William Butler Yeats
Erzählungen und Essays
William Butler Yeats

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Das keltische Element in der Literatur

1897

(Essay)

I

In seiner »Dichtkunst der keltischen Rassen« beschreibt Ernest Renan, was er für die Charakteristik des Keltischen hält. Ich wiederhole die wohlbekannten Sätze: »Keine Rasse hat auf so intime Art mit der niederen Schöpfung verkehrt oder dieser ein so großes Ausmaß sittlichen Lebens zugeschrieben, wie die keltische.« Die keltische Rasse hatte »einen realistischen Naturalismus, eine Liebe zur Natur um ihrer selbst willen, ein lebendiges Gefühl für ihre Magie, vermischt mit der Melancholie, wie sie den Menschen befällt, der ihr von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht und sie zu hören vermeint, wie sie sich ihm über seine Herkunft und seine Bestimmung offenbart.« »Sie hat sich erschöpft, da sie Träume für Wirklichkeiten nahm«, und »verglichen mit der klassischen Phantasie ist die der Kelten tatsächlich die Unendlichkeit im Vergleich zur Endlichkeit.« Ihre Geschichte ist eine lange Klage. Sie ruft die Erinnerung an ihre Verbannungen, an ihre »Flucht über die Meere« wach. »Wenn sie auch manchmal glücklich zu sein scheint, so zögert dennoch die Träne nicht, hinter dem Lächeln hervorzuglitzern. Ihre Freudengesänge enden in Elegien, und es gibt nichts, was der entzückenden Traurigkeit ihrer Volkslieder gleichkäme.« Matthew Arnold hat in seinem »Studium der keltischen Literatur« diese Leidenschaft für die Natur, diesen Reichtum der Phantasie, diese Schwermut gleichfalls als die Charakteristik des Keltischen angesehen, ja er ist noch des Näheren darauf eingegangen. Die Leidenschaft für die Natur entspringt bei den Kelten in fast noch höherem Ausmaße ihrem Sinn für das »Geheimnisvolle«, als ihrem »Schönheitsgefühl«, sie fügt zur Natur »Zauber und Magie« hinzu, und die Phantasie und Melancholie der Kelten sind in gleicher Weise eine »leidenschaftliche, ungestüme und unzähmbare Auflehnung gegen die Herrschaft der Tatsachen.« Der Kelte ist nicht schwermütig wie Faust oder Werther, aus einem durchaus bestimmten Grunde, sondern zufolge eines gewissen Etwas in ihm, das »unberechenbar, trotzig und titanisch« ist. Wie wohlbekannt sind diese Sätze, mehr sogar als die Renans, und wie bekannt sind die Stellen, in Prosa sowohl wie in Versen, worin Arnold zu beweisen sucht, daß, wo immer die englische Literatur jene in diesen Sätzen charakterisierten Qualitäten aufweist, sie ihr immer aus keltischen Quellen zugeflossen sind. Obwohl ich nicht glaube, irgendeiner von uns, die wir über Irland schreiben, habe je seine Argumente auf diese Sätze gegründet, so ist es doch gut, daß wir sie ein wenig ins Auge fassen und nachsehen, inwieweit sie uns vorteilhaft oder verderblich sind. Wenn wir dies nicht tun, laufen wir Gefahr, daß wir eines Tages einer fixen Idee zum Opfer fallen und daß der Feind unseren Rosengarten ausrodet und an seiner Stelle Kohl pflanzt. Vielleicht müssen wir die Schlußfolgerungen Renans und Arnolds noch einmal ein wenig auseinandersetzen.

