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Die indische Weltmutter

I

Die volkstümliche Fabel- und Geschichtensammlung Hitopadescha – »Unterweisung in dem, was frommt« –, eine Variante des berühmten Pantschatantra, die mit ihm in vielen Übersetzungen indische Themen in die Weltliteratur getragen hat, enthält die Geschichte von einem Rajputen, der sich und sein Schwert um den ungemeinen Preis von 400 Goldstücken für den Tag einem Könige zu Dienste bietet. Man behält ihn zur Probe. Täglich bringt er die Hälfte seines Lohns den Gottheiten und Brahmanen dar, ein Viertel schenkt er den Armen, der Rest dient seinem Unterhalt mit Frau und Sohn. Er steht mit dem Schwert in der Hand vorm Tor des Königs und verläßt seinen Platz nur, wenn dieser ihn heimschickt.

Da hört der König in der Neumondnacht eine Frauenstimme klagen und schickt den Krieger, nachzuforschen, was es sei. Wie jener sich furchtlos in die mondlose Schwärze entfernt, beschließt der König, ihm nachzugehen: so wird er unbemerkt zum Zeugen merkwürdiger Begebenheiten. Der Rajput folgt dem Klagelaute und findet vorm Tor der Stadt eine herrliche geschmückte Frau in Tränen. Es ist das Glück des Königs: lange war diese Gottheit wie seine Gemahlin im Schatten seines Arms geborgen, aber jetzt muß sie ihn verlassen, – der Ahnungslose hat durch ein Verfehlen den Zorn der Großen Göttin erregt und muß dafür binnen drei Tagen sterben. Sein Glück weint um sein Ende, das ihm den Herrn raubt. – Kann nichts ihn retten? – es gäbe ein Mittel: wenn der Rajput mit eigener Hand seinem einzigen Sohne das Haupt abschneidet als Opfer für die Göttin, dann wird der König hundert Jahre alt und sein Glück darf bei ihm bleiben.

Der Rajput begibt sich alsbald nach Haus, weckt Frau und Sohn und erzählt ihnen die Begegnung. Der Sohn ist unverzüglich bereit, sein Leben hinzugeben: so entspricht es dem Geiste des Kriegerstandes; die Mutter begreift das Opfer als Preis für die königliche Entlohnung des Gatten. Alle drei eilen zum Tempel der Göttin, »die mit allen Glückszeichen geschmückt ist«, – der Krieger haut zeremoniell seinem Sohne den Kopf ab und bringt ihn der Göttin dar: als Preis dafür, daß sie dem Könige wieder ihre Gunst zuwende. Danach aber schneidet er sich ebenso flink und feierlich den eigenen Kopf ab, – er hat seinem Herrn den fürstlichen Sold vergolten, aber ohne den Sohn weiterzuleben deucht ihm leer und eitel. Die treue Gattin bleibt nicht hinter ihm zurück, sie nimmt sein Schwert auf und schneidet sich auch den Kopf ab. Ein Meer von Blut, das den Enthaupteten entströmt, dampft auf als Opfer vor dem Bild der Göttin. Da greift auch der König, der unbemerkt alles mit angesehen hat, zum Schwert: »Geringe Wesen meinesgleichen werden alle Tage geboren und vergehen, – seinesgleichen aber war nie zuvor und kommt nicht wieder; was soll mir meines Reiches Herrlichkeit ohne ihn?« – damit will er sich auch den Kopf abschneiden, aber die Göttin, zufrieden mit dem blutigen Schauspiel allseitiger hoher Opferbereitschaft, tritt leibhaft vor ihn hin und hemmt seinen Streich. Der König aber will nur am Leben bleiben, wenn sie die Toten, die um ihn starben, wieder ins Leben ruft. Sie verheißt es, und er entfernt sich, damit die wieder ins Leben Gekehrten ihn nicht gewahren.

Die Göttin macht die drei Enthaupteten wieder lebendig, Mutter und Sohn kehren nach Haus, der Krieger aber bezieht wieder seinen Posten unter dem Altan des Königs, als wäre nichts geschehen. Da fragt ihn, eben als wäre nichts geschehen, der König von oben: »Was war es mit jener klagenden Frau?« – aber der Held sagt bloß: »O weiter nichts; als ich sie traf, entschwand sie ins Dunkel.« – Anderntags pries der König öffentlich seine Tat und verlieh ihm die Herrschaft über ein Land.

Diese blutige Geschichte, die sich nächtlich im Tempel der Göttin Kālī abspielt, – mit happy end, weil alle dem blutfrohen Sinn der Göttin in maßlosem Opfersinn gewachsen sind, – ist eine unter vielen. Sie findet sich auch im berühmten Erzählungsschatz Kathāsaritsāgara, im »Meer aus Strömen von Geschichten«, in dem Somadeva alt-urindischer Überlieferung eine letzte Form gab; sie steht dort unter den 25 Geschichten vom Leichendämon, der einen König nächtens unterhält, narrt und prüft, indes der König den Leichnam eines Gehenkten, in dem der Dämon haust, vom Galgen holen soll Vetālageschichten Nr. 4, und nahebei steht eine verwandte Geschichte, bei der man die Version des Schivadāsa hinzunehmen muß, um ihren Gehalt recht in die Hand zu bekommenVetālageschichten Nr. 6. – Schivadāsas Version Die vertauschten Köpfe, deutsch in Meisterwerke oriental. Literaturen, 9. Band, Vetālapantschavimschati, deutsch von H. Uhle, München 1924, p. 47.:

Zwei Freunde wallfahren zu einem heiligen Badeplatz der Kālī und sehen dort ein bildschönes Mädchen. Der eine wird liebeskrank und meint, sterben zu müssen, wenn er das Mädchen nicht zur Frau erhält. Der Freund spricht mit seinem Vater, der mit den Eltern des Mädchens verhandelt und die Ehe zustande bringt. Bald nach der Hochzeit reist das junge Paar mit dem Freunde zu den Eltern der jungen Frau. Unterwegs kommen sie an einen Tempel der Kālī. Der junge Gatte heißt Frau und Freund draußen warten, indes er der Göttin seine Verehrung bezeigt.

Als er drinnen ihr blutig triumphierendes Bild erblickt, wie sie mit achtzehn gewaltigen Armen wütende Dämonen zermalmt und den Lotosfuß auf den überwundenen Stierdämon gestemmt hält, befällt ihn, – so will es das göttliche Schicksal, – die Erleuchtung: »Mit vielen Opfern lebender Wesen verehrt das Volk die Göttin, wie sollte ich nicht ihre Gnade zu meinem Heile gewinnen, wenn ich mich selbst ihr darbringe?« Er fand in der stillen Cella ein Schwert und schnitt sich selber das Haupt ab.

Sein Freund wartete draußen, daß er wieder herauskäme und ging schließlich selber ins Heiligtum, ihn zu holen. Als er ihn mit abgeschlagenem Kopf in seinem Blute liegend fand, packte ihn die Verzweiflung und er schnitt sich selber auch den Kopf ab. Endlich kam auch die junge Frau in den Tempel, nach den zweien zu sehen, und wie sie die beiden Leiber ohne Köpfe in einem Meer von Blut schwimmen sah, wollte sie sich aus Gram mit einer Schlingpflanze am nächsten Baum erhängen, aber die Stimme der Göttin gebot ihr Halt und hieß sie, die beiden wieder ins Leben rufen, indem sie ihnen die Köpfe wieder auf den Rumpf setzte.

So tat sie eilends, aber in der Hast versah sie sich und vertauschte die Köpfe: sie setzte des Gatten Haupt auf des Freundes Leib. Wem aber gehörte sie nun? – Der kluge König, dem der Leichendämon die Frage vorlegt, entscheidet: wer das Haupt des Gatten trägt, ist ihr Gemahl, denn wie das Weib die höchste der Wonnen, ist das Haupt das höchste der Glieder.

So besaß sie als Gattin den Leib des Freundes unterm sichtbaren Zeichen des Gatten, – leitete ein geheimer Wunsch die junge Frau bei der Vertauschung der Köpfe? War die junge Ehe nicht glücklich, und der Gatte deswegen so todesbereit und heilverlangend? Die Geschichte deutet das mit keinem Worte an, sie erzählt nur, was sich begab, und die merkwürdige Fehlleistung mag auf sich beruhen mit ihren Hintergründen; der blutige Opferdunst, die erschreckende Todesbereitschaft im Angesicht der Göttin sind das Erregende, Befremdende für den westlichen Hörer solcher volkstümlicher Geschichten Indiens.

Sie sind für den Hinduismus so geläufig wie für uns bestürzend. Kulte und Mythen der Großen Göttin sind in Indien durch die Ströme von Blut ausgezeichnet, die zu ihrer Ehre vergossen werden. In Devī-Pattan, der »Stadt der Göttin«, – heute ein Dorf des Gondadistrikts in Oudh – hat die Muttergöttin eine der ältesten Kultstätten Nordindiens; Reste von Bauten aus der Guptazeit vom Ende des vierten Jahrhunderts n. Chr. bezeugen, daß ihr urzeitlicher Kult damals bereits brahmanisiert war. Die Mutter Erde wird hier als Durgā, die »Unnahbare« und »Gefahrenvolle« oder als Pārvatī, »Tochter des Berges« d. i. des Himālaya verehrt. Zu ihrem großen Tempelfest im Frühling – also zur Neubefruchtung der Natur – kommen die Wallfahrer aus der Ebene rings und von den Bergen, die sie im Norden einschließen. Ein Engländer, der 1871 dem Feste beiwohnte, berichtet, daß täglich etwa 20 Büffel, 250 Ziegen und ebensoviele Schweine im Tempel geschlachtet wurden. Unterm Opferaltar war eine tiefe Grube ausgehoben, mit frischem Sand gefüllt; der Sand sog das Blut der enthaupteten Tiere auf. Er wurde zweimal des Tages erneuert, der blutgetränkte aber ward jeweils in die Erde vergraben: als Fruchtbarkeitsstoff. Alles ging sehr sauber zu, ohne blutige Reste und üblen Geruch. Der Lebenssaft, das Blut, sollte der alten Erdgöttin, die alle Nahrung schenkt, – der Bergestochter, deren Erdkraft in den himmelragenden Bergen riesenhaft greifbar wird, – erneute Kraft und Fruchtbarkeit für den neuen Erntejahrgang schenken.

Heutzutage ist der Tempel der Kālī am Kālīghāt zu Calcutta berühmt als Hauptort täglicher Blutopfer; er ist wohl das blutigste Heiligtum der Erde. Zur Zeit der großen Pilgerfahrten zum jährlichen Durgā- oder Kālīfest (Durgāpūjā) im Herbst werden während der drei Festtage an die 800 Ziegen geschlachtet, – aber der Tempel dient überhaupt einfach als Schlachthaus, denn dem Opfernden verbleibt das Tier, der Tempel nimmt sich nur das Haupt als sinnbildliche Gabe, – das Blut aber fließt der Göttin zu. Ihr gebührt ja das Lebensblut aller Wesen als Opfer, es ist ja ihr Geschenk, – darum muß das Tier in ihrem Tempel geschlachtet werden; darum sind Tempel und Schlachthaus eins.

Da geht es freilich fürchterlich und schmutzig zu; im Schlamm von Blut und Erde werden Häupter der Tiere wie Trophäen vorm Bild der Göttin zu Hauf geschichtet, indes der Opfernde mit dem Leib des Tiers zum Festmahl im Familienkreis nach Hause zieht. Die Göttin will nur das Blut der Opfer, darum ist Enthaupten die Form der Darbringung, – da bluten sie schnell und gründlich aus. Daher schneiden sich die Figuren der Geschichten in »Hitopadescha« und »Kathāsaritsāgara« den Kopf ab; der Kopf meint freilich auch das Ganze, die völlige Aufopferung.

