Xenophon
Sokratische Gespräche aus Xenofons denkwürdigen Nachrichten von Sokrates
Xenophon

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sokrates. Mein lieber Perikles! gieb keinen so niederschlagenden Gedanken Gehör! glaube nicht daß die Athener an einer so unheilbaren Verderbniß krank liegen! Siehst du nicht, welcher scharfen Disciplin sie sich im Seedienste unterwerfen? Wie unweigerlich sie in den gymnastischen Uebungen den Vorstehern gehorchen? wie willig sie in den (festlichen und theatralischen) Chören sich von den Meistern unterrichten und zu rechte weisen lassen?

Perikles. Seltsam genug, daß solche Leute sich so gut zur Subordinazion bequemen, unsre Hopliten und Ritter hingegen, die sich die vorzüglichsten unter den Bürgern dünken,Das schwerbewaffnete Fußvolk und die Reuterey bestanden immer aus den edelsten, angesehensten und vermöglichsten Bürgern. gerade die ungehorsamsten und widerspänstigsten sind.

Sokrates. Aber der Senat im Areopagos, besteht er nicht aus den vorzüglichsten und auserlesensten Bürgern?Er wurde bekannter maßen, bloß aus den abgehenden jährlichen Archonten besetzt.

Perikles. Allerdings.

Sokrates. Kennst Du einen Gerichtshof, dessen Urtheile gewissenhafter, gesetzmäßiger und gerechter wären, und der sich überhaupt in allen seinen Handlungen mit mehr Anstand und Klugheit benähme, als dieser?

Perikles. Ich habe nichts an ihnen auszusetzen.

Sokrates. Wir wollen also an den Athenern noch nicht verzweifeln, als ob sie ganz und gar keiner Ordnung und keines gehörigen Betragens fähig wären.

Perikles. Das Schlimmste ist nur, daß sie gerade im Kriegsdienst, wo ein gesetztes verständiges Betragen und Disciplin und genaue Vollziehung der Befehle der Obern am unentbehrlichsten sind, sich um alles das am wenigsten bekümmern.

Sokrates. Vielleicht liegt die Schuld bloß daran, daß man ihnen so oft Befehlshaber giebt, die den Dienst selbst nicht verstehen, und nicht wissen was und wie sie befehlen sollen. Siehst Du nicht, daß Niemand sich einfallen läßt, den Zitherspielern, Tänzern und Chorsängern, oder den Fechtern und Pankraziasten vorstehen zu wollen, wenn er sich nicht auf ihre Kunst versteht; da ist keiner, der nicht den Meister nennen könnte, bey welchem er die Kenntnisse erlernt hat, die zu dem Geschäfte, dem er vorsteht, erfodert werden: unsre Feldherren hingegen sind es größtentheils aus dem Stegreif, ohne sich zu einem so wichtigen Geschäfte im geringsten vorbereitet zu haben. Von Dir, lieber Perikles, habe ich eine bessere Meynung; ich denke Du kannst eben so leicht sagen, von wem Du ein Kriegsheer anzuführen, als bey wem Du fechten gelernt hast. Ganz gewiß hast Du nicht nur eine Menge zur Kriegskunst erforderliche Kenntnisse Deinem Vater abgelernt, und zu künftigem Gebrauch zurückgelegt, sondern Dir auch alle andern Gelegenheiten zu Nutze gemacht, wo etwas zu diesem Zwecke dienliches zu sehen und zu lernen war. Ich glaube daß es eine Deiner angelegensten Sorgen ist, Dich hierin nicht selbst zu täuschen und zu verhüten, daß Dir nicht gegen Deine Meynung vieles unbekannt bleibe, was einem Befehlshaber im Kriege zu wissen nöthig und nützlich ist, und daß Du, sobald Du merkest daß Dir dieses oder jenes noch abgehe, Dich bey den Kunsterfahrnen darnach erkundigest, und weder Geld noch gute Worte sparest, um von ihnen zu lernen, und Dir tüchtige Gehülfen an ihnen zu verschaffen.