II

Einst glaubten alle Völker in der ganzen Welt, Bäume seien göttlich und könnten eine menschliche oder irgendeine groteske Gestalt annehmen und mit den Geistern tanzen; das Reh und die Raben, die Füchse, Wölfe und Bären, Wolken und Tümpel und fast alle Dinge unter der Sonne und dem Mond, ja nicht minder auch Sonne und Mond selber, seien göttlich und verwandelbar. Im Regenbogen sahen sie den noch gekrümmten Bogen eines Gottes, den dieser in seiner Nachlässigkeit weggeworfen. Im Donner hörten sie den Klang seines angeschlagenen Wasserkruges oder das Dröhnen von seinen Wagenrädern. Und wenn plötzlich ein Schwarm wilder Enten oder Krähen über ihre Köpfe hinwegzog, dachten sie, sie sähen die Toten ihrer Ruhestätte entgegeneilen, während sie bei geringfügigen Dingen von so großen Geheimnissen träumten, daß sie glaubten, ein Winken mit der Hand oder mit einem geheiligten Zweig genüge, um weit entfernte Herzen zu betrüben oder den Mond in Finsternis einzuhüllen. Die alten Literaturen sind voll von diesen oder ähnlichen Phantasien, und alle die Dichter jener Rassen, denen diese Art, die Dinge zu sehen, nicht verloren gegangen, konnten, dem Dichter der »Kalewala« gleich, von sich sagen: »Ich habe meine Lieder von der Musik vieler Vögel und von der Musik vieler Gewässer gelernt.« In der »Kalewala« beweint eine Mutter ihre Tochter, die ertrunken war, da sie einem alten Freier entflohen, und so weint sie, bis ihre Tränen zu drei Flüssen werden, die drei Felsen auswerfen mit drei Birkenbäumen darauf; in denen sitzen die Kuckucke und singen, der eine: »Lieb, lieb«, der andere: »Freier, Freier«, der dritte: »Tröstung, Tröstung«. Und die Dichter der »Saga« haben das Eichkätzchen an der heiligen Esche Worte des Hasses von dem Adler zu dem Wurme und von dem Wurme zum Adler hinauf und hinunter tragen lassen; trotzdem war ihnen weniger von der alten Art und Weise zu eigen, als den Dichtern der »Kalewala«, denn sie lebten in einer gedrängteren und komplizierteren Welt und hatten das begriffliche Denken erlernt, das die Menschen von der sichtbaren Schönheit weglockt, und es ist ihnen vielleicht jene Art leidenschaftlicher Betrachtung verloren gegangen, wie sie die Menschen bis jenseits der Grenze der Verzückung bringt und bewirkt, daß die Bäume und die Tiere und die toten Dinge mit menschlichen Stimmen reden. Die alten Iren und Waliser hatten trotz ihrer im Verhältnis zu den Dichtern der »Kalewala« geringeren altertümlichen Art immerhin noch mehr davon, als die Sänger der »Saga«, und das ist es, was die Beispiele auszeichnet, die Matthew Arnold von ihrer »Natürlichen Magie« anführt und von ihrem mehr auf das »Geheimnisvolle«, als auf »die Schönheit der Natur« gerichteten Sinne. Zur Zeit, da Matthew Arnold schrieb, war es nicht leicht, so viel von den Volksliedern und dem Volksglauben zu wissen, wie es uns heute möglich ist, und ich glaube nicht, daß er begriffen hat, wie unsere »natürliche Magie« nichts ist, als die alte Weltreligion, jene alte Anbetung der Natur und die geängstigte Ekstase von ihr, jene Gewißheit, die sie dem menschlichen Denken eingepflanzt hatte, daß alle schönen Orte von Geisterscharen bevölkert seien. Die alte Religion zeigt sich in jener Stelle der Mabinogion, wo von der Schöpfung von »Blumenblick« die Rede ist. Gwydion und Math erzeugten sie »durch Zaubersprüche und Täuschungen aus Blumen«. Sie nahmen die Blüten der Eiche und die Blüten des Ginsters und die Blüten vom Mädesüß und machten daraus eine Jungfrau, die schönste und anmutigste, so je ein Mensch gesehen, und sie tauften sie und nannten sie »Blumenblick«. Auch findet man die alte Religion in der nicht weniger schönen Stelle von dem brennenden Baum. Diese verdankt ihre Schönheit zur Hälfte dem Umstande, daß sie eine Phantasie von Blättern erwecket, so lebendig und schön, daß sie unmöglich einem weniger lebendigen und schönen Gegenstand angehören könnten, als einer Flamme: »Sie sahen einen großen Baum am Ufer des Flusses, von dem die eine Hälfte von der Wurzel bis zum Gipfel in Flammen stand, während die andere grün war und voller Blätter.«

