenten die akademische Bildung vermittelt, die aus irgendwelchen Gründen eine Universität nicht besuchen wollen. Hier trieb er ein Jahr Philosophie und drei Jahre Theologie. Aber nach einem Jahr praktischen Dienstes wendet Staudenmaier sich von der Theologie und dem geistlichen Berufe ab; und beginnt ein neues Studium, das ihm einen anderen Beruf erschließen sollte. Er ging nach München und trieb »ausschließlich Naturwissenschaften, namentlich Zoologie, später Chemie«. Er berichtet weiter, »nach Ablegung der beiden naturwissenschaftlichen Staatsexamina für beschreibende Naturwissenschaften und Chemie, sowie des chemischen Doktorexamens an der Universität München, war ich anderthalb Jahre Assistent an einem dortigen naturwissenschaftlichen Universitätsinstitut, bis ich im Jahre 1896 zum Professor der Experimentalchemie am kgl. Lyzeum in Freising ernannt wurde, an welchem ich seit bald 16 Jahren tätig bin«.

So führte sein Weg aus der Stille eines klerikalen Lyzeums über angespannte knappe Studien- und Assistentenjahre wieder in die Stille eines Lyzeums zurück. Er war eine junggesellige Natur, saß hinter seinen chemischen Experimenten wie »ein alter Student« und lebte auch so, anspruchslos und ohne sich als Professor zu zelebrieren. Der illusionäre Glanz einer gelehrten Laufbahn mit dem Theater der Berufungen, Fakultätsbeherrschung und Institutsregiment lagen ihm fern auf seinem toten Gleis in Freising, wie sie seinem Bewußtsein fern lagen. Eros und Kratos, die beiden Gebärden der Schakti, die die Welt bewegen, Liebe und Machtwille oder Geltungstrieb haben sein äußeres, sein bewußtes Leben nicht besessen.

Was ihn zur Begründung der »Magie als experimenteller Naturwissenschaft« brachte, war was man einen Zufall nennt. Ein Bekannter befragte ihn über den Charakter jener phosphoreszierenden Gestaltserscheinungen, wie sie in spiritistischen Sitzungen bemerkt werden, »ob sie sich nicht zum Teil physikalisch oder chemisch erklären ließen«. Derselbe Bekannte regte den skeptischen Professor an, Schreibversuche zu machen, wie sie unter Spiritisten üblich sind, – Versuche, bei denen man die Hand mit dem Stift lose über ein Blatt Papier hält und mit ausgehängtem Willen zuwartet, was an Schrift und Zeichen entstehen wird. Nach anfänglichen Hemmungen und ergebnislosen Versuchen und wiederholter Ermunterung von seiten des Bekannten, fortzufahren, kam bei Staudenmaier der erwartete Prozeß in Gang: zunächst beschrieb der Stift die »sonderbarsten Windungen und Schnörkel«, bald aber fing er an, Schrift zu schreiben und antwortete mit ihr auf innerlich gestellte Fragen. Es war, als spräche bald dieser, bald jener Geist durch diese Schrift, die immer leichter floß. Staudenmaier bezweifelte, ob es sich wirklich um einen Geist handele, da er »auch bei den Antworten selber mitdenken mußte«. Er bemerkt dazu, »im übrigen hatte ich ganz unbedingt den Eindruck, als ob ein mir völlig fremdes Wesen dabei im Spiel war. Aus dem Vorherwissen dessen, was geschrieben wurde, entwickelte sich mit der Zeit ein ›inneres‹ Vorherhören desselben.« Damit schieden Stift und Papier aus dem Umgang mit den inneren Stimmen aus, nachdem sie noch für eine Zeit des Übergangs als anregende Requisiten zur Einleitung des Prozesses zuhand gewesen waren. »Ich war, wie die Spiritisten sich ausdrücken, zu einem ›hörenden Medium‹ geworden.« Die Zahl der Stimmen, die sich meldeten, war unergründlich, sie meldeten sich »schließlich zu oft und ohne genügenden Grund, auch gegen meinen Willen«, – sie waren »vielfach böswillig, raffiniert, spöttisch, zänkisch, ärgerlich usw. Es ging dann tagelang ganz gegen meinen Willen ein unerträgliches und widerliches Streiten fort. Vielfach erwiesen sich auch die Angaben der sich meldenden Wesen direkt als erlogen.«

Zu diesen »akustischen Halluzinationen, wie sie der Psychiater nennen würde, traten auch andere, namentlich optische auf. Im ganzen Auftreten und Handeln der sich meldenden Wesen war zweifellos ein gewisses Maß von selbständiger Intelligenz vorhanden, anderseits war ihr Benehmen so sonderbar, so einseitig befangen, ihre ganze Gesinnung gegen mich häufig so vollständig von meiner mir fühlbaren Nervenstimmung abhängig, daß offenbar der größte Teil der Ursachen der magischen Phänomene in mir selber liegen mußte. Nach naiv-mittelalterlichen Begriffen war ich besessen. Allmählich hoben sich einzelne Halluzinationen immer bestimmter heraus und kehrten öfters wieder, schließlich bildeten sich förmliche Personifikationen, indem die wichtigeren Gesichtsbilder mit den entsprechenden Gehörvorstellungen in regelmäßige Verbindung traten, so daß die auftretenden Gestalten mit mir zu sprechen begannen, mir Ratschläge erteilten, meine Handlungen kritisierten usw.«

Es spalten sich in Staudenmaier mehrere Wesen ab, die ein eigenwilliges Dasein bekunden. Besonders bemerkbar machen sich zunächst drei, denen er ihrer Eigenart und Erscheinung entsprechend die Namen »Hoheit«, das »Kind« und der »Rundkopf« gibt. Es lohnt sich, diese Gestalten so genau nachzuzeichnen wie die Erfahrungen einer Yogaübung, zumal Staudenmaiers Buch nur wenigen zuhand sein kann. »Bei Besichtigung von militärischen Übungen« ergab sich für Staudenmaier die Gelegenheit, »eine fürstliche Persönlichkeit aus unmittelbarer Nähe wiederholt zu sehen und sprechen zu hören. – Einige Zeit später hatte ich einmal ganz deutlich die Halluzination, als ob ich dieselbe wieder sprechen hörte«. Diese Halluzination entwickelt sich zum Gefühl der Nähe dieser Persönlichkeit ... »die Personifikationen anderweitiger fürstlicher oder regierender Persönlichkeiten traten in analoger Weise auf«, – die Gestalt verlarvt sich in die Figur des Deutschen Kaisers, dann wieder Napoleons; – »allmählich beschlich mich dabei gleichzeitig ein eigentümliches erhebendes Gefühl, Herrscher und Gebieter eines großen Volkes zu sein, es hob und erweiterte sich deutlich meine Brust fast ohne Mitwirkung meinerseits, meine ganze Körperhaltung wurde auffallend stramm und militärisch, – ein Beweis, daß die betreffende Personifikation alsdann einen bedeutenden Einfluß auf mich erlangte ... Aus der Summe der auftretenden hoheitlichen Personifikationen entwickelte sich allmählich der Begriff ›Hoheit‹. Hoheit interessiert sich sehr für militärische Schauspiele, vornehmes Leben, vornehmes Auftreten, für Ordnung und Eleganz in meiner Wohnung, für noble Kleidung, gute, aufrechte, militärische Körperhaltung, für Turnen, Jagd und sonstigen Sport und sucht dementsprechend meine Lebensweise zu beeinflussen, beratend, mahnend, gebietend, drohend. Sie ist dagegen ein Feind von Kindern, von niedlichen Dingen, Scherz und Heiterkeit, ... ist namentlich ein Feind von Witzblättern mit karikaturhaften Abbildungen, ... außerdem bin ich ihr körperlich etwas zu klein«.