In ihrer »grauenerregenden Gestalt« (ghora-rūpa) führt die Göttin als »Kālī«, die »Dunkle«, die Schädelschale voll dampfenden Bluts an die Lippe; ihr Schaubild für innere Andacht zeigt sie blutrot gewandet auf einem Boot in einem Meer von Blut stehend: inmitten der Lebensflut, des Opfersaftes, dessen sie bedarf, um in ihrer huldvollen Erscheinung (sundara-mūrti) in unablässiger Zeugung als Weltmutter (jagad-ambā) neuen Lebensgestalten das Dasein zu schenken, um sie als Weltamme (jagad-dhātrī) an ihren Brüsten zu säugen und ihnen als die »Speisevolle« (anna-pūrnā) Nahrung zu spenden.

Uralte Anschauung, steinzeitliches Beginnen: man muß der Natur allerwegen nachhelfen, von selber geschieht auch bei ihr nichts. So wenig wie der ursprüngliche Mensch vermag sie viel aus sich selber. Nichts geschieht von allein, nicht im Kosmos, noch im Menschen. Man muß lärmen, um den Mond aus den Klauen der Verfinsterung zu befreien und ihre Dämonen wegzuscheuchen, muß ein Mädchen als junge Sonne in den Himmel höher und höher schaukeln, damit die Sonne aus ihrer winterlichen Ohnmacht im steigenden Jahr immer höher steigen kann. Die Erdmutter will mit dem Lebenssaft befruchtet und getränkt sein, soll sie Frucht tragen und das Leben auf sich nähren. Wie der ursprüngliche Mensch seinen »rite d'entrée«, jeweils seine kleine Verzauberung zu allem braucht: um Jäger zu sein, Krieger zu spielen, ja um der Liebe zu frönen, kurz: angeregt und gestärkt sein will zu allem Tun, wollen auch die alten Mächte immer neu geweckt und gestimmt, angeregt und gestärkt sein zu allem, was zu wirken ihr ewiges Wesen ist.

So erfrischten die Khonds die Fruchtbarkeit der Erde mit Menschenblut, bis die englische Regierung dergleichen abstellte; die Meriah brachten der Erdgöttin Târī Pennu ein Menschenopfer für gute Ernte, gegen Plagen und Unheil. Das Opfer mußte gekauft sein, es wurde gut gefüttert, der Darbringung gingen Festmahle vorauf. Es wurde, mit Butter, Öl und Gelbwurz gesalbt, feierlich umhergeführt und schließlich erdrosselt. Sein Fleisch wurde an die Teilnehmer des Festes verteilt, die es auf ihren Feldern vergruben oder verbrannten und die Asche über die Ländereien verstreuten, – so befruchtete es den Boden. Alles an ihm, Haar und Speichel, besaß Wunderwirkung, – es war kein Mensch mehr wie andere, sondern, durch Zauber geweiht, der leibhafte Genius der Fruchtbarkeit.

Die Hauptgottheit der Zentralprovinzen ist Dhârnī Deotā, »Erde, die Gottheit«, ihr Mann und Gesell, Bhātarsi Deotā, ist ein Gott der Jagd, Schiva verwandt, dem Herrn der wilden Tiere und des Dschungels, der den Bogen führt. Ein hölzerner Dreieckspfahl stellt die Göttin dar: das Symbol des Schoßes (yoni) und der göttlichen Weltkraft (schakti) in den Tantras, – Zeichen der Großen Göttin. Ein Steingebild ihm zu Füßen bezeichnet den männlichen Gott: Geschwister des Lingam, das Schiva bezeichnet. Der Stein wird mit dem Blut eines Büffels begossen, der an die Stelle früherer Menschenopfer getreten ist. In Kalahandi wird statt seiner ein Lamm geopfert und sein Fleisch streifenweise in den Feldern vergraben, um sie fruchtbar zu machen. Bāna's »Kādambarī«, ein Sanskritroman des 7. Jahrhunderts n. Chr., deutet in einer Beschreibung des Tempels der »Zornmütigen Göttin« (Chandikā) auf Menschenopfer; und Bhavabhūtis pathetisches Liebesdrama »Mālatī-Mādhava« schildert im 5. Akt den Versuch einer Priesterin der Chāmundā – eines grausigen Aspekts der Göttin –, ein junges Mädchen, das sie entführt hat, im Tempel der Chāmundā zu opfern. Die Göttin als universelle Lebenskraft ist unerbittlich wie das Leben selbst, sie nährt sich vom Blut ihrer eigenen Geschöpfe.

So liegt der Ursprung der Göttin in der Vorzeit, die in Indien noch Gegenwart ist in den Volksbräuchen und bäuerlichen Fruchtbarkeitskulten. Ihre frühesten Idole sind in Mohenjo-Daro zutage gekommen, der bedeutenden Fundstätte einer lang vorarischen Induskultur des 3. Jahrtausends v. Chr., die so manches aufweist, was später im Hinduismus zu hoher Bedeutung gelangt: das Bild eines göttlichen Yogin, eines hirschgehörnten Herrn der Tiere, Schiva vergleichbar, und die göttlichen Kultsymbole der Geschlechter: Lingam und Yoni.

In die brahmanische Gegenwelt der arischen Einwanderer hält die Göttin ihren triumphalen Einzug in einer der jüngeren Upanischaden des Veda, die den entschiedeneren Ausgleich der ehemals exklusiven Priestertradition der Eingewanderten mit dem alten Gut der indischen Erde mit sich bringen: eine Parabel erläutert daselbst das Wesen des »brahman«, der geheimnisvollen, allesbewegenden höchsten Kraft, am Grundmotiv indischer Mythen, dem ewig erneuten Kampf der Götter und Dämonen um die Herrschaft der Welt Kena-Upanischad 3.. Das brahman errang den Göttern den Sieg, aber sie wurden sich seiner nicht bewußt und taten sich groß mit ihrem Ich: »Unser ist dieser Sieg, unser dieser Ruhm!« – Da ward die geheimnisvolle Kraft ihnen sichtbar, aber sie erkannten sie nicht und sprachen bei sich: »Was ist das für ein unheimliches Wunderwesen?« – Sie sandten den Feuergott darauf zu, es zu erkunden; der nannte sich und rühmte von sich, alles verbrennen zu können, – aber einem Grashalm, den das brahman ihm vorwies, vermochte er nichts anzuhaben. Danach kam der Windgott, der alles mit sich fortwirbelt, – aber den Halm vermochte er nicht zu bewegen. Da hießen die Götter ihren König Indra das unheimliche Wunderwesen ergründen; er ging, begegnete aber daselbst im Himmelsraume einer herrlichen Göttin, Umā, der Tochter des Himālaya. Er befragte sie: »Was ist das für ein unheimliches Wunderwesen?« Die Bergestochter aber, »Pārvatī« – der vedischen Götterwelt fremd, aber auf indischer Erde urzeitlich heimisch vom Vater her –, weiß um das Geheimnis des Wunderwesens: »Es ist das brahman«, sagt sie, – »mit dem Sieg des brahman tut Ihr euch groß.«

Die Göttin allein weiß um die allbewegende geheime Weltkraft, die den Göttern zum Siege half, indem sie in ihnen mächtig war, ohne daß sie selbst sich dessen bewußt wurden. Sie vermeinten, aus Eigenem stark zu sein, aber ohne und gegen diese Kraft vermögen sie keinem Grashalm etwas anzuhaben. Die Göttin weiß um die Allkraft, die der Jargon der vedischen Priester »brahman« nennt, und die im Hinduismus »schakti« heißt, – denn »schakti«, d. i. »Kraft«, ist Wesen und Name der Großen Göttin selbst, daher kann sie den Göttern das Rätselwesen deuten und tritt gelassen als ihr Lehrer auf, der in sein Geheimnis einweiht: – es ist ihr eigenes.

Später im Hinduismus wissen auch die Götter alle um diese höchste weibliche Weltkraft und wissen, daß ihr männlicher Witz und Stolz ohne sie nichts vermag, – das schildert ein Mythos von der Entstehung der Göttin Im Devī-māhātmya des Mārkandeya-Purāna. Übersetzung in H. Zimmer, Maya, der indische Mythos, Stuttgart 1936, Frankfurt 1978 2, p. 480.. Diesmal sind die Götter die Unterlegenen im Kampfe gegen die Dämonen; ein Stierdämon hat alle Herrschaft über die Welt an sich gerissen; ohnmächtig wandeln die Unsterblichen, aus ihren Stätten im All vertrieben, zu Vischnu und Schiva, den beiden Großen, die, übers Weltspiel und seine Wechselfälle erhaben, ins Ringen seiner göttlichen und dämonischen Gewalten nur hinabsteigen, um der göttlichen Ordnung wieder zum Siege zu verhelfen. Helle Flammen des Zorns brechen beiden aus dem Antlitz, als sie vom Triumph des Widergottes vernehmen; auch allen anderen Göttern bricht die Wut ihrer Ohnmacht in Flammenstrahlen aus dem Leibe; die sengende Glut wird zu leuchtender Gestalt und die Große Göttin steht leibhaft vor Aller Augen als Vereinigung ihrer tiefsten Kräfte. Sie nimmt die Waffen und Geräte aller Götter in ihren Wald von Armen und schmückt den Leib mit all ihren Zeichen und Wundern: als Inbegriff aller kosmischen Kräfte, die, in viele Göttergestalten zerteilt, der ungemessenen Gewalt des Stierdämons unterlegen waren, schreitet sie zum Kampfe und überwältigt ihn, ob er gleich, protëisch wie die Lebensfülle der Natur selbst, in immer andere Leiber gewandet ihr entgegentritt.

Hier bekennen die Götter, indem sie ihren Waffen und Emblemen abdanken, – geliehenes Gut, das wieder heimfließt, – daß alle göttliche Kraft des Alls, vielfach sich offenbarend, Gebärde, Strahl, Gestalt der einen Urkraft ist: der Schakti und Weltmutter.

Der Mythos kann nicht eigentlich die Entstehung der großen Muttergöttin schildern, nur die Art, wie sie erhaben in Erscheinung tritt, denn er weiß um ihre Anfangslosigkeit, die im Begriff der »Mutter« gegeben ist: daß sie mütterlich früher war als alles Entstandene, kindhaft aus ihr Entbundene. Nach ihrem Ursprung fragen dünkt dem Mythos so kindisch und vermessen wie der Griff jenes vorwitzigen Adepten, der das verschleierte Bild der Göttin zu Sais aufzudecken unternahm, und dem davon Grauen und Schreck die Zunge für immer lähmte. Das Bild zu Sais ist ja das Bildnis der Muttergöttin, die spricht: »oudeis emon peplon anheile« – »keiner hat mein Gewand aufgehoben« ... es geht ums Gewand, das ihre weibliche Nacktheit verhüllt, der Schleier ist abschwächende Dezenz späterer Überlieferung, – keiner hat mein Gewand aufgehoben und meinen Schoß geschaut, – geschaut, bezwungen, geschwängert. Ich bin die Mutter ohne Mann, die Urmutter, alle sind meine Kinder. Wer sich vermißt, mein Gewand aufzuheben, schändet die Mutter. (Er muß dafür büßen, wie Ham, der verflucht ward, weil er Erzvater Noahs Blöße begaffte.)