Ganz zweifellos aber begegnet man dieser Religion in den Stellen aus englischen Dichtern, die er anführt, um einen keltischen Einfluß auf die englische Literatur nachzuweisen. Ferner in Keats »Magischen Fenstern, die sich nach dem Schaum gefahrvoller Meere in einsamen Feenreichen öffnen«, in seinen »Wassern, bei ihrem priesterlichen Geschäft sich bewegend, um ringsher die irdische Menschenküste reinzuwaschen«, in Shakespeares »Estrich des Himmels«, »eingelegt mit Patenen von hellem Gold«, und in seiner »Dido«, wie sie an den Gestaden der wilden See steht, einen Weidenast in der Hand, den sie nach dem Ritual eines alten Dienstes der Natur und der Naturgeister schwenkt, ihrem Schatz zuzuwinken, »er solle nach Karthago zurückkehren«. Und seine anderen Beispiele atmen das Entzücken und das Wunderbare, wie ergebene Verehrer es an den Wohnstätten ihrer Gottheiten empfinden. Ist nicht ein solches Entzücken und Wunderbares in der Beschreibung Olwens in dem Mabinogion: »Gelber war ihr Haar als die Blüte des Ginsters, ihre Haut weißer als der Schaum auf der Welle, und ihre Hände und ihre Finger schöner als die Blüte des Windröschens mitten im Gischt der Wiesenquellen.« Und ist nicht auch solches Entzücken und Wunder in den Worten:

»Treffen wir uns am Berg, im Tal, in Wald oder Wiese,
An gepflastertem Quell oder schilfigem Bach,
Oder am flachen Gestade des Meeres?«

Hätten die Menschen niemals davon geträumt, daß schöne Frauen aus Blumen entstehen, oder aus Brunnen auf der Wiese oder aus gepflasterten Quellen emporsteigen können, dann wäre keines von diesen Worten je geschrieben worden. Sicherlich würden die Naturschilderungen, die, wie Matthew Arnold sich ausdrückt, in der »getreuen Art« oder in der »Art der Griechen« gemacht waren, nichts verloren haben, wenn alle Wiesenbrunnen oder alle gepflasterten Quellen Wiesenbrunnen und gepflasterte Quellen geblieben wären und sonst nichts.

Als Keats in »griechischer Art«, wo Leichtigkeit und Heiterkeit mit Natürlichkeit vereint sind, die Zeilen schrieb:

»Welch kleine Stadt am Fluß oder Seestrand
Oder Hügel, bebaut mit ruhiger Festung
Ist so bar alles Volks diesen heiligen Morgen«;

als Shakespeare in griechischer Art schrieb:

»Ich weiß eine Bank, voll Thymian schön,
Wo Primeln und nickende Veilchen stehn«;

als Virgil in griechischer Art schrieb:

»Muscosi fontes et somno mollior herba«,

und

»Pallentes violas et summa papavera carpens
Narcissum et florem jungit bene olentis anethi«,

da blickten sie in die Natur ohne Ekstase zwar, aber mit der Liebe, die ein Mensch für den Garten empfindet, darin er täglich lustwandelt und wo er glücklichen Gedanken nachgegangen war. Sie blickten in die Natur, so wie die Modernen sie sehen, in der Art von Menschen, zwar dichterisch veranlagt, aber mehr füreinander interessiert als für eine Natur, die aufgehört hat bloß freundlich und angenehm zu sein, sie sahen sie, wie Leute sie sehen, die den alten Glauben vergessen haben.