Diese ideale Karikatur eines Landesfürsten um 1900 aus der totalen Ironie und Unbestechlichkeit des Unbewußten gegenüber der ganzen sozialen Sphäre »sucht alle meine Handlungen und Pläne in hoheitlichem Sinne zu beeinflussen und auszulegen, meine ganze Lebensweise und Denkart vornehm zu gestalten. Und wenn sie wirklich nicht Deutscher Kaiser sein und sich als solcher im Ernste fühlen kann, so will sie wenigstens oft an ihn denken und mich zum Gleichen veranlassen, und wenn ich zur Wirklichkeit zurückkehre, soll ich mich wenigstens richtig als Professor fühlen, mich meiner errungenen Stellung freuen, standesgemäß leben, essen und trinken und nicht wie ein alter Student immer weiter grübeln und studieren, um vor lauter Studium den Lebensgenuß gänzlich zu versäumen«.

»Eine weit wichtigere Rolle spielt die Personifikation ›Kind‹: ›ich bin ein Kind. Du bist der Papa. Du mußt mit mir spielen‹. Kindergedichte werden daher gesumst, ... wunderbar zarte Kindlichkeit und kindlich-naives Benehmen, wie es selbst das echteste Kind nicht so ergreifend und rührend darbieten könnte ... Beim Spaziergang in die Stadt soll ich an Schaufenstern mit Kinderspielzeug stehen bleiben, dasselbe eingehend besichtigen, mir kaufen, soll Kindern beim Spiel zusehen, mich nach Kinderart auf dem Boden herumbalgen, – also durchaus unhoheitlich benehmen. Wenn ich auf Betreiben des ›Kindes‹ oder ›der Kinder‹ (zuweilen tritt Spaltung in mehrere verwandte Personifikationen ein) gelegentlich in München in einem Kaufhaus in der Kinderspielwarenabteilung Umschau halte, ist diese Personifikation ganz außer sich vor Wonne, und entzückt erfolgt oft mit kindlicher Stimme der Ausruf: ›Ach wie schön, das ist der Himmel!‹ Für später wird die Einrichtung eines Kindszimmers gewünscht.«

Die Personifikation »Rundkopf« bezog ihren Namen und ihren visuellen Teil von einem eher läppischen Gegenstand, einem kleinen Gummiball, der das fidele Gesicht eines Bierstudenten trug, und wenn man ihn drückte, streckte er die Zunge heraus. Ein Hausierer hatte ihn Staudenmaiers Mutter in einem Biergarten aufgedrängt, »sie brachte ihn mit nach Hause und wir spielten gelegentlich mit ihm. Einige Jahre später schien dieser Kopf, aber jetzt von menschlicher Größe, in meiner Nähe zu sein, während gleichzeitig eine der Figur entsprechende innere Stimme zu mir sagte, ›heute bin ich gut aufgelegt. Sei doch nicht so langweilig. Denke an mich. Ich kann auch etwas. Mich freuen lustige Sachen‹ – es folgten verschiedene scherzhafte Bemerkungen sowie Kunststücke. Er stellte mit einem Male die Haare steif in die Höhe, schnitt Grimassen, streckte die Zunge ähnlich wie der Gummiball heraus usw. – Dieser Rundkopf dringt darauf, die Münchener Fliegenden Blätter, überhaupt Witzblätter zu lesen und die betreffenden Abbildungen eingehend zu betrachten, in unterhaltende Gesellschaft zu gehen, gemütlich Bier zu trinken usw. ... Bald aber vernahm ich anderweitige innere Stimmen, welche sich ärgerlich über das ›plumpe, geschmacklose und bäuerliche Gebaren‹ dieser Personifikation äußerten und dieselbe schnell aus dem Geleise brachten, so daß sich ihre heiteren Züge verzerrten und der Scherz vorüber war. Innerlich hörte ich dann noch sagen, ›so sollte man einen nicht behandeln. Ich habe euch aufheitern wollen‹. – Später nahm ich am ›Rundkopf‹ allerdings auch schlimme, zum Teil sogar sehr schlimme Eigenschaften wahr. Nach gewissen Richtungen hin schien er vollkommen verwahrlost zu sein und arge moralische Defekte zu besitzen. Dann vergaß ich denselben wieder längere Zeit, bis mir eines Tages auffiel, daß in mir eine fremde Macht bestrebt war, die Zunge seitlich hin und her zu bewegen oder auch vorzustrecken. Es stellte sich heraus, daß der ›Rundkopf‹ Übungen machte, ›seine‹ Zunge größer und gelenkiger und allseitig beweglicher zu machen, als es beim Gummiball der Fall war. Obwohl ich die Zunge als die meinige in Anspruch nahm, versuchte er seit dieser Zeit noch öfters Übungen mit derselben auszuführen ... Inzwischen hatte übrigens der Rundkopf einmal wirklich Gutes gestiftet. Als ich nämlich in sehr aufgeregter und ärgerlicher Stimmung über andere Personifikationen nachts im Bette lag, tauchte im größten Ärger, durch ihn veranlaßt, mit einem Male in schwarzer Zeichnung die optische Halluzination eines Gockels auf, der einen Ölzweig des Friedens im Schnabel hielt und unmittelbar darauf ein Ei legte. Ich mußte lachen, und die ganze Situation war jetzt vollständig verändert«, – augenscheinlich erinnerte hier Staudenmaier unbewußt einen der derben schwarzweißen Holzschnitte aus Kortums »Jobsiade«: Hieronymus Jobs, der »vollkommen verwahrloste« Bummelstudent bereichert als Dorfschulmeister die Fibel um das Bild eines Gockels samt Ei im Nest und erregt durch diese paradoxe Zusammenstellung Kopfschütteln im Dorfe.