Perikles. Ich sehe sehr gut, bester Sokrates, warum Du dies alles sagst, wiewohl Du mir schwerlich zutrauest, daß ich mir bisher so viele Mühe gegeben haben sollte. Deine Absicht ist bloß mich zu belehren, daß einer, der sich einst um eine Befehlshaberstelle bey der Armee zu bewerben gedenkt, sich auf diese Weise dazu vorbereiten müsse.

Sokrates. Ich will Dir's nur gestehen, weil Du mich selbst so gut verstanden hast. Aber (um von was anderem zu reden) hast Du nie die Bemerkung gemacht, Perikles, daß zwischen Attika und Böotien einige große Berge liegen, über welche man nicht anders als durch sehr enge und steile Hohlwege in unser Land kommen kann, und daß uns also dieser Berggürtel, womit wir umgeben sind, zu einer natürlichen Schutzwehre dient?

Perikles. Das ist mir allerdings bekannt.

Sokrates. Solltest Du nicht etwa auch gehört haben, daß die Mysier und Pisidier, welche eben dergleichen bergichte und unzugangbare Gegenden im Lande des Königs inne habenDie Athener pflegten den König von Persien den großen König, oder auch schlechtweg den König zu nennen; vermutlich weil er damals der einzige König war, vor dem sie sich fürchteten. Gleichwohl konnte ihnen dieser große König mit aller seiner Größe nichts anhaben. Hingegen ließen sie sich nichts davon träumen, daß in weniger als 80 Jahren ein kleiner König von Macedonien der Freyheit der Griechen, und bald darauf dessen Sohn dem großen Perserreich selbst ein Ende machen werde. und, wiewohl sie nur leichte Waffen führen, den angrenzenden Ländern des Königs durch ihre häufigen Einfälle großen Schaden thun, und sich selbst immer unabhängig erhalten haben.

Perikles. Auch das höre ich.Vermuthlich itzt zum ersten Mahle.

Sokrates. Meinest Du also nicht auch, unsre jungen Leute, die, bis sie zu einem rüstigern Alter kommen, nur leicht bewafnet werden, könnten, wofern sie die vor unserer Landschaft liegenden Berge besetzten, den Feinden vielen Schaden zufügen, und den Bürgern auf dem Lande zu einer starken Brustwehr dienen?

Perikles. Ich bin überzeugt, lieber Sokrates, dies würde von großem Nutzen seyn.