III

Menschen, die einer Welt angehörten, darin alles fließend und wechselnd war und wo jedes Ding sich in ein anderes verwandeln konnte, Menschen, die unter großen Gottheiten gelebt, deren Leidenschaften in dem flammenden Sonnenuntergang waren, im Donner und im Gewitterschauer, die hatten nicht unsere Ideen von Maß und Gewicht. Sie verehrten die Natur und ihren Überfluß, und als höchstes Ritual scheinen sie jenen lärmenden Tanz auf den Bergen oder in den Tiefen der Wälder gehabt zu haben, wo eine unirdische Ekstase die Tänzer befiel, bis sie den Göttern oder den göttlichen Tieren zu gleichen schienen und fühlten, wie ihre Seele den Mond überragte, und bis sie, wie manche glauben, als die ersten in dieser Welt das gesegnete Land der Götter und der seligen Geister erblickten. Sie hatten phantastische Leidenschaften, weil sie nicht innerhalb unserer geradlinigen Grenzen lebten, sie waren dem alten Chaos, den menschlichen Begierden näher und hatten unsterbliche Vorbilder um sich herum. Der Hase, der im Tau vorüberlief, mag auf seinen Hinterbeinen gesessen haben, als der erste Mensch geschaffen wurde, und die armselige Binse unter ihren Füßen ist vielleicht eine unter den Sternen lachende Göttin gewesen, und mit nur wenig Magie, einem geringfügigen Winken der Hand, einem Murmeln von ihren Lippen konnten sie ebenfalls zum Hasen werden oder zur Binse, und konnten unsterbliche Liebe und unsterblichen Haß erwerben.

Alle Volksdichtung und alle Literatur, die Überlieferungen des Volkes festhält, schwelgt in grenzenlosen und unvergänglichen Dingen. Die »Kalewala« ergeht sich in den siebenhundert Jahren, die Luonaton in den Tiefen des Meeres mit Wäinämöinen im Leibe umherwandert, und der mohammedanische König, der im Rolandslied über die Größe Karls des Großen grübelt, wiederholt in einem fort die Worte: »Er ist dreihundert Jahre alt, wann wird er der Kriege überdrüssig werden?« Cuchulain im irischen Märchen hatte eine Leidenschaft zu siegen, und er besiegte alle Menschen und starb streitend auf den Wogen, weil diese allein die Kraft hatten, ihn zu besiegen. Der Liebende in dem irischen Volkslied fordert seine Geliebte auf, mit ihm in die Wälder zu gehen und dem springenden Lachs in den Flüssen zuzusehen und den Kuckuck rufen zu hören, weil im Herzen der Wälder der Tod sie niemals finden würde. Oisin, der gerade von seinen dreihundert Jahren im Elfenreich hergekommen und von der Liebe, die im Elfenreich herrscht, bittet den heiligen Patrick, eine Zeitlang seine Gebete zu unterbrechen und dem Gesang der Amsel zu lauschen, denn es sei jene Amsel von Darrycarn, die Finn vor dreihundert Jahren aus Norwegen gebracht und deren Nest er mit eigener Hand auf den Eichenbaum gesetzt. Sicherlich, wenn man weit genug in die Wälder hineingeht, wird man drinnen nicht alles finden, was man sucht? Wer kann sagen, wieviel Jahrhunderte lang die Waldvögel schon gesungen haben?

Tatsächlich hat alle Volksdichtung eine Leidenschaftlichkeit, wie ihresgleichen in der modernen Literatur, Musik und Kunst nicht zu finden ist, ausgenommen etwa dort, wo diese auf irgendeinem geraden oder krummen Weg aus alten Zeiten auf uns gekommen ist. Im alten Irland wurde die Liebe als eine tödliche Krankheit angesehen, und es gibt in den »Gesängen von Connacht« ein Liebesgedicht, das wie ein Todesschrei klingt: »Mein Lieb, oh, sie ist mein Lieb, das Weib, das mich ganz vernichten möchte, ich lieb sie mehr, weil sie mich krank macht, als das Weib, das mich gesund machen könnte. Sie ist mein Hort, oh! sie ist mein Hort, das Weib mit den grauen Augen ... ein Weib, das die Hand nicht unter mein Haupt legen möchte ... Sie ist mein Lieb, oh! sie ist mein Lieb, das Weib, das keine Kraft in mir zurückgelassen, ein Weib, das mir keinen Seufzer nachsenden, ein Weib, das keinen Stein auf mein Grab setzen wollte ... Sie ist meine geheime Liebe, oh! sie ist meine geheime Liebe. Ein Weib, das mir nichts sagt ... ein Weib, das sich meiner nicht erinnert, wenn ich weg bin ... Sie ist meine Wahl, oh! sie ist meine Wahl, das Weib, das mit mir nicht in Frieden leben könnte ... sie ist meine Sehnsucht, oh! sie ist meine Sehnsucht: ein Weib, mir am teuersten unter der Sonne, ein Weib, das mich nicht ansehen würde, wenn ich neben ihr säße. Sie ist es, die mein Herz zerstört hat und die auf immer einen Seufzer in mir zurückgelassen!«