Eigentlich war es Staudenmaiers ungelebtes Leben, das da in Gestalt dieser Personifikationen aus ihm aufstieg, es waren die natürlichen Gehalte, die nie verwirklichten, ja unbewußt gebliebenen Möglichkeiten eines Manneslebens überhaupt, die sich hier eine verspätete, eigenwillige Form innerer Wirklichkeit erzwangen, nachdem der äußere Lebensgang sie nicht zu Worte hatte kommen lassen. Imposanz und respektheischende Geste, das Jupiterhafte des Hausherrn und Familienhauptes, des geehrten Bonzen und Institutsgewaltigen, – das war ihm nie aufgekommen, hatte sich nie in ihm ausgelebt in seiner junggesellig schmalen Existenz klerikaler Vergangenheit und klerikaler Umgebung in diesem Kleinstadtlyzeum, dieser schlichteren Lehr- und Lernzelle am Leibe einer großen Hierarchie, in diesem abgedämpften, auf Einordnung und Selbstbescheidung gestellten Bezirk fernab der großen Welt. Aber er war doch in ihm, dieser Zug zu Repräsentanz und hoheitlicher Allüre, den er zeitlebens nicht an sich bemerkt hatte, wie Alles in uns allen ist als Möglichkeit.

Er war in ihm, wie die Anlage zur Vaterschaft in jedem Manne ist, die sich auch nicht an ihm entfaltet hatte und nun in jenem inneren »Kind« die Stimme führte. Als er sich einmal eine winzige Puppe kaufte, als Objekt der Fixierung zu optisch-halluzinatorischen Versuchen, rief das »Kind« begeistert aus, »das ist der Anfang vom Kindszimmer. Schließlich mußt du auch wirkliche Kinder zum Muster nehmen ...« – und schon war es nicht mehr ein einziges Kind, es war ein Chor der Ungeborenen, der aus ihm sprach, – »dann wollen wir dir zeigen, was wir sind und was wir können«, – da sprachen alle Kinder und Enkel aus ihm, die zu haben und zu lieben seine Möglichkeit gewesen wäre, wie jedes Mannes in Tier- und Menschenwelt; – aber er war sich dieser Möglichkeit nie bewußt geworden, er hatte an ihr vorübergelebt. Mit verheißendem Jubel riefen diese »Kinder« – eine lächerliche kleine Puppe genügte, sie zu wecken, zu begeistern, – sie riefen wie jener Chor der Ungeborenen im Märchen der »Frau ohne Schatten« (Hofmannsthal)

»wäre denn je ein Fest,
wären nicht insgeheim,
wir die Geladenen,
wir auch die Wirte«

– er aber hatte dieses Fest des Lebens nie gefeiert, die Gäste nie geladen und ward nie von ihnen bewirtet.

Die banale Fröhlichkeit, die feierabends entspannt, die Möglichkeit gemütlich zu verwahrlosen wie der Kandidat Jobs in Trunk und etwas Hurerei, der fidele Bierstudent voll Ulk und Albernheit und plattem Behagen an sich selbst, der niemals in ihm aufgekommen war, nicht in der Sphäre klerikaler Erziehung, nicht in der Anspannung des daraufgesetzten Studiums zweier Naturwissenschaften, – das alles hob seinen Rundkopf aus der Tiefe des Unbewußten, in der zu schlummern es verurteilt worden war, – zu schlummern wie jene Ungeborenen im Teiche, aus dem der Storch die kleinen Kinder holt, die leben sollen.

Aber noch mehr drängte nach oben als nur die ungelebten Möglichkeiten der Staudenmaierschen Person, – die Hölle selbst und ihr himmlischer Widerpart, die friedvollen und die dräuenden Gewalten des »Bardo Tödol« in den Varianten des christlichen Unbewußtseins. Da war eine Gestalt in ihm, die Staudenmaier als Gott-Vater erkannte, »eine Personifikation des Göttlichen und Erhabenen, darstellend einen ehrwürdigen Greis mit voller kräftiger Stimme und wallendem Barte, welcher ein natürlicher Gegner der diabolischen Personifikationen ist und mich für Tugend und hohe Ziele zu begeistern sucht«. Dazu zwei »meist gehörnt auftretende Personifikationen«, die »eine große Rolle spielen, – ›Bockfuß‹ und ›Pferdefuß‹ gegen welche ich sehr vorsichtig sein muß, da sie sich immer wieder, namentlich, wenn ich mich zu sehr überanstrenge, in gefährlicher Weise zu entwickeln drohen«. – Aber der Teufel begegnete ihm auch sonst als Ausgeburt des eigenen Innern, »manchmal schienen alle Teufel los zu sein. Teufelfratzen sah ich wiederholt mit voller Klarheit und Schärfe. Einmal hatte ich, als ich im Bette lag, ganz deutlich das Gefühl, daß mir jemand eine Kette um den Hals schlinge. Gleich darauf nahm ich einen sehr üblen Schwefelwasserstoffgeruch wahr und eine unheimliche innere Stimme sagte zu mir: ›Jetzt bist du mein Gefangener. Ich werde dich nicht mehr loslassen. Ich bin der Teufel‹.«

So erfuhr er am eigenen Leibe, was dem hl. Antonius und anderen Büßern dämonisch begegnete, was die Welt des Tantra-yoga wimmelnd erfüllt und den Gegenstand seiner Kunst im Lamaismus bildet. Auch die Versucherin, das Phantom Helenas – nach Mephistos Wort »in jedem Weibe« – fehlte dabei nicht: »unter den optischen Halluzinationen ist die bemerkenswerteste: einmal hatte ich einige Tage den Besuch einer hübschen jungen Dame. Dieselbe machte einen gewissen Eindruck auf mich, der jedoch schnell wieder verschwand, nachdem sie fort war. Ein paar Tage später lag ich nachts in meinem Bette, auf die linke Körperseite geneigt, und dabei gelegentlich mit den inneren, sich meldenden Stimmen redend. Als ich mich jetzt auf die andere Seite drehte, sah ich zu meiner größten Überraschung rechts neben mir den Kopf des betreffenden Mädchens aus dem Bett herausragen, wie wenn es neben mir liegen würde. Er war magisch verklärt, von entzückender Schönheit, ätherisch durchsichtig und in dem fast dunklen Zimmer – auf der Straße brannte in einiger Entfernung eine elektrische Bogenlampe – sanft leuchtend. Im ersten Moment war ich über das Wunderbare völlig verblüfft, im nächsten aber war mir bereits klar, um was es sich handele, um so mehr, als mir gleichzeitig eine rauhe, unheimliche Stimme innerlich spöttisch zuflüsterte. Ich wandte mich daher entrüstet und ohne mich um das Phantom zu kümmern, mit einem kräftigen Schimpfwort wieder auf die linke Seite. Später sagte mir eine freundliche Stimme: ›das Fräulein ist schon wieder fort‹. Ich sah nach und als nichts mehr vorhanden war, schlief ich ein. Daß ich damals völlig wach war, kann ich auf das bestimmteste versichern, ebenso, daß ich vorher nicht an die betreffende Person gedacht hatte.«