Sokrates. Wenn Dir denn also meine Vorschläge gefallen,Was ich durch Vorschläge gegeben habe, wird im Griechischen zwar nur durch das unbestimmte ταυτα (wie den Griechen und besonders dem Xenofon sehr gewöhnlich ist) angedeutet; aber dieses ταυτα kann hier nichts anders heißen. Der französische Uebersetzer läßt den Sokrates sagen: SI CES PROJECTS VOUS PLAISENT; und übersetzt das folgende, ο τι μ.γ.α. τουτων καταπραξης, durch: QUAND UN SEUL REUSSIROIT. Es ist aber in diesem Dialog nur von einem einzigen Projekte die Rede, nehmlich, daß die Athener die hohen Berge und engen Pässe zwischen Böotien und Attika durch ihre junge Mannschaft besetzt halten sollten. Sokrates hätte sich also nicht so, wie er wirklich thut, ausdrücken können, wenn er nicht unter ταυτα auch zugleich alles verstanden hätte, was er dem jungen Perikles über die Mittel, sich zu seiner künftigen Bestimmung tüchtig zu machen, gesagt hatte. Diese in Ausübung zu bringen, hieng gänzlich von ihm ab; ob aber das Projekt, dessen Sokrates zuletzt erwähnt, ausgeführt werden sollte, kam nicht auf ihn, sondern auf einen Volksbeschluß an. Daß indessen von diesem guten Rathe des Sokrates (der, wie Pauw in seinen RECHERCHES SUR LES GRECS sehr richtig bemerkt hat, allein schon hinlänglich gewesen wäre die Republik zu retten) kein Gebrauch gemacht worden, erhellet daraus, daß die Spartaner, auf Anrathen des zu ihnen übergegangenen Alcibiades, sich im vierten Jahre der 91sten Olympiade des Bergstädtchens Decelia, an der nordöstlichen Grenze von Attika ohne Widerstand bemächtigten und vermittelst Befestigung desselben und einer darin unterhaltenen Besatzung, sich von eben diesen Bergen und Pässen von welchen Sokrates spricht, und die von den Athenern mit der unbegreiflichsten Sorglosigkeit vernachlässigt worden waren, Meister machten. Uebrigens bemerke ich hier noch, daß eine kleine Aufmerksamkeit auf Zeit und Umstände, diejenigen, welche voraussetzen daß Perikles schon zur Zeit, da gegenwärtiges Gespräch gehalten worden, oder wenigstens bald darauf, zum Feldherrn ernannt gewesen sey, des Gegentheils hätte überzeugen können. Denn es ist klar, daß dies Gespräch vor der Ueberrumpelung von Decelia, und also wenigstens acht Jahre vorher, ehe Perikles einer von den zehen Strategen war, die den Kallikratidas bey den Arginussischen Inseln schlugen, vorgefallen seyn muß, – wofern es anders wirklich vorgefallen ist. Denn ich halte es nicht für unmöglich, daß es von Xenofon bloß in der Absicht erdichtet worden seyn könnte, um den Athenern einige derbe Wahrheiten zu sagen, und ihnen besonders den Unverstand vorzurücken, womit sie die zur Sicherheit ihres eigenen Landes unentbehrlichsten Maßregeln vernachlässigten, während sie sich auswärts den ausschweifendsten Eroberungs-Projekten überließen. In der That wäre diese Nachlässigkeit um so unverantwortlicher gewesen, wenn Sokrates dem jungen Perikles (der, allem Anschein nach, als einziger Sohn und Erbe des großen Perikles, schon damals in einigem Ansehen in der Republik stand, und sich bereits um die öffentlichen Angelegenheiten bekümmerte), einen Vorschlag dieser Art gethan hätte, ohne daß die geringste Reflexion darauf gemacht worden wäre; da doch Perikles, aller Wahrscheinlichkeit nach, nicht ermangelt haben würde, denselben, so viel in seinem Vermögen war, geltend zu machen. mein Bester, so laß Dir angelegen seyn, sie ins Werk zu setzen. Was Du davon ausführen wirst, wird Dir zum Ruhm und der Republik zum Nutzen gereichen: und sollte auch der Erfolg Deinem guten Willen nicht entsprechen, so wirst Du wenigstens nicht durch Deine Schuld weder Deinem Vaterlande Schaden, noch Dir selbst Schande zugezogen haben.Es scheint nicht daß dieser jüngere Perikles, wiewohl es ihm an guten Sitten nicht gefehlt haben mag, Genie und Thätigkeit genug gehabt habe, eine bedeutende Rolle in seiner Republik zu spielen; die aber auch damals in einem so hohen Grade verdorben und durch ihre eigene Schuld in einer solchen Lage war, daß man mit der größten Wahrheit von ihr sagen konnte:

– IPSA, SI CUPIAT, SALUS
SERVARE PRORSUS NON POTERIT HANC FAMILIAM.

Alles was man von ihm weiß, ist, daß er einer von den zehen Feldherren war, die im 3ten Jahre der 93ten Olympiade einen nahmhaften Sieg bey den Arginussen, ohnweit des Vorgebirgs Malea in Lesbos über eine zuvor siegreiche Spartanische Flotte erfochten, aber weil verschiedene unglückliche Zufälle (ohne ihre Schuld, wie es scheint) die von diesem Sieg erwartete Vortheile zu Wasser machten, von den Athenern dafür verantwortlich gemacht, und auf eine sehr illegale und tumultuarische Art zum Tode verurtheilt wurden; wovon die nähern Umstände von Xenofon im 1. B. seiner Hellenischen Geschichte, und im 13. B. des Diodor von Sicilien umständlich erzählt werden.


 << zurück weiter >>