Von ihrem Ursprung, ihrer Geburt kann nicht die Rede sein, bloß von ihrem vielfältigen In-Erscheinung-treten: aus der Wut und Glut aller Götter, die ihre geliehene Kraft zurückströmen, daß sie sich zusammenballe zu allbezwingender Gestalt, oder ihr plötzliches Erscheinen am Firmament, um Indra und die Götter einzuweihen in die unheimliche Wunderkraft, die ihnen plötzlich sichtbar ward, sie ihre Ohnmacht fühlen ließ und die im Grunde das Geheimnis der Göttin selber ist.

Ungreifbar allumfangend hält sie den Allgott Vischnu in Bann als seine große Māyā (mahā-māyā) oder »Yoganidrā«, als die Traumtrunkenheit seines Weltenschlafs, mit der er, wie ein Yogin innere Gesichte, die Fülle der Welt als einen Traum in sich bewegt. Auf dem Lotos, der dem Nabel des Schlummernden entsprießt, thront Brahmā, die Ausgeburt seiner reinsten Klarheit; er schickt sich an, die Welt zu entfalten, aber den beiden Ohren Vischnus entsteigen zwei gewaltige Dämonen, reißende Leidenschaft und tierische Dumpfheit, deren Spiel den Weltlauf vorwärts treiben wird durch alle Pracht und Wildheit, durch Kämpfe, Grauen und Vernichtung. Die beiden wollen Brahmā, ihren lauteren Widerpart, zerreißen, aber, damit das Spiel der Welt nicht ende, ehe es begonnen hat, muß der Allgott sich seinem Schlummer entraffen und Brahmā vor den beiden erretten. Dazu ruft Brahmā die dunkle Göttin an, sie soll den schlaftrunkenen Vischnu freigeben und preist sie: »Große Weisheit, Große Verblendung, Urstoff des Alls und Nacht des Weltentodes, Kraft aller Wesen, höchste mütterliche Göttin!« und sie entsteigt dem Schlafenden wie Rauch aus Mund und Nase, daß er erwacht, um die beiden dämonischen Ausgeburten seines Allwesens zu bezwingen Im Devī-māhātmya des Mārkandeya-Purāna. Übersetzung in H. Zimmer, Maya, der indische Mythos, Frankfurt 1978 2, p. 478 f..

Allen Göttern ist die große Göttin vermählt als die ihnen eigene Kraft, die sie bewegt, ohne die sie nichts vermögen und kraft der sie können, was sie sind. Als weibliche Kraft (schakti) Brahmās ist sie die Göttin der flutenreichen Rede (Vāc, Sarasvatī), des Elements der Offenbarung und der Weisheitslehre; sie heißt vorzugsweise die »Māyā Vischnus« weil Vischnu, der Erhalter, den Mythos des Hinduismus in seiner Blütezeit mit seinen Avatāras beherrscht, bis im letzten Weltalter Schiva, der Endebringer, ihn überschattet, und schließlich die Große Göttin, Schivas Gemahlin, beide überwächst.

Als »Gaurī«, die »Hell-Weiße« ruht sie auf »Schankara«, dem »Friedebringer« Schiva, dem erlösenden Tod, der totenstarr wie ein Gebirg unter ihr ausgebreitet ist. In unersättlicher Umklammerung umfängt sie ihn als seine Lebenskraft (schakti) und genießt ihn, wie im ägyptischen Mythos Isis als Sperberweibchen trauernd und brünstig auf dem toten Osiris hockt und seine erstorbene Kraft zu neuem Leben erregt, bis sie von ihm das Horoskind empfängt. Die ewige Verschlingung des göttlichen Paares, Gaurī und Schankara, ist sichtbar im Gaurīsankar, der höchsten Gletscherhaube, die weißstrahlend den ragenden Gipfel umfängt.

Als Kalī, die »Schwarze« steht sie mit abgeschlagenen Köpfen und Händen ihrer Opfer bekränzt – statt mit Blumenketten – auf dem tot daliegenden Schiva, eine geöffnete Lotosblüte, den Schoß des Lebens, und das Schwert des Todes (oder die Schere der Parze) in Händen. Ohne sie ist Schiva nur ein Leichnam (schava): seine Kraft hat sich über ihn hinaus erhoben, so liegt er leblos unter ihr; aber ihr Fuß berührt ihn, so kann er auf tantrischen Miniaturen dieser Allegorie verdoppelt erscheinen Veröffentlicht und gedeutet von Sir John Woodroffe, »The India Magna Mater« in Indian Art and Letters, Vol. II. No. 2, India Society, London 1926 (Plate VII »Kali on Shiva Shava«).: am Boden ein bärtiger Asket in Todesstarre: das In-sich-ruhen des Göttlichen, das nicht geschieht; darüber aber, der Göttin zugewandt, von ihrem Fuße leis belebt, eine Jünglingsgestalt, des Gottes ewige Jugend: sie reckt den Arm wie im Traum und rührt leis das Haupt, – in ihr begegnen sich die todgleiche Ewigkeit des weltentrückten Gottes und die ewige Lebendigkeit der göttlichen Kraft als Spiel der Welt.

Anderwärts, im Mythos von Andhaka Nach Matsyapurāna, 179 Adhyāya erzählt., dem »Blindling«, erscheint die Göttin vervielfältigt als der ganze uralte Chor der Muttergöttinnen, die der vorarisch-indischen Volksreligion ihr Gesicht geben. Andhaka, der »Blindling«, ist ein Asura, ein Widergott oder Dämon, Verkörperung blinder, unbändiger Lebenskraft (asu) im Widerspiel zu den Göttern, die mehr Klugheit und Helle als dumpfe Stärke besitzen. Er war schwarz wie Augenschminke und hatte durch glühende Askese Unsterblichkeit erlangt. Er belauschte einmal die Große Göttin im Liebesspiel mit Schiva und wollte sie rauben. Ein Kampf zwischen Gott und Dämon hebt an, aber Schiva kann mit seiner Zauberwaffe, dem »Pfeil des Herrn der Tiere«, den Gegner nur verwunden, nicht bezwingen. Jeder Blutstropfen aus Andhakas Wunden verwandelt sich alsbald in einen weiteren Blindling, sie umwimmeln Schiva zu Hunderten und Tausenden, und wie er sie mit seinen Pfeilen trifft, entstehen aus ihrem Blute hydragleich immer neue Scharen, die sich auf ihn werfen.

Da bringt der Gott in seiner Not Mütter in Scharen hervor, daß sie das Blut der Blindlinge auftrinken. Diese furchtbaren Mütter, Kräfte aller Götter und nach ihnen benannt, – die »Eberköpfige« nach Vischnu als Eber, die Windgotthafte, die Sonnen- und die Mondhafte (die Erzählung nennt über 190 verschiedene Namen), – stürzen sich auf das Blut und trinken es auf; aber der Lebenssaft, den sie schlürfen, macht sie fruchtbar, und neue Blindlinge quellen aus ihnen hervor, die Schiva aufs neue bedrängen. Da wendet sich Schiva flehend zu Vischnu, dem Erhalter; der bringt die »dürre Revatī« hervor, – sie trinkt das Blut aller Blindlinge in einem Augenblicke auf, je mehr sie aber davon trinkt, desto dürrer wird sie. Sie ist der Tod der sengenden Dürre, aus der kein Leben keimt. So kamen alle Blindlinge um bis auf den einen ersten, der gegen den Tod gefeit war. Schiva nahm ihn auf seinen Dreispieß, er bat um Gnade, da nahm ihn der Gott in seine wilden Geisterscharen auf.

Das Heer der Mütter aber schrie in ungestillter Blutgier, sie wollten alle Welten samt Göttern und Dämonen verschlingen; – umsonst rief Schiva: »Euer Amt ist es, alle Wesen zu beschirmen, steht ab von eurem grausigen Beginnen!« – sie achteten seiner nicht. Schiva mußte abermals seine Zuflucht zum Erhalter Vischnu nehmen, um den Kräften der Vernichtung, die er selbst entfesselt hatte, zu begegnen. Vischnus fürchterliche Erscheinung (ghoramūrtī) »Halb-Mann-halb-Löwe« (narasimha), mit den Pranken im Leib des erschlagenen Feindes wühlend Zum Mythos vom »Löwenmann« vgl. H. Zimmer, Maya, der indische Mythos, Frankfurt 1978 2, p. 147-198., konnte ihrem Schrecken durch heilsames Grauen begegnen. Aus seiner Zunge brachte er die »Herrin der Rede« (Vāc, Sarasvatī, die schakti Brahmās) hervor, aus dem eigenen Herzen die »Māyā«, seine eigene welterhaltene schakti, und aus seinem Geschlecht die »vom Blumenkranz der Werdensformen Bekränzte« (Bhavamālinī), aus seinen Knochen aber Kālī, die Dunkle, die allesverschlingende Zeit, die knochenbekränzte Herrin der Schädelstätte. Es heißt von ihr: sie war es, die das Blut der Blindlinge auftrank und auf Erden die »dürre Revatī« genannt wird. Diese Göttinnen stürzten sich auf die rasenden Mütter, die Schiva entsprungen waren, und zwangen sie, hilfeflehend bei Vischnu Schutz zu suchen. Vischnu wies sie an: »Wie Menschen und Tiere lange hegen, was sie gebaren, sollt ihr die Welten hüten, die Frommen beschützen und ihre Wünsche erfüllen.« – So werden die Grauenhaften versöhnt und danken ihrer blind rasenden Wildheit ab; der Vorgang des Mythos setzt ihren urtümlichen Schrecken in bändigende Beziehung zum Gott-Erhalter: sie treten in den Kreis der segnenden Gottheiten, die durch Kult den frommen Menschen nahbar sind. Eine Versöhnung, wie im griechischen Mythos die Verwandlung der blutheischenden Erdmütter, der Erinnyen, in die »freundlich gesinnten« Eumeniden.

Andhaka aber, der Dämon unversieglichen Lebens, der sich mit jedem Blutstropfen, der ihm entströmt, vervielfältigt, gemahnt an die lernäische Hydra, die schlangenhaft-chthonische Lebenskraft, der für jeden abgeschlagenen Kopf sieben neue wachsen. Erst ein Brand jenes Feuers, das Prometheus vom Himmel raubte, in der Hand des Herakles, bringt die Wut dieses erdhaften Wachstums zum Verdorren. Im indischen Mythos bezwingt kein Herakles auf dem Gange seiner Wundertaten aus erdhafter Gebundenheit zu himmlisch-olympischer Vergöttlichung die blind wuchernde Lebensgewalt, – die Bezwingung der Hydra ist ja nur ein Glied in der Kette seiner Taten, die allesamt die lange Überwindung seiner Urfeindin Hera, der Muttergöttin und Mutter Erde bedeuten, die ihn nicht freigeben will und ihm schon in die Wiege die Schlangen der Erde sandte, an denen der Säugling seine übermenschlichen Kräfte zum ersten Male wunderbar bewährte.

Die Bezwingung der Hydra hier und des »Blindlings« dort stehen unter entgegengesetzten Vorzeichen. In Hellas wird das mütterliche Prinzip wahrhaft überwunden, in Indien dagegen zugut gesprochen, versöhnt und eingegliedert in den Kreis der heiligen Mächte. Die Mütter verlieren dabei nichts von ihrer Größe und Gewalt.