Staudenmaiers resolutes Verhalten in dieser Versuchung würde manchem Heiligen einige Ehre machen; aber wodurch er sie bestand, die junggesellige Trockenheit seiner Natur war es wohl wiederum, die ihn aus der Bahn des Klerikalen, die ihn zur Heiligkeit hätte führen können, zum Professor der Experimentalchemie hatte werden lassen. Es hatte sich in ihm so viel gestaut im Unbewußten, daß er Gesichte hatte wie irgendein Heiliger und Yogin, aber es fehlte innen das Ventil der Glut und Gläubigkeit, durch das der Drang gestauter, mit sich übersättigter Lebenskräfte hätte aufschießen mögen, um durch Andacht und Verehrung verwandelt zu werden in die kristallene Gestalt des Göttlichen. Der Lamaismus kennt diese »junge Dame« auch, die in gleißender Nacktheit den Trank der Lust kredenzt; aber er hat ihre lockende Dämonie gebrochen und sie durch kultische Beachtung umgeformt zur freundlichen »Fee aller Buddhas« (sarva-Buddha-Däkinī). Sie ist die Schutzgottheit der Saskyasekte der rotbemützten Lamas und gehört ins Gefolge der Schakti, wenn sie sich demanten mit einem Eberkopf darstellt (Vajra-vārāhī), als Ausgeburt der demantenen Sphäre überweltlicher Wirklichkeit.

Auch in der Landschaft draußen begegnete Staudenmaier dem Teufel in vielerlei Gestalt: »damit ich mich von meiner Nervosität erhole, hatte mir der Arzt, über meine Experimente lächelnd, geraten, die ganze Magie ›an den Nagel zu hängen‹ und möglichst wenig zu studieren, dafür aber fleißig Spaziergänge zu machen und namentlich auch auf die Jagd zu gehen. In letzterer Beziehung kam ich seinem Wunsche nach.« – Was freute ihn am Jagen mehr als am ziellosen Schlendern? Bezeichnenderweise ging er »allerdings nur auf Raubzeug aus. Auf dieses aber bald in der mir eigenen Art immerhin mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit. Speziell spielte die Jagd auf Elstern und Raben eine Rolle.« Staudenmaier sagt nicht, daß ihm der Sinn seiner kleinen Leidenschaft, gerade Raben und Elstern, dieses »Raubzeug« abzuschießen, klar war, – aber das ist ja eine Tiergestalt des Teufels in christlichen Geschichten und Bildern. Auf Hieronymus Bosch' »Geburt Christi« (Köln) sitzt eine große schwarz-weiße Elster rechts neben dem Elternpaar des göttlichen Kindes; zur Rechten schiebt der Ochs den Kopf zum Bilde herein und der Esel schnuppert in die Krippe, mitten drängt sich das rohe Gesicht eines glückwünschenden Hirten vor, –: da sind sie ja alle vereint, die Darsteller des großen Spiels: die Eltern beide, die dumpfe Natur, der plumpe Hirt vertritt die Welt, die der Geburt des Erlösers zujauchzt wie seinem Einzug in Jerusalem und die ihn dafür kreuzigen wird, daß er gekommen ist, – Gott liegt in der Krippe und der Teufel ist auch dabei, denn ihn geht die Geschichte ja vor allen an. So hockt er als schwarz-weiß gefleckte Elster auf dem Strohdach des Stalles von Bethlehem in Piero della Francescas »Geburt Christi« (London), so innig dabei, aus der Hölle zur Stelle, wie die Engel vom Himmel mit ihrem Lobgesang und Lautenspiel. Auch der Louvre hat eine italienische Geburt Christi mit dem Teufel als Elster im Mauerwerk der Ruine des Stalles von Bethlehem.

Aber der Teufel, der dunkle Aspekt unserer allgewaltigen Schakti, kann sich ja in alles verwandeln; – Staudenmaier erfuhr es: »statt der Elstern sah ich häufig da und dort auf Bäumen und Gesträuchern in schattenhaften, aber ganz deutlichen Umrissen Spottgestalten sitzen, dickbäuchige Kerle mit krummen dünnen Beinen, langen, dicken Nasen«, – wer kennt sie nicht vom Höllenbrueghel her? – »oder langrüsselige Elefanten, die mich anglotzten. Auf dem Boden schienen manchmal Eidechsen, Frösche und Kröten zu wimmeln. Bisweilen waren sie phantastisch groß. Jeder Strauch, jeder Zweig nahm abenteuerliche, mich ärgernde Formen an. Ein andermal schien auf jedem Baum, auf jedem Strauch eine Mädchengestalt zu sitzen, jedes Schilfrohr sich mit einer solchen umgeben zu wollen. Auf den vorüberziehenden Wolken sah ich Mädchengestalten, verführerisch lächelnd oder auch spöttelnd, und wenn der Wind die Zweige bewegte, winkten mir Mädchengestalten zu. Wer die Geschichte der Heiligen der verschiedenen Religionen kennt, weiß, daß dieselben ähnliches gelitten.«

Und wer das »Bardo Tödol« inne hat, weiß, daß Staudenmaier nach diesen Ausgeburten seines zur Hölle gestauten Dranges ihm unbewußter Lebenskräfte, nicht mehr viel Neues begegnen konnte, als er das Zwischenreich betrat und daß er dort keiner Stimme bedurfte, die ihm sagte, »fürchte dich nicht: wisse, das ist Verleiblichung deines eigenen Gemütes«, – Staudenmaier schritt unverschreckt von seinen »Illusionen und Halluzinationen« den Forschungsweg seiner experimentellen Magie.

Die Inder haben vom Unbewußten mehr in Erfahrung gebracht als der Westen bislang, wohl mehr als andere irgendwo, – darin liegt ihr Spezifikum wie das unsere in der beispiellosen Entwicklung der rationalen Naturerfassung und ihrer Ausmünzung zur Vergewaltigung der Schöpfung, zum Triumph des Hirns und seiner Dämonen, – aber Staudenmaier kam auf seinem Wege den Indern nahe. Er störte das Unbewußte auf, daß es mächtig emporquoll, – aber nicht um es zu ehren als sein übermenschlich-ewiges Teil, sondern um es auszuholen und seinen Kindern verächtliche Namen zu geben. Von seinem positivistisch-wissenschaftlichen Denken her nannte er in Kritik am materialistisch-gläubigen Okkultismus »Illusion« und »Halluzination«, was bei Tag und Nacht Gewalt über ihn hatte. Er verwarf als bloßen Schein, was doch ein greifbares Teil seiner eigenen wirklichen Ganzheit war und seine Wirklichkeit voll Eigenwillen bekundete. Daß er Teile seines Selbst, die neben seinem Ich personenhafte Kontur angenommen hatten, nicht höher werten und als Ausgeburten seiner Schakti begreifen konnte, als Aspekte der Lebenskraft, aus deren Tiefe sie aufwuchsen wie sein bewußtes Ich, das vergalt ihm seine Tiefe, verteufelt wie sie war.