Ein anderer Gesang endet mit den Worten: »Der Fischgeier soll in starker Flut sein, die Berge sollen niedergerissen werden, die See soll voll roter Wogen sein, Blut soll vergossen werden, und jedes Bergtal und jedes Moor soll hoch oben am Himmel sein, ehe du, meine kleine schwarze Rose, vergehst.«

Auch vermögen die alten Irländer ihren Haß keineswegs abzuwägen oder abzumessen. Die Amme des O'Sullivan Bere im Volkslied betet, das Bett seines Verräters möge für immer zum rotglühenden Herd der Hölle werden, und ein irischer Dichter aus der Elisabethanischen Zeit ruft: »Drei Dinge warten auf meinen Tod: der Teufel, der auf meine Seele wartet und sich nicht um meinen Leib und mein Geld kümmert; die Würmer, die auf meinen Leib warten und sich weder um meine Seele, noch um mein Geld kümmern; und meine Kinder, die auf mein Geld warten und sich nicht um meinen Leib und nicht um meine Seele kümmern. O Christus, häng sie alle drei in derselben Schlinge!«

Solche Liebe und solcher Haß suchen kein irdisches Objekt, sondern nur ihre eigene Unendlichkeit, und solche Liebe und solcher Haß werden gern zur Liebe und zum Haß des Gedankens. Bald kann es geschehen, daß der Liebende, der so leidenschaftlich liebt, seine Geliebte besingt, wie in dem Gedicht von »A. E.«:Anm. d. Übers.: »A. E.« ist das Pseudonym des W. B. Yeats befreundeten irischen Dichters George Russel, dem dieser sein Buch »The Secret Rose« gewidmet hatte. »Eine unermeßliche Begierde erwacht und schwillt an, bis ich deiner vergesse.«

Wenn ein alter irischer Dichter sagt, die Irländer seien um ihrer vielen Liebe berühmt, und wenn dagegen ein Sprichwort, das einer meiner Freunde im schottischen Hochland gehört hat, von der Liebesarmut der Irländer spricht, so mögen beide nur dasselbe meinen; denn ist die Leidenschaft nur stark genug, dann führt sie in ein Land, wo es viele Klöster gibt. Wer mit einem zu guten Herzen haßt, gelangt gleichfalls dahin, nur die Idee zu hassen; und ich glaube, von diesem Idealismus von Haß und Liebe kommt eine gewisse Kraft her, Dinge zu sagen und zu vergessen, insbesondere aber eine Kraft, politische Dinge zu sagen oder zu vergessen, die andere nicht sagen und nicht vergessen. Die alten Landleute und Hirten waren voll der Liebe und des Hasses, und sie machten ihre Freunde zu Göttern und ihre Feinde zu den Feinden der Götter, und alle, die an ihren Überlieferungen festhalten, verfahren nicht weniger mythologisch.