Die Überwindung des erdhaft-mütterlichen Lebensprinzips durch Herakles (und Theseus), durch den Sieg Apollos und der Himmlischen, wie Bachofen ihn für die Antike dargestellt hat, findet seine christliche Entsprechung im Heiland, dessen Fuß der Schlange den Kopf zertritt. Dieser christliche Sieg des männlich-himmlischen Prinzips über das weiblich-mütterliche findet seine zarteste Verklärung, bildhaft schlagend, in gewissen Darstellungen des Heimgangs Maria, die der Kunst von Siena geläufig sind Z. B. Tod der Maria von Duccio di Buoninsegna (Museo dell'Opera del Duomo), dasselbe von Taddeo di Bartoli im Palazzo della Signoria, dasselbe von Spinello Aretino in der Accademia Belle Arti.. Maria, die Mütterliche, liegt entseelt auf ihrem Lager, von den Aposteln umgeben, der göttliche Sohn aber ist in seiner Glorie von Engeln herabgefahren, ihre Seele einzuholen. Er steht an ihrem Lager und hält ihre Seele wie ein kleines Kind in seinen Armen: der Sohn hält die Mutter winzig an seine Brust gedrückt, wie die Mutter vormals den Neugeborenen im Stalle. Das mütterlich-Erdhafte, dessen das Göttliche als Sohn bedurfte, um aus seinen Himmeln niederwärts hinab zu steigen, um als Erdenmensch im Fleisch zu wandeln, ist zur »Mater purissima« geworden, zum »Vas spirituale«, zum geistlichen Gefäß In der Lauretanischen Litanei; daselbst weiter »Mater castissima, inviolata, intermerata, ... Virgo veneranda, ... Vas insigne devotionis« usw., und ist aller erdhaften Dämonie gierig wuchernder und sich selbst verzehrender Lebenskraft entrückt. So nimmt der göttliche Sohn die erdhafte Mutter wie ein unschuldiges Kind in seinen Himmel hinauf, sie dort zu krönen: das Mütterlich-Erdhafte wird wahrhaft aufgehoben von der männlich-himmlischen Gegenkraft, – aufgehoben und eingeschmolzen in höhere Gegensphäre. Der Triumphschritt, mit dem Kālī den leichenhaften Schiva niedertritt, ist die in vollem Gegensatz genau entsprechende Gebärde Indiens zur christlich-sienesischen Madonna auf dem Arme des Sohnes, der sie ins himmlische Leben hinaufträgt.

II

Die Erlösungsidee ist allerwerts mit Kulten und Mysterien der Großen Mutter verknüpft, – wie sollte die Seele sich mit ihrem höchsten Anliegen nicht an die große alte Göttin wenden und in kindlicher Anheimgabe von ihrer Mütterlichkeit erwarten, wessen sie sich aus eigener Kraft nicht fähig fühlt? Freilich gibt die Allgewalt der Mutter als Große Māyā und unerschöpflicher Schoß des Kreatürlichen dabei die Frage ein: »Wer erlöst die Welt von der Mutter?« oder: »Wer erlöst die Mutter von sich selber? von dieser stummen Dämonie des Lebensdranges zu sich selbst? von dem rasenden Muttertum, so allverschlingend wie allnährend?«

Herakles und Christus sind zwei männliche Antworten des Abendlandes auf diese Frage; der Yoga, der alle Götter als māyābefangene Walter kosmischer Bereiche empfindet und sich zur Loslösung aus der Welt in völliger Integration ihrer Bindungen und Gehalte (kaivalyam) erhebt, ist der indische männliche Weg, – weltweit erleuchtend in der Gestalt des Buddha.

Der Mythos des Buddha gibt auch andeutend die Überwindung der Mutter zu lesen: sie stirbt am achten Tage nach der Geburt des Erlösers, und eine Überlieferung gibt ihr den Namen Māyā. Der Buddha entspringt nicht wie andere Kreatur als ein Geborenes dem Schoß der Mutter, vielmehr, wie auch andere Bringer eines neuen Weltstandes – Indra in den Veden – bricht er aus ihrer Flanke und weiß vom ersten Atemzuge an um sich selbst. Er tut die feierlichen Schritte in alle vier Himmelsrichtungen und spricht: »Ich bin der Älteste, Ich bin der Höchste in der Welt!« – abgetan ist die Urmutter ohne Mann als Anbeginn alles Wesens, und abgetan der ehrwürdige Mutterschoß, den kein Auge erschaut hat.

Die weibliche Verwandte, die das verwaiste Buddhakind aufzieht, heißt im Palibuddhismus »Mahā-Pajāpati« – ein Name, der verständlich wird, wenn man ihn auf Sanskrit liest als »Mahā-prajāvatī«: die »Große Geschöpfereiche«, und der erst sinnvoll wird, wenn man ihn wie »Māyā« auf die Mutter des Buddha als Abbild der großen Urmutter selbst bezieht, – auf die überwundene mythische Ur- und Weltkraft: »die Große Geschöpfereiche« ist eine natürlichste Bezeichnung für die große Weltmutter, deren Bann, das gleiche Leben äonenlang in immer neuen Geschöpfen zur Welt zu bringen und wieder in sich zurückzunehmen, durch die Erleuchtung der Buddhas gebrochen wird.

Freilich die Große Mutter wäre nicht die allesbewegende Weltkraft (schakti), die sich mit allen Figuren des indischen Pantheons im Spektrum aller Gebärden darstellt, und die in jeder Kreatur und jeder ihrer Regungen sich selber gebärt, wollte man in ihr nur das zähnebleckende Gerippe mit Mordwaffen in erhobenen Händen und die blutschlürfende Vernichterin sehen; das Eingangsgebet des ihr gewidmeten Kālikā-Purāna feiert sie als »die da hinausführt (tarani) über das Dunkel der Befangenheit im Gemüt aller Yogin als die ursächliche Kraft der Selbstbezwingung und Erlösung« – und feiert sie im gleichen Atem als »die der Geschöpfe Schar betört und verzaubert (vimohinī) und die daher die Māyā des entfaltenden Gottes ist, welche das lautere Bewußtsein im Geschöpf zunichte macht«. Die Alleswirkende bezaubert und verstrickt als Māyā und Befangenheit (avidyā) und führt hinaus (tarani, Tārā) als erleuchtendes Wissen (vidyā).

Die Vorstellung »tar«, d. i. aus gefährlichen Engpässen und drohenden Ängsten »hinausführen«, über reißende Flüsse ohne Brücken und über den Strom des Samsāra »hinüberbringen«, hängt helfenden Gottheiten seit den Veden an und bezeichnet auch die Gebärde erlösender Wesen, wie der »Tīr-thankaras« der Jainalehre, der »Furtbereiter«, die eine Furt durch die Wogen des Samsāra zum ewigen Heile weisen, wie der ihnen verwandten Buddhagestalten und Bodhisattvas.

»Tārā« ist die Große Göttin als Schutzhelferin und Erlöserin. »tarati iti Tārā« – »sie bringt glücklich hinüber, davon heißt sie Tārā Vgl. Tārā-Upanishad in Kaula and other Upanishads, ed. by Sītārām Shāstri, London 1922 (Tantric Texts ed. Arthur Avalon, Vol. XI).«. – Ein Reliefbild der Tārā (von 1096 n. Chr.) feiert sie als Nothelferin in aller Drangsal: sie schützt vor Wasser, Feuer und Wind, vor Elefanten, Löwen und Schlangen, vor Dämonen und Not auf hoher See, vor Gefängnis, Dieben und – Königen. – Das Brahmānda-Purāna nennt Tārā (in ihrer Erscheinung Kurukullā) die »Herrin der Boote« (Naukeschvarī), »fähig, die Wasserfluten zu beruhigenVgl.  (wie zur Inschrift von 1096) Hirananda Shastri's Monographie The Origin and the Cult of Tārā – Memoirs of the Archaeological Survey of India, Nr. 20, Calcutta 1925.«. Sie hat zahllose Bootsfrauen, ihr ähnlich, in Dienst, die beschäftigt sind, in Kähnen Schiffbrüchige zu retten. Darin gleicht sie der Madonna als »stella maris«, zu der die christlichen Seefahrer um Schutz und Hilfe beten. – Die Allerretterin sagt von sich: »Aus dem Weltmeer vieler Ängste will ich die Wesen erretten, darum feiern mich die Stiere unter den Weisen als Tārā Zitiert aus Arya-Tārā-bhattarikā-nāmāshtottarashatakastrotra bei Hir. Shastri, p. 23.

In ihrer geistlichen Gebärde als einweihende Weisheit der Erlösung von Samsāra ist sie urbildhaft der christlich-gnostischen Sophia verwandt. Wie Lakschmi, die lotosthronende Göttin irdischen Glücks und Gedeihens, aus dem Meer der kosmischen Lebensmilch entsprang, als die Götter es quirlten, um den Trank der Unsterblichkeit zu gewinnen, ist Tārā beim Quirlen des Meers der Erkenntnis als eine Quintessenz entstanden Nach Todalatantra (zitiert bei Hir. Shastri, p. 13): »Bei der Quirlung des Weltmeers entstand das Weltgift Kālakūta, da waren alle Götter und Göttinnen von großem Schreck erschüttert; Schiva aber trank das Weltgift Halāhala unerschütterlich, davon heißt er der Unerschütterliche (Akshobhya). Mit ihm ist die Große Māyā, die Rettende (Tārini), allzeit in Liebesfreude verschlungen (ramate).«. Die Große Māyā umfängt als die »Rettende« (Tārinī) in ewiger Liebesumschlingung Schiva, den »Unerschütterlichen«, der in kristallener Unanrührbarkeit seiner Yogaversenkung die Haltung des Erlösten göttlich darstellt (er hat sein Double im kosmischen Buddha »Akshobhya« gleichen Namens).

Als »Vollkommenheit der Erkenntnis« – Prajnā Pāramitā, – die Erleuchtung und Nirvāna verleiht, ist Tārā die hohe Weiblichkeit im Kreis der Buddhas und Bodhisattvas, besonders gefeiert im mutterrechtlichen Tibet. – Tārā gilt als die schakti des Erlösers Avalokiteschvara (chinesisch Kwan-yin, japanisch Kwannon), soweit dieser Bodhisattva männliche Erscheinung trägt. – Im tantrischen Buddhismus steigt sie vollends in den Zenit des Pantheons: als Prajnā Pāramitā ist sie die Mutter aller Buddhas, – sie meint ja nichts anderes als die Erleuchtung selbst, die zum Buddha macht; »pāram itā«: »ans andere Ufer (pāram) gegangen (itā)« führt sie über den Samsārastrom ans jenseitige Ufer des Nirvāna hinüber. Ihr Zeichen als Weisheit der Erleuchtung ist das Buch, auf einem Lotos neben ihrer Schulter, indes ihre Hände den Kreis innerer Betrachtung der wahren Lehre bilden (dharma-cakramudrā). – So wird sie schließlich, wie sie die Große Māyā Vischnus ist und die schakti Schivas als Allgott, zur schakti des Adi-Buddha, des kosmischen Ur-Buddha, dem zeitlich-zeitlos die Buddhas und Bodhisattvas aller Welten wie Spiegelscheine seiner transzendenten Realität in die Phantasmagorie der Vergänglichkeit entflimmern.