Aber die Technik und die spezifische Wirklichkeit von Yogaphänomenen rückte Staudenmaier ins Licht. Mit der Hand fing es an, die ohne sein Zutun schrieb; er bemerkte einen eigentümlichen vermehrten Kraftzustrom, der unwillkürlich den Fingern zuwuchs und die unwillkürliche Handlung wirkte. Ein Gleiches bemerkte er am Auge, wenn er es zu willkürlichen Halluzinationen bestimmter Bilder zwang. Er fand, daß man den Energiestrom, der zum unwillkürlichen Schreiben drängt, willkürlich steigern könne, um mit ihm »motorische Halluzinationen« frei im Raum zu wirken: »wenn mit zunehmender Übung der Energiestrom gegen die Fingerspitzen stärker geworden ist und eine merkbare Energiemenge bereits über die Peripherie derselben hinausgeht, wird man den Bleistift immer weniger durch unmittelbare Berührung als vermittelst der ausströmenden Energie zu halten versuchen, bis man imstande ist, ihn aus größerer oder geringerer Entfernung zu dirigieren und mit ihm zu schreiben.« – Ein anderes Tor, Energie nach außen zu projizieren, fand er im Auge; so kam er zu den »optischen Halluzinationen« –: »es handelt sich zunächst um ein rein halluzinatorisches Kopieren einer optischen Vorlage, wobei man das bei starkem und anhaltenden Fixieren noch einige Zeit nach dem Schließen der Augen andauernde optische ›Nachklingen‹ als Unterstützungsmittel verwendet. Mit der Zeit wird es gelingen, eine Halluzination des betreffenden Gegenstandes bei geschlossenen Augen ganz klar vor sich zu sehen. Hauptsache ist dabei, die ungewohnte, entgegengesetzt verlaufende Erregung im optischen Apparat einzuüben und die Vorstellung wirklich sehen zu lernen, d. h. zur Halluzination auszubilden ... Ist einmal der prinzipielle Fortschritt, nämlich das wirkliche Sehen der optischen Vorstellung erreicht, dann wird es bald leicht, sich ganz in das vorschwebende optische Bild zu vertiefen und dasselbe unter Aufwendung von Muskelenergie zu verstärken. Besonders veranlagte Naturen können dann auch zur Gewinnung noch größerer Energiemengen merkliche Hemmungen der Atmung und Herztätigkeit eintreten lassen, die bekanntlich von den großen spiritistischen Medien, von indischen Yogis usw. vielfach bis zum Extrem getrieben worden sind.«

Hier scheint wirklich das technische Prinzip der Visualisierung von Schaubildern im Yoga und die ihnen eigene Wirklichkeit erfaßt zu sein. Aber auch die zauberische Möglichkeit des Yogin, anderen solche ihm geläufige Schaubilder als leibhaftige Gestalten hin zu projizieren, was in den wunderbaren Berichten von Yogin eine so große Rolle spielt, – »wenn einmal die Halluzination real sichtbar zu werden beginnt, kann man einen verdunkelten Raum aufsuchen und die Augen offen halten ... Will man von dem Bilde eine photographische Aufnahme machen, dann projiziert man dasselbe natürlich möglichst genau auf eine gleichzeitig vorgelegte photographische Platte. – Um etwaigen Einwendungen von vornherein entgegenzutreten, betone ich, daß der Magier das von ihm erzeugte reale optische Bild nicht im gewöhnlichen Sinne sieht, da von demselben im Gegensatz zu den realen Bildern der Außenwelt keine Strahlen in seine Augen gelangen, solche vielmehr von denselben ausgehen. Er nimmt nur die Erregung seines optischen Apparates wahr, er fühlt die Einstellung der Augenmuskulatur auf die betreffende Entfernung, so daß der Effekt für ihn der gleiche ist. Ein fremder Beobachter kann dagegen das Bild unter den gleichen Bedingungen wahrnehmen, unter welchen man ein von einer gewöhnlichen Konvexlinse entworfenes Bild wahrnimmt, d. h. innerhalb des von ihm ausgehenden Strahlenkegels. Allseitig wahrnehmbar wird das Bild (oder auch das Phantom der Spiritisten) erst, wenn es in einem (spiritistischen) Zirkel die Teilnehmer ringsum jeder von seinem Standpunkte aus, in einheitlichem (vom führenden Medium dirigierten) Sinne nach außen projizieren.«

Das Grundprinzip des Hathayoga, die freie und gesteigerte Energie des Körpers, begriffen als pneumatische Kraft im ganzen Organismus, durch Muskelkontraktion, Stauung und Leitung beliebig verwandeln zu können in Halluzinationen aller Art, vornehmlich optische und akustische, aber auch in die Motorik des Kundalinīyoga, hat Staudenmaier aus den eigenen Versuchen abgeleitet: »bei magischen Versuchen handelt es sich vielfach darum auf den verschiedenen Nervenbahnen die spezifische Energie des jeweiligen Systems in entgegengesetzter Richtung zu treiben als dem normalen Betriebe entspricht. Beim Sehen, Hören, Riechen, Fühlen usw. gelangt die spezifische Erregung von den peripheren Organen, von Auge, Ohr usw. zentripetal zu den obersten Zentren im Gehirn und schließlich zum Bewußtsein. Bei der Erzeugung von optischen, akustischen und sonstigen Halluzinationen muß man die spezifische Energie von den obersten Zentren im Gehirn in umgekehrter Richtung nach der Peripherie, also zentrifugal befördern lernen. Es handelt sich häufig darum, die betreffende Energieform über den Körper hinauszutreiben, z. B. motorische Energie über die Fingerspitzen, die Hände usw. während beim normalen Betriebe Energie in merklichen Mengen den Körper nicht verläßt. Man muß nach dem Gesetze der Umwandlung der Nervenenergie« – das ist ja der Prāna des Yoga, der in der Suschumnā, der Ader des Rückgrats läuft, – »größere Energiemengen, namentlich solche der Muskeln von einem System in ein anderes übertreiben und dortselbst transformieren lernen. – Bei allen Magiern der Vorzeit spielt das Gesetz der Umwandlung der Nervenenergie eine außerordentlich wichtige Rolle. Mittel der verschiedensten Art, meist unangenehme, wie Hungern, Frieren, Nachtwachen, Anhalten des Atems, anstrengende Körperstellungen, z. B. stundenlanges Knien, selbst körperliche Mißhandlungen werden angewendet, um eben Nervenenergie um jeden Preis zu gewinnen. Wir brauchen aber trotzdem die indischen Yogis, die mohammedanischen Büßer nicht zu bemitleiden, da sie dabei im allgemeinen wohl mehr Lust als Schmerz empfanden, wenn wir auch ihre Methoden vielfach als perverse bezeichnen müssen. Eine wissenschaftliche Magie wird die Nervenenergie von da her zu bekommen suchen, wo sie in größter Menge vorhanden und am bequemsten zu erhalten ist, d. h. von den Muskeln.« – Auch wenn er im technischen Detail der Energiegewinnung ein wenig von den Yogin abrückt und – gut westlich – die Muskeln preist: dieser Chemieprofessor verstand sich auf die leib-seelische Alchymie des Yoga, wie sie von Übungen des »tapas« der Energiespeicherung mittels freiwilliger leiblicher Qual, aufsteigt zu den höheren Formen, wie kein anderer unter uns vor ihm.