Von jenem »Verkennen der Träume«, die vielleicht Wesenheiten sind, und davon, daß sie für Realitäten genommen wurden, während sie vielleicht Zufälligkeiten sind, von jenem »leidenschaftlich lärmenden Rückschlag gegen den Despotismus der Tatsachen« kommt möglicherweise die Melancholie her, die alle alten Völker in Erzählungen schwelgen läßt, deren Ende Tod und Sterben sind, so wie die Modernen sich an Geschichten mit den Hochzeitsglocken am Ende erfreuen, und sie war schuld daran, daß die Völker des Altertums, die, den alten Iren gleich, eine mehr lyrische als dramatische Natur hatten, sich an wilden und schönen Klageliedern berauschten. Das Leben war so sehr niedergedrückt von der Leerheit der großen Wälder, von dem Geheimnis, das alle Dinge umgab, der Größe seiner Begierden und – wie ich glaube – von der Einsamkeit der vielen Schönheit, es erschien so gering, so gebrechlich und kurz, daß nichts in der Erinnerung süßer sein konnte, als eine Erzählung, die in Tod und Scheiden und schließlich in ein wildes schönes Klagelied ausklang. Die Menschen trauerten nicht etwa darum bloß, weil vielleicht eine Geliebte einen andern genommen oder weil Erfahrung Bitternis im Munde zurückgelassen, denn solche Trauer glaubt, das Leben könnte glücklich sein, wenn es nur anders wäre, und bleibt darum nichtsdestoweniger doch Trauer; sondern weil sie geboren waren und sterben müssen, ohne daß ihr großer Durst gestillt worden wäre. Und so kommt es, daß alle die erhabenen, gramerfüllten Gestalten der Literatur, Kassandra, Helena, Deirdre, Lear und Tristan, von den Legenden herkommen und tatsächlich nichts anderes sind, als Abbilder von den primitiven Phantasien, die in dem kleinen Spiegel moderner und klassischer Phantasie sich abgebildet hatten. Dies ist jene »Melancholie, die den Menschen befällt, der von Angesicht zu Angesicht der Natur gegenübersteht und wähnt, sie unterhalte sich mit ihm über die Traurigkeit von Geburt und Tod«; und was kann diese anderes tun, als ihm »seine Verbannungen, seine Flucht über die Meere« in Erinnerung zu bringen, um so die stets weiterglimmende Asche zu schüren?

Keinerlei gälische Dichtung ist in den gälisch sprechenden Gegenden so beliebt wie die Klagelieder des Oisin, der, alt und elend, der Genossen und der Liebe aus seiner Jugendzeit gedenkt und der dreihundert Jahre, die er im Elfenreich verbracht und seiner Elfenliebschaft; alle Träume, wie sie im Sturmwind der Zeit dahinschwinden, klagen aus diesem Klagelied: »Lang sind die Wolken über mir heut nacht; die gestrige Nacht war eine lange Nacht für mich; obwohl ich diesen Tag lang finde, war gestern noch länger. Jeder Tag, der zu mir kommt, ist lang ... Keiner in dieser großen Welt ist wie ich – ein armer alter Mann, der Steine schleppt. Lang sind die Wolken über mir heut nacht. Ich bin der Letzte von den Fianna, der Große Oisin, Sohn des Finn, der dem Klang der Glocken lauscht. Lang sind die Wolken über mir heut nacht.« Matthew Arnold zitiert die Klagelieder des Leyrach Hen als einen Typus keltischer Melancholie, aber ich möchte sie eher einen Typus primitiver Schwermut nennen: »O meine Krücke, ist es nicht Herbst, wenn das Farnkraut rot ist und die Wasserschwertlilie gelb? ... Siehe, wie das Alter mich zum besten hält, vom Haar auf meinem Haupte und von meinen Zähnen angefangen, bis zu den Augen, in die einst die Frauen sich verliebt hatten. Vier Dinge, die ich mein Lebtag am meisten gehaßt, sie haben sich ganz auf mich geworfen: Husten, Alter, Krankheit und Sorge. Ich bin alt, ich bin einsam, Schönheit und Wärme sind von mir gewichen, der Ehrensitz ist nicht mehr mein eigen, ich bin elend, über meine Krücke bin ich gebeugt. Wie böse ist das Los, das Leyrach zugeteilt worden, und die Nacht, da er geboren ward! Gram ohne Ende und keine Erleichterung seiner Bürde!«

Ein Dichter aus der Elisabethanischen Zeit beschreibt übermäßige Sorge, indem er sie »das Irische Weinen« nennt, und ich glaube, Oisin und Leyrach Hen sind sogar uns modernen Irländern ein weniges näher als den meisten anderen Menschen. Das ist der Grund von der Schwermut unserer Dichtung und eines großen Teiles von unserem Denken. In der wundervollen Prosa, die er zuerst in gälischer Sprache niederschreibt, sagt Dr. Heyde: »Derselbe Mensch, der heute tanzt, sich herumtummelt, trinkt und schreit, wird morgen Selbstgespräche mit sich führen, schwerfällig, krank und traurig in seiner eigenen einsamen kleinen Hütte sitzen und über begrabene Hoffnungen, über ein verlorenes Leben, über die Eitelkeit dieser Welt und das Herannahen des Todes wehklagen.«