Der tantrisch eingeweihte Buddhist erschaut die Buddhas im Nirvāna in ewiger Umschlingung mit ihren schaktis, wie der Hindu das göttliche Paar Gaurī und Schankara. Diese zeitlose Liebesumarmung ist der höchste »vierte« Leib der Buddhas, über den drei anderen: der Sinnenwelt, in der die Buddhas dem äußeren Auge erscheinen, der inneren Vision, mit der die überweltlichen Buddhas die Yogaversenkung begnaden, und der »Demantsphäre« kristallener Entrücktheit, die Erleuchtung und Freisein meint »Nirmāna-kāya« der Leib Buddhas in der sinnlichen Erscheinungswelt, »sambhoga-kāya« der Erscheinungsleib der Visionen übersinnlicher Weltsphären, »vajrakāya« der Demantleib der transzendenten wahren Wirklichkeit, und als vierter »mahāsukha-kāya« der Leib der höchsten Lust« im Nirvāna der Liebesumschlungenheit von Buddha und schakti (als Paar, tibetisch Yab-Yum genannt).. In diesen Paaren von Buddhas mit ihren schaktis findet die Reihe steinzeitlicher Paare der alten Göttin-Mutter oder Mutter-Erde mit ihrem Mannsgesellen (Fruchtbarkeitsdämon, Himmelsgott, Herr der Tiere usw.) ihre Verklärung in transzendenter Geistigkeit. Aber das erotische Sinnbild dieses Paares bedeutet den Triumph des Ewig-Weiblichen über die männlich-asketische Geistigkeit der Buddhalehre, wie der Aufstieg der Großen Göttin als schakti im späten Hinduismus über Brahma, Vischnu und Schiva und alle männlichen Götter des brahmanischen Pantheons den Sieg ihres Urbildes über alle anderen in Indien bedeutet.

Die »Vollkommenheit der Erkenntnis« – Prajnā Pāramitā – gilt als die »weiße« Form der Tārā; eine andere wohltätige ist die »grüne«, – aber die »rettende« Mutter hat auch drei grauenvoll-schreckende Gestalten: die »blaue«, »gelbe« und »rote«. Blauschwarz ist die Farbe des Todes; die blaue Tārā reitet auf einem Leichnam, trägt Schwert und Schere in Händen und eine Halskette von Schädeln. Mit bleckenden Kiefern und hängender Zunge, kurzen Leibes mit hängendem Bauch, stellt sie die dunkle, vernichtende Seite der Allgöttin dar, die ihren Gnadengestalten das Gleichgewicht hält. Die erlösenden hellen Farben sind nur ein Teil im Spektrum ihres Wesens und bleiben innig auf ihren Widerpart bezogen: auf das Dunkel, das als Wirklichkeit des Lebens gleich verehrungswürdig und dem Menschen mindestens so nahe ist.

Die Zauberin Große Māyā, die alle mit Lust im Schrecken des Samsāra befängt, kann nicht schuldig gesprochen werden als Versucherin zum vielgestaltig-allumfangenden Dasein, zum Ozean des Lebens, aus dessen Grauen sie einzelne unablässig als »Bootsherrin« rettet, indes das ganze Lebensmeer das glitzernde, wogende Spiel ihrer schakti ist. Aus dieser Flut in sich befangenen Lebens tauchen jeweils einzelne, reif zur Erlösung, empor, nach dem Gleichnis des Buddha: wie Lotosblüten, die sich über den Wasserspiegel erheben und ihre Kelche dem ungebrochenen Himmelslichte erschließen. Den Übrigen ist es traut in der Tiefe, die aller Ungeheuer und dunklen Dumpfheit voll ist, glitzernd von Kostbarkeiten, Perlen und Korallen. Die Göttin, die »aus allen Wesen und Welten besteht« (jaganmayī), ist selbst der trächtige Salzschoß des Lebensmeers, das alle Lebensformen umfangen hält und nährt, hinspült und zerwest und in aller Unschuld zu immer anderen Gestalten aufbaut, die einander gierig verschlingen. Wer so die Mutter begreift, fragt nicht danach, von ihr erlöst zu werden, vielmehr von sich selbst, von der Einbildung seines Ich befreit zu sein in inniger Heimgabe an ihre ewige Gewalt.

Vischnu fuhr einmal auf dem Sonnenvogel Garuda, seinem Reittier, durch die Luft dahin, und beide sahen voll Selbstgefühl in Vischnu das höchste unwiderstehliche Allwesen Kālikā-Purāna, 76. Adhyāya.. Da kamen sie am Blauberge vorüber, auf dem die Große Göttin als »Herrin aller Wünsche und Freuden»Kāmeschvari«, oder in Kurzform »Kāmākhyā«: »die ihren Namen von kāma, den Wünschen und Freuden hat«.« thront, aber beide achteten ihrer nicht, – »flieg zu, flieg zu!« sprach Vischnu zum Garuda. Da goß die Große Māyā Starre über beide, daß sie nicht vom Fleck kamen. Vischnu ergrimmte über den Blauberg und rüttelte an ihm mit beiden Händen, vermochte ihn aber nicht zu erschüttern. Durch die Māyā der Großen Māyā rings verzaubert und reglos gemacht, mußte er's leiden, daß sie ins Weltmeer stürzten, – er sank bis auf den tiefsten Grund und versuchte umsonst, sich empor zu arbeiten. Er vermochte kein Glied zu rühren und verlor das Bewußtsein. Da er die schakti nicht ehrte, die Weltkraft, die das Vermögen aller Regung ist, der Glieder wie des Geistes, entzog sie sich ihm magisch: da ward er starr, wehrlos und leblos.

Brahmā, der Schöpfer, ging ihn suchen und fand ihn schließlich am Meeresgrund: er war wie zerlöst und zum Urstoff heimgekehrt. Brahmā packte ihn und wollte ihn heraustauchen, vermochte es aber nicht. Von den Māyākräften der Göttin gebannt, erstarrte er selber voll Verwunderung unter dem gleichen Zauber. Nicht anders erging es allen Göttern, die mit Indra sich auf die Suche nach den beiden machten und sich vergeblich mühten, sie aus der Meerestiefe heraufzubringen.

Da begab sich Brihaspati, der Priester und geistliche Lehrer der Götter, der ihre Sphären von ihnen entblößt fand, in die Einsamkeit Schivas auf dem Himālaya und fragte ihn ehrfürchtig nach der Götter Verbleib. Mahādeva, der Große Gott, weiß allein um das Geheimnis der Großen Göttin, deren Gatte er ist, er bedeutete den Priester der Götter (die wieder einmal die Nichtwissenden angesichts der höchsten Kraft des Alls sind): »Gering geachtet ward die Große Göttin, die Mahā-Māyā, aus der die Welt gebildet ist; daher ward Vischnu und die Götter von ihrer Māyā gefesselt und weilen am Grunde des Meeres. Ich will mit dir gehen und sie befreien, – ohne mich ginge es dir wie ihnen.«

Beide kamen zu den Göttern am Meeresgrunde und Schiva fragte sie: »Was weilt ihr hier? wie wurdet ihr starr und reglos und wie unbelebter Stoff des Bewußtseins bar?« – Unter seiner Frage gewann Vischnu, der auf den tiefsten Grund des Unbewußtseins gesunken war, langsam die Sprache wieder, ja er begriff, was ihm geschehen war, und warum es ihm geschah. Er bat Schiva, sie alle zur Großen Māyā, der Yogatraumtrunkenheit zu führen, die sie auf dem Meeresgrund gebannt hatte, damit sie der Gnädigen (schivā) huldigten und ihre Gnade gewönnen.

Schiva versprach es; damit es aber möglich sei, lehrte er zuvor alle Götter den magischen »Schutz« oder »Panzer« (kavaca) der »Herrin aller Wünsche und Freuden« am eigenen Leibe zu vollziehen, um sich von ihrer Māyā zu lösen und sich aufs neue mit ihrer Kraft zu durchtränken. Dieser Panzer war es, der ihn selbst vor der Verzauberung durch die Māyā beschützte, daß er nicht dem Schicksal der anderen Götter verfiel, und wer ihn in gesammelter Andacht übt, vermag die Göttin zu schauen. Er hilft zum Gelingen aller Wünsche. Durch Handauflegen auf alle Glieder und Organe vom Kopf bis zu den Fersen hinunter, unter Anrufung vieler Gestalten der allgestaltigen schakti, die in ihnen wirksam ist, tritt der ganze Leib unter ihre Hut, er wird ihr Stück um Stück überantwortet, – vielmehr die allerwärts waltende, in ihm rings verborgene Kraft wird Glied um Glied zu segensreicher Wirkung aufgerufen. Mit diesem Ritual täglicher Andacht verzaubert und erhebt sich der Gläubige in ein Aggregat der vielfältigen Gotteskraft der Großen Māyā, er transsubstanziiert seine Kreatürlichkeit in ihr geheiligtes Gefäß.

Als Vischnu und die Götter diesen »Panzer« andächtig durch Handauflegen unter Murmeln von Anrufungen rings an ihrem Leibe verteilt hatten, erhoben sie sich dank der Macht der Großen Māyā aus der Wassertiefe und wallten zum Blaugipfel. Als Vischnu dort der »Herrin aller Wünsche und Freuden« nahte, überfiel ihn die Erkenntnis ihrer Größe und er pries sie als Mutter aller Welten und Wesen, als Urstoff und Schöpferin des Alls und als das Wissen, das Erlösung verleiht. Da offenbarte sich die Göttin leibhaft und hieß Vischnu und alle Götter von der Flut ihres Schoßes trinken und sich darin baden: »Davon wirst du ohne Wahnbefangenheit in dein Ich sein und von höchster Heldenkraft erfüllt wirst du an deine Stätte im Zenit des Himmels ziehen.«

Dieses Zeremoniell des Trinkens und Badens im Schoße der Göttin bedeutet nicht die feierliche Unterwerfung unter das höhere weibliche Prinzip, auch nicht ein auferlegtes demütiges Annehmen der überwältigenden Hoheit des Mutterschoßes, denn diese Unterwerfung ist durch das Ritual des »Panzers« als gläubige Anheimgabe schon vollzogen, – wer ihn anlegt, ist bereits zu einem Gefäß der Göttin verzaubert, – die völlige Anerkennung der Großen Göttin in ihrer überwältigenden Größe ist aber schon durch die preisenden Worte aus dem Munde des großen Gott-Erhalters geschehen. Es handelt sich um nichts anderes als um die feierliche Selbstoffenbarung des verschleierten Bildes zu Sais: der Urschoß, dessen Gewand keiner aufgehoben hat, enthüllt mit indischer Gebärde sich selbst in einem erhabenen Akt der Begnadung zu feierlicher Kommunion. Die Götter – und, wie immer in Indien, nach ihrem Vorbild die Menschen, – werden gewürdigt, am göttlichen Quell alles Lebens der Welt zu baden und zu trinken, um in seinen Fluten Wiedergeburt und ein erhöhtes Leben zu empfangen. So schöpfen allerwärts in Indien Wallfahrer aus heiligen Brunnen das Wasser des Lebens oder kommunizieren in heiligen Teichen und Badeplätzen mit der Wunderwesenskraft eines Gottes, die in ihnen anwesend ist, – z. B. der Same Schivas im Teiche der Goldlotosse des Großen Tempels von Madura Zur Entstehung des Teichs der Goldlotosse aus Schivas Samen, vgl. H. Zimmer, Maya, der indische Mythos, Frankfurt 1978 2, p. 456.. Sie alle sind ein »tīrtha«, eine Furt, in die man hineinwatet, um über die Wogen des Samsāra ans andere Ufer, zur Seligkeit in Gott und zur Erlösung vom Ich zu gelangen.