Freilich die eigenwilligen Ausgeburten seiner Schakti stauten die flüssig gewordene, verwandlungsgierige Energie seines Mikrokosmos und verwandelten sie zu sich, wie es ihrer Dämonie beliebte. Die Halluzination seines bewußten Ich blieb ihm zwar gehorsam: er konnte in seinem Garten spazieren und vor ihm spazierten drei Gestalten im gleichen Takt, drei Staudenmaier ganz wie er: hielt er an, standen sie schon, hob er den Arm, so hoben sie die ihren: da schnellten vier Arme ideal im Takt, es war eine einzige Gebärde; – aber die Egos im Leibe, die »Personifikationen« trieben mit der Energie des Ganzen finstere Alchymie. Der »Rundkopf« hatte sich Staudenmaiers Zunge bemächtigt, er reklamierte sie als die seine, trieb zusätzliche Energie hinein und wollte sie sich vergrößern, »Bockfuß« und »Pferdefuß« trieben ihre schmutzigen Teufeleien im Dickdarm und Enddarm, sie waren die Dämonen der Verdauungsstörungen, unter denen Staudenmaier jahrzehntelang litt. »So liegen, z. T. nach eigenen Mitteilungen der Personifikationen, die peripheren spezifischen Endnerven für die hoheitlichen und vornehmen Gefühle in der Pylorusgegend, diejenigen für die religiösen und erhabenen in der oberen Dünndarmgegend« – und tiefer dann die teuflischen. Kein Wunder, wenn das Zentrum hoheitlicher Gefühle sich am Magenpförtner manifestierte; es macht das Wesen aller Hoheit aus, daß sie sich erfolgreich weigert, das Leben, wie es auf uns zukommt im Durcheinander seines Erhabenen und Gemeinen, wahllos in sich aufzunehmen und zu verdauen.

So war Staudenmaier im Begriff, die indische Erfahrung »alle Götter an unserem Leibe« an sich selbst zu entdecken, und auch der Sinn ihrer Standorte blitzte dabei auf. Aber was die Reihe der Handauflegungen (nyāsa) und die Kosmologie des Kundalinī-yoga für die innere Erfahrung des Tantrayogin heiligt, ordnet und durch kultische Übung als ausgewogenen Kosmos erhält, war bei Staudenmaier ein greuliches Gegen- und Durcheinander: aus boshaften Kompetenzkonflikten der Kobolde erhob sich die Forderung nach genauer Abgrenzung ihrer Bereiche. Das Wunder der mythischen Tat, das Chaos seiner Leibeswelt voll widerstreitender Kräfte zum Kosmos zu schlichten, zur willigen Zusammenarbeit aller in ihren Provinzen, blieb Staudenmaier versagt. Der Zustand, den er schildert, ist dem indischen Mythos wohlbekannt: die Willkür der ungebändigten Kräfte, das im Weltlauf periodisch einbrechende Chaos, das die Ordnung zerreißt, in der jede Kraft als göttliche Personifikation an ihrem ihr angemessenen Orte bescheiden wirkt. Im Mythos der Veden wie des Hinduismus begibt sich immer wieder die kosmogonische göttliche Tat, diese Ordnung herzustellen gegen die Willkür dämonischer Gewalt, die ihre Kraft, ihre Māyā willkürlich und grenzenlos spielen läßt, alle Fülle an sich reißt und aus sich tobt und damit den Leib der Welt verstört. In solcher weltordnenden Tat schnitt Indra vorzeitlich den Bergen die Flügel ab, mit denen sie frei dahinflogen wie Wolkenbänke, die sich auf den Gipfeln türmen, – das war ein furchtbares Durcheinander, von dem die Erde schüttelte. Aber mit dem Gewicht der flügellosen Berge festigte Indra die schwankende Fläche wie mit Schwersteinen. Er zerschlug den großen Wurm, der auf dem Gebirge lag, die Wolke, die alles Wasser in sich geschluckt hatte und nicht hergeben wollte, mit dem Blitzkeil, da zerbarst die Stauung der allnährenden Lebenskräfte, sie strömten lebenspendend die Bahnen, die Indra ihnen zog: der Kreislauf des Lebens konnte wieder durch den Weltleib strömen, der in völliger Kreislaufstörung zu sterben drohte. Aber solch einen göttlichen Heilbringer, der wie Zeus eine neue Zeit als ihr Herrscher heldisch heraufführt, wie ihn die mythische Geschichte des indischen Weltleibes in Indra und nach ihm in den Avataras Vischnus immer wieder feiert, brachte Staudenmaiers Mikrokosmos nicht hervor, – genug, wenn es ihm gelang, sich gegen die zerreißende Willkür seiner Dämonen zu behaupten.

Staudenmaier ist am 20. August 1933 in Rom gestorben, wo er die letzte Zeit seines Lebens verbrachte, – im Hospital der barmherzigen Brüder auf der Tiberinsel. »Er war«, wie ein Freund von ihm, der in Freising sein Kollege war, berichtet, »einige Wochen vorher dorthin aufgenommen worden, ganz erschöpft und zum Skelett abgemagert. Unter der guten Pflege erholte er sich bald wieder gut; aber als er die Kräfte wieder kommen fühlte, ließ er sich nicht mehr halten und kehrte in seine Wohnung zurück. Dort erlitt er mehrere Ohnmachtsanfälle und mußte deshalb wieder ins Spital zurückverbracht werden und starb dort unter urämischen Erscheinungen. Wahrscheinlich hat er zu Hause wieder angefangen mit seinen Exerzitien. Den Anlaß zu seinem Zusammenbruch hat neben der jahrzehntelang fortgesetzten Überanstrengung bei unregelmäßiger, einseitiger und meist recht mangelhafter Ernährung die Alteration über den Sturz des amerikanischen Dollars gegeben. Er hatte seine Ersparnisse diesmal in dieser Währung angelegt ...« – Staudenmaier schied als ungebrochener Kämpfer gegen die Dämonen aus seinem Mikrokosmos, den sie mit Anarchie bedrohten; die letzte Karte, die er anläßlich seines 66. Geburtstages zweieinhalb Jahre vor seinem Ende an unseren Gewährsmann schrieb, zeugt davon, so wie der Wille seiner letzten Wochen, zu seinen »Exerzitien«, seinen magischen Experimenten zurückzukehren. Am 8. Februar 1931 schrieb er aus Rom an seinen Freund in Freising, »... alle Deine Glückwünsche zu meinen 66. Geburtstag nehme ich höflichst dankend für empfangen an. Fräulein D. habe ich geschrieben, daß man zu diesem Alter nicht mehr gratulieren soll, sondern kondolieren, weil man immer näher dem Grab kommt. Natürlich bitte ich mich dabei gründlichst auszunehmen! – Da jetzt bald mein Geburtstag ran kommt, an welchem Du mir sonst geschrieben hast und ich Deinen Neujahrsbrief noch nicht beantwortet habe, immer in der Hoffnung, möglichst bald mit meinen Experimenten fertig zu werden und dir etwas Besseres schreiben zu können, so muß ich mich jetzt wenigstens mit einer Postkarte beeilen. Ich arbeite auf Leben und Tod weiter, allein es geht furchtbar langsam und zähe. Obwohl alle vier widerspenstigen Zentren teils unter sich, teils von mir in ihren Personifikationen genug Prügel bekommen haben, fallen sie immer wieder in ihren alten Fehler zurück, so daß es wirklich eine Lammsgeduld erfordert, auszuhalten, – diesen Monat sind es eben 30 Jahre, daß ich mit dem Studium des Spiritismus begonnen habe, allein das Übrige hat im 14. Lebensjahr schon im Knabenseminar begonnen.«