IV

Matthew Arnold wirft die Frage auf, wieviel vom Kelten man sich im idealen Menschen von Genie vorzustellen habe. Ich möchte vorziehen zu fragen, wieviel vom alten Jäger und Fischer und von jenem ekstatischen Tänzer auf den Bergen und in den Wäldern man sich im idealen Genie zu denken habe. Sicherlich sind ein Durst nach unbändiger Aufregung und eine wilde Trauer in dieser Welt beschwerliche Dinge, und sie machen das Leben keineswegs leichter oder ordentlicher, aber es könnte sein, daß die Künste auf das Leben jenseits der Welt gegründet sind und daß sie unsere Not in die Ohren hineinschreien müssen, bis diese Welt aufgezehrt und zur Vision geworden ist. Sicherlich ist, wie Samuel Palmer geschrieben hat, »Übermaß der lebensspendende Geist der höchsten Kunst, und wir müssen stets bestrebt sein, den Überfluß noch reichlich übermäßiger zu machen.« Matthew Arnold hat gesagt, wenn man ihn fragen würde, »woher das englische Wesen seinen Zug zur Schwermut und zur natürlichen Magie erhalten habe«, würde er ohne viel Zaudern antworten, »es verdanke viel von dieser Traurigkeit einer keltischen Quelle, und daß ganz zweifellos alle seine natürliche Magie aus einer keltischen Wurzel stammt.«

Ich möchte dies anders ausdrücken und sagen, daß die Literatur doch zu einer bloßen Chronik von Tatsachen, leidenschaftslosen Phantasien und Betrachtungen zusammenschrumpft, wenn sie nicht unablässig mit den Leidenschaften und dem Glauben alter Zeiten bewässert wird, und daß von all den Quellen der Leidenschaft und der alten Religionen in Europa, der slawischen, finnischen, skandinavischen und der keltischen, allein die keltische jahrhundertelang dem Hauptstrom der europäischen Literatur nahe gewesen ist. Immer wieder hat sie den »belebenden Geist des Übermaßes« in die europäische Kunst hineingetragen. Ernest Renan hat gezeigt, wie dem europäischen Denken neue Symbole der schwersten Buße aus jenen Visionen vom Fegefeuer zugeflossen sind, die die Pilger von Lough Derg gesehen; und wie es allein schon durch jenes aus einem hohlen Baumstamm gezimmerte Boot bewiesen wird, das die Pilger zur heiligen Insel hinüberfuhr, sind dies einstens Gesichte von der heidnischen Unterwelt gewesen. Diese Symbole haben aber einen so großen Einfluß ausgeübt, daß Renan zu dem Schlusse kommt, es könne »nicht einen Augenblick zweifelhaft sein, daß zu der Anzahl von dichterischen Vorwürfen, die Europa dem keltischen Genius verdankt, auch das Grundgerüst der ›Göttlichen Komödie‹ zu zählen sei.«

Etwas später dann haben die Legenden von König Arthur und seiner Tafelrunde und vom Heiligen Gral, vermutlich einst der »Cauldron«Anm. d. Übers.: »Cauldron = Zauberkessel« der alten Kelten. einer irischen Gottheit, die Literatur von Europa beherrscht, und es ist nicht unmöglich, daß sie, zufolge ihres Einflusses auf den Geist der Ritterlichkeit und der Romantik, in einem gewissen Sinne geradezu auf die Wurzeln des Gefühlslebens der Menschheit eingewirkt haben. Später dann hat Shakespeare seine Mab und wohl auch seinen Puck, und wer weiß wieviel anderes aus seinem Elfenreich, in der keltischen Legende vorgefunden, während am Beginn unserer Tage die Legenden des schottischen Hochlandes und die Erregbarkeit des Hochländers Walter Scott eine so große Meisterschaft über alles Romantische verliehen, daß sie die Romantik selber zu sein scheinen.