So badeten Vischnu und die Götter im Schoße der Großen Göttin und tranken daraus; davon beseligt brachen sie, von der Göttin entlassen, zum höchsten Himmel auf. Da erblickten sie die »Herrin aller Wünsche und Freuden« hoch im Raume schweben und rings um sie tausende von Blaubergen ragen, die, von ihr berührt, an ihren Hängen auf- und niederwärts rings mit Schoßen übersät waren. Der heilige Wallfahrts- und Badeplatz – das tīrtha der yoni – hat sich myriadenfach vervielfältigt. Übrigens eine rabelaisische Vision. Panurge, der Lehrer Pantagruels, phantasiert einmal von einer wunderbar befestigten, ganz uneinnehmbaren Stadt: die Steine ihrer Mauern sollen Stück um Stück aus lauter yonis bestehen; sie ist imstande, den männlichsten Ansturm ganzer Heere zu ermatten. Diese grotesk ausschweifende Phantasie stammt aus uraltem mythischen Vorstellungsgut Mittel- und Südfrankreichs; von der christlichen Kirche während des Mittelalters unterdrückt, hebt es mit Rabelais' einzigartigem Werk in der freiesten Stunde des Cinquecento unter komischer Larve für einen Augenblick zum letzten Male den Kopf, ehe die mediceische Renaissance der Valois mit Klassizismus und Humanismus auf dem Wege zum Ideal des höfischen Menschen im Zeitalter Louis XIV. dergleichen stilisierend völlig ausschloß, wie es zugleich der calvinischen Askese im Hugenottentum und dem Geist der Gegenreformation gründlich zuwider war. Dergleichen animalische Exuberanz der Lebensfreude wird gern dem »esprit gaulois« zugeschrieben, im Grunde aber ist es die vorkeltische – also wie in Indien vorarische – Schicht Altfrankreichs mit mutterrechtlichem Gefüge, die sich in Rabelais' einsamem Zeugnis zu Worte meldet, wie vormals mittelalterlich im Untergrunde der Geschichte von »Aucassin und Nicolette«, in der das Männerkindbett (Couvade) als Brauch mutterrechtlicher Sphäre für Südfrankreich bezeugt ist, wie es in Südindien nachweisbar ist.

Die Götter erstiegen die tausende von Blaubergen in einem Nu und wiederholten an ihren heiligen Badeplätzen, trinkend und badend, beglückt die Kommunion mit dem Schoße der Göttin. Davon erfüllte sie unvergleichliches Entzücken. Aller Leiden bar, seliger Verwunderung voll, priesen sie den Schoß der »Herrin aller Wünsche und Freuden«, dankten Schiva und zogen ihres Weges.

Die Kommunion mit der Lebensessenz der Göttin wäscht alles Leiden ab, Schiva, der den »Panzer« der Göttin und dessen Ritual gelehrt hat, verkündet zum Schluß: ein Mensch, der im Schoß der Göttin gebadet und nur einmal davon getrunken hat, wird nicht wieder auf Erden geboren, aber erlangt das höchste Nirvāna. Durch diese Kommunion geschieht eine alchymische Verwandlung an ihm, seine Transsubstantiation ins Göttliche. Der Schoß der Göttin enthält die alchymische Essenz des Lapis Philosophorum, birgt er doch überdies nach Schivas Wort als das mütterliche Blut, das die Frucht in ihm ernährt, den roten Arsen (manah-schilā), das Mineral, das im Himālaya flüssig aus dem Felsen sintert und die alchymische Kraft der Verwandlung besitzen soll, Kupfer und anderes geringes Metall in Gold zu verwandeln, wie anderseits das Quecksilber als der Same Schivas die gleiche Kraft besitzt und göttliche Unsterblichkeit verleiht.

Es gibt Einweihungen auf allen Ebenen, fähig den Menschen zu verwandeln. Überall besteht dabei die Überlieferung und Tendenz, den geistig-sublimen Praktiken denselben höheren Rang gegenüber den sinnlich-magischen zu verleihen, den allgemein im Entwicklungsgange der Kulturen das geistige Element sich gegenüber dem stofflich-weiblichen errungen hat. Diese Entwicklung hat sich unter der Vorherrschaft des männlichen Prinzips vollzogen. Dagegen steigt mit dem Kult der Großen Göttin im späteren Hinduismus das archaische Gut sinnlich erdgebundener Weihen noch einmal überwältigend in den Zenit. Die alte Weltmutter, einerseits wohl »Erlösendes Wissen«, »Retterin« und erleuchtende Kraft im Yogin, gibt auf der anderen Seite nichts preis von ihrer Gewalt über die greifbare Welt, die in jeder Gestalt und Gebärde die Selbstoffenbarung ihrer verzaubernden weltschaffend-weltbetörenden Kraft ist. Wie die Götter, indem sie ihren weltgebärenden Schoß verehren, beseligt und vollkommen werden, ist der Kult der reinen Lebensmächte im tantrischen Hinduismus die Heiligung des Kreatürlichen als allerwärts greifbaren Offenbarung der unvergänglichen mütterlichen Kraft in der vergänglich blühenden Schöpfung.

So werden die Zeichen der beiden Geschlechter, Lingam und Yoni, zu höchsten Kultsymbolen, – vielmehr sie haben ihren Rang von altersher bis in die späte Zeit bewahrt. Davon erfährt das Liebesleben des Hinduismus, zumindest in schivaitischer Atmosphäre, gegenüber der völligen Säkularisierung der Erotik in der muslimischen und westlichen Welt eine sakramentale Divinisierung. Die Tantras lehren, Mann und Frau sollen einander nahen in dem Gefühl, der Gottheit zu begegnen. Der Gatte ist für die Frau – wie der einweihende Lehrer für den Schüler – eine Menschform Schivas; ihm grenzenlos zu gehören bildet sie den Inbegriff ihrer religiösen Lebenspflichten. Der lange Mythos von Liebe und Ehe der Göttin mit Schiva, seine dramatischen Wechselfälle von Getrenntsein und Sich-Wiederfinden über Äonen hin, Eifersucht und Opfertod der Göttin, ihr asketisches Ringen um den Asketen Vgl. Zimmer Maya, der indische Mythos, Frankfurt 1978 2, p. 426-489. bieten der Hindufrau den Kanon vorbildlichen Verhaltens bis zum freiwilligen Opfertod.

Der Boden für dieses mythische Lebensritual der Geschlechter ist, daß die Gatten einander nicht als Person und Individuum empfinden, sondern als Menschform der göttlichen Weltkraft, die sich mann-weiblich in Schiva und der Göttin und paarweise in allen Geschöpfen begegnet. Eine archaische Situation, vergleichbar etwa dem Ritual, wenn anderwärts König und Königin als verkörperte Sonnen- und Mondgottheit sich feierlich vereinigen, in fruchtbringende Konjunktion zueinander treten, die ihr Land und Volk segnet, und über diesem Zeremoniell der Beiwohnung ein mögliches privates Element von Neigung und Spiel gar nicht aufkommen kann.

Dagegen kennzeichnet es die Situation des späteren Menschen, der sich entschiedener bewußt geworden ist, nach dem eigentlichen Aufgang des Ich, daß er sich auf diese Weise als Tänzer oder Mime durch ein Ritual nicht mehr ins Göttliche zu verwandeln und zu verzaubern vermag. Er kennt die Grenzen zwischen Gottheit und Mensch und hat sie als unverrückbare erfahren. Das ist die große Resignation des neueren Menschen gegenüber dem frühen, die ihm den Ausbau der Person einträgt: Bewußtheit und Reflexion, Kritik und Unrast der Erfindsamkeit, daraus die stofflich-technische Herrschaft über die sich entgötternde Welt, das sentimentale Ideal geläuterter Humanität vom Ausgang des 18. Jahrhunderts und die kalte Praxis technisierter Inhumanität vom Aufgang des 20., – das ist das verlorene Paradies der Frühe voller Schauder und Schrecken, mit unbegrenzten Aufschwüngen und Vertauschungen, voll Blutdurst und Unschuld.

Der Mann aber ist in dieser Sphäre des Hinduismus gehalten, in allem Weiblichen vom kleinen Mädchen an die vornehmliche Selbstoffenbarung der Großen Göttin im Reiche der Erscheinungen zu sehen. Im esoterischen Ritual nimmt Mädchen und Frau leibhaft die Stelle des Kultbildes der Göttin ein, und im geheimen Rauschritual der Tantras, den Eingeweihten vorbehalten, steht über Fleischgenuß und Rauschtrank als höchstes Rauschmittel zur Erlösung bei Lebzeiten das erotische Sakrament der Geschlechter. So sehr es verdächtigt wird, verworfen und weise eingeschränkt, es bleibt die eigentliche natürliche und uralte Erfüllung des Kultes der Großen Göttin.

Daher spricht Schiva (in einem Tantra) Kulārnava-Tantra (Tantrik Texts, Vol. V), ed. by Tārānātha Vidyāratna, London 1917, 8 Ullāsa, Vers 106-08. zur Göttin: »Wie die Göttin Rede und Brahmā (der Inbegriff schöpferischer Weisheit) untrennbar miteinander verschmolzen sind, so auch der BerufeneDer Berufene: vīra mit seiner schakti (der Frau seiner Einweihung). Auch nicht mit tausenden Krügen Rauschtranks, nicht mit hunderten Haufen Fleischs bin ich zufrieden, wenn dabei die Essenz der Unsterblichkeit»amritam«. aus Schoß und Lingam mangelt. Nicht Vischnus Wurfring steht als Zeichen über dieser Welt, nicht Brahmās, Lotos, nicht Indras Blitzkeil; Lingam und Schoß sind ihre Zeichen, davon ist ihr Wesen Schakti und Schiva. Jeweils wenn die Vereinigung von Schiva und Schakti geschieht (d. h. die erotische Kommunion des Eingeweihten mit seiner weiblichen Gefährtin in der sakramentalen Form, die beide zum irdischen Ebenbilde des göttlichen Paares macht), dann ist das die wahre Andachtsübung der Eingeweihten»sā sandhyā kulanishthānām«., dann wird die wahre Einung mit der Gottheit in Versenkung vollzogen»samādhi«.

Das steinzeitliche Gebaren der alten Erdmutter und ihres Mannsgesellen hat sich vom Kosmischen hernieder gewandelt zum gültig-esoterischen Sakrament eingeweihter Menschenpaare, dem die hohe brahmanische Tradition schließlich in den Tantras Raum geben muß. Nicht mehr die Waffen siegreicher Mannsgötter sind die beherrschenden Zeichen der späten Weltstunde: nicht Indras Blitzkeil, der den einwandernden Ariern voranfuhr, die Stadtburgen der Eingesessenen zerbrach, und den Siegeszug der Eroberer in die Ebene Hindustans bahnte, nicht mehr Vischnus Wurfring aus mythischen Götter- und Dämonenschlachten, oder Brahmās Lotoskelch, zu erneuter Schöpfung aufblühend: herrschende Sinnzeichen des klassischen Hindumythos; – Lingam und Yoni, die uralten Symbole der Geschlechter, sind nach Episoden von Weltaltern erneut heraufgestiegen und stehen wieder im Zenit gültiger Offenbarung, wie einst im steinzeitlichen Anbeginn und in seinem zeitlosen Fortleben in den Niederungen der Volksbräuche.

Der Ring hat sich geschlossen und läßt sich noch einmal betrachtend drehen:

Die allestragende, allesnährende Göttin verkörpert sich allererst in der Erde (dharanī), daher ist sie die Tochter ihrer großen Berge: des Himavant (»Haimavatī«) und ist ihre Herrin, – sie thront auf dem Vindhyagebirge (Vindhyavāsinī).