Staudenmaier blieb sich in Allem treu bis ans Ende; er lebte in Rom wie ein tibetischer Yogin in seiner Hochgebirgsklause, »... bei uns ist es etwas stile zingaresco« ... »ich bin beinahe ausgezogen, da das Wetter seit gestern hundekalt ist und im ganzen Hause keine Heizung ist. Gestern waren noch als die Sonne schon drauf zu scheinen begonnen hatte, im südlichen Parterre kleine Eiszapfen zu sehen und der Boden war von verspritztem Wasser geeist ... Eine deutsche Familie, die hier wohnt, eine Frau mit zwei jungen Töchtern ist nach drei Monaten schon wieder ausgezogen. Sie hat sich immer gewundert, daß wir es hier so lange aushalten. Sie waren immer krank, bald die eine, bald die andere. Uns beiden hat es bis jetzt nichts gemacht, da ich gegen voriges Jahr große Fortschritte gemacht habe.« Diese Fortschritte beziehen sich augenscheinlich auf seine Alchymie der Leibeskräfte, speziell auf die Umwandlung von Muskelenergie in Körperwärme, die es ermöglicht, äußere Kälte zu kompensieren. Auch in diesem Kunststück war Staudenmaier den Eingeweihten Tibets gewachsen, die in Felshöhlen bei karger Nahrung dem Hochgebirgswinter trotzen, ohne zu erfrieren und, wie Alexandra David-Neel auf ihrem Voyage d'une Parisienne à Lhassa (Paris 1927) beobachten konnte, imstand sind, Tücher, die, in eisiges Wasser der Bäche getaucht, ihnen aufgelegt werden, mit durch Yoga gesteigerter Hitze des eigenen Leibes trocknen, daß ihre Nässe verdampft. Er war in dieser physiologischen Form des Yoga, die »Glut glüht« – die »tapas« (tibetisch »tumo«) d. i. Energie als Glut in sich transformiert und speichert – so gut zu Haus wie im Umgang mit Göttern und Teufeln; – wahrhaftig, wie sein Freund ihn nennt: »ein höchst originaler, vielfach verkannter und doch sehr bedeutender Pfadfinder«.

Wir sind lauter Staudenmaier, – immer in Gefahr einer solchen Kreislaufstörung unseres Mikrokosmos, einer Verkehrung der göttlichen Gestaltsmöglichkeiten unserer Schakti in dämonische, die ein Chaos aus uns machen, aus uns strömen. Staudenmaier riß diese Gefahr so weit, daß er den tibetischen Adepten des Tantra-yoga glich, die sich in der Teufels- und Dämonenwelt des Lamaismus als ihrer wahren Wirklichkeit bewegen. Was ihm unwillkürlich zustieß und dann in Bann schlug, wollen diese an sich vollbringen, in bewußter Abkehr von der naturhaften Haltung, in der die Schakti in Bindung an die äußere Welt sich auf sie projiziert und sie mit lockenden und bösen Farben anglüht. Sie wecken in sich ein schlummerndes Heer von Personifikationen nach den Vorbildern, die das Pantheon des Lamaismus an Heiligen und Fratzen ihnen bereitstellt, ihr Yoga halluziniert sie systematisch nach den kirchlichen Malereien, deren farbig-linearer Stil ganz auf reproduzierende Halluzination gemünzt ist, nähren sie mit der Hingabe ihres Wesens und ziehen sie in sich auf. Sie ringen um ihre Gegenwart, die wie bei Staudenmaier ein Innen und ein Außen dämonisch spielend in sich verschmilzt, und dieses Ringen birgt in sich die ständige Versuchung, von der Übermacht der Personifikationen verschlungen zu werden, in Wahnsinn zu stürzen oder im Bunde mit ihnen sich dämonischer Magier zu wähnen. Das Ziel des gefahrvollen Weges aber ist, sie zu durchschauen als Ausgeburt des eigenen Innern und in durchschaubarer Erkenntnis und überlegener Beschwörung den ganz realen Teufelsspuk des eigenen Wesens, die Dämonie der Schakti zu zerschmelzen in die buddhagleiche Haltung.

Es ist das Wesen der Schakti, überzufließen und sich auszugebären zur Gestaltenfülle: so entfaltet sich der überweltlich ruhende Gott des indischen Mythos mit seiner Schakti zur Māyā der Welt, der Eine, alle Gegensätze in sich aufgehoben beschließend, stülpt sie aus zur Fülle der Gegensätze im Spiel der Welt. So treibt die unbewußte Tiefe spontan alltäglich das Ich aus sich hervor, so treibt der Pflanzenkeim den Blütenkelch aus sich auf, um Samen aus ihm zu stäuben und in ihn zu schlucken zur Frucht. Wer die Dränge nicht aus sich hervorläßt, hat das Welttheater, die ewige Kosmogonie in sich, im eigenen Leibe drin, wie Staudenmaier die Anarchie seiner Teilwesen, und in Halluzinationen bricht sie nach außen. Freilich wer diese Dränge aus sich strahlt und dabei nicht gewahr wird, daß sie, alles Kolorit, alles Gewicht, alle Wirklichkeit der Welt, mit der sie auf uns wirkt, ein von uns selbst Gewirktes ist, wie das Netz, das die Spinne aus sich spinnt und nun sitzt sie darin als in ihrer Welt, – der ist ganz Samsāra: befangen in sich selbst, in seinem dämonischen Innen als einem Außen, das ihn anstrahlt, schreckt und fasziniert, – der lebt seiner eigenen Māyā, befangen von der Befangenheit in seine Schakti.