Gegenwärtig hat die skandinavische Tradition infolge der künstlerischen Phantasie Richard Wagners, des Dichters William Morris und des frühen und, wie ich glaube, größeren Ibsen eine neue Romantik geschaffen, die im Gefolge von Wagners künstlerischen Schöpfungen die beinahe leidenschaftlichste Komponente der modernen Kunst geworden ist. Es gibt tatsächlich nur noch ein einziges Element von gleicher Leidenschaftlichkeit, und das sind die noch immer unverblaßten Legenden von König Arthur und dem Heiligen Gral, jetzt aber ist eine neue, und ich glaube viel reichere Quelle von Legenden eröffnet worden als je zuvor in Europa, nämlich die der gälischen Sagen, wie z. B. die Geschichte von Deirdre, der einzigen unter den Frauen, die die Männer toll gemacht und zugleich die weiße Flamme und die rote Flamme gewesen, Weisheit und Lieblichkeit; dann die Legende von den Söhnen des Tuireann, mit ihren unverständlichen Geheimnissen, die, wie mir scheint, ein frühes Suchen nach dem Gral ist; dann das Märchen von den vier Kindern, die in vier Schwäne verwandelt worden und ihre Klagerufe über vielerlei Gewässer ausstoßen; die Geschichte von der Liebe des Cuchulain zu einer unsterblichen Göttin und von seiner schließlichen Heimkehr zu einem sterblichen Weibe; die Erzählung von den vielen Kämpfen, die er an der Furt mit jenem lieben Freunde gehabt, den er noch vor dem Kampf geküßt und über dessen Leichnam er weint, da er ihn erschlagen; dann der Bericht von seinem Tod und den Klagegesängen des Emer; die Geschichte von der Flucht Grainnes mit Diarnuid, die seltsamste Geschichte von der Unbeständigkeit der Weiber; und schließlich die Erzählung von Oisins Ankunft aus dem Elfenreiche, seinen Erinnerungen und seinen Klagen. Die keltische Bewegung, wie ich sie verstehe, ist hauptsächlich die Erschließung dieses Quells, und niemand kann sagen, von wie großer Bedeutung dieser für die kommenden Zeiten sein wird, denn jede neue Quelle von Legenden ist ein neuer Rausch für die Phantasie der Welt. Sie kommt zu einer Zeit, da die Einbildungskraft Aller jenes Rausches ebenso bedürftig ist, wie damals, als die Erzählungen von König Arthur und vom Gral zuerst auftauchten.

Die Reaktion gegen den Rationalismus des 18. Jahrhunderts hat sich mit einer Auflehnung gegen den Materialismus des 19. Jahrhunderts verbunden und die Bewegung des Symbolismus, die in Deutschland mit Richard Wagner, in England bei den Präraffaeliten und in Frankreich mit Villiers De l'Isle, Adam, Mallarmé und Maeterlinck ihre Vollendung erreicht hatte und die Phantasie Ibsens und D'Annunzios aufgeregt hat, sie ist sicherlich die einzige Bewegung, die uns etwas Neues zu sagen hat. Die Künste sind religiös geworden, weil sie über ihrer eigenen Intensität gebrütet hatten, und suchen, wie Verhaeren, glaube ich, gesagt hat, ein heiliges Buch zu schaffen. Sie müssen sich, wie es mit religiösen Gedanken immer der Fall war, durch Legenden aussprechen; so reden die slawischen und die finnischen Sagen von seltsamen Wäldern und Meeren, und so hat sich der skandinavischen Legenden ein großer Meister bemächtigt, und auch sie berichten von seltsamen Wäldern und Meeren; und von den Sagen von Wales haben fast ebensoviele Meister Besitz ergriffen wie von den griechischen, während die irischen Erzählungen sich innerhalb bekannter Wälder und Meere abspielen und so viel von einer neuartigen Schönheit an sich haben, daß sie dem kommenden Jahrhundert wohl seine denkwürdigsten Symbole geben dürften.

Ich hätte diesen Essay mit viel größerer Präzision schreiben können und würde meine Ansichten viel besser auszusprechen vermocht haben, wenn ich gewartet hätte, bis Lady Gregory ihr Legendenbuch »Cuchulain of Muirthemne« beendet hatte, ein Buch, das neben »Morte d'Arthur« und den »Mabinogion« zu stellen ist.


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