Sie ist aber auch die Nacht des Zeitentodes (kāla-rātrī), und ist der Mutterschoß alles Lebens, das meint: die Wut des Wachstums, das sich jeden Fußbreit Luft und Erde streitig macht, die stumme Wut der Kreatur, Wut der Brunst und des Empfangenwollens, der unerbittliche Drang zu immer neuer Befruchtung, der die Kreatur gestaltwandelnd mit seinem Geißelschlage durch Leben und Tode weitertreibt; der Drang des Ungeborenen ans Licht und der tyrannische Schrei des neugeborenen Lebens nach Nahrung und Wärme, und die Zwietracht der Geschwister und Generationen, – aller stumme oder pathetisch verlarvte Kampf um die Lebensweide. Der Kriegsgott ist ihr Sohn, wie der gedeihenschenkende joviale Gott des Reisbaus, der elefantenköpfige Ganescha, der die Hindernisse aus dem Lebenspfade räumen soll. Als der Lebenskampf in unerbittlich atemloser Umschlingung ist die Zornmütige (Tschandikā) mit allen Waffen der Vernichtung in vielen Armen die terribilità des Daseins und schreitet mit Seuchen, Hunger und Kriegslärm durch das übervölkerte Riesenland in dörrender Hitze, staubendem Wind und dampfender Schwüle. Unter ihrem Fuß sinken prunkende Residenzen, volkreiche Städte, blühende Landschaften in Staub: »Tausend Jahre eine Stadt, tausend Jahre Wildnis«, sagt ein indisches Sprichwort.

Alles Wesen ist doppelgesichtig, zeigt ein freundliches und ein drohendes Antlitz. Alle Gottheiten haben eine liebliche und eine fürchterliche Gestalt, je nachdem man ihnen nahe kommt, – die Große Göttin aber ist die in allen gestaltwerdende Kraft der Welt. Alle freundlichen und drohenden Gesichter sind Facetten ihres Kerns. Was am einzelnen Gotte zwiefältig scheinen kann, ist an ihrer Allheit unabsehbare Vielfalt.

Ihre grauenhaften Züge sind in den Müttern Südindiens, den Seuchengöttinnen auseinandergelegt: wie du das Leben schenktest, bringst du den Tod. Das ist die Allmacht der Mutter gegenüber ihrem kleinen Kinde, aus ihrem Antlitz strahlt allumfangende Liebe, strahlt aller Zorn mit Kälte und Tod. Sie ist der unentrinnbare Schoß. Daher die Schwermut aller Muttergebundenen: das Leben ist wie es ist in seinem Wandelspiel von Licht und Schatten, mit Auf- und Untergängen, Preisgegeben- und Bewahrtsein.

Sie ist die unerbittliche Tatsächlichkeit des Lebens, der fließende Ring seiner Kräfte und Gestalten, hinstürzend, hinschießend, sich verwandelnd, ineinander verfließend, – darüber kommt so leicht keiner hinaus. Und ist sein vollkommenes Widerspiel: die Kraft, die darüber erhebt, Tārā, die Retterin, die aus dem Samsāra hinausführt, aus dem rasenden Ringe in die ruhende Mitte, aus der Vergänglichkeit aller Gestalten in die Unvergänglichkeit der ewigen Kraft, die sich zu ihnen ballt, wie Wasser zu Wellen, Blasen und Schaum, ist die stumme Geborgenheit des Lebens in sich selber, das aus der Asche verbrannter Wälder frischen gierigen Flor treibt, dem das Verwesen trächtig ist von neuem Leben, das rings nur Leben in Übergängen und Verwandlungen gewahrt und keinen Schatten des Todes darüber, – so wenig wie wir selber, wenn wir unsere Zähne in eine reife Frucht graben oder ein lebendiges Gewächs aus dem Gartenboden ziehen, um es frisch zu verzehren.

Alles was du tust, in Wachen und Schlaf, bewußt und unwillkürlich im Kreislauf deines Leibes zur Begleitmusik der Seele, wie er aufbaut und zersetzt, verschlingt und abgibt, atmet und zeugt, Lust schenkt bis übern Rand von Wut und Schmerz, sind nur Gebärden der Großen Mutter, die – »jaganmayī«: »aus allen Welten und Wesen gebildet« – mit ihrem Weltleibe unablässig viel tausendfältig dasselbe tut. Der Geist aber, der all das begreift und als erlösendes Wissen in sich aufnimmt, ist nicht ihr Widerpart, nur eine ihrer Gebärden: befangend oder befreiend, doppelgesichtig wie alles Wesen, alle Kräfte. Das Doppelwesen der Göttin, umfangend und verschlingend sehen, die Ruhe im Sturz, Geborgenheit in den Untergängen sehen, heißt sie erkennen und bewahrt sein. Die völlige Vergänglichkeit, der bittere Geschmack des Vergessens um Trümmer und Ruinen, wie sie, vom Wildwuchs heimgenommen, verlassen im erbarmungslosen Mittagsschweigen glühen, ist eine erleuchtende Gebärde der Mutter, mit der sich der Gläubige erkennend durchtränkt. Ein lustvoller Sinn für das bittere, Erbarmungslose trinkt sich in ihrem Geiste ehrfürchtig daran satt und verschmäht die Versöhnung durch geistvolle Übergänge schminkenden Denkens. Völlige Lustgestalt der Lebenslockung und erbarmungslose Vernichtigung: beide Pole zum Strahlenbogen weitester Spannung ausgereckt und ineinanderfließend, – das ist sie. Es ist eine späte maßlose Verkümmerung, wenn das sich modern verengt zur nationalistischen Mutter-Erde »Indien«, die kriegerisch-patriotisch ihre Arme gegen Fremdherrscher erhebt und sich schirmend über die eigenen »Landeskinder« neigt.

Die mögliche Überlegenheit des Weiblichen über andere Lebensgebärden durch die einfache Mutterschaft, durch das Muttertier in ihm, sein Allem-Gewachsensein in dieser Erfüllung der trivialen Zentralfunktion der Natur, das Leben zu erneuern, in Spannung, Rausch, Schmerz und Innigkeit über die anderen hinausgehoben, elementar als erfüllendes Schicksal, als erfüllte Bestimmung gesehen: diese Funktion, die feit, erfüllt und heiligt, ist für den späten Hinduismus in jeder weiblichen Gestalt verkörpert, davon hat Kind und Mädchen wie Matrone einen Schimmer übermenschlicher Würde als Gefäß und Vertretung der höchsten Naturkraft – schakti – der Göttin-Mutter, der alles das Dasein verdankt.

Diese mächtige Hinwendung zum Weiblich-Mütterlichen verarmt die Lebensmelodie gewaltig, – wo bleiben die männlichen Leitbilder und -gestalten bei dieser Erhebung der Mutter über alles hinaus? bei diesem späten Aufstieg früher muttergebundener Weltstunde? Ist Mutterschaft die Lösung alles Rätsels, dann ist man heimgekehrt ins Kindhafte und hat das Männliche von sich abgetan, denn eben indem man der Kindheit entwächst und das Männliche sich gewaltig hervorbäumt, entwächst man der Mutter, wird ein Mann, wird Held und Krieger, Schöpfer und Weiser, wird Überwinder, findet und überwindet das Weib, das noch nicht Mutter ist, aber unversehens Mutter werden soll unterm Überschwang des neuen Mannes.

Der Kult der Weltmutter und Mutter Erde ragt aus steinzeitlicher Völkerkindheit herein; in vorarischen Massen der indischen Halbinsel hat diese Kindheit Jahrtausende überdauert; das Steinzeitliche, anderwärts Schutt der Archäologie, ist in Indien volkstümliche Gegenwart und gewinnt aus der Lebendigkeit stummer Volkskulte im Schrifttum der Purānas und Tantras literarisch Sprache: – die Welt ein großer Kindergarten. Also sehr demokratisch; vor dem mütterlich hegenden Prinzip sind die kleinen Männlein alle klein, sie können ihm ja nichts beweisen. Eine entmannte Bauern- und Massensphäre, erdgebunden, zur Erde gebeugt, unkriegerisch, ohne das Abenteuer des Geistes.

Hier ist man wieder und noch vor dem Aufgang des großen Rangstreits der Geschlechter, der das Leitmotiv für Bachofens mythologische Geschichte der Alten Welt bildet, und steht wieder vor dem Durchbruch des Männlichen, das sich gegen die mütterlich-weibliche Vorherrschaft und natürliche Tyrannei erhebt, um dem Weiblichen Gewalt anzutun, wie es ihm gefällt –: mit Frauenraub (der Sabinerinnen, dem Auftakt zum vorbildlichen Imperium Roms), mit Knechtung der Frau im Hause des Mannes.

Der Kult des reinen Lebensprinzips im Bilde des Mütterlich-Weiblichen ist demokratisch, so wie geistige Ordnungen des Mannes zu aristokratischer Rangstufung drängen. Der hingebungsvolle Ruf nach der Mutter ist eine demokratische Abdankung des Männlichen, Ablegung individueller Werte, die dem Menschen auf seinem Wege zu Mannheit und Reife aus der eigenen Entwicklungstiefe zuwachsen und erarbeitet werden durch Leistung und Erfahrung, Selbstbereitung und Meisterschaft. Der Ruf nach der Mutter ist der Rückgang auf die elementare Form der Unterordnung und Anheimgabe, ist der seelische Umklammerungsreflex des Säuglings, die Heimkehr zum Kleinkind.

Hier ist aller Mannesherrlichkeit abgedankt: der Eroberer in vedischen Schlachten und Liedern, des blutigen Kriegeradels im Mahābhārata, des halbgöttlichen Helden und Heilbringers für Viele im Rāmāyana, der sich und der Welt aus der Not der Unholde hilft, weil die helfenden Mächte der Welt ihm die Hand reichen, weil, was anderen fremd und gefährlich bleibt: die Tiere der Wildnis, seine besten Freunde werden. Auch der geistige Überwinder und Erleuchtete, der Yogin, und seine erhabenste Gestalt, der Buddha, ist abgedankt, – oder: alle diese Gestalten und Sinnbilder sind wie auf einer oberen Bühne an dieser Welt vorübergewandelt, ohne sie zu verwandeln. Als hätten sie versagt als Leitbilder menschlicher Meisterschaft über das Leben, als wären sie alle der ganzen Fürchterlichkeit des Lebens nicht gewachsen, das ja diese Mutter selber ist. Oder als wüchsen seit langem keine Adepten mehr nach, die den Umriß solcher Gestalten erfüllen und ihre Wege zu Ende wandeln könnten, seit das letzte dunkelste Weltalter angebrochen ist. Und als sei die Herrlichkeit der anderen Götter verdämmert und wieder aufgesogen von der alten Ur-Mutter, und ihre Seher und Weisen dahin. Ein Kreislauf der Weltalter hat sich geschlossen, wie im Vorspiel der »Götterdämmerung«, wenn den Nornen das Seil in den Händen zerreißt, da die wissenden Frauen auf die Frage »weißt du, wie das wird?« verstummen und einander umschlingend in die Tiefe fahren:

»Zu End ewiges Wissen!
Der Welt melden Weise nichts mehr. –
Hinab zur Mutter! Hinab!«

Alles Männliche, immer auf sich selbst gestellt, auf seine Einmaligkeit als Held, Überwinder und Meister, ist hier mit seinen großen Gebärden als ohnmächtig abgedankt vor dem Rachen des Lebens, der alles verschlingt, zerkaut und zerschmatzt, was aus dem eigenen Schoße an Lebensgestalten hervorgequollen ist, und dem das Morden seiner Geschöpfe eine so gleichmütig träge wie rauschhafte Verrichtung ist: der Lebensprozeß des Weltleibes.