Weil einer Eitelkeit hat, existieren andere Menschen als Spiegel seines Verhaltens, weil er an Dingen hängt, sind Andere Gegenstand seiner Ausbeutung, seines Neides, sind Rivalen und Gefahr, weil sie nehmen können, woran er hängt. Jede Beziehung, die sie zu ihm haben können, entspringt einer spontanen Affekteinstellung in ihm selbst, durch sie erst erhalten die anderen ihr Kolorit in Zu- und Abneigung, ein eigenes Gewicht und Dasein, das auf ihn wirkt; sonst sind sie eigentlich gar nicht vorhanden, werden nicht wirklich wahrgenommen, berühren ihn nicht. Aus der schattenhaft fahlen Möglichkeit zu existieren, werden sie erst wirklich durch das Maß von Affekt, das als naturhafter Drang auf sie strömt und sich an sie heftet. Wie Odysseus die Schatten des Hades mit Blut tränken muß, daß sie ihre Schemenhaftigkeit so weit verlieren, um als Menschen wie einst zu ihm zu reden, so tränken wir die schattenhaft unwirkliche Welt ringsum mit Blut, daß sie uns etwas besage, – aber es ist unser eigenes Herzblut, unsere Lebenskraft und Schakti, die wir in sie strömen: da ist sie auf einmal voll des Lockenden und Schreckenden, voll schmeichelnden und schneidenden Konturs, glühend und dunkelnd von allen Farben. Sie spiegelt all unsere innersten Möglichkeiten zu agieren und zu reagieren, wir füllen ihre matte Spiegelfläche mit unserem Strahl und nennen was sie spiegelt unsere Welt. Eine Welt an sich gibt es nicht; keine Wissenschaft, solang sie rein ist, vermißt sich zu sagen, was die Welt sei; – vermeint sie es zu können, ist sie schon von Schakti koloriert. Gemessen am weltbildenden Anteil der Schakti am Weltgewebe, das einen jeden befängt, besagen die Bezüge, die der forschende Geist als objektiv darin existierende auffindet, nicht viel, so beachtenswert sie sind. Ein Blitz aus Wolken kann uns zu Asche brennen oder Giftgase und andere Dünstungen der Dämonen unseres Hirns uns wegraffen: die Preisgegebenheit der Kreatur ist Grundmotiv im Spiel des Lebens; aber das Kolorit, mit dem sie auf uns wirkt, wirken wir allein. Weil alle mögliche Dämonie der Welt uns innen ist, ist sie so außen, wie sie uns innen ist. Wir selbst sind die Unendlichkeit in unserer Tiefe, darin liegen Ironie und Hoheit unseres Daseins, – die Drohung seiner Hölle und die Verheißung des Himmels. Daraus schöpft der Adept des Tantra-yoga die Ehrfurcht vor sich selbst, daß Gott und Welt in ihm gelegen ist, und in der Hingabe an das Göttliche die Allmacht über sich selbst.

Das Leben selbst hält jedem die Einweihung in diese Anschauung bereit: was einmal in glühenden Farben leuchtete, Gegenstand des Verlangens und der Liebe, liegt nachmals glanzlos da und wie erkaltete Schlacke. Wie hing einer an Menschen und Dingen einst, sieht sie wieder und begreift sein Ich von einst wie ein fremdes. Dinge und Menschen haben sich kaum gewandelt, es muß ihm wohl selbst geschehen sein, wenn er auch immer wieder enttäuscht, ja erbittert feststellt, wie wenig er sich wandeln kann worin er möchte. Aber er ist doch weitergewandelt auf einem allgemeinsten geheimen Wandlungsgange der Lebensstationen. Das Licht, das er einst über vieles ausgoß, wie ein Kind über sein Spielzeug, daß es darunter vor seinem Auge leuchtete, hat sich mit ihm verwandelt, fällt in andere Richtung, hat einen anderen Schein, – so liegt das Frühere kalt, grau und mißschaffen. Das erlebte der werdende Buddha als Prinz, nachdem ihm die Boten des Todes begegnet waren: Alter, Krankheit, Sterben, dann der Yogin und die Botschaft, ihm sei ein Sohn geboren. Die schönen Frauen seines Harems, die den Heimgekehrten erfreuen wollten mit Lautenspiel und dem Wohllaut ihrer Kehlen, dem Schimmer ihrer Glieder im Tanz, der Woge des Gefühls in alledem, – sie sagten ihm nichts mehr damit, und als sie enttäuscht von seiner Gleichgültigkeit zu wirrem Haufen übereinander in dumpfen Schlaf gesunken waren, dünkten sie ihm ein Haufen Leichen, und dieser Leichenhaufen dünkte ihm das Antlitz der Wirklichkeit. Dieses verwandelte Licht, mit dem er die schönsten Frauen jählings anstrahlte, wies ihm den Weg unter den Baum der Erleuchtung.

Es handelt sich darum, den rechten Umgang mit sich selbst zu finden, mit dem Gotte Nebukadnezars innen, mit sich und mit Gott, das ist ein und dasselbe. Die Betrachtung indischer Observanzen und der Übungen des Tantra-yoga kann uns die Notwendigkeit nahebringen, auf ein Gleiches für uns zu sinnen. Viele dieser Übungen knüpfen an die Visualisierung eines kreisförmigen Diagramms (mandala oder yantra) an. Die Spinne in ihrem Netz ist dem Inder ein Gleichnis für das Göttliche, das die Welt nach Stoff und Gestalt (Substanz und Figur) aus sich hervorbringt. Dieses Göttliche aber – Brahmā ist in uns als unsere Tiefe. Wir sitzen alle im Netze unserer Welt und wirken es mit den Projektionen unserer Schakti als Māyā, die uns befängt. Diese naturhafte Befangenheit zu überwinden, lernt der Yogin ein dem Spinnweb entsprechendes Gebilde in innerer Visualisierung aus sich zu entwickeln und um sich als quellende Mitte zu breiten: eine figurerfüllte Ringzeichnung der Welt (mandala) oder ein zeichenbesetztes Diagramm von Linien, in denen die Welt oder die göttlichen Kräfte dargestellt sind, die sich zum Makrokosmos und Mikrokosmos entfalten. Er entfaltet es aus sich in innerer Schau und hält es fest als seine Wirklichkeit und nimmt es wieder schrittweis in sich zurück. So lernt er Entstehen und Vergehen der Welt als einen Vorgang begreifen, dessen Quell und Mitte er selbst ist. Das lehrt ihn die Freiheit, auch die Welt, wie sie naturhaft aus ihm quillt und ihn befangen hält, mit unbefangenem Auge zu betrachten: als Gebilde der geheimnisvollen Willkür seiner Tiefe, der Dränge und Triebe seiner Dämonie. Er lernt seine Schakti, die sich ausgebiert in stündlicher Kosmogonie, durchschauen und das Spiel ihrer Projektionen als das zu nehmen, was die Welt für Gott ist: – Māyā, die er innerlich durchwaltet, ohne daß sie ihn berührt.


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