Der Rückgang zum Mütterlichen, die Heimkehr von den Abenteuern des Männlichen, dessen große Leitbilder abgeräumt und zerbrochen sind, bleibt von feierlicher Fragwürdigkeit.

Die schwermütigen Lieder der Mystiker Bengalens im 18. Jahrhundert, Rāmprasāds und anderer singender Yogin kreisen in asketischer Hingabe um Trost und Trostlosigkeit dieser gläubigen Kindschaft. Die Mutter ist so erbarmungslos wie erbarmend, da sie das Leben selber ist, und das Leben bleibt, wie es ist, ob man es hilfeheischend zärtlich »Mutter« ruft, oder sich strafft, seinem Medusenantlitz standzuhalten. Es läßt sich »Mutter« rufen und dieser Laut kann das Herz für einen Augenblick erlösen von der uferlosen Angst vor dem schweigenden Grauen des Lebens, das seine Blüte unablässig mit seinen Kiefern zermahlt, aber dieser Schrei verwandelt die Mutter nicht, sie bleibt die dunkle Gestalt, bekränzt mit abgeschlagenen Händen und Häuptern zahlloser Opfer, triefend von ihrem Blut, die blutgefüllte Schale zur Lippe erhoben, um mit breiter Zunge den dampfenden Saft des Lebens tigerhaft daraus zu schlürfen.

In aller beschwörenden Hingabe an ihr mütterliches Umfangen drängt sich die schwermütige Erkenntnis vor, daß sie bleibt was sie ist: das umfassend Ganze, das aus Gegensätzen sein Gleichgewicht hält, bergender Mutterschoß, im Stillen nährend, spendende Brust und Hand, und schlingender Todesrachen, alles zerkauend.

Auf dem Dornenlager dieser bitteren helldunklen Einsicht sich zur Ruhe zu betten, ist die letzte Weisheit Rāmprasāds in seinen Liedern an die Mutter Rāmprasād 1718-75. – Vgl. Bengali Lyrics, Shākta, selected and translated by E. J. Thompson and A. M. Spencer, The Heritage of India Series 1923:

»Mutter, wie oft wirst du mich noch um das Rad des Werdens herumtreiben, wie einen Ochsen mit verbundenen Augen, der die Ölmühle dreht?

Du bindest mich an die Deichsel der Welt und treibst mich ohn' Ende herum. Was tat ich, daß du mich den sechs Mühlknechten, den Leidenschaften unterwarfst? Achtzig mal hunderttausend Geburten hab ich durchwandert und noch ist das Tor des Mutterleibes mir nicht verschlossen, – schmerzhaft verwundet komm' ich aufs neue.

Wenn ein Kind weint und das liebe Wort ›Mutter‹ spricht, nimmt die Mutter es auf den Schoß, – so, seh ich, geschieht's in der ganzen Welt, – ich allein bin ausgeschlossen.

Durgā anrufend haben viele Sündige Vergebung erlangt; – nimm die Binde von meinen Augen, daß ich die Füße sehe, die alle Furcht bannen!

Zahllos sind die schlimmen Kinder, aber wer hörte je von einer schlimmen Mutter?

Mutter, dies ist die Hoffnung Rāmprasāds: – daß er Ruhe finde zu deinen Füßen.«

Der Heimgang aufs kindhafte Verhältnis zur Mutter birgt notwendig ein ironisches Element: daß eben die immerfort alles gebärende Weltmutter dafür gut sein soll, ihr Kind dem zeitlosen Kreislauf von Geburt und Tod zu entheben, der nichts anderes ist als das Spiel ihrer Mutterschaft. Bei wem sonst aber, als bei der Göttin, die aus allen Welten und Wesen gebildet ist, sollte der Schrei ihres Kindes Erfüllung finden?

Die mütterliche Weltkraft kann immer nur die unablässige Wiedergeburt aller Kreatur wirken wollen, stumm, ohne zu fragen; die Monotonie des Lebens, die unepisch-zyklisch im Wiederkehren des Gleichen kreist, im Reigen der Jahreszeiten, Lebensalter, Generationen, ist schon der Sinn des Ganzen in ihrem kreisenden Lauf, – nichts einmalig Männliches ist darüber hinaus gegeben, geschichtlich einbrechend, Epoche setzend, Zeiten scheidend im vegetativ Kreisenden als Gang des Helden oder Herabstieg eines Heilands.

Aus der Monotonie dieses murmelnden Lebensstroms fließt die uralte Schwermut der Menschen im mütterlichen Kulturbereich, die mit dem Verblassen männlicher Götter und Leitbilder arisch-brahmanischer Prägung im letzten Weltalter des Hinduismus die indische Atmosphäre überwältigend befängt, fließt im Grunde, was man vom Westen her den indischen Lebenspessimismus genannt hat.

Immer wieder dieser blöde Frühling, immer wieder dieser tödliche Ernst zum göttlichen Stumpfsinn voll persönlicher Aufregungen und Krisen: daß sich die Hänse und Greten finden und das Notwendige, Wunderbare sich begibt, der stumme Ritus, der die Weltmutter freut; – immer wieder Kämpfe und Krämpfe, daß Reiche bersten und Grenzen zittern, Throne steigen und stürzen, daß sich das Unausweichliche begibt: Biographie und Weltgeschichte weiterläuft. Und immer war es wie noch nie: Tedeum, Friedensglocken von allen Türmen, Siegesflaggen über Stadt und Land; – immer wieder zauberhaft unerhört wie bei Tristan und Isolde, noch nie haben zwei sich so geliebt wie wir ... mit Schwüngen über die Milchstraße und zurück ins Kindbett, – denn darauf war es doch unwillkürlich wieder einmal angelegt von der guten Weltmutter, der alten Kupplerin des Kosmos, der Großen Māyā.

So zeugt sich das Leben fort in Lust und rottet sich aus in Siegen, berauscht sich allemal am Zauber seiner entfesselten Dämonen, – das ist der trunken selbstberauschte Tanz der Göttin Welt mit aufgelöstem Haar, der mädchenhaften Verführerin im vollen Schimmer ihrer schlanken Reize, das ist der Geißelschlag, der das Lebensgespann vorwärts peitscht durch die Nacht des Alls.

Die Kindschaft zur Weltmutter ist Verlassenheit und Klage. Rāmprasād singt:

»Ist Mutterschaft ein bloßes Wort auf deinen Lippen? Gebären macht keine zur Mutter, wenn sie den Kummer ihres Kindes nicht versteht.

Zehn Monde und zehn Tage erträgt eine Mutter Schweres, aber jetzt, obwohl mich hungert, fragt meine Mutter nicht, wo ihr Kind ist.

Menscheneltern weisen ihre Söhne zurecht, wenn sie sie gekränkt haben. Zwar siehst du den Tod, den schrecklichen Verschlinger nahen, mich zu töten, aber das stört dich nicht.

Rāmprasād spricht: wo lerntest du dieses Verhalten. Wenn du wie dein Vater, der Himālaya, bist: von Stein, – dann maße dir nicht den Namen Welt mutter an.«

Der leidenschaftliche Drang zur Mutter mag alles Kindhafte im Verehrer der Kālī aufrufen und an ihm zu formender Herrschaft bringen, – vielleicht findet er in diesem Rückgang aufs Mutter-Kind-Verhältnis oder im Verharren darin die bergende Lebensform, wie ein gläubig Gebundener bei uns im Schoße der Mutter Kirche, und der Anblick ihres zerreißenden Grauens, das ihrer allnährenden Mütterlichkeit die Waage hält, kann darin der ungeläuterten Dämonie seiner Natur unwillkürlich zum Vorbilde dienen, daß er sie kindhaft unschuldig darlebt, in der Vielfalt der Göttin unbewußt zu Haus, stumm heimisch in ihrem unheimlichen Vorbild, wie der Fisch im Wasser.

Aber der wahre Adept der Muttergöttin, weniger naiv, da er mit aller Kraft bewußt um ihr Geheimnis ringt, kann nur unter Verzicht auf jede Gebärde mütterlicher Liebe und Fürsorge von seiten der Mutter, deren Verehrung er sein Leben geweiht hat, den dunklen Ausgleich von Verzicht und Sehnsucht in der schwermütigen Erkenntnis finden, für deren Unerbittlichkeit er sich im Blick auf seine Sterbestunde reif fühlt. So singt Mahārāja Rāmkrishna von Nator, ein Zeitgenosse Rāmprasāds, von seiner letzten Stunde zu Kālī und Schiva:

»Wenn mir der Sinn schwindet,
flüstert mir Kālīs Namen ins Ohr.
Dieser Leib ist nicht mein,
Leidenschaften schwemmen ihn dahin.
O du Vergessender –« (das ist Schiva)
»reich mir meinen Rosenkranz,
wenn ich tot in der Gangā schwimme.

Rāmkrishna spricht voll Furcht zu dem Großen Vergessenden:

Du sorgst dich nicht um mein Wohl,
Sorgst dich nicht um mein Geschick.«

Schiva, der »Gnädige«, ist der »Große Vergessende«, der seines Frommen im Leben und Sterben nicht gedenkt, – das ist die Wahrheit, die den Gläubigen durchtränkt und kraft ihrer Bitterkeit tröstet. So ist Schiva der echte Gemahl der Kālī: auch sie ist die »Vergessende«, von sich selber trunken als Große Māyā endlosen Spiels; ewige Zeugung verschlingt sie ihre Kinder unablässig, im Hervorbringen und liebenden Nähren ist sie Gleichgültigkeit und Vergessen, da ihr eines wie das andere ist.

Die Gottheit ist das Große Vergessende. Alles zu behalten, gar aufzuschreiben – »liber scriptus proferetur, in quo cunctum continetur« – das ist dem Göttlichen völlig fremd. In männlichen Weltaltern und Kulturräumen entsteht die Phantasmagorie des Epischen und Dramatischen als höchste Deutung des Daseins: Lebenshypothese und Illusion des Einmaligen in Heldenleben und Tragödie auf Grund des immer wieder neu erlebten Durchbruchs außerordentlicher Gestalten: begnadeter Heroen, herabgestiegener Götter. Das mütterliche Bewußtsein Indiens aber erinnert sie alle als Wiederkehr des ewig Gleichen: in der äonenweit verschwimmenden monotonen Reihe der Buddhas und im kreisenden Zyklus der Avatāras.

Jeder Heldenknabe, den die Mutter gebiert, erlebt und bezwingt die Welt neu für sich als ein Einziger, die Mutter aber schaut seinen alten Spielen gelassen zu, – Spiele vieler Söhne von einst, die sie vergaß, ein immer frischer, immer gleicher Bestand der zyklisch mahlenden Ereignislosigkeit des Lebensstroms.

Das verklärte Abbild dieser beklemmenden Idylle der Mütterwelt ist das Nirvāna: in ihm hat sich der stumme Drang des Lebens von der Beklemmung seiner Wut zu kristallenem Schweigen geläutert, hier hat sich das Spiel der Mütterwelt, daß bei allem Kreisen und Kreißen nichts geschieht, verklärt und ruht von sich selber aus.

Wer aber von ihrem Kreisen umfangen und verzaubert bleibt, kann in der ausgehaltenen Anschauung der unversöhnbaren Gegensätze von Mutterliebe und Erbarmungslosigkeit als der Einheit von Leben und Tod sich mit dem Wesensgeheimnis der Großen Māyā durchdringen und darin erlöst sein von der Liebe und Angst zur eigenen Vergänglichkeit. In der Einheit von Augenblick und Zeitlosigkeit erfährt er das flimmernde Stillstehen des sausenden Rades, in dem er schwingt